Am Tag nach Peters Schulabschluss hatte Hester ihren ersten richtigen Ferientag, den sie auf der Plimoth Plantation verbrachte. Sie warf eine Handvoll Kohl in die Schweinsbrühe und rührte mit einem Holzlöffel um. Schwere Schwaden entstiegen dem eisernen Topf und zogen hinauf in den Kamin. Hester beugte sich vor, um zu schnuppern, und der Dampf schlug sich in feinen Tröpfchen auf ihrer Nase nieder.
»Einen Hauch mehr Salz«, stellte sie fest und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Aber bloß nicht zu verschwenderisch.« Sie raffte ihren schweren Wollrock zusammen, damit er nicht in die Asche der offenen Feuerstelle hing, und gab aus einer Dose eine Prise Salz hinzu. Das Mittagessen war fertig – und dieses Mal konnte sie anhand des Duftes sagen, dass es tatsächlich essbar war. In diesem Jahr würden ihre Mahlzeiten den Touristen umso authentischer erscheinen, wenn ihr angeblicher Ehemann das Zeug wirklich aß.
Sie warf einen Blick über die Schulter. Die Hütte war leer. Sie konnte ihre Rolle unterbrechen. Die meisten Besucher waren den Trommelwirbeln gefolgt und hatten sich am Fort eingefunden, um zuzusehen, wie die Bürgerwehr mit ihren Waffen übte. Hester konnte sich erlauben, ihren eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen – und sich ein paar Momente lang mal nicht als Siedlerin zu fühlen.
Sie strich die Decken auf ihrem vorgeblichen Ehebett glatt und setzte sich mit einem Seufzer. Die Matratze war mit klumpiger Baumwolle gefüllt und die Decke kratzte an ihren Handflächen. Bei den Proben für ihre Rolle hatte sie die Erklärung gelernt, dass der provisorische Wollvorhang um das Bett herum dazu diente, nachts die Körperwärme zu halten – aber Hester konnte sich bestens vorstellen, dass er im Jahr 1627 den einzigen erbärmlichen Raum für Privatsphäre bot, den ein junges Paar in einer Hütte mit nur einem Raum finden konnte: die Kinder zum Spielen nach draußen schicken, den Vorhang zuziehen und dann schnell ...
Trotz der Dunkelheit, die in der Hütte herrschte, war die Hitze zum Schneiden. Die schmalen, hohen Fenster ließen kaum Licht und keinen Windhauch herein. Und unter drei Schichten originalgetreuer Kleidung – aus Leinen, Wolle und Leder – konnte man an einem heißen Tag beinahe ersticken. Hester wischte sich mit einem Taschentuch, das in ihrem Gürtel steckte, über die Stirn und schob ein paar lange Haarsträhnen unter ihre Leinenhaube. Jede andere Darstellerin wäre versucht gewesen, ihr kurzes Überjäckchen abzulegen, aber das kam Hester nicht in den Sinn. Sie war fest davon überzeugt, dass Elizabeth Tilley Howland nicht mal den obersten Knopf geöffnet hätte!
Sie stand wieder auf. In der Hütte gab es immer etwas zu tun. Sie nahm einen Lappen und begann Staub zu wischen. Der Boden aus gestampfter Erde machte es schier unmöglich, die Hütte sauber zu halten. Hester staubte das einzige Regal der Familie ab, hob Schüsseln, Brettchen und Löffel hoch, wischte darunter her und nahm dann das einzige Buch, das dort stand, in die Hand. Es war ein Nachdruck der Genfer Bibel von 1560, glaubhaft eingeschmutzt und mit verknitterten Seiten. Hester schlug die Bibel auf und ein Silberfischchen schoss den Buchsteg entlang. Erschreckt ließ sie das Buch fallen. Ihr Herz schlug wie verrückt. Mit einem Mal war ihr schwindelig und sie fühlte sich wie benebelt. Sie setzte sich auf einen Stuhl und bedeckte ihr Gesicht. Eine Erinnerung übermannte sie ...
Hester war auf dem Heimweg von der Schule. Sie trödelte herum und auf dem Friedhof hinter der Kirche hielt sie Ausschau nach ihrer Freundin Linnie. Sie fand sie in der Nähe der alten Eiche, wo sie mit Hingabe an einem Fort baute. Linnie schien immer nur auf Hester zu warten.
Es war zu warm und die Sonne stach zu sehr herab, um zu spielen und herumzutoben. Darum lagen sie einfach nur faul im frischen Gras hinter der Kirche, lauschten den Vögeln und beobachteten soeben geschlüpfte Fliegen, die sich auf einem warmen Grabstein sonnten. Hester war sieben, Linnie achteinhalb und sehr stolz darauf, dass sie älter war. Hester lag auf dem Rücken und sah den Wolken nach, die gemächlich über den Himmel zogen und sich aufblähten und ausdehnten wie Popcorn. Sie schloss die Augen und dämmerte ein bisschen vor sich hin, bis sie Linnies Stimme hörte.
»Wetten, du traust dich nicht, in die Kirche zu gehen, Hester?«
Hester öffnete die Augen einen Spalt, drehte den Kopf und sah, dass Linnie sich auf die Ellbogen gestützt hatte und sie ansah – offenbar zu allem entschlossen, wie sie manchmal sein konnte.
»Wieso soll ich mich das nicht trauen?«, knurrte Hester. »Ich gehe doch jeden Sonntag in die Kirche.«
»Aber nie allein und auch nicht, wenn die Kirche leer ist.«
Hester gähnte und sah zur Hintertür der Kirche. Sie war nur angelehnt, was Hester nicht bemerkt hatte, als sie gekommen war. Im Inneren war es dunkel.
Ein bisschen benommen setzte sie sich auf. »Willst du etwa, dass wir dort spielen?«
Linnie schüttelte den Kopf. »Das darf ich nicht.«
Hester legte sich wieder hin und seufzte tief. »Niemand darf das, soviel ich weiß.«
»Das ist es ja gerade. Deswegen sage ich doch, du traust dich nicht.«
Hester zuckte die Schultern, und nach einem kurzen Schweigen platzte Linnie heraus: »Ich habe zufällig herausgefunden, wie es richtig heißt: dass man eine Kirche während der Woche nicht betreten darf – es sei denn, man hat eine Bibel dabei.«
»Wo hast du das denn her?«
»Bitte, Hester!« Linnie fasste sie an der Schulter. »Du sollst mit einer Bibel in der Hand in die Kirche gehen!«
»Ich habe aber keine Bibel hier.«
»Ich schon!«
Hester riss die Augen auf. »Du hast eine Bibel hier? Wo?«
Linnie stand auf, gab Hester die Hand, um sie hochzuziehen, und führte sie zu den Grabkammern gegenüber der School Street.
Die Grabkammern waren ein breiter Granitsteinbau, den man auf dem Friedhofshügel, dem Burial Hill, errichtet hatte, und der mit Gestrüpp und Unkraut überwuchert war. An der Vorderseite befanden sich vier Eisentüren und eine Marmortafel, die den Bau auf das Jahr 1833 datierte. Zwei Türen waren mit alten, schwarzen Vorhängeschlössern verschlossen – mit Löchern für dicke Buntbartschlüssel. Linnie stand vor der Mitte des Baus, zwischen den vier Türen, und sah wachsam erst über die eine und dann über die andere Schulter nach hinten. Sie wollte sichergehen, dass sie allein waren. Hester schaute sich ebenfalls um, und als sie wieder nach vorn blickte, hatte Linnie einen Vorhang aus Efeu beiseitegeschoben, der von der Mitte des Gebäudes herabhing.
Überrascht stellte Hester nun fest, dass es eine fünfte Grabkammer gab, die sie noch nie gesehen hatte. Sie besaß ebenfalls eine schwarze Tür mit einem Eisenring als Öffner – wie die anderen Türen auch. Zwei gestreifte Schnecken klebten reglos am Mauerwerk über der Tür.
Dem Abstand der Türen nach zu urteilen und bei genauerem Hinsehen, überlegte Hester, hätte sie vielleicht auch erraten, dass sich dort eine weitere Grabkammer befand – wenn man sie danach gefragt hätte.
»Da drinnen verstecke ich alle meine Schätze«, flüsterte Linnie. »Weil niemand mehr diese Grabkammern betritt.«
Ein Vorhängeschloss gab es hier nicht. Nur einen großen Schieberiegel am Fuß der Tür, der weit in den Boden ragte. Hester versuchte, den Riegel hochzuziehen, aber er war in dem harten, trockenen Boden geradezu festzementiert.
»Halt mal den Efeu, damit sich meine Haare nicht darin verfangen«, sagte Linnie.
Ohne große Anstrengung zog sie den Riegel hoch. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt breit, langte ins Innere, zog eine staubige, abgegriffene Bibel heraus und reichte sie Hester. Ein muffiger Geruch nach Moder und Erde stieg von dem Buch auf und stach Hester heftig in die Nase.
»So. Und du traust dich also wirklich, die Kirche zu betreten?«, hakte Linnie nochmals nach. Sie zog die Tür zu und schob den Riegel wieder vor. Hester ließ den Efeu los, und obwohl sie direkt davorstand, wurde die Grabkammer wieder unsichtbar.
»Klar«, sagte Hester und überlegte gleichzeitig, ob Linnie sie jetzt nicht irgendwie ausgetrickst hatte. »Aber wenn ich Ärger bekomme, musst du zugeben, dass es deine Idee war. Versprochen?«
Linnies Augenbrauen zogen sich ängstlich zusammen und sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht versprechen.«
Hester hielt ihr die Bibel hin. »Dann mache ich es nicht.«
Linnies Augen schossen zur Kirchtür. Hester trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Nein, warte!« Linnie blickte nun wieder zu ihr. »Ich verspreche es.«
»Großes Indianerehrenwort? Mit Blutschwur?«
»Das ist ja ekelhaft!«
»Du musst es aber tun!«
»Mit Blut schwören?«
»Nein!« Hester lachte. Sie nahm Linnies bleiche Hand und legte sie auf ihr Herz. »Bei deinem Blut schwören, du Dummi!«
Dann lief Hester auf Zehenspitzen in die Kirche, während Linnie hinter einem Grabstein hervorspähte. Im Inneren der Kirche war es kühl und Hester rutschte in eine Bank. Alles war vollkommen still, bis auf das leise Rascheln ihrer Kleidung, wenn sie sich bewegte, ein Geräusch, das durch die starre Atmosphäre und die Steinmauern verstärkt wurde und ihr das Gefühl gab, sie sei der einzige Mensch auf der Welt. Die Bibeln in den Kirchenbänken hatten grellgrüne Einbände aus Kunstleder mit goldglänzender Schrift. Ihre eigene war schwarz. An den Ecken bröckelte das Leder ab und gab den Blick auf mehrere Lagen feuchtes, ausgefranstes Bindematerial darunter frei. Hester schlug die beschädigte Bibel in ihrem Schoß auf und ließ sie im selben Augenblick mit einem Schrei fallen.
Sie wimmelte von winzigen Tierchen. Ihre gegliederten, fischartigen Körper krochen als eine einzige bläulich-silbrige Menge durcheinander. Das Buch besaß keine einzige Seite mehr. Wo einstmals Papier gewesen war, war jetzt nur noch eine Masse von Silberfischchen, die sich entweder entsetzliche Kämpfe lieferten oder sich paarten. Die Menge schwoll an, blähte sich auf und quoll über – ein wogendes Meer zuckender Körper und zitternder Tastorgane. Hester stand auf der Bank und schrie, während die Silberfischchen auf dem Boden ausschwärmten und in für ein so kleines Buch unglaublichen Mengen – Tausende und Abertausende Tiere – die Bänke hinaufhuschten und sich über die neueren Bibeln hermachten. Hester sprang in den Gang und rannte so schnell sie konnte Richtung Hintertür der Kirche. Ihr Herz raste und ihr war schlecht.
Kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatte, stellte sich ihr der Pastor in den Weg.
»Hiergeblieben!«, rief er energisch, die Hände auf beiden Seiten des Türrahmens.
Hester schloss die Augen. Sie duckte sich, stieß seinen Rockschoss beiseite und rannte unter seinem Arm hindurch nach draußen ins Sonnenlicht. Auf der Treppe, die den Burial Hill hinaufführte, nahm sie immer zwei Stufen auf einmal und lief zum Westausgang des Friedhofs. Nur einmal sah sie kurz zurück. »Bitte, Hester!«, hörte sie den Pastor im dunklen Türbogen rufen, aber da war sie schon oben und verschwand auf der anderen Seite des Hügels.
Linnie war wie vom Erdboden verschluckt – obwohl sie ihr großes Indianerehrenwort gegeben hatte.
Hester rannte nach Hause. Atemlos und in einem fort die juckenden Phantom-Silberfischchen von ihren Armen streichend, schwor sie, dass sie nie mehr Linnies Freundin sein wollte – bis in alle Ewigkeit!
Hester rieb sich die Augen und ließ die Hände sinken. Wie viele Jahre hatte sie nicht mehr an Linnie gedacht? Nach jenem Tag waren sie einander nie mehr begegnet. Hester hatte sogar ihren Schulweg geändert, um nicht mehr am Friedhof vorbeizukommen. Und ihre Familie war zehn Jahre lang nicht mehr in die Kirche gegangen – bis Nancy kürzlich den Kirchgang doch für unumgänglich erklärt hatte, um Sam ein bisschen zu bändigen, bevor er auf die Highschool kam.
Hester erinnerte sich, dass Malcolm am Sonntag nach dem Zwischenfall mit den Silberfischchen den gemeinsamen Heimweg der Familie – Sam lag schlafend auf seiner Schulter – schneller denn je anführte. Dabei schimpfte er über den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, und dass ihm eine Gemeinde, die einen ganz gewöhnlichen Ungezieferbefall zum Spuk hochstilisierte, nicht wöchentlich eineinhalb Stunden seiner Zeit wert war. In diesem Moment beschloss Hester, die ohnehin schmollte, weil sie zusehen konnte, wie sie hinterhergestolpert kam, es sei wohl das Beste, niemand zu erzählen, dass es Linnies Bibel gewesen war, die den ganzen Aufstand verursacht hatte.