Nachdem Pastor McKee sich verwirrend eilig verabschiedet hatte, kehrte Ezra nach Hause zurück. Der arme Alte! Mit seinen fortgeschrittenen Jahren litt er wohl unter beginnender Demenz.
Im Haus war alles still. Es roch nach Brathühnchen und Kartoffelkuchen. Ezra atmete tief durch und hing seinen Mantel und seinen Hut an die Garderobe neben der Tür.
»Sarah?«, rief er und ging in die Bibliothek, weil er dort seine Frau zu finden glaubte. Das Feuer war zu orangefarbener Glut zusammengesunken. Sein Journal lag auf dem Tisch neben dem Polstersessel, noch über Sarahs neuester Erwerbung: dem Roman Jane Eyre. Ezra nahm sein Journal und blätterte darin. Viele Seiten waren leer. Er lächelte. Vor einigen Wochen hatte seine Frau eine Lösung gefunden, wie man das Buch vor der Öffentlichkeit schützen konnte. Und ihre Gefährtinnen aus dem Meer hatten ihr mit ihren geheimnisvollen Kräften geholfen, den Plan in die Tat umzusetzen: Sarah hatte die Möglichkeit, sich an den vollständigen Aufzeichnungen zu erfreuen, was sie auch oft tat – aber Fremden war dies nicht vergönnt.
Ezra ging zum Fuß der Treppe. »Sarah?«, rief er hinauf.
Mrs. Banks erschien am oberen Ende. Sie trug gefaltete Leinentücher über dem Arm. »Mr. Doyle! Sir! Meine Güte, Sie sind gesund! Dem Himmel sei Dank!«
»Natürlich bin ich gesund, Annie. Wo ist Sarah?«
»Na, sie ist zur Kirche gelaufen! Eine halbe Stunde mag es her sein, vielleicht auch mehr. Sie hat sich um Sie gesorgt!«
Ezra runzelte die Stirn. »McKee und ich sind von der Kirche aus weiter zum Pub gegangen.«
Er war schon nicht mehr zu sehen, als Mrs. Banks noch rief: »Man hat ein kleines Mädchen hierher geschickt. Sie hat gesagt, Sie seien krank geworden, in der Kirche ...« Bei dem Wort »Kirche« fiel die Haustür bereits donnernd ins Schloss.
Mit seinen langen Beinen konnte Ezra weit ausschreiten, sodass er den Town Square nach sechzehn Minuten erreichte. Kurz bevor er bei der Kirche ankam, entrang sich seinem Inneren ein Laut. Er hörte das Gebrüll eines Mannes. Es waren verzweifelte, unkontrollierte Schreie, wie von einem verwirrten, gefangenen Tier.
Ezra zog am linken Flügel des Hauptportals, aber die Tür war verschlossen. Auch das Rütteln an der rechten Seite war umsonst. In diesem Moment hörte er den Schrei einer Frau.
Er lief zum Hintereingang. Das Herz raste ihm in der Brust, sein Atem ging schnell und vor Schweiß klebten ihm die Haare am Schädel. Aus dem Augenwinkel sah er in der Dunkelheit ein kleines Mädchen zwischen den Grabsteinen kauern. Sie umklammerte ein in Decken gewickeltes Bündel und schluchzte unter dem Lärm, der aus dem Inneren der Kirche drang.
»Oh, Sir«, stammelte sie.
Ezra erinnerte sich an Mrs. Banks´ Worte: »Ein kleines Mädchen hat gesagt, Sie seien krank geworden.«
Er kümmerte sich nicht um das Kind und riss die Hintertür auf. Licht floss heraus, und wieder hörte Ezra die Schreie des Mannes, gedämpft zwar, nun aber doch mit deutlich zu unterscheidenden Worten. »Sie bringen Sie um!«
Die Worte kamen aus der Krypta.
Ezra sprang die Treppe hinab, immer drei Stufen auf einmal nehmend, und einen Augenblick später entfaltete sich das Geschehen vor seinen Augen.
In einem der Sarkophage kniete Sarah, von Wasser und Blut triefend. Und Michael McKee – genau der Mann, auf dessen Gesundheit Ezra noch vor einer Stunde angestoßen hatte – hielt ein blutiges Messer in der Hand.
Wie der Blitz stürzte Ezra auf ihn zu. Er packte den Alten am Kragen und riss ihn von seiner Frau weg. Rücklings fiel McKee zu Boden. Sarah hatte ihren Blick auf Ezra gerichtet, und für den Bruchteil einer Sekunde war Furcht in ihren Augen zu erkennen, Furcht um sich selbst und um Ezra, gefolgt von tiefster Resignation, bevor sie mit dem Gesicht voran ins Wasser fiel. Ezra griff nach ihr. Der Sarkophag schien nur mit Blut gefüllt zu sein, so dickflüssig und undurchsichtig, dass Ezra den Körper, der unter seiner Frau lag, nicht erkennen konnte. Im selben Moment sah er den Grund dafür: Einer der Hiebe des Alten hatte Sarah in den Hals getroffen. Das Blut sprudelte aus ihrer Halsschlagader heraus. Es war eine tödliche Verletzung.
»Nein!«, rief er und drückte seine Finger auf den Schnitt, um die Blutung zu stoppen. Aber das Blut strömte weiter. Es floss über seine Hand und rann von seinen Handgelenken bis zum Ellbogen hinab.
Unter großen Mühen versuchte er, Sarah auf die Seite zu drehen. Ihre Haut war jetzt nicht mehr weiß, sondern grau. Sarah atmete nicht mehr. Der purpurrote Strom aus ihrem Hals verlangsamte sich mit ihrem sinkenden Blutdruck und ihr Herz hörte auf zu schlagen. Ezra legte seinen Mund auf ihre Lippen und blies Luft in ihre Lunge.
Unterdessen rappelte sich der Alte auf und wankte unkontrolliert weinend auf Ezra zu.
»Sie hat Mrs. Ontstaan ertränkt«, brachte er, zwischen Schluchzern nach Atem ringend, hervor.
Noch immer versuchte Ezra verzweifelt, Sarah Atem zu spenden. Er wusste selbst, dass es aussichtslos war – wollte es sich aber nicht eingestehen. Im selben Moment, in dem er aufhörte, für sie zu atmen, müsste er beginnen, ohne sie zu leben.
»Ich habe versucht, sie abzuhalten ... ich wollte ihr nichts tun!« Der Pastor sah auf die Waffe in seiner Hand. »Dies ist nicht mein Messer! Was habe ich nur getan?«
Ezra ließ Sarah los. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Züge entspannt. Sie sah friedvoll aus im Tod.
Im Tod.
Mit starrem Blick drehte Ezra sich zu McKee. Er packte den Pastor am Hals, drückte zu und schüttelte seinen Kopf. Das Gesicht des Alten wurde dunkelrot. Ein Gurgeln stieg aus seiner Kehle und seine Augen traten hervor. Der Hals des Pastors war so dünn, dass Ezra ihn mit beiden Händen umfassen konnte und sich seine Fingerspitzen berührten. Sein dürrer Körper – Haut und Knochen, die mit Kleidung behängt waren – gab unter ihm nach, und Ezra musste feststellen, dass er das gesamte Gewicht des Mannes, was nicht mehr als vielleicht sechzig Kilo sein mochten, hielt. Es war grotesk, dass dieses Fliegengewicht Sarah aus dem Leben befördert hatte. McKee konnte geradezu Mitleid erregen.
In Ezras Blick mischten sich Skrupel. Er musste seinen Griff lockern, bevor der Alte bewusstlos wurde. Und zwar jetzt, sonst gab es kein Zurück mehr.
Aber es war zu spät für Erbarmen. Das Messer, das der Pastor noch immer in der Hand hielt, bohrte sich tief in Ezras linke Brusthälfte.
Zunächst spürte Ezra nur einen Druck, keinen Schmerz. Er sah an sich hinab und nahm den bizarren Anblick des aus seinem Körper herausragenden Griffes wahr.
Seine Daumen lagen auf dem Kehlkopf des Pastors. Aus Leibeskräften drückte er so lange zu, bis er spürte, wie der Kehlkopf nachgab und sich verschob, sodass Ezra nun die Luftröhre gegen die Halswirbel presste. Schließlich ließ er ihn fallen. McKee sank zu Boden, das Gesicht blau verfärbt. Ein hoher Pfeifton drang aus seiner Kehle, während er vergeblich zu atmen versuchte. Er erstickte.
Ezra schrie vor Kummer auf. Sarah war tot.
Der Alte starb.
Und er würde nun ebenfalls sterben.
Das Messer in seinem Körper schmerzte nun und er spürte noch immer einen seltsamen Druck auf seiner Brust. Aus der Wunde sickerte kaum Blut. Nur zu gern hätte er das Messer herausgezogen, aber instinktiv wusste er, dass es die Wunde versiegelte und ihn noch für kurze Zeit am Leben halten würde.
Viel Zeit blieb ihm allerdings nicht.
Er dachte rasch nach. Ohne an das Messer zu kommen und damit seinen Tod herbeizuführen, konnte er Sarah nicht auf den Armen tragen. Daher drehte er sich mit dem Rücken zum Sarkophag und legte Sarahs rechten Arm über seine linke Schulter. Ihren linken Arm ließ er herabbaumeln. Dann schob er seinen rechten Arm zwischen ihre Beine und stemmte sie in die Höhe, sodass sie auf seinen Schultern lag. Ihr Körper war noch warm. Ihr Gesicht lag schwer auf seinem linken Oberarm, als wenn sie schliefe.
Ein abgrundtiefer Schmerz breitete sich in Ezras Herz aus.
Er trug sie die Treppe hinauf und durch den Hintereingang der Kirche hinaus ins Freie. Schweiß und Tränen machten ihn blind.
»Oje! Die arme Mrs. Doyle! Was ist denn nur passiert?« Es war die Stimme des kleinen Mädchens, irgendwo zu Ezras Füßen. Er lief an ihr vorüber, aber sie folgte ihm und trat mit ihrer Schuhspitze gegen seine Ferse. Sein Fuß schlüpfte aus dem Schuh. Ezra strauchelte und wäre durch das Gewicht auf seinen Schultern beinahe hingefallen. Ein stechender Schmerz durchschoss seine Brust. Schwindel überkam ihn. Einen Augenblick lang wurde es schwarz vor seinen Augen.
»Bitte helfen Sie mir, Sir«, sagte das kleine Mädchen. »Ich will nach Hause. Ich will zu meiner Mom.«
Ezra richtete sich auf und nahm sich die Zeit, zugunsten des Gleichgewichts auch aus dem anderen Schuh zu schlüpfen. Allmählich wurde er bedenklich kurzatmig. Diese Verzögerung kostete ihn möglicherweise das letzte bisschen Hoffnung, das es überhaupt gegeben hatte.
Das kleine Mädchen war um ihn herum gelaufen und stand nun vor ihm. Vom Weinen waren ihre Augen gerötet und geschwollen. Ezra sah, dass sie in den Decken auf ihrem Arm ein Baby trug.
»Geh mir aus dem Weg!«, platzte er heraus.
»Aber Sir, sie ist so schwer!«
Ezra war völlig benommen. Seine Beine zitterten. Er versuchte, an dem Mädchen vorbeizugehen, aber sie machte einen Schritt zur Seite und stand wieder vor ihm.
»Geh mir aus dem Weg!«
»Das werde ich nicht tun!«, antwortete Adeline und stampfte mit dem Fuß auf. Aus lauter Angst wurde sie ungehorsam. »Ich weiß nicht, was ich mit dem Baby machen soll!«
»Ich kann dir nicht helfen!«, schrie Ezra. Für einen kurzen Moment ließ er Sarahs Arm los und stieß das Mädchen beiseite. Der Schmerz raubte ihm fast den Atem. Dann machte er sich auf den Weg, die Leyden Street hinab zum Meer.
Aber Adeline war klein für ihr Alter und das Baby war schwer. Durch den Stoß verlor sie das Gleichgewicht. Sie stolperte zur Seite, verlor mit jedem Schritt mehr Halt und bewegte sich dadurch zunehmend schneller voran, bis sie merkte, dass sie gleich fallen würde – gegen einen Grabstein und mit dem empfindlichen Kopf des Babys voraus. Instinktiv drehte sie sich noch im Sturz und drückte das Kind fest an sich.
So schlug sie mit ihrem eigenen Hinterkopf gegen die scharfe Kante eines unlängst errichteten Granitsteins. Ihre Kopfhaut platzte auf, ihr Schädel zerbarst. Ihr Körper sackte gelähmt zusammen. Während sie zu Boden sank, hinterließ ihr Kopf eine Blutspur auf der Inschrift an der Vorderseite des Grabsteins:
BEDENK, WAS UNABÄNDERLICH:
WIE DU HEUT BIST, WARD EINST AUCH ICH.
UND WIE ICH BIN, SO WIRST DU SEIN,
UND SCHLIEßEN WIRD DER TOD DIE REIH’N.
Das Baby landete unverletzt auf Adelines Bauch und begann zu weinen.