30. Kapitel

Auf dem Weg zurück vom Feuerwerk wanderten Hesters Gedanken immer wieder zum Strand. Der Drang, zur Höhle zu laufen, war jetzt nicht mehr nur nagend, er verzehrte sie. Je weiter Peters Pick-up sie davon wegbrachte, umso schmerzhafter wurde es, dies innerlich zu ertragen.

Als sie aufgebrochen waren, hatte sich das Wasser schon wieder stark zurückgezogen. Aber Hunderte Touristen waren noch da gewesen und Teenager in Partylaune. Mit keinem dieser Leute wollte Hester den Strand und die Höhle teilen.

Sie rechnete aus, dass bei einem Gezeiten-Rhythmus von etwa zwölf Stunden morgen Mittag wieder Niedrigwasser sein musste – während ihres Jobs. Bereits am Tag zuvor hatte sie eine verlängerte Mittagspause gemacht. Sie konnte nicht schon wieder darum bitten. Schließlich war Hochsaison. Hester schüttelte den Kopf, stieß den Atem aus und nahm sich zusammen. Sie saß neben Peter, und obwohl seine Augen auf die Straße gerichtet waren, spürte sie, dass er ihre Stimmung wahrnahm.

Ohne Sams Einladung anzunehmen, noch auf einen späten Imbiss mit ins Haus zu kommen, setzte Peter die beiden ab. Hester rang sich einen unbekümmerten Gruß ab und ging dann schnurstracks in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür, klappte ihren Laptop auf und suchte im Internet die Gezeitentabelle für die Südküste. Wie sie vermutet hatte, lag das morgige Niedrigwasser mitten in ihrer Mittagspause. Ihre Pause dauerte nur eine Dreiviertelstunde, und wenn sie sich erst umzog und dann zum Strand fuhr, würden ihr nicht mal mehr zwanzig Minuten bleiben.

Ihr Finger wanderte über den Computerbildschirm. Das nächste Niedrigwasser war erst wieder morgens um 1:09 Uhr.

Sie klappte den Computer zu und warf sich gegen die Rücklehne ihres Stuhls. Nicht um alles in der Welt würden Malcolm und Nancy sie nach Mitternacht allein herumlaufen lassen!

Am Abend des nächsten quälend langen Arbeitstages war Hester klar, dass sie keine Wahl hatte: Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich heimlich nachts aus dem Haus zu stehlen. Sie hielt es einfach nicht mehr aus, den Strand zu meiden.

Peter fuhr sie nach Hause und Hester verabschiedete sich. Dieses Mal wollte sie allerdings warten, bis er weggefahren war, bevor sie ins Haus ging. Sie hatte sich etwas ausgedacht: Sie wollte ihr Fahrrad aus der Garage holen und es hinter dem Haus verstecken, damit sie sich in der Nacht ohne Lärm davonmachen konnte. Peter wartete aber ebenfalls, und da Hester keinen vernünftigen Grund hatte, wie angewurzelt stehen zu bleiben, winkte sie ihm mit einem hilflosen Schulterzucken – weil ihr mit einem Mal klar wurde, wie seltsam Peter ihre plötzliche Aufmerksamkeit ihm gegenüber vorkommen musste. Als er losfuhr, grinste er verwirrt und schüttelte ratlos den Kopf.

Nachdem sie ihr Fahrrad bereitgestellt hatte, betrat Hester das Haus durch die Vordertür. Ohne große Begeisterung aß sie ihr Abendessen und versuchte, dem Gespräch zu folgen. Aber es gelang ihr nicht. Sie half den Tisch abräumen und das Geschirr spülen, dann entschuldigte sie sich mit der Ausrede, lesen zu wollen. Oben duschte sie, putzte sich die Zähne und zog frische Kleider an. Dann legte sie sich ins Bett und begann in dem einzigen Buch zu lesen, das sie derzeit fesseln konnte – im Doyle-Journal.

Sooft sie das Buch in die Hand nahm, fühlte es sich warm an, als wenn vor ihr jemand darin gelesen und es gerade erst weggelegt hätte. Hester las eine Abhandlung darüber, wie die männlichen Individuen der Sirenen- und Nixenvölker sich gegenseitig in kriegerischen Auseinandersetzungen nach und nach umgebracht hatten und dass das letzte Baby vor tausend Jahren das Erwachsenenalter erreicht hatte. Daher war ihre Welt nun kinderlos, abgesehen von ein paar vereinzelten menschlichen Findelkindern, die man zu Wasseratmern hatte verwandeln können. Illustriert wurde die Abhandlung durch die wundervolle Zeichnung einer sehr hellhäutigen, von Wasser umgebenen Frau. Sie hatte scharfe Flossen und große Augen und hielt ein offenbar lebendiges Menschenkind schützend in ihren Armen. Hinter ihr, auf dem Grund des Meeresbodens, lag als fantastische Kulisse ein Schiffswrack.

Hester strich mit den Fingern über die Illustration. Dieser Doyle musste schon so lange tot sein – trotzdem sprach er noch zu ihr und erregte ihre Fantasie. Sie dachte darüber nach, dass das Niederschreiben von Informationen, Ideen und Geschichten die Zeit zwischen dem Autor und dem Leser verschwinden lassen konnte. Dies war einer der Gründe, warum sie sich in der Schule für Geschichte interessierte: Den Stimmen der Vergangenheit zu lauschen, hatte etwas Romantisches. Sie schlug das Buch zu und atmete den Geruch des Einbands tief ein. Dieser Autor musste zu Lebzeiten ein höchst interessanter Mensch gewesen sein!

Es war zehn Uhr. Hester stellte ihren Wecker auf ein Uhr, mit dem leisesten Signal. Irgendwie und auf wunderbare Weise fiel sie in einen erschöpften Schlaf, das Journal neben ihr im Bett.

Um 00:52 Uhr, bevor sich der Alarm einschaltete, öffnete Hester die Augen. Sie stand auf, stellte das Journal ganz unschuldig in ihr Bücherregal, band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und schnappte sich das Sweatshirt, das sie auf dem Bett bereitgelegt hatte. Mit den Turnschuhen in der Hand lief sie fiebernd vor Aufregung die Treppe hinab. Durch rationales Denken versuchte sie, ihre Nervosität zu beherrschen und sich auf eine Enttäuschung einzustellen: Es war ein Uhr morgens. Sie hatte sich nicht mit ihm verabredet. Er würde nicht da sein. Er sollte besser nicht da sein!

Aber das Ziehen in ihrer Brust verhieß etwas anderes.

Im Wohnzimmer zog Hester ihre Turnschuhe an. Sie band sich im Dunkeln die Schnürsenkel zu und schlich Richtung Küche, zur Hintertür.

Dann sah sie Sam und erstarrte. Sein Körper war auf Hüfthöhe angewinkelt, sein Gesicht und die Brust durch das Licht im Kühlschrank beleuchtet. Bevor sie auch nur daran denken konnte umzukehren, hatte er sie schon gesehen.

Er richtete sich auf und starrte sie an, die Hand immer noch an der geöffneten Kühlschranktür.

Mist, dachte Hester.

»Gehst du noch mal weg?«, fragte er aber einfach nur.

»Hm.« Ohne ihn anzusehen, lief Hester eilig Richtung Hintertür.

»Ich werde dich nicht verraten. Aber irgendeiner sollte schon wissen, wohin du gehst. Für alle Fälle.«

Hester blieb stehen. Erst jetzt merkte sie, dass sie wie ein Dieb gebückt schlich. Sie stellte sich aufrecht hin. Schon oft hatte Sam bewiesen, dass er ein zuverlässiger, treuer Komplize sein konnte. Wovor hatte sie Angst? Es war Jahre her, dass er der kleine Bruder, die Petze, gewesen war.

»Ich will zum Picknickgelände am Strand«, antwortete sie leise. »Bis Dad aufsteht, bin ich wieder da. Ich habe auch mein Handy dabei.«

»Okay.« Sam langte in den Kühlschrank und zog die Hähnchenschnitzel heraus, die vom Abendessen übrig geblieben waren. Bevor sie die Hintertür zuzog, drehte Hester sich noch mal zu ihm um. »Sam?«, flüsterte sie. »Ich bin froh, dass es dich gibt!«

Er schüttelte zwar den Kopf, musste aber grinsen. »Wo kommt das denn jetzt her? Du bist ja ganz schön komisch in letzter Zeit.«

Die Nacht war kühl und klar. Eine sanfte Brise wehte. Kaum ein Mensch war noch auf der Straße. Das Picknickgelände lag im Dunkeln, nur ein paar müde Lichter der altmodischen schmiedeeisernen Laternen leuchteten. Hester lehnte ihr Fahrrad gegen ein Parkverbotsschild. Das vertraute Ziehen in ihrer Brust wies ihr wie ein Leuchtturm den Weg. Wenn sie es sich selbst gestattete, stellte sie sich vor, dass es Ezra war, der sie rief. Eilig und mit zitternden Händen schloss sie ihr Rad ab. Das ist doch alles verrückt, dachte sie.

Warum war sie eigentlich hier? Wie kam das? Warum hatte sie ihren Entschluss, Single zu bleiben, so schnell aufgegeben, nachdem sie Ezra begegnet war? Und was steckte hinter McKees Warnung? Woher hatte er gewusst, dass sie es nicht schaffen würde, den Strand zu meiden?

Sie ließ das Licht der Laternen hinter sich und lief zum oberen Absatz der Steintreppe. Sie schloss die Augen und atmete tief ein, vom inneren Ruf überwältigt. Dann schlug sie die Augen wieder auf und wartete, bis sie sich erneut an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Mond stand in seinem letzten Viertel, aber die Nacht war so klar, dass sein bläuliches Licht ausreichte, um ihr den Weg zu zeigen.

Hester zauderte – dies war ihre letzte Gelegenheit umzukehren. Und mit einem Mal wurde es ihr klar: Sie hatte ihren Widerstand schon in dem Moment aufgegeben, als sie ihr Fahrrad hinter dem Haus bereitgestellt hatte.

Sie ließ sich die Treppe hinunterziehen. Sie betrat den Strand und lief zielstrebig los. Ihre Erwartung stieg, ihr Atem wurde flach und schnell. Und nun, zum ersten Mal, antwortete sie dem Ruf, den sie in ihrem Geist hörte.

Ich bin hier, sandten ihre Gedanken aus. Ich bin hier!

Sie sah ihn aus der Höhle treten und ihr entgegenblicken. Hesters Herz schlug so heftig, dass sie jeden Schlag in ihrem Brustkorb spürte. Sie ging schneller.

Er kam auf sie zu. Hester begann zu laufen, um endlich bei ihm zu sein.

Kurz bevor sie ihn erreichte, öffnete er die Arme. Es war die bewegendste, liebevollste Geste, die sie je gesehen hatte. Sie warf sich hinein und er schloss die Arme um sie. Sie schlang ihre Hände um seinen Hals und er wirbelte Hester einmal im Kreis herum. Mit den Händen hielt er ihre Hüften, ihre Wangen berührten sich, und das elektrische Gefühl wandelte sich zu einer magnetischen Anziehung, die sie aneinanderpresste.

Hester konnte hören, wie er einatmete und dabei glücklich lächelte. Und sie drückte ihn so heftig an sich, dass sie fast befürchtete, ihm wehzutun. Ezra aber hielt sie weiter fest und setzte sie gar nicht mehr ab. Dabei sagte er kein Wort, sondern genoss einfach, dass sie da war. Hester drückte ihre Nase an die kühle Haut seines Halses. Er roch wie das Meer. Jetzt bog er seinen Kopf nach hinten, um sie ansehen zu können. Er betrachtete sie eingehend und sog ihren Anblick geradezu in sich auf. Hester spürte, wie sie rot wurde. Sie legte beide Hände an seinen Hinterkopf, zog sein Gesicht zu sich heran und küsste ihn auf die Augenlider, sodass er die Augen schloss. Dann küsste sie ihn auf seine Wangen und hinter sein Ohr. Als sie ihn erneut ansah, hatte er Tränen in den Augen. Er wirbelte sie noch einmal herum.

»Ich kann noch gar nicht fassen, dass du wirklich hier bist«, flüsterte er.

»Ich bin gekommen, sobald ich konnte«, flüsterte sie zurück.

Jetzt küsste er sie seinerseits zum ersten Mal, zärtlich und sanft. »Ich weiß.«

Dann setzte er Hester wieder ab, hielt sie aber weiter eng umschlungen. Hester wollte mehr. Sie stellte sich auf die Zehen und küsste ihn zaghaft auf die Lippen. Und er ließ sich auf sie ein, versuchte, sie Vertrauen fassen zu lassen, sein brennendes Begehren so gut es ging zu beherrschen und ihr Zeit zu geben. Fast zeitgleich spürte Hester wieder dieses Strömen, das sie schon einmal empfunden hatte. Irgendetwas floss von ihm auf sie über. Es erfüllte sie von Kopf bis Fuß, sodass ihr Körper es kaum aushalten konnte und es irgendwann aus ihr in die nächtliche Umgebung herausplatzen musste.

»Das könnte mein Tod sein«, sagte sie atemlos, als sich ihre Lippen voneinander lösten.

»So etwas darfst du nicht sagen!«

Obwohl es ihr schwerfiel, machte sie sich von ihm los. Sie sah ihn an und hielt dabei seine Hände. Sie waren wunderschön: maskulin, unbehaart, voller Schwielen, aber mit sorgfältig gepflegten Fingernägeln.

»Warum sieht alles an dir so aus, dass ich nicht anders kann, als dich zu lieben?«, fragte sie.

»Wir sind füreinander bestimmt, Hester. Das wusste ich vom ersten Moment an, als ich dich in der Höhle sah. Bis dahin bin ich wie ein Schlafwandler durch ein trauriges Dasein getaumelt. Aber dann standest du plötzlich vor mir, ganz ohne Vorwarnung – wie das möglich ist, weiß ich noch immer nicht –, und ich war fassungslos vor Glück. Die Vorstellung, dass du wieder verschwinden könntest, bevor du selbst es bemerken würdest, war mir unerträglich.«

»Als wir einander begegnet sind, war es aber doch viel zu dunkel, als dass du mich hättest sehen können«, erwiderte sie.

»Aber wir kennen uns doch seit einer Ewigkeit, spürst du das nicht?«

Eigentlich müsste seine eindringliche Art mir Angst machen, überlegte Hester. Stattdessen konnte sie in ihrem tiefsten Inneren – einem verborgenen Teil ihrer Seele, der sich der Logik entzog – nur zu gut verstehen, was er meinte. Vorsichtig ließ sie seine Hand los. »Entschuldige bitte, wenn wir uns berühren, kann ich keinen klaren Gedanken fassen.«

»Lass uns ein paar Schritte gehen.«

Er behielt die Hände in den Taschen und lief mit langsamen, weit ausholenden Schritten. Hester wickelte ihre Arme um ihre Brust – um sich nicht in seine Arme werfen zu müssen.

»Hast du deine Nachforschungen beendet?«, erkundigte er sich.

»Ja.«

Eine Pause entstand.

»Ist es so, wie ich befürchtet habe?«

Hester zog die Liste ihrer weiblichen Vorfahren aus ihrer Tasche. Sie faltete sie auf und reichte sie Ezra. »Nach deinen Kriterien deutet alles auf einen Fluch hin.«

»Das tut mir sehr leid.«

»Wenn dem wirklich so wäre – wie kann man einen Fluch herbeiführen? Und wie kann ich ihn aufheben, Ezra?« Sie unterschlug, was sie eigentlich hätte sagen wollen: Jetzt, wo es auf einmal so wichtig für mich ist, weil ich an nichts anderes mehr denken kann als an dich!

Aber er verstand bereits. »Darf ich daraus schließen, dass du deine bisherige Strategie, sämtliche Liebhaber abzuweisen, aufgibst?«

Sie hörte den neckenden Unterton in seiner Stimme. Sein Blick war fest auf den Sand gerichtet, aber er lächelte.

»Manchmal kannst du einen um den Verstand bringen!«, platzte sie heraus. »Das ist eine ernste Angelegenheit, und wenn es keine Lösung für sie gibt, werde ich niemals mit jemand zusammen sein können.«

»Das tut mir wirklich leid. Ich möchte dir gern helfen. Dennoch ist der Draufgänger in mir wegen dieses Kusses gerade ein bisschen abgelenkt, und er hofft ...«

»Wenn du mir nicht helfen willst, muss ich mich an diesen alten Ziegenbock, Pastor McKee wenden. Der offenbar an den ersten Anzeichen von Alzheimer leidet und mir empfehlen wird, Knoblauch um den Hals zu tragen.«

Unvermittelt blieb Ezra stehen. Hester lief noch ein paar Schritte, bevor sie es bemerkte. Dann drehte sie sich um.

»Sprich nicht mit McKee«, sagte er. Seine Stimme war völlig verändert. Sie klang leise und drohend wie Donnergrollen.

»Wie bitte?«

»Du sollst nicht mit ihm sprechen – und auch nicht auf ihn hören!«

Der Wind frischte auf und Sandkörner peitschen gegen Hesters Hals. Einige Haarsträhnen lösten sich aus ihrem Pferdeschwanz. Sie schob sie sich aus der Stirn.

»Woher kennt ihr euch?«

»Glaub mir, Hester, er hat Dinge getan, die dich schaudern ließen. Du musst dich von ihm fernhalten!« Er sah zum Himmel hinauf und hielt sich die Stirn, um sich zu beherrschen. »Wie viele Male soll dieser alte Narr denn mein Leben zerstören dürfen?«

»Dasselbe hat er von dir auch gesagt«, sagte Hester leise.

»Dass ich sein Leben zerstört hätte?« Er fasste sie am Ellbogen. »Hat er das etwa gesagt?«

Hesters Lippen wurden schmal. »Nein, er hat gesagt, dass ich ihm vertrauen ... und mich von dir fernhalten soll.« Sie sah auf ihren Arm. »Du tust mir weh«, sagte sie ruhig.

»Gütiger Himmel!« Er ließ los. Dann sackte er in sich zusammen und setzte sich in den Sand. Der Wind hatte sich so schnell wieder gelegt, wie er aufgefrischt war. Ezra rieb sich das Gesicht.

»Bitte verzeih mir, Hester. Michael McKees Weg und meiner haben sich auf höchst schmerzliche und nachhaltige Art und Weise gekreuzt. Und sooft ich gezwungen bin, mir meine Verbindung zu ihm in den Sinn zu rufen, beginnt mein Blut zu kochen.«

Hester setzte sich neben Ezra und seufzte. »Allmählich bekomme ich große Lust, mal wieder hemmungslos zu fluchen – wenn ich mir noch länger all diese Rätsel anhören muss.«

Er strich ihr behutsam eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. »Du wirst diese Rätsel nur allzu bald lösen«, sagte er so leise, dass sie es fast nicht hörte. »Und ich fürchte mich davor, was dann aus mir wird.«

Hester beugte sich ihm entgegen und küsste ihn. Dann drückte sie ihn sanft in den Sand hinab. Jeden Zentimeter seines Gesichts bedeckte sie mit zarten Küssen, ertastete die Konturen seiner Wangen, der Nase, der Stirn und seines Kinns mit ihren Lippen. Und sooft sie sich seinem Mund näherte, lächelte er und küsste sie flüchtig zurück.

Sein Hemdkragen stand offen. Hester schob ihre Hand darunter. Ezras Oberkörper war sehr schlank, sodass man seine Rippen erahnen konnte. Hester zeichnete mit dem Finger seine Schlüsselbeine nach und ließ dann ihre Hand zu seiner Brust hinabwandern. In der Nähe seiner linken Brustwarze ertastete sie einen Hautwulst – eine Narbe wie von einer Wundnaht. Sie tastete weiter und stieß auf eine weitere, lang gezogene Naht unterhalb seines Brustbeins – eine vertikale Linie aus Narbengewebe, die beinahe bis zum Nabel reichte. Diese Narbe zu berühren, ging Hester durch Mark und Bein. Immer wieder fuhr sie mit dem Finger daran hinauf und hinab und war plötzlich von einem Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit überwältigt, als hätte sie alles verloren, war ihr je etwas bedeutet hatte. Wie unter Schmerzen sog sie die Luft ein und zwang sich, ihre Hand wegzuziehen. Sie sah ihm in die Augen, aber er schüttelte den Kopf. Seine Lippen bildeten eine schmale Linie. Hester küsste ihn, und im selben Moment fühlte sie, wie er seine Lippen öffnete und sein Körper sich entspannte. Er schlang seine Arme um sie und zog sie auf sich.

Hester wollte ihn nicht drängen. Sie wollte ihm seine Geheimnisse lassen. Vorerst jedenfalls. In dieser Nacht wollte sie einfach so tun, als sei er nicht durch und durch rätselhaft. Nach Jahren der Entbehrung wollte sie eine einzige Nacht voller Glück genießen.