Hester zitterte immer heftiger – allerdings hatte sie das Gefühl, dass dies nicht nur an der Kälte lag. Pastor McKees Geist zu erlösen, bedeutete, seinem kläglichen Rest Leben ein Ende zu setzen. Kam das nicht einem Mord gleich? Es war so absolut endgültig. Hester war nicht sicher, ob sie die Kraft dazu hatte.
»Ich denke, es wird Zeit für dein erstes Schlückchen Scotch, Hester«, ergriff McKee wieder das Wort. »Er wird dir guttun. Er wird deine Nerven beruhigen und dich durchwärmen.«
»Alkohol senkt die Körpertemperatur«, erwiderte sie leise. Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Was? Also zu meinen Lebzeiten aber noch nicht! Stattdessen wird er dir Mut machen, das ist genau das, was du jetzt brauchst.« Er wirkte düster – bedrückter, als sie ihn je erlebt hatte.
Hester nickte zustimmend. Sie konnte es als ersten Schritt ihrer traurigen Aufgabe betrachten. Die nächsten Schritte würden sich wohl anschließen, wenn sie den ersten getan hatte.
Sie schob den Flachmann von einer Hand in die andere. Sie rieb ihn an ihren Shorts. Durch das häufige Anfassen in letzter Zeit hatte er seinen alten Glanz fast wiedergewonnen. Es war ein hübsches kleines Objekt, dessen Alter an der feinen Handwerksarbeit abzulesen war. Hester stellte sich seine Reise durch die Zeit vor: vom Silberschmied, der ihn hergestellt hatte, zu McKees Mutter, von ihr zu McKee und nach Amerika, bis hin zu den hundertvierzig Jahren unter Wasser – und jetzt war er bei Hester. In der Zwischenzeit waren Generationen entstanden und wieder vergangen.
Hester zog den Stopfen heraus, der in eine hübsche Silberkappe gefasst war. Sie schnupperte an der Flasche und konnte sich gerade noch beherrschen, nicht die Nase zu rümpfen. Nach allem, was sie von Scotch verstand, gab es auch weniger starken.
»Riecht gut«, schwindelte sie und warf McKee einen Blick zu. Der Pastor grinste breit.
Hester hatte genug Ahnung von Naturwissenschaft, um zu wissen, dass nichts Giftiges daran sein konnte: Silber war ein reaktionsträges Element, das extrem viel Energie von außen benötigte, damit überhaupt etwas damit passierte, und Alkohol war ohnehin ein Konservierungsmittel. Außerdem hatte der Flachmann fest verschlossen an einem kühlen, dunklen Ort gelegen. Der Scotch war noch genauso gesundheitsförderlich wie an dem Tag, an dem er in Morangie destilliert worden war. Also nicht besonders.
Hester nahm einen Schluck. Augenblicklich begann ihr Hals mit stechendem Schmerz zu brennen. Schlucken und gleichzeitig husten funktioniert nicht, aber ihre Kehle versuchte es dennoch. Als sie schließlich ein kurzes, prustendes Bellen ausstieß, war es zu spät. Der Scotch war schon auf dem Weg hinunter, wobei er Hester jeden Zentimeter seiner Reise spüren ließ. Sie fühlte, wie er sich brennend seinen Weg durch ihr Inneres bahnte. Als er schließlich in ihrem Magen ankam, verbreitete er ein warmes und tatsächlich angenehmes Gefühl.
Sie zwang sich zu einem weiteren Schluck, und dieses Mal brachte sie ihn ohne Husten und Nasezuhalten hinunter. Ihr Herz hämmerte, ihr Gesicht war gerötet und in ihrer Nase hatte sie den stechenden Geruch des Alkohols.
»Dann also, mein Freund«, sagte sie.
»Gott sei mit uns!«
McKee löste sich von der Wand, und auch Hester ging ihm entgegen. Als sie voreinander standen, verzog sich das Gesicht des Pastors.
»Ich bitte dich nur, versuche nicht, mich zu retten«, brach es aus ihm heraus.
Dann streckte er zitternd seine Hand aus. Hester hielt ihm die Flasche entgegen und überlegte, was sie sagen konnte, um ihn zum Verlassen der Erde zu bewegen.
McKee ergriff seinen Flachmann und brach auf der Stelle wie von einer Kugel getroffen zusammen. Hester rang nach Atem, dann fiel sie neben ihm auf die Knie.
Mit unsäglicher Anstrengung öffnete McKee seinen Flachmann. Er begann am ganzen Körper zu zittern. Unter größter Mühe hob er die Flasche an seine Lippen. Einige Tropfen gingen daneben, aber ein Teil des Scotchs floss doch in seinen Mund. Er schluckte. Dann schloss er die Augen, und Hester hätte nicht sagen können, ob im Todeskampf oder vor Entzücken. Der Stopfen fiel zu Boden. Er rollte in eine Bodenmulde und blieb neben Hester liegen. Unter Schmerzen hielt McKee Hester die Flasche entgegen, während der Scotch aus der schmalen Öffnung rann. Hester nahm den Flachmann, ließ ihn zu Boden fallen und bettete McKees Kopf und seine Schultern auf ihren Schoß.
»Was geschieht jetzt?«, rief sie aus.
McKee blickte sie mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an. Hester sah, wie an seinem Hals blaue Flecken entstanden, und er rang nach Atem. Zuerst keuchte er noch, dann wurden seine Laute zunehmend gepresster, bis kaum noch ein hohes Pfeifen wahrzunehmen war. Seine Lippen wurden blau. Hester hörte ein rasselndes Gurgeln, mit dem sich sein Kehlkopf schloss. Sie sah seinen dünnen Hals noch enger werden, als ob eine unsichtbare Hand ihn zusammendrückte, und dann – schlimmer als das Rasseln – hörte man nur unheimliche Stille. Seine Augen traten hervor, bis sie aus den Lidern zu fallen schienen. Sein Gesicht war tiefrot angelaufen, und sein Körper wand und krümmte sich, während Hester ihn festhielt. Aber kein einziger Laut entkam mehr seinen Lippen. Er schüttelte heftig den Kopf, als wollte er sagen: Nein! Ich will nicht sterben!
»Sie haben gesagt, ich muss mit Ihnen reden, damit Sie gehen!«, schrie Hester. »Sie haben mich angelogen!«
Seine Augen sanken in seinen Kopf zurück.
»Sie haben mir von dem hier nichts gesagt, Pastor!«
Sein Gesicht war jetzt blau. Das Zucken seines Körpers verebbte. Hester legte ihre Arme um ihn, lehnte ihre Wange an seinen Kopf und drückte ihn an sich. Kurz darauf rührte er sich nicht mehr.
»Sie haben mich angelogen«, flüsterte Hester in McKees Ohr. »So war es nicht abgemacht.«