12.
»Unfassbar«, flüsterte Joanne. Sie hielt Jeffs Handheld in der Hand und blätterte durch die Fotos von Fields’ Überresten, die er gemacht hatte, bevor sie ins Quartier zurückgekehrt waren. Jetzt saßen sie vor dem Abendessen, auf das niemand Appetit hatte. Jeff war schwindlig und übel. Zu grausam war der Anblick von Fields’ verwüstetem Körper gewesen.
»Ich möchte gerne, dass Sie morgen mit zum Tor gehen und sich seine Leiche anschauen«, sagte Irons. »Vielleicht können Sie herausfinden, was für ein Wesen ihm das angetan hat.«
Joanne schüttelte den Kopf und gab Jeff das Handheld zurück. »Das macht wenig Sinn. Ich bin nur Sanitäterin. Keine Ärztin. Ich habe auch noch nie an einer Obduktion teilgenommen.«
Irons blickte sie einen Moment lang schweigend an, dann nickte er. »Womöglich haben Sie recht. Aber was denken Sie, wenn Sie die Bilder sehen?«
Joanne atmete pfeifend aus. »Wir haben bei der Ausbildung Bilder von Angriffen wilder Tiere gezeigt bekommen. Das sah so ähnlich aus. Vielleicht ein Sakkar von New Australia oder ein Bär von der Erde. Wenn es ein Tier war, muss es sehr stark sein, sonst hätte es den Brustkorb nicht so gewaltsam öffnen können. Die Wunden sind glatt ausgeprägt, also würde ich auf scharfe Krallen schließen.«
»Kann dieses Lichtwesen das getan haben?«, fragte Castles.
»Was soll das überhaupt sein? Ein Lichtwesen?«, fragte Mac.
Owl grunzte. »Ein Geist, oder was?«
Irons hob die Hand. »Er hat zwar über Funk gesagt, dass es scheinbar völlig aus Licht besteht, doch er kann sich auch getäuscht haben. Womöglich hatte das Wesen eine Lichtquelle dabei, die es so erscheinen ließ. Vielleicht handelt es sich stattdessen um eine Art Schutzschild oder Tarnvorrichtung.«
Jeff schüttelte den Kopf. »Eine Tarnvorrichtung ist es auf keinen Fall. Denn durch das Licht im Korridor ist Fields ja überhaupt erst auf das Wesen aufmerksam geworden.«
Irons nickte. »Da haben Sie allerdings recht. Also vielleicht eine Art Schutzschild. Was denken Sie, Green?«
Der Ingenieur saß blass und apathisch am anderen Ende des Tisches. Sein Blick was glasig. Er schien die Frage des Majors nicht gehört zu haben. Castles schlug ihm gegen die Schulter.
Greens Augen fokussierten wieder. »Was?«, fragte er.
»Ob das Licht des Wesens eine Art Schutzschild sein könnte, das es vor unseren Waffen schützt«, wiederholte Castles die Frage des Majors.
Green blickte mehrmals unschlüssig zwischen Castles und Irons hin und her, dann nickte er plötzlich überschwänglich. »Ja, das wäre gut möglich. Wir sollten uns nach Möglichkeit von diesen Kreaturen fernhalten.«
Irons seufzte. »Was ist mit Ihnen, Green? Sie sehen nicht gut aus. Ist es noch die Infektion, die Ihnen zu schaffen macht?«
Der Ingenieur wirkte wieder krank, fand Jeff. Dabei schien er heute Morgen auf dem Weg der Besserung gewesen zu sein. Aber womöglich waren die Ereignisse des Tages auch zuviel für ihn gewesen und er hatte einen Rückfall erlitten.
»Ja, ich fühle mich nicht gut«, antwortete Green.
»Dann gehen Sie ins Bett«, sagte Irons. »Kurieren Sie sich aus.«
Green nickte, stand auf und verschwand ohne ein weiteres Wort in seinem Quartier.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Joanne.
Diese Frage hatte Jeff heute Abend schon öfter gehört. Aber bisher war Irons eine Antwort schuldig geblieben.
Nun seufzte Irons. »Ich muss gestehen, dass ich selber noch nicht so recht weiß, wie ich die Situation einordnen soll. Zunächst möchte ich mit dem Computer reden.«
»Na, ob der das so toll findet, dass wir das geschlossene Tor umgangen haben und auf die andere Seite gelangt sind«, mutmaßte Castles.
Irons blickte ihn abschätzig an. »Er hat gesagt, wir dürfen uns nach unseren Möglichkeiten frei an Bord bewegen. Nichts anderes haben wir getan.«
»Sollen wir die andere Seite denn weiter erforschen?«, fragte Joanne. Aus ihrem Tonfall ließ sich schließen, dass sie darauf nicht sonderlich erpicht war.
»Das werden wir entscheiden, wenn wir mit dem Computer gesprochen haben«, antwortete Irons. »Auf jeden Fall gibt es dort Hinterlassenschaften der Erbauer und wahrscheinlich haben wir nur in diesem Bereich die Möglichkeit, Antworten auf einige Fragen zu erhalten.«
»Ist nicht Ihr Ernst«, sagte Finni. Er hatte die Augen weit aufgerissen. »Da hausen die Viecher, die Fields umgebracht haben. Wer weiß schon, was das für Bestien sind.«
»Ein Grund mehr, denen in den Arsch zu treten«, gab Mac zurück. »Wir suchen das Vieh und machen es fertig!«
»Ich möchte auf einen Punkt hinweisen«, begann Castles. »Unsere Bewaffnung ist nicht gerade überwältigend. Wir haben die Pistolen unserer Notfallausrüstung, einen Stapel Ersatzmagazine und ein wenig Plastiksprengstoff. Das ist nicht gerade das Arsenal, um es mit einem Rudel wilder Tiere aufzunehmen.«
»Ein Rudel wilder Tiere?«, fragte Joanne ungläubig. »Wenn sie einen Schutzschirm haben, werden wir es wohl kaum mit einer Herde wilder Tiere zu tun haben.«
»Oder was auch immer ...«, erwiderte Mac unwirsch.
Wieder begann eine langwierige Diskussion. Es war nicht die erste seit dem Nachmittag. Es wunderte Jeff, dass Irons diese ins Nichts führenden Streitgespräche nicht viel früher abwürgte.
Aber vielleicht war es für die Besatzungsmitglieder gut, sich über die Ereignisse des Tages und Fields’ Tod austauschen zu können. Vielleicht wollte Irons auch die Gedanken seiner Crew erfahren. Und Jeff machte sich durchaus seine eigenen Gedanken. »Ich verstehe eins nicht: Wenn dieses Wesen über eine fortgeschrittene Technologie verfügt, also Scheinwerfer oder gar einen Schutzschild, warum hat es ihn dann mit seinen Klauen zerrissen?«
»Vielleicht hatte es gerade keine Waffe dabei«, spekulierte Owl.
»Womöglich sind ja doch noch welche der Erbauer an Bord«, sagte Joanne.
»Was?«, fragte Castles. »Seit Millionen von Jahren? Wohl kaum.«
»Vielleicht sind es Nachkommen der Erbauer, die aus irgendeinem Grund damals nicht von Bord gegangen sind. Sie könnten im Laufe von tausenden Generationen degeneriert sein.«
Ein Knacken kündigte die Anwesenheit des Computers an. Das Gespräch verstummte sofort und Jeff schaute wieder unwillkürlich zur Decke.
»Guten Tag«, sagte die Stimme. »Ich hoffe, ihr fühlt euch wohl?«
Jeff blickte, wie die anderen auch, den Major an.
Der holte tief Luft. »Wir haben heute einen Weg auf die andere Seite des Tors gefunden.«
»Tatsächlich?« Jeff blinzelte. Hatte da etwa Sarkasmus in der Stimme gelegen? Nein. Er musste sich täuschen.
»Ja, durch einen zufällig entdeckten Luftschacht«, sagte der Major mit bitterer Stimme. »Und dort ist einer unserer Männer getötet worden.«
Der Computer antwortete nicht.
»Von einem Wesen, das zu leuchten scheint. Sagt dir das etwas?«
»Nein«, antwortete die Stimme sofort. »Wie bereits gesagt, habe ich zu diesem Bereich des Schiffes keinen Zugang. Er ist völlig von meinen Systemen isoliert.«
»Dir ist nicht bekannt, dass sich noch lebende Wesen an Bord deines Schiffes aufhalten?«
»Nein, meine Sensoren beobachten nichts Derartiges. Zumindest nicht in den Bereichen, über die ich eine Kontrolle habe.«
»Über wie viele Bereiche hast du überhaupt noch eine Kontrolle?«, fragte Irons. Der Major konnte den sarkastischen Unterton in seiner Stimme nicht verbergen.
»Auf das Volumen bezogen etwa dreißig Prozent.«
Jeff blieb die Luft weg.
Dreißig Prozent?
Irons hob die Augenbrauen. »Das ist nicht sehr viel«, meinte er nüchtern. »Und die sind gleichmäßig im Schiff verteilt?«
»Nein, ich kontrolliere noch die Kernregion und einige wenige Sektoren im Außenmantel, darunter den, in dem ihr euch jetzt aufhaltet.«
»Wann hast du denn den Bereich verloren, der sich auf der anderen Seite des Tors befindet?«
»Vor etwa zwanzig Millionen Jahren.«
»Und was war der Grund dafür?«
Worauf wollte der Major nur hinaus?
»Eine Fehlfunktion des redundanten Knotens.«
»Und das konnte nicht repariert werden?«
»Nein, die Autoreparatur des entsprechenden Bereichs hatte bereits vorher versagt.«
»Konntest du keinen Reparaturdienst aus einem anderen Bereich dorthin schicken?«
»Nein, die unterschiedlichen Bereiche sind auf maximale Autonomie ausgelegt.«
»Warum?«
»Weil die Erbauer das Schiff auf diese Weise konstruiert haben.«
Irons seufzte. Wenn er eine bestimmte Antwort erwartet hatte, dann war er offensichtlich enttäuscht worden.
»Wo befinden sich deine Systeme?«
»Was meinst du?«
»Na, du. Der Bordcomputer.«
»Ach so.« Der Computer hörte sich fast schon amüsiert an. »Das neuronale Netz ist zwar dezentral angelegt, aber der Knoten mit der höchsten Autorität befindet sich im Kernbereich.«
»Was ist der Kernbereich?«
»Ein hundert Kilometer umfassender Bereich im Zentrum des Schiffes. Dort sind die Steuerungsanlagen untergebracht.«
»An dieser Stelle war früher auch mal eine Zentrale für die Besatzung, nehme ich an.«
»Das ist korrekt.«
»Und wir befinden uns im ... im ...«
»Außenmantel«, half Jeff.
»Ja, im Außenmantel«, wiederholte Irons.
»Das ist korrekt.«
»Was ist der Außenmantel?«
»Der Außenmantel ist ein zwanzig Kilometer dicker Bereich mit technischen Systemen, Lagern und Mechanismen an der Außenhülle.«
»Gibt es noch andere Unterteilungen des Schiffes?«
»Zwischen Außenmantel und Kern befindet sich noch der Zwischenmantel.«
»Was ist das?«
»Dieser Bereich umfasst den eigentlichen Lebensraum der ehemaligen Erbauer während ihrer Reise. Es gibt zahlreiche großräumige Kavitäten mit künstlicher Atmosphäre, die die heimatliche Planetenoberfläche simuliert haben.«
Kavitäten? Vielleicht Wohnräume der Erbauer, dachte sich Jeff. Sie waren bislang davon ausgegangen, dass das Schiff überall gleich aussah. Also Korridore und leere Räume. Oder waren letztere damit gemeint?
Der Major hatte offenbar denselben Gedanken. »Davon hast du aber bisher nichts gesagt.«
»Ich hielt es nicht für wichtig. Außerdem sind diese Bereiche sowieso nicht zugänglich.«
»Ich sagte bereits, dass wir einen Zugang zum nächsten Bereich gefunden haben.«
»Ja, das sagtest du.«
»Würde dich das stören, wenn wir uns dort nochmal umschauen?«
Der Computer machte eine ungewöhnlich lange Pause. Jeff hob wieder unwillkürlich den Kopf.
»Nein, aber ich würde es euch nicht empfehlen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich diesen Bereich nicht kontrolliere und euch darum auch nicht schützen kann.«
»Schützen?«, fragte der Major. »Wovor müsstest du uns denn schützen?«
Wieder eine lange Pause. »Vor eventuellen Gefahren in diesem Bereich.«
»Was sollte uns denn dort für eine Gefahr drohen?«, hakte der Major nach.
»Das kann ich leider auch nicht sagen, da ich diesen Bereich nicht kontrolliere.« Die Computerstimme klang fast schon ein wenig beleidigt, doch der Major ließ immer noch nicht locker.
»Aber wenn du von Gefahr sprichst, dann wirst du doch sicher irgendetwas in Erwägung ziehen, oder etwa nicht?«
Es entstand wieder eine lange Pause.
»Ich möchte euch noch darüber informieren, dass wir heute einen weiteren Hypersprung gemacht haben und somit eurem Ziel wieder etwas näher gekommen sind.«
Das war zwar eine gute Nachricht, aber Jeff wurde das Gefühl nicht los, dass der Computer vom ursprünglichen Thema ablenken wollte.
Der Major schien das auch so zu sehen. »Das freut uns. Ich möchte nochmal nachfragen wegen der von dir angesprochenen Gefahr. Du hast gesagt ...«
»Ich muss dich leider unterbrechen. Mir wird eine Fehlfunktion gemeldet, um die ich mich unmittelbar kümmern muss.«
Das Knacken ertönte in den unsichtbaren Lautsprechern.
»Was für eine Scheiße ...«, flüsterte Mac.
»Ich gebe offiziell zur Kenntnis, dass ich nunmehr beunruhigt bin«, sagte Irons leise.