Sobald Wasser in Hesters Lunge drang, reagierte ihr Körper darauf. Im Bruchteil einer Sekunde, in dem sie sterben zu müssen glaubte, spürte sie, wie etwas seltsam Vertrautes, angenehm Kühles ihre trockene Brusthöhle flutete. Einen Augenblick lang erwartete sie den Tod – aber er wollte nicht eintreten. Stattdessen war der Schmerz in der Lunge wie weggewaschen. Noch immer wurde sie von zwei starken Armen und den kräftigen, rhythmischen Schwanzschlägen Richtung Meeresgrund befördert. Sie atmete noch etwas Wasser ein und schloss den Mund. Das Wasser verschaffte ihr Luft. Und es machte den Druck, der sie umgab, erträglich.
Eigentlich unmöglich.
Auch der bohrende Schmerz in ihren Ohren hatte nachgelassen. Hester wagte die Augen zu öffnen und sah – trotz der Tiefe! – eine verschwommene, dunkle, allein durch Grüntöne bestimmte fremde Welt. Ein riesiger Fisch schwamm vorbei, die Netzhaut seines Auges schimmerte leicht metallisch. Hester atmete erneut, nun durch die Nase. Es war ein Wunder – und gleichzeitig ein Gefühl, an das sie sich vage aus ihrer frühen Kindheit erinnerte. Ihr Körper straffte sich vor Erwartung. Wenn sie jetzt starb, dann wohl nicht durch Ertrinken!
Mit jedem Moment nahm Hesters Verwunderung zu. Sie konnte nicht nur sehen und atmen, sie merkte, dass sie unter Wasser auch hören konnte. Die Bucht war voller Geräusche, die ihre tauben Ohren vorher, wenn sie zum Schwimmen am Strand gewesen war, niemals wahrgenommen hatten: das dumpfe Rumpeln entfernter Schiffe, der helle Ruf der Delfine, der melancholische Gesang eines Buckelwals und das Aneinanderreiben der Steine und Kiesel auf dem Meeresgrund. Und dann eine Stimme – die Stimme der Sirene, die Hester in ihren Klauen hielt. Ihre Worte waren unverständlich und immer wieder von klickenden Konsonanten durchsetzt.
»S!glaemie tor!ga meelay, Syrenka.«
Hester schüttelte ärgerlich den Kopf – wodurch sie sich mit dem Arm der Sirene um ihren Hals fast erwürgt hätte. »Nng«, war der einzige Protestlaut, den sie herausbrachte, während sie erneut ihre Finger in den fremden Arm bohrte, der sich nun endlich lockerte. Die Sirene hielt an, ließ Hester frei und wandte sich zu ihr um. Sie fasste sie an den Oberarmen, um ihr Halt zu geben. Eigentlich hatte Hester erwartet, dass sie nun nach oben treiben würde. Aber sie bewegte sich nicht von der Stelle, weder nach oben noch nach unten.
Warum war sie noch nicht erfroren? Auch wenn das Wasser an schönen Tagen an der Oberfläche eine Temperatur von bis zu zwanzig Grad Celsius haben konnte – in diesen Tiefen musste es doch kurz vor dem Gefrierpunkt liegen.
Die Sirene sah sie unverwandt an. Hester war von ihren Augen wie gebannt. Sie waren sehr groß, rund und beinahe durchsichtig, mit horizontalen Pupillen-Schlitzen. Dieses Wesen war wunderschön und gleichzeitig ... furchteinflößend. Unvermittelt verspürte Hester den Drang, wie ein Oktopus bei Gefahr Arme und Beine einzuziehen.
»Sno eaer!gla Syrenka?« Jetzt deutete die Sirene auf sich selbst. »!Gla Needa.«
Hester entspannte sich wieder ein wenig und schüttelte den Kopf, um zu zeigen, dass sie nichts verstand. Jetzt reckte die Sirene neugierig den Arm und berührte Hesters Haar, das, noch immer von Peters Muschelspange zusammengehalten, hinter ihrem Kopf schwebte. Das weiße, üppige Haar der Sirene wogte wie ein Heiligenschein um ihren Kopf. Ihre Haut war sehr hell, und Hester konnte nicht übersehen, wie schön ihr nackter Körper war, wie wohlgeformt ihre Brüste und wie selbstverständlich es für sie war, unbekleidet zu sein. Hester kam sich in ihrer kurzen Hose, ihrem Shirt und ihrer Unterwäsche äußerst plump vor.
Syrenka hatte die Sirene gesagt. Wo hatte Hester diesen Begriff nur schon einmal gehört?
Die Sirene kam näher. Um Hesters Gesicht genau betrachten zu können, drehte sie ihren Kopf in verschiedene Richtungen – als ob Hester ihr zwar bekannt vorkäme, sie sich andererseits aber doch nicht ganz sicher war. Sie fasste ihr Kinn und hob es an. Sie war sanft und eifrig, und je mehr sich Hester an ihre Aufmerksamkeit gewöhnte, umso entspannter wurde sie. Wenn die Sirene nicht schwamm, waren ihre Bewegungen bedacht und langsam und sie begannen einen hypnotisierenden Effekt auf Hester auszuüben.
»Syrenka«, sagte die Sirene noch einmal, mit einer merkwürdigen Mischung aus Gewissheit und Erstaunen.
Dann wurde es Hester plötzlich klar: Syrenka war ein Name! Ezra hatte sie Syrenka genannt!
Hester öffnete den Mund und versuchte zu sprechen. »Ich bin nicht Syrenka«, protestierte sie, laut und langsam, als hätte sie den Mund voll Karamell. Sie zeigte mit dem Finger auf sich. »Hester«, sagte sie. Aber das H wurde vom Wasser verschluckt.
»Needa«, antwortete die Sirene und deutete auf ihre eigene Brust. Und dann sprach sie mit einem Mal in Hesters Sprache und mit leuchtenden Augen. »Ich denke ... du bist Syrenka.«
»Nein. Aber du bist nicht die Erste, die sagt, dass ich ihr ähnlich sehe ...« Hester sah zum Meeresspiegel und deutete hinauf. »Ich muss wieder zurück.«
»Du siehst Syrenka ganz und gar nicht ähnlich«, widersprach Needa und schüttelte den Kopf wie über eine vollkommen abwegige Idee. Dabei bauschte sich ihr Haar anmutig. »Nur innerlich«, fügte sie hinzu und legte ihre Hand auf Hesters Brust.
Hester starrte sie verblüfft an. »Warum bin ich noch am Leben?«, fragte sie, sobald sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.
Offenbar verstand Needa die Frage, denn ein hilfloses Lächeln huschte über ihr Gesicht und ließ ihre spitzen Zähne sehen. »Weil du eben Syrenka bist.« Sie legte sanft ihren Arm um Hesters Hüfte. »Jetzt komm. Noo´kas erwartet dich.«
»Warte!«, rief Hester, aber es war zu spät. Die Sirene hatte sie schon an sich gezogen, und unter den kräftigen Schlägen von Needas Schwanz glitten sie über den Meeresboden. Hester musste den Mund schließen und den Kopf senken, um den Wasserwiderstand auszuhalten.
Sie schwebten über den Metallrumpf eines gesunkenen Schiffs hinweg. Er war schwarz vor Rost und seine Oberfläche war von einem feinen daunenartigen Belag überzogen. Durch seine zahlreichen Löcher schwammen Fische ein und aus.
Sie kamen an Riffen vorbei und an Zivilisationsmüll, einem Außenbordmotor, kaputten Hummerfallen und Hunderten von Flaschen und Dosen. Eine weitere Sirene gesellte sich zu ihnen und schwamm mit ihnen weiter. Sie konnte sich nicht verkneifen, Hesters Haar zu berühren. An den Spitzen ihrer Finger ragten scharfe, schartige Krallen hervor. Hester stieß ihre Hand beiseite, achtete allerdings sorgsam darauf, dass sie ihren Handgelenksflossen nicht zu nahe kam.
Als sie ein Gebiet erreichten, das durch ineinandergewobene Masten unzähliger Schiffe an vier Seiten eingezäunt war, verlangsamten sie ihr Tempo. Im Inneren dieses Areals befanden sich allerlei Spielzeug und demolierte Geräte eines Spielplatzes, darunter eine weitgehend intakte, aber rostige Schaukel und eine Seite einer Wippe. Es gab ein von Algen überwuchertes rot-gelbes Rutschauto, wie Sam als kleiner Junge eines besessen hatte, und Wiegen und Stubenwagen aus Holz, die sich allmählich zersetzten. Das gesamte Gelände war eingerichtet wie ein Kinderheim, bis hin zu Babyfläschchen voller rund geschliffener, vom Meer ausgespuckter Glasscherben sowie Teller, Löffel und Dutzende ausgebleichter, löchriger Gummischnuller. Am verstörendsten aber waren die Massen von Puppen in allen erdenklichen Größen und Ausprägungen. Es gab Kunststoffpuppen, Puppen mit Porzellanköpfen und Stoffleibern, Puppen aus Holz, selbst gemachte Puppen, kopflose, dickbäuchige Torsi, lose Arme und Beine und unzählige abgetrennte Köpfe, die sich auf den Ablagen von Hochstühlen stapelten sowie auf einer Kommode und einem Tisch. Allem Anschein nach war jede Puppe, die jemals von einem Kind über Bord geworfen, in einen Fluss gefallen oder von einem Sturzregen davongespült worden war, in dieser Kinderheim-Imitation gelandet. Die Sirene, die sich zu Hester und Needa hinzugesellt hatte, nahm sich einen Moment Zeit und stellte einen Stubenwagen wieder auf, der von der Strömung umgerissen worden war. Hester warf einen kurzen Blick zurück und sah, wie sie eine Puppe ohne Augen sorgsam in das Bettchen zurücklegte und dann weiterschwamm, um sich ihnen wieder anzuschließen.
Hester überlegte, wie viel Uhr es sein mochte. Oben, an Land, hatte sie doch etwas vorgehabt – aber sie erinnerte sich nicht mehr, was es war. Sie wollte Needa eine Frage stellen, aber die Frage entfiel ihr.
Mittlerweile hatten sie ein riesiges Riff auf dem Grund des Meeres erreicht. Ein Berg von Unrat türmte sich darauf. Im Näherkommen versuchte Hester zu erkennen, woraus er im Einzelnen bestand.
Über einen schmalen Zugang schwammen sie in diesen Berg hinein, und hier stellte Hester fest, dass die Wände zu beiden Seiten aus einer schier unendlichen Anzahl von Dingen bestanden, die Menschen verloren hatten. Sie waren allesamt aus Metall. Manche glänzten und schimmerten noch, andere waren stumpf und schwarz.
»Das ist Noo´kas´ Schatz«, erklärte Needa, während sie allmählich langsamer schwammen. »Wenn du irgendetwas auf dem Meeresgrund findest, muss du es ihr bringen. Falls sie es nicht haben mag, kannst du es behalten.«
»Ich ... ich kann nicht hierbleiben«, protestierte Hester.
Der Zugang weitete sich zu einer Art Saal, der nach oben hin offen und rundum von den Aufhäufungen des Schatzes begrenzt war. Noo´kas quetschte sich in einen riesigen, kunstvoll geschnitzten Sessel aus dunklem Holz, dessen Armlehnen Löwenköpfe zierten und Löwenfüße die edel geschwungenen Beine.
Der Sitz war mit einem zerschlissenen Stoff gepolstert, der irgendwann mal feinster Samt gewesen sein musste. Die eigentliche Farbe konnte Hester durch das Grün, als das sie alles ringsum wahrnahm, nicht erkennen. Es war wohl das thronähnlichste Möbelstück, das jemals ins Meer gefallen war.
Noo´kas besaß stattliche Ausmaße. Sie war größer und breiter gebaut als die zahlreichen weiblichen Individuen, die sie zu ihrer Versorgung umschwammen. Am ganzen Körper hatte sie Fettrollen, dazu riesige, unförmige Hängebrüste, die bis über ihre Hüften hinabreichten. Gleichzeitig aber waren ihr Schädel und ihr Gesicht seltsam knochig. Ihre Nase hatte sich bis auf zwei kümmerliche Öffnungen an der Stelle, wo menschliche Lebewesen Nasenlöcher besitzen, zurückgebildet. Und anstelle von Ohren wies ihr Kopf an jeder Seite nur noch drei Löcher auf, zwei kleine und ein größeres. Ihre Augen lagen sehr tief in ihrem Schädel, sodass sie aus jedem Winkel dunkel und finster wirkten. Der Kopf war so gut wie kahl, mit schuppenden, schorfigen Stellen und vereinzelten schütteren Haarsträhnen, die leblos über die gesamte Länge ihres Körpers herabfielen. Sie war behängt mit angelaufenem Silberschmuck – mehrfach um den Hals gewundene Ketten, tief herabbaumelnde Anhänger, Armreifen, Ringe an jedem Finger und vier oder fünf indianische Concha-Gürtel mit Silberbeschlägen, Türkisen und Onyxsteinen, die aneinandergeknüpft gerade lang genug für ihre umfangreiche Taille waren. Irgendetwas an Noo´kas kam Hester entfernt bekannt vor. Sie hatte schon mal ein Bild von ihr gesehen, konnte sich allerdings nicht besinnen, wo. Sie schloss kurz die Augen und versuchte in den Nebeln ihres Geistes ihre Erinnerung zu fassen zu kriegen. Doch es gelang ihr nicht.
Needa setzte Hester so vor dem Thron ab, dass ihre Füße gerade Bodenkontakt hatten. Mit ihren Lippen strich sie an Hesters Ohr entlang. »Verbeug dich!«, flüsterte sie leise. Sie selbst legte sich voller Demut bäuchlings auf die Felsplatte und reckte ihre Arme Noo´kas entgegen. Dann erhob sie sich wieder und schwamm rückwärts in den Kreis der schönen Dienerinnen.
Während Needa sich zurückzog, streckte Hester zaghaft die Hand nach ihr aus. Sie sollte sie nicht allein lassen! Aber Needa runzelte die Stirn und legte kurz den Kopf ein wenig schief, um sie an ihre Manieren zu erinnern. Daraufhin wandte Hester sich wieder Noo´kas zu, verbeugte sich und nutzte diese Gelegenheit, die Vorderseite ihres T-Shirts herabzuziehen und in ihre Hose zu stopfen, damit es in der Strömung nicht in die Höhe wogte.
»Du hättest deinen Respekt ein wenig früher zeigen können.« Noo´kas´ Stimme dröhnte mit solch tiefen Bässen, dass Hester die Vibrationen wie platzende Blasen im ganzen Körper spürte.
»Meinst du mich?«, antwortete Hester und sah sich um, ob noch jemand anwesend war.
»Natürlich meine ich dich, elende Kreatur!«
Hester stellte sich aufrecht hin und sah wütend in die dunklen Höhlen, in denen die Augen der Hexe lagen. »Ich kenne dich überhaupt nicht!«
»Für wen hältst du dich selbst denn?«
»Ich bin ... ich bin ...« Hester sah Hilfe suchend zu Needa, aber die wandte den Kopf ab. Needa hatte sie Syrenka genannt. War das wirklich ihr Name? Hesters Geist war so benebelt. »Ich weiß es nicht.«
»Was glaubst du, wie alt du bist?«
»Ich denke ... siebzehn?« Hester sah auf den Meeresboden und durchforstete ihr Hirn nach irgendetwas, woran sie sich erinnern konnte. Wann habe ich noch mal Geburtstag?
»Falsch. Du bist uralt. Sag ...« Sie deutete auf Hesters Bauch. »Hat dieser menschliche Leib Nachkommen geboren?«
Hester war völlig durcheinander und konnte sich auf nichts besinnen. Aber sie wusste, dass ihr dieser Ton nicht gefiel. »Was ist das für eine Frage? Warum sollte ich darauf antworten? Nein! Ich werde ... ich will niemals Kinder haben!« Was war das? Jetzt hatte sie die Frage doch beantwortet! Sie hatte ihre intimsten Gedanken verraten. Wo war nur ihr Wille geblieben?
»Syrenka hat sich danach gesehnt, Ezra ein Kind zu schenken. Und sieh nur, wie du ihren Körper veruntreust!«
»Das ist mein Körper! Und ich bin nicht Syrenka!« Hester fühlte einen Stich in ihrer Brust. Der Name Ezra bedeutete ihr etwas. Sie konnte sich aber an nichts Genaues erinnern.
Die Meereshexe hob einen Finger. Ihre Dienerinnen sammelten sich um sie. Vorsichtig hoben sie Noo´kas´ unförmigen Leib vom Thron und begannen ihre Gebieterin, die nun halb in den Armen ihrer Dienerinnen lag, von der Stelle zu bewegen. Vor Hester machten sie halt und umringten sie, während Noo´kas Hester eingehend betrachtete.
Auf einmal brach die Hexe in dröhnendes Gelächter aus – wie über einen Witz, den nur sie kannte. Die Fische, die die Seepocken und Wasserflöhe von ihrer Haut knabberten, stoben davon. Die Dienerinnen lachten mit und keckerten wie Delfine. Sie brachten Noo´kas noch ein Stück näher an Hester heran, sodass sie Hester ihr knochiges Gesicht vor die Nase halten konnte.
»Semiramis ... so sollst du heißen«, sagte sie beinahe liebevoll. »Semiramis«, wandte sie sich dann an die Zuhörerinnen, »Semiramis war die Tochter der Fischgöttin Atargatis. Und die Erfinderin des Keuschheitsgürtels!«
Wieder erhob sich Keckern und das Geräusch Tausender kehliger Klick-Laute, was wie begeisterter Applaus klang.
»Semiramis! Semiramis!«, jubelten die Dienerinnen gedämpft.
Hester schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. Hört auf!, rief sie innerlich. Sie hatte aber nicht den Mut, es laut auszusprechen.
Noo´kas hob ihre geöffnete Hand und wartete. Eine Dienerin schwamm eilig davon und kam mit einer dünnen Lanze zurück, die sie ihrer Meisterin in die Hand legte.
Wie hypnotisiert sah Hester zu, als Noo´kas die Lanze hob und eine unverständliche Beschwörungsformel vor sich hin murmelte. Sie löste eine Schuppe von ihrer Flosse, spießte sie mit der Speerspitze auf und schob sie energisch Richtung Schaft.
Nein!, durchfuhr es Hester.
Irgendetwas in ihr bewegte sich und erwachte. Sie musste fliehen! Sie drehte sich um, versuchte, sich von der Felsplatte abzustoßen und an die Oberfläche hinaufzuschwimmen.
Lautlos glitt die Lanze durch das Wasser und bohrte sich von hinten in Hesters rechten Oberschenkel. Hester krümmte sich vor Schmerz, und augenblicklich begann ihr Körper wieder zu Boden zu sinken. Sie schrie auf, langte hinter sich und zog die Klinge aus ihrem Fleisch. Blut wallte in rauchartigen Gebilden aus der Wunde. Eine Dienerin kam und holte die Lanze zurück.
»Semiramis! Semiramis!«, riefen die Dienerinnen.
»Warum ...?«, wimmerte Hester. Sie ruderte umher und versuchte Schwimmbewegungen zu machen, was aber nur mit den Armen und ihrem linken Bein funktionierte. Das rechte Bein, das sich wie tot anfühlte und gleichzeitig schmerzte, zog sie hinter sich her. Ihr Blut umgab sie nun wie eine Wolke. Sie entdeckte Needa unter den Dienerinnen und reckte ihr den Arm entgegen. Hilf mir!, bat sie lautlos mit den Lippen. Needa schüttelte den Kopf, runzelte aber ihre Augenbrauen, als ob sie so etwas wie Mitleid empfinden würde. Jetzt legte die Dienerin erneut die Lanze in Noo´kas´ wartende Hand. Die Meereshexe nahm eine weitere Schuppe von ihrem Schwanz, schob sie über den Speer und zielte mit offensichtlichem Vergnügen.
Panisch arbeitete Hester sich über den felsigen Grund voran. Sie suchte nach einer Öffnung in Noo´kas´ Berg aus Schätzen. Dabei wusste sie selbst, dass es aussichtslos war. Sie war in ihren Bewegungen stark eingeschränkt und die Dienerinnen schwammen wie Delfine. Flucht war ausgeschlossen. Hester würde ihr Leben auf dem Meeresgrund beenden, unter den Augen Hunderter Sirenen.
Wie ein glühendes Eisen bohrte sich die Lanze in ihre linke Wade. Hester brach zusammen, und als ihre Wange den Boden berührte, sah sie eine Wolke aus Blut und Staub um sich herum emporsteigen. Bevor sie ohnmächtig wurde – bevor ihr Körper Mitleid mit ihr hatte und durch den Verlust des Bewusstseins die Wahrnehmung ihrer Schmerzen unterband –, blieb ihr Blick am Fuße des Schatzes an einem Objekt hängen. Es war ein Flachmann. Eigentlich bestand er wohl aus Sterling Silber, nun aber war er mit grünschwarzen Algen bewachsen. Das eingravierte Monogramm war noch schwach zu erkennen: MMM.
Irgendetwas regte sich in Hester, eine Erinnerung an ihre Vergangenheit, eine Verbindung zu ihrem Leben an Land. Durch die wogende Staubwolke hindurch streckte sie ihre zitternde Hand aus. Sie fasste den Flachmann so fest sie konnte und drückte ihn an ihr Herz.