Am nächsten Morgen ging Hester mit dem beunruhigend dringenden Wunsch zu ihrem Job, einfach alles hinzuwerfen und zum Strand zu laufen. Der Gedanke, dass der heutige 4. Juli, der Nationalfeiertag, einer der vollsten Tage war, die es im Freilichtmuseum nur geben konnte, war ihr schier unerträglich. Sie hatte keine Lust auf all die Touristen, all die Menschen. Aber schwänzen ging leider nicht.
Sie fand schnell heraus, dass es nur einen Weg gab, sich auf ihren Job zu konzentrieren – indem sie sich ein Mammutprogramm vornahm. An einem einzigen Tag erledigte sie sämtliche häuslichen Arbeiten, die ihr der Kurator für die ganze Woche aufgetragen hatte: Sie jätete Unkraut im Gemüsegarten der Howlands, pflückte Heilkräuter und band sie zum Trocknen mit Zwirn zusammen, kochte zum Mittagessen einen Wurzeleintopf und flickte den Betthimmel. Sie klopfte die Teppiche aus, und anschließend, da keine aufgetragenen Pflichten mehr ausstanden, borgte sie sich von den Männern, die Gouverneur Bradfords Dach deckten, Hammer und Nägel, um eine zerbrochene Fußbank zu reparieren.
Sie klopfte gerade einen Nagel ins harte Holz, als ihre Kollegin Betsy mit einem Eimer Wasser, den sie am Fluss geholt hatte, hereinkam. Eine junge Familie hatte sich in Hesters Hütte eingefunden und Hester beobachtet, aber sie waren allesamt zu schüchtern gewesen, um Fragen zu stellen. Das kam Hester gerade recht. Es widersprach zwar ihren Anweisungen, wenn sie in einer solchen Situation nicht versuchte, ein Gespräch anzuknüpfen, aber sie kümmerte sich nicht darum. Das rhythmische Schlagen mit dem Hammer beruhigte sie.
»Gott zum Gruße, Elizabeth!«, rief Betsy über das Hämmern hinweg.
»Priscilla, was für eine Freude!« Widerwillig ließ Hester den Hammer sinken.
Offenbar verlor der Vater der Familie dadurch, dass die beiden jungen Mädchen miteinander sprachen, die Scheu. »Entschuldigung«, schaltete er sich ein. »Aber ist das denn eine Arbeit für eine Frau? Ich meine damals – zu euren Lebzeiten –, wann war es noch, 1627?«
»Ich nehme mich aller Arbeiten an, Sir, die mein Haushalt und die Familie erfordern. Für all das hat Gott mir die Kraft verliehen«, antwortete Hester. Sie deutete zur Feuerstelle. »Die Suppe für meinen Mann kocht, nicht wahr? Das Haus ist säuberlich gefegt und die Kinder haben bereits gegessen und jäten Unkraut auf den Feldern. Ich habe alle Pflichten einer Ehefrau erfüllt. Soll ich nun das verbliebene Tageslicht mit Träumen und Seufzen verschwenden? Wenn das Euer Vorschlag sein sollte, dann wäre das eine Sünde gegen Gottes Willen.«
»Nehmt Euch nicht zu sehr zu Herzen, was sie sagt, Sir!«, schaltete Betsy sich mit einem Lachen ein. »Ohne Zweifel reicht die Arbeit eines fleißigen Weibes Gott zur Ehre. Doch auch ich würde sagen, dass das Werkeln der Gevatterin Howland heute selbst die Erwartungen des Herrn übertrifft. Mir scheint«, wandte sie sich mit unterdrückter Stimme an Hester, »der Eifer, mit dem du dich all diesen Verrichtungen widmest, hat zu einem Überschuss an Galle geführt und macht dich etwas aufbrausend, Eliza.«
»Hab Dank für deine Anteilnahme, Priscilla. Ich sollte sehen, dass ich etwas esse, das kalt und flüssig ist, damit dir mein Gemüt besser gefällt.«
Betsy wandte sich wieder an die Familie. »Wenn Ihr mir folgen mögt, ich muss die Ziegen füttern und tränken – vielleicht wollen die Kinder ein wenig helfen?«
»Das werden sie gern tun«, antwortete die Mutter und warf Hester im Hinausgehen einen kritischen Blick zu.
Sobald sie sich umgewandt hatten, verdrehte Hester die Augen und hämmerte erneut auf ihren Nagel ein. Danach unterzog sie den Hocker einer Prüfung und stellte mit großer Zufriedenheit fest, dass er wieder stabil war.
Nach ihrem Job schälte Hester sich aus ihrem Kostüm und wusch sich kurz das Gesicht. Sie zog einen kurzen Rock an, ein T-Shirt mit langen Ärmeln und Flip-Flops. Peter und Sam holten sie ab. Sam strahlte.
»Fertig?«, fragte er und kam gleich zur Sache. »Wir müssen im ›Squant´s Treasure‹ sein, bevor die ganzen Leute zum Feuerwerk kommen.«
Auf dem Weg zum Hafen überkam Hester wieder dieses Gefühl, das sie seit jener Partynacht hatte, nur noch viel stärker: dass sie etwas anzog, an den Strand hinunterrief. Die einzig logische Erklärung dafür war, dass sie sich gegen Pastor McKees Appell, sich vom Strand fernzuhalten, auflehnte. Aber wenn es das war – warum fühlte es sich dann wie ein Ziehen von außen an und nicht wie ein innerer Drang? Warum war dieses Gefühl so bohrend, so fordernd, selbst wenn sie nicht daran zu denken versuchte?
Sie sah Peter an. Er schwieg und konzentrierte sich offenbar aufs Fahren. In den zwei Tagen, seitdem sie ihm in der Plimoth Plantation einen Korb gegeben hatte, hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Jetzt sahen sie sich zum ersten Mal wieder, und dieses Treffen war schon vor Wochen durch Sam vereinbart worden.
»Mom und Dad wollen nicht, dass ich mit meinen Kumpels zum Feuerwerk gehe«, hatte er auf dem Heimweg von der Schule erzählt. »Sie denken, ohne Aufsicht benehmen wir uns wie die Wilden.«
»Klingt nicht ganz abwegig«, hatte Peter gesagt.
»Na ja, mag schon sein«, hatte Sam lachend zugestimmt. »Dann müsst ihr mich eben mitnehmen, du und Hester.«
Damals, als sie sich zu dritt auf die Vordersitze von Peters Pick-up gequetscht hatten, erfüllt von dem befreienden Gefühl, dass die Sommerferien angebrochen waren, hatte Hester diesen Vorschlag gut gefunden. Aber jetzt wäre sie eigentlich viel lieber allein am Strand gewesen.
Der Hafenparkplatz war schon komplett voll. Unmengen von Leuten hatten sich mit Decken am Ufer niedergelassen und ein paar typische Großstädter hatten ihre Gebiete eifersüchtig mit rot-weißem Flatterband abgesteckt. Peter fuhr auf den letzten freien Parkplatz. Er war für ›Captain Dave Boats‹ reserviert.
Sam seufzte. »Es zahlt sich doch immer wieder aus, Leute in einflussreichen Positionen zu kennen.«
Hester stieg aus dem Wagen. Sie reckte sich und sah zum Strand hinunter. Das Wasser stand sehr hoch, sodass kaum noch Sand frei lag.
»Wie weit ist die Flut denn, Peter?«, fragte Hester so nebensächlich, wie sie nur konnte.
»Wir haben fast Hochwasser. Der Höhepunkt müsste in der nächsten Viertelstunde erreicht sein.«
»Dann ist Niedrigwasser also ...«
»Kurz nach Mitternacht. Ich glaube, ich weiß, was du vorhast, und ich finde, das ist gar keine schlechte Idee.«
»Was denn?«, fragte Hester. »Was habe ich denn vor?«
»Gegen neun Uhr, wenn das Feuerwerk beginnt, wird die Ebbe den Strand zur Hälfte wieder freigegeben haben. Auf der Wiese wird es rappelvoll sein. Aber vielleicht finden wir einen guten Platz dort unten.«
»Man könnte es jedenfalls mal versuchen«, stimmte Sam zu.
Hester nickte. »Ja. Am Strand.« Von der unablässigen Anziehung, dem verwirrenden Ruf war ihr Geist wie umnebelt. Das Bild der Höhle erschien vor ihrem geistigen Auge. Das war es, wohin sie wollte!
»Und wenn wir nach dem Essen bis zum Picknickgelände hinter dem Plymouth Rock laufen, wo die Party war?«, schlug sie vor. »Dann können wir von dort aus zum Strand hinunter.«
Hester aß kaum etwas von ihren gekochten Muscheln. Was übrig blieb, überließ sie Sam. Für den Strand war es noch zu früh, darum gingen sie zu ›Scooper Dooper‹, um noch ein Eis zu essen. Dort stießen sie auf Sams Kumpel, die den Laden in eine Art Zoo verwandelten – und Sams durchdringende Stimme übertönte alles.
Hester konnte sich auf nichts konzentrieren. Sie spürte nur das Ziehen in ihrem Inneren. Die reale Welt erschien wie hinter einer Nebelwand.
Sie saßen an einem kleinen Tisch am Fenster. Rundherum konnte man nur stehen. Peter nippte an einer Cola und lachte hier und da über Sams Faxen. Ansonsten blieb er still. Hester starrte aus dem Fenster und bekam von Zeit zu Zeit mit, dass Peter sie ansah. Unter Aufbringung all ihres Willens gelang es ihr, ihm ein paar Mal zuzulächeln. Immerhin hatte sie ja etwas gutzumachen, nachdem sie sich in der Plantation so scheußlich aufgeführt hatte, oder? Aber es war jedes Mal ein leeres Lächeln. Sie hatte nichts zu sagen und ihr Blick wurde wieder nach draußen gezogen.
»Jungs, wollen wir nicht einfach jetzt schon zum Picknickgelände gehen?«, schlug sie schließlich vor. Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und bahnte sich einen Weg aus der überfüllten Eisdiele hinaus.
Es strengte sie nicht im Geringsten an, die Strecke zu Fuß zurückzulegen – als hätte sie einen stetigen Wind im Rücken. Es war einfach die Richtung, in die sich ihr Körper bewegen musste. Ein Weg, den sie fast von selbst ging. Sam und Peter blieben zurück, obwohl sie größere Schritte machten.
Als sie das Picknickgelände erreicht hatte, drängte Hester sich durch die Menge hindurch zur Steintreppe. Dort angekommen, war sie ernüchtert. Obwohl die Sonne schon untergegangen war und der Mond noch nicht schien, konnte sie im verbliebenen Licht der Dämmerung erkennen, dass der Strand voller Leute war.
»Mist«, stellte Sam fest, sobald er neben ihr stand. »Da hatten wohl alle die gleiche Idee!«
Sie gingen hinunter und begnügten sich mit einem steinigen, feuchten Stehplätzchen. Es war kühl. Hester verschränkte ihre Arme und sah sehnsuchtsvoll Richtung Höhle. Sie war tief enttäuscht, dass sie nicht einfach hinlaufen konnte.
Im Lauf der nächsten Minuten wurde der Himmel vollkommen dunkel. Wie Nadelstiche leuchteten die Sterne. Erwartung machte sich in der Menge breit. Dann stieg die erste Rakete auf und erleuchtete den Himmel. Die Zuschauer jubelten. Ein kleiner Junge neben Hester quietschte vor Vergnügen. Nach der zweiten Rakete spürte Hester Peters Hand auf ihrer Schulter. Sie wandte sich zu ihm um und hätte ihn fast wütend angesehen, konnte sich aber gerade noch bremsen. Er wollte sie nur auf etwas aufmerksam machen.
»Da drüben sind noch ein paar Stufen frei. Sollen wir hingehen?«, fragte er durch den Jubel der Menge nach der dritten Rakete. Beim nächsten Lichtflackern sah Hester, dass er recht hatte: Es war sogar noch viel Platz auf der Treppe.
Hester nickte zustimmend. Die Sicht war dort besser, und es war jetzt auch egal, wenn sie nicht mehr am Strand standen. An diesem Abend saß sie ohnehin in der Falle. Sie musste Sams große Schwester spielen, bei Peter etwas wiedergutmachen und überhaupt so tun, als gehörte sie zu all dem dazu.
Sie sah zu Sam hinüber und ein schlechtes Gewissen durchzuckte sie. Warum konnte sie den Abend nicht einfach genießen? Warum erlaubte sie diesem nagenden Gefühl, sie aufzuzehren, so weit, dass sie die Menschen anfuhr, die sie doch am meisten mochte? Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie sich geradezu schmerzlich nach einem Wiedersehen mit Ezra sehnte. Und wenn sie restlos ehrlich sein sollte, war ihr nur zu klar, dass dieses Verlangen drauf und dran war, sich zu einer Besessenheit auszuwachsen. Vielleicht hatte Pastor McKee doch recht, dass es tatsächlich gesünder für sie war, wenn sie Ezra mied. Sie fasste Sam am Ellbogen und deutete zur Treppe hinüber.
Die zweite und die dritte Stufe von oben waren frei. Hester und Sam setzten sich nebeneinander und Peter blieb eine Stufe oberhalb hinter ihnen stehen. Wieder machte sich das ziehende Gefühl in ihrem Herzen breit, aber Hester beschloss, es zu ignorieren. Um ihre Beine warm zu halten, umspannte Hester sie mit den Armen. Peters Jacke legte sich um ihre Schultern.
Hester versuchte sich auf das Spiegelbild des Feuerwerks auf dem Wasser zu konzentrieren, aber die Anziehung wurde auf beinahe schmerzhafte Weise übermächtig. Sie schloss die Augen und gab auf. Sie konnte das Gefühl nicht abschalten. Sie konnte es nur ertragen.
Die Ohs und Ahs der Leute begannen ihr auf die Nerven zu gehen. Es war eine dumpfe Herde, die zwischen ihr stand und zwischen ... tja, was nur?
Sie schlug die Augen auf. »Ich hasse die Touristen«, sagte sie laut.
»Die Touristen zahlen aber deinen Lohn«, entgegnete Peter von oben mit einem Lachen.
Bei der nächsten Explosion flackernder Lichter erregte irgendetwas in der Menge Hesters Aufmerksamkeit. Die größten Raketen brachten grelle Neonblitze hervor, die beinahe taghell waren. Einen Moment lang sah Hester lauter zum Himmel gerichtete Gesichter: Männer mit Baseballkappen und Frauen, die kleine Kinder auf den Armen trugen und zum Himmel hinauf zeigten. Irgendetwas ließ Hester ihren Blick auf eine bestimmte Stelle richten, und mit dem nächsten Lichtflackern machte sie Ezra mitten in der Menge aus.
Und dann kam es ihr vor, als seien die Leute rund um ihn herum wie weggeschmolzen. Da stand er: groß und schlaksig – und so außergewöhnlich, so besonders.
Er hatte die Hände in die Taschen seiner schwarzen Hose geschoben und sah Hester an. Langsam stand sie auf. Dabei rutschte Peters Jacke von ihren Schultern. Drei Raketenexplosionen lang sahen sie sich über den Strand hinweg an. Jetzt nahm er seine rechte Hand aus der Tasche und winkte ihr schlicht und mutlos zu. Zwischen ihnen stand so viel: Peter, Sam und etwa tausend Fremde. Hester hob die Hand und winkte auf die gleiche Art zurück.
»Wen siehst du denn?«, erkundigte sich Peter.
Hester zuckte zusammen. Sie drehte sich um und sah ihn an.
»Jemanden von der Schule?« Er hob seine Jacke auf und bot sie ihr wieder an.
»Nein, ich habe mich geirrt.« Sie wehrte die Jacke sanft ab. »Danke, mir ist nicht mehr kalt.«
Jetzt begann das Finale des Feuerwerks. Zischen, Pfeifen und ohrenbetäubende Donnerschläge übertönten jegliches weitere Geräusch. Die Luft roch stark nach Schwefel und Rauch. Und nun explodierten so viele Feuerwerkskörper auf einmal, dass die Zuschauer so gut wie ununterbrochen in helles Licht getaucht waren.
Aber Ezra war verschwunden.