26. Kapitel

Auf der Treppe zur Krypta hinunter wurde Sarah nervös.

»Ist Ezra dort unten oder ist er es nicht, Pastor? Sagen Sie es mir jetzt bitte!«

»Es tut mir leid, Mrs. Doyle. Sobald wir miteinander gesprochen haben, werden Sie alles verstehen. Bitte beeilen Sie sich, wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Am Fuß der Treppe sah Sarah sich rasch um. »Ich kann ihn nirgends sehen. Ezra ist nicht hier! Sie haben mich angelogen!« Sie fasste den alten Pastor am Oberarm. Für eine Frau war sie ausgesprochen stark. Ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in seine Schulter. »Ich weiß nicht, welches Ziel Sie verfolgen. Aber ich werde auf der Stelle wieder gehen und Ezra suchen. Und sollte ich feststellen, dass er krank oder verletzt ist ...«

»Bitte, Sie tun mir weh!«, sagte der Pastor. »Lassen Sie uns unter vier Augen sprechen!«

Sarah ließ ihre Hände sinken. »Warum sollte ich Sie anhören, nachdem Sie mich unter einem Vorwand hierher gelockt haben?«

»Kennen Sie sich mit Sarkophagen aus?« McKee sprach sehr schnell und gehetzt. Sarah verstand nicht, warum.

Den Begriff »Sarkophag« hatte sie noch nie gehört. »Nein, kenne ich mich nicht ...«

»Die steinernen Särge dort drüben. Sie sind alle beide leer. Das heißt, normalerweise sind sie leer. Momentan allerdings enthält der rechte eine ordentliche Menge Wasser. Nun machen Sie sich keine Sorgen, ich weiß, es klingt eigentümlich. Und später werde ich Ihnen alles gern erklären. Aber wenn ich Sie jetzt wohl bitten dürfte, sich in diesen Sarkophag hineinzubegeben ...« Er versuchte, sie am Ellbogen hinüberführen.

»Aber nie und nimmer! Was ist denn nur in Sie gefahren, Pastor? Ich bitte Sie, lassen Sie meinen Arm los! Sie haben keine Vorstellung, welche Kräfte ich besitze. Bitte! Ich möchte Ihnen nicht wehtun müssen!«

»Es gibt da einen speziellen Vorwurf gegen Sie«, versuchte McKee, immer noch gehetzt, zu erklären, während er weiter an Sarah zerrte. »Wenn ich Sie bitte untertauchen könnte, Mrs. Doyle, bevor sie kommt. Dann werde ich Ihre Anklägerin davon überzeugen, dass ich die Probe an Ihnen vollzogen habe und dass Sie von keinerlei Dämon des Meeres besessen sind. Und dann wird sie aufhören, auf einen Exorzismus zu drängen, und wir werden alle in Frieden weiterleben ...«

Sarah machte sich los. Der alte Mann hatte gerötete Augenlider und ein müdes Gesicht.

»Exorzismus? Mich untertauchen? Eine Probe an mir vollziehen? Pastor, Sie sprechen wie ein Geisteskranker! Es geht Ihnen nicht gut. Ich werde jemand herunterschicken, der sich um Sie kümmert. Aber ich gehe jetzt.«

»Ich versichere Ihnen, mit mir ist alles in Ordnung. Bitte vertrauen Sie mir, Sarah.« Er blickte ihr in die Augen, und sie sah, dass es ihm ernst war. Geradezu verzweifelt ernst. Er senkte die Stimme und versuchte, sich deutlicher auszudrücken. »Es gibt da ein Gemeindemitglied, das glaubt, Sie hätten Umgang mit Meeresbewohnern – mit Nixen und Sirenen. Und dass Sie unter Wasser atmen können und in fremden Zungen sprechen. Die Frau ist einfach nicht davon abzubringen, Mrs. Doyle! Ich habe wirklich viel und ernsthaft über diese Sache nachgedacht, und dies ist der einzige Weg. Wenn ich ihr glaubhaft versichern kann, dass ich die Probe an Ihnen vollzogen habe, wird sie Sie in Frieden lassen. Ich werde wieder in aller Ruhe mein Dasein als pensionierter Pastor führen können und die Sache ist beendet.«

»Die Sache ist beendet, bevor sie beginnt!«

»Aber wenn ich sie nicht irgendwie glauben machen kann, dass ich es getan habe, wird sie mich beim Ältestenrat anschwärzen!«

»Das tut mir leid für Sie, Pastor. Wirklich. Aber ich gehe jetzt Ezra suchen.« Sie wandte sich zur Treppe.

»Sarah!«, sagte McKee ernst und fasste sie am Arm. »Ich habe Sie aus dem Wasser kommen sehen!«

Sarah blieb stehen. Sie blickte ihm in die Augen und versuchte zu erraten, worauf er hinauswollte.

»Und zur gleichen Stunde habe ich eine Sirene gesehen, unter Wasser, bei der Buhne – eine äußerst rätselhafte und fesselnde Kreatur.« Seine Augen traten ein wenig hervor. »Wenn sich Ihre Anklägerin an den Ältestenrat wendet und wenn der Ältestenrat wiederum mich fragt, werde ich berichten müssen, was ich beobachtet habe. Ich bin ein alter Mann, Sarah. Ich habe keine Familie, hier nicht und auch nicht mehr in Tain. Wo sollte ich noch hin?«

Sarah stand wie erstarrt da. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Panik durchzuckte ihren gesamten Körper. Sie musste gut nachdenken und achtgeben, dass sie sich nicht in Gefahr begab. Aber im Grunde hatte sie nur eine Sorge: Wo war Ezra?

»Bitte – Sie müssen im Wasser untertauchen!«, fuhr Pastor McKee fort. »Nur kurz, und dann hinterlassen Sie ein paar Pfützen auf dem Boden, und ich werde ihr sagen können, dass sie sich in Ihnen getäuscht hat. Sie wird jeden Moment hier in der Krypta sein. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Und wir könnten längst fertig sein.«

»Wer?«, forschte Sarah entschlossen nach. »Wer wird jeden Moment hier sein?«

»Bitte gehen Sie doch ins Wasser! Und bitte vertrauen Sie mir. Damit dieser Unfug hier ein Ende findet.«

Sarah sah zum Sarkophag hinüber. Was der Pastor verlangte, war die einfachste Sache der Welt: Sie musste in den Sarkophag steigen, kurz untertauchen und wieder herauskommen. Dann würde er seine Vermutung für sich behalten. Unsicher trat Sarah an den Steinsarg heran und sah ins Wasser.

»Wo ist Ezra?«

»Er wird bestimmt längst zu Hause sein. Es geht ihm gut. So viel kann ich Ihnen versichern. Wir haben im ›White Horse‹ ein Bier miteinander getrunken. Es war ein Trick, um Sie hierher zu locken, und dafür bitte ich Sie vielmals um Verzeihung.« Er blickte zur Treppe, als schwante ihm etwas, und er sah wieder flehend zu Sarah.

Einmal hinein ins Wasser und wieder hinaus. Dann würde Sarah nach Hause zurückkehren, zu Ezra, und ihr Geheimnis wahren können.

Sie legte ihren Mantel und ihre Schuhe ab.

»Oh, bitte beeilen Sie sich«, bat der Pastor. Er sah wieder über seine Schulter.

Sarah schwang ihr Bein über den Rand des Sarkophags und tauchte den Fuß ins Wasser. Dann zögerte sie.

»Wer ist meine Anklägerin?«

»Dazu ist jetzt keine Zeit. Später, bitte!«

Mit beiden Beinen stieg Sarah in den Steinsarg. Sie setzte sich, ließ ihren Oberkörper nach hinten sinken und tauchte unter. Auch unter der Wasseroberfläche hielt sie die Augen offen und unablässig auf den Pastor gerichtet. Dann richtete sie sich auf und durchstieß mit dem Gesicht die Oberfläche. »Wer ist meine Anklägerin?«, wiederholte sie.

»Es ist die Witwe Eleanor Ontstaan«, antwortete er und reichte ihr die Hand, um Sarah aus dem Sarkophag zu helfen. »Schnell jetzt!«

Aber das hätte er gar nicht mehr sagen müssen, denn über seine Schulter hinweg sah Sarah eine Frau mit entschlossenen Schritten auf den Sarkophag zueilen. Ihr leicht ergrautes blondes Haar löste sich unter der Haube und hing in strohigen Strähnen herab. Sie hatte die Augen fest auf Sarah gerichtet und verbarg den rechten Arm hinter dem Rücken. Irgendwie kam Sarah ihr Name bekannt vor.

Der Pastor wandte sich um. »Mrs. Ontstaan! Ich habe die Probe vollzogen und ...«

»Das habt Ihr nicht, Pastor! Ihr seid schwach und ängstlich und Ihr führt uns alle hinters Licht! Ihr beschützt wissentlich ein Ungeheuer, eine Mörderin. Das ist nicht gottgefällig. Unter uns ist kein Platz für sie!«

Unsägliche Angst ließ Sarahs Herz zusammenzucken, als Eleanor nun den Arm hinter ihrem Rücken nach vorn riss und auf den Sarg zustürzte. In ihrer Hand blitzte ein Messer.

Die Witwe Eleanor Ontstaan. Die Witwe! Sarah blieb kaum Zeit, die Wahrheit zu realisieren: Dies war die Frau des Fischers, den sie getötet hatte! Sie versuchte, aus dem Sarkophag zu springen, aber der Stoff ihres mehrlagigen Kleids und ihr Unterrock waren zusammen unerwartet schwer und behinderten sie. Dem Pastor blieb gerade noch Zeit, überrascht die Hände zu heben, als Eleanor Sarah schon attackierte und mit dem Messer auf sie einstach. Reflexartig drehte Sarah sich immer wieder zur Seite, sodass Eleanor überwiegend ins Leere stach.

Schließlich traf ein Messerhieb, der sie beinahe verletzt hätte, Sarahs Kleid, und die Klinge blieb im Ärmel stecken. Sarah bekam Eleanors Handgelenk zu fassen, und Pastor McKee hörte Knochen brechen, bevor das Messer zu Boden fiel und bis vor seine Füße über den Boden rutschte. Eleanor stieß einen grauenerregenden, kehligen Schmerzensschrei aus. Sarah aber zerrte Eleanor zu sich in den Sarkophag hinein und fiel, ihr Körper unter dem von Eleanor, hintenüber.

»Du Ungeheuer!«, schrie Eleanor und versuchte, Sarahs Kopf mit ihrer unverletzten Hand gegen den Boden des Steinsargs zu stoßen. »Du hast Olaf getötet!«

Das Wasser im Inneren des Sarkophags schwappte hoch und spritzte über den Rand, während die beiden Frauen miteinander kämpften. Schließlich bekam Sarah Eleanor in einer Art Schwitzkasten zu fassen und drückte und rang sie nieder, bis Eleanor sich schließlich unter ihr befand, den Kopf im Wasser, die Augen weit geöffnet und die Backen gebläht. Eleanor hob ihre linke Hand und tastete nach Sarahs Gesicht.

Der Pastor versuchte, Sarah von Eleanor herunterzuziehen, aber er war schwach und alt – und Sarah war stark und wütend. Er wusste nicht, wie lange Eleanor die Luft würde anhalten können. Er schlug auf Sarahs Rücken ein, aber es waren schlecht gezielte Hiebe, die nichts ausrichteten. »Herrgott, steh mir bei!«, rief er über seine eigene Machtlosigkeit entsetzt aus.

Jetzt ertastete Eleanors linker Zeigefinger Sarahs rechtes Auge und drückte es nach innen. Sarah schrie vor Schmerz und stieß ihre Widersacherin so heftig von sich, dass Eleanors Hand wegrutschte. Eleanor wand sich aus Leibeskräften, um Sarah abzuschütteln. Und je länger sie unter Wasser war, umso panischer und zielloser schlug sie um sich.

Allmählich wurden Eleanors Bewegungen schwächer und aus ihrem Mund und ihrer Nase stiegen keinerlei Luftblasen mehr auf. Dennoch drückte Sarah sie weiter unter Wasser, bis ihre Armmuskeln vor Anspannung bebten.

»Lassen Sie sie los, Sarah!«, schrie der Pastor. »Um Himmels willen, Sie töten sie noch!«

Panisch blickte er sich um. Er musste Eleanor beistehen, irgendwie! Er bückte sich, nahm das Messer und tat etwas, das gegen alles verstieß, woran er je geglaubt hatte: Er hob den Arm, schloss die Augen und stach auf Sarah ein.