16.
»Hier ist es«, sagte Joanne.
Jeff folgte ihr in den Projektionsraum. Einige Möbel, die gut und gerne exotische, geschwungene Metallstühle sein konnten, standen in drei Reihen an der hinteren Wand. Am anderen Ende des Raumes ragte ein breiter Zylinder eine Armlänge aus dem Boden. Daneben stand eine Art Tisch mit Bedienelementen, bei denen es sich um die Steuerungskonsole des Projektors handeln musste.
Joanne ließ ihre Sanitätstasche, die sie immer auf dem Rücken trug, zu Boden gleiten und trat dann, ohne zu zögern, an die Konsole, deren Knöpfe, Hebel und Drehregler denen im Cockpit der Charon gar nicht mal so unähnlich waren. Sie drückte auf ein breites Quadrat am Rand der Schaltkonsole und schon entstand ein zunächst undeutliches Hologramm über dem Zylinder, das aber schnell an Schärfe gewann.
Jeff erkannte Sterne, die um ein grünes Symbol, das wohl das Schiff sein sollte, rotierten. Die gesamte Crew - oder was davon übrig war - versammelte sich um den Projektionszylinder.
»Das ist die Karte. Ich kann reinzoomen und rauszoomen«, sagte Joanne. Wie, um ihre Worte zu bestätigen, entstanden neue Sterne am Rande des Hologramms und rückten ins Innere.
Das kannte Jeff schon von den Bildern, die sie am Vorabend angeschaut hatten. Entscheidend war nun, was dieser Projektor außerdem noch anzuzeigen vermochte. »Kann man vielleicht in andere Betriebsmodi wechseln?«
Joanne zuckte mit den Schultern. »Irons wollte nicht, dass wir zu viel an der Konsole experimentieren. Daher habe ich aufgehört, auf die anderen Knöpfe zu drücken.«
Jeff schüttelte den Kopf. Der Apparat schien ein reines Projektionswerkzeug zu sein. Er glaubte nicht, dass sie damit etwas Schlimmes in Gang setzen konnten.
»Das gilt nicht mehr. Schau, ob das Ding noch andere Informationen anzeigen kann.«
Joanne nickte und machte sich wieder an der Konsole zu schaffen.
Jeff drehte sich um und sah, wie Finni etwas aus dem Ausrüstungsschlitten holte. »Nein«, sagte Jeff, schob sich an Shorty vorbei und trat neben den Radartechniker. »Wir müssen den Proviant rationieren.« Finni nickte und verstaute das Paket mit den Konzentratwürfeln wieder im Ausrüstungsschlitten. Sie konnten mithilfe des Mikrorecyclings ihrer Anzüge zwar eine Zeit lang überleben, aber im Gegensatz zu den breiartigen Produkten der Anzüge hatten die Konzentratwürfel wenigstens einen halbwegs angenehmen Geschmack. Er wollte so lange damit hinkommen wie möglich, also würde es keine Zwischenmahlzeiten mehr geben.
»Jeff, kommst du mal?«
Jeff wandte sich wieder um und ging zu Joanne zurück.
»Was hältst du davon?«, fragte sie.
Über dem Projektionszylinder schwebten nun blaue Schriftzeichen. Die Sätze schienen von oben nach unten zu verlaufen. Während Joanne an einem Regler drehte, verfärbten sich unterschiedliche Spalten im Wechsel.
»Scheint mir eine Art Menü zu sein.« Er kratzte sich am Kopf. »Leider können wir die Schriftzeichen nicht entschlüsseln.«
»Ich wähle einfach mal eins an. Ich glaube, das hier ist die Bestätigungstaste.« Sie berührte den Knopf und die Projektion verschwand für einen Moment. Dann tauchten neue Schriftzeichen auf. Joanne probierte noch eine Zeit lang aus, verschiedene Spalten anzuwählen, aber immer wurde nur Schrift projiziert.
»Leider haben wir keinen Stein von Rosetta«, sagte Castles sarkastisch.
»Was ist Rosetta?«, fragte Shorty.
»Er will damit sagen, dass wir das da leider nicht übersetzen können«, antwortete Joanne, ohne den Blick von der Konsole zu nehmen.
»Das bringt uns nicht weiter«, erklärte Jeff. »Geh wieder zurück zu der Sternenkarte und versuche etwas anderes.«
»Leichter gesagt als getan«, meinte Joanne und drückte verschiedene Knöpfe, ohne dass etwas geschah.
»Das bringt doch alles nichts«, brummte Owl. »Lasst uns zurück zur Schleuse gehen und abhauen. Mit etwas Glück findet uns ein Rettungskreuzer oder ein Frachter.«
»Wir werden das nicht wieder diskutieren«, sagte Jeff laut.
»Hey«, stieß Joanne hervor und Jeff blickte wieder auf die Projektion. Die Schriftzeichen waren verschwunden. Aber statt auf eine Sternkarte blickte er auf ein blaues, grob kugelförmiges Gebilde, das unregelmäßig geformt war und zahlreiche mehr oder weniger große Vorsprünge aufwies.
»Das ist das Schiff«, rief Castles überrascht.
»Es scheint eine Außenansicht zu sein«, sagte Joanne.
»Was hast du gedrückt?«, fragte Jeff.
Joanne zeigte auf einen großen quadratischen Knopf oben auf der Konsole. »Vielleicht sind das Vorwahlschalter für unterschiedliche Anzeigemodi.«
»Drück mal den daneben«, forderte Jeff sie auf.
Als Joanne den Knopf berührte, verschwand das Bild des Schiffes und Schriftzeichen füllten wie zuvor die Projektion.
»Nein, zurück.«
Das Schiff erschien wieder vor ihnen.
»Ich probier mal die kleinen Knöpfe darunter«, sagte Joanne.
Die blaue Kugel wurde nach und nach transparent und orangefarbene Strukturen gewannen an Kontur.
»Ich werde verrückt!«, sagte Castles und trat dicht an die Projektion heran. »Das ist eine Karte des Schiffes.« Er streckte die Hand aus und wischte langsam durch das Hologramm. Wo seine Finger auf die feinen Linien stießen, wurde die Projektion leicht unscharf.
»Schau mal«, sagte Joanne. »Hiermit kann man rein- und rauszoomen und das Bild verschieben.«
»Jetzt müssten wir nur noch wissen, wo wir sind«, verkündete Finni.
Joanne drückte einen anderen Knopf und plötzlich war die ganze obere Hälfte der Schiffsprojektion abgeschnitten. Für Jeff sah das Bild aus wie eine riesige Apfelhälfte, die von unfassbar vielen Würmern durchlöchert worden war.
»Damit kann man offenbar Schnittebenen bilden und steuern.« Joanne drehte an einem Regler und wie aus dem Nichts erschienen weitere Ebenen des »Apfels« oben auf der Projektion.
»Ich probier mal den Knopf hier.«
Plötzlich fuhr die imaginäre Kamera in das Schiff hinein. Linien, Ebenen und Punkte rasten durch den Projektionsraum und dann stand das Bild wieder still. Jeff erkannte einzelne Gänge und Räume. In der Mitte des Hologramms stand eine orangefarbene Raute.
»Ist das unser Standort?«, fragte Finni.
Jeff erkannte die Umgebung wieder. Da war das Tor mit dem langen Korridor. Und viele kleine, bizarr verlaufende Gänge, die nach außen in Richtung der Schiffshülle führten. Jeff griff nun selber an die Konsole und zoomte mit dem entsprechenden Regler wieder etwas hinaus. Da war die Schleuse, durch die sie ins Schiff gelangt waren. An einer Stelle erkannte Jeff ihr Quartier mit den kleinen Schlafräumen. »Ja, die Raute markiert unseren Standort«, sagte Jeff.
Er drehte den Regler noch weiter, bis wieder der gesamte Umfang des Schiffes sichtbar war. Das Symbol mit ihrer Position war aus dieser Perspektive am äußersten Rand des Schiffes. Wenn sie wirklich ins Zentrum gelangen wollten, dann hatten sie noch einen ganz schönen Weg zurückzulegen.
»Wie weit sind wir hier von der Hülle entfernt?«, fragte Jeff an Joanne gewandt.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich würde etwa zehn Kilometer schätzen. Luftlinie.«
Owl lachte laut auf. Es war ein verzweifeltes Lachen. »Dann sind es auch nur noch vierhundertneunzig Kilometer bis zum Kern des Schiffes. Ist ja nur ein kleiner Fußmarsch.«
Mac grunzte misslaunig.
Jeff presste die Lippen aufeinander. Natürlich hatte Owl recht. Es war wirklich ein sehr weiter Weg. Selbst, wenn sie keine Umwege machen mussten und gut vorwärtskamen, was Jeff stark bezweifelte, würden sie sicher anderthalb Wochen brauchen.
»Vielleicht gibt es irgendwo doch noch funktionierende Transportmittel«, sagte Joanne. »Einen Fahrstuhl oder so etwas.«
Jeff stellte sich einen Fahrstuhl vor, der hunderte von Kilometern in die Tiefe führte. Wie dem auch sei, sie würden es wagen müssen. Es war ihre einzige Chance.
Er seufzte. »Na schön, nutzen wir die Karte und versuchen, einen Weg zum Kern zu finden.« Er blickte Joanne an. »Zeichne alles mit deinem Rechner auf. Die Karte übertragen wir dann anschließend an die anderen Handhelds.«
Joanne nickte.
Jeff zoomte wieder weiter hinein und verschob den Mittelpunkt des Hologramms, sodass ihre Position am linken Projektionsrand lag. »Zunächst können wir den langen Korridor weitergehen. Er führt direkt in Richtung Zentrum.«
»Ziemlich lang ...«, bemerkte Owls.
Jeff nickte. »Ja, ganz sicher über hundert Kilometer.«
»Er endet an dieser seltsamen, schraffierten Fläche«, sagte Joanne.
»Was kann das sein?«, fragte Green. »Sieht aus wie eine riesige Ellipse, die man in der langen Achse halbiert hat.«
»Vielleicht kann man die Ansicht rotieren, damit wir eine andere Perspektive haben«, vermutete Jeff und probierte mehrere Knöpfe aus. Schließlich drehte sich das Bild leicht und die Schnittebene veränderte sich. Der Umriss der großen Fläche blieb, aber die Schraffur löste sich auf.
»Oh, mein Gott«, sagte Owl.
Jeff stieß leise pfeifend die Luft zwischen den Zähnen aus. Es schien sich um einen Hohlraum zu handeln. Und der war wirklich riesig.
»Ist es das, was ich denke?«, fragte Joanne. Ihre Stimme drückte Unglauben aus.
Jeff nickte. »Ich denke schon. Es scheint eine riesige Höhle zu sein. Tief im Inneren des Schiffes.«
»Wenn es eine Höhle ist, dann ist es die größte, die ich jemals gesehen habe«, meinte Shorty.
»Ganz sicher zweihundert Kilometer lang. Und fast ebenso breit«, sagte Finni.
»Der höchste Punkt der Decke ist über siebzig Kilometer hoch«, ergänzte Jeff.
»Heilige Scheiße!«, entfuhr es Mac.
»Na, das würde ich mir gerne mal ansehen«, sagte Green trocken.
»Da kann ich gut und gerne drauf verzichten«, meinte Owl. »Wer weiß, was dort auf uns wartet?«
»Wir werden sie ein Stück weit durchqueren müssen«, erklärte Joanne. »Dann gelangen wir in diesen Gang, der direkt in Richtung Zentrum führt.« Sie wandte sich an Jeff. »Kannst du bitte wieder etwas nach außen zoomen?«
Jeff drehte an dem entsprechenden Regler.
»Der Gang führt direkt ins Zentrum«, sagte Joanne.
»Vielleicht ist es kein Gang, sondern ein Fahrstuhl«, spekulierte Green. »Könnte doch sein.«
»Wir werden es herausfinden«, sagte Joanne. »Hauptsache, der Weg führt uns direkt zum Kern.«
»Nicht ganz«, sagte Jeff und drehte die Ansicht etwas gegen den Uhrzeigersinn. »Da ist noch so eine Höhle. Sie ähnelt in den Abmessungen der ersten. Wir passieren sie ebenfalls auf dem Weg zum Kern.«
»Es würde mich nicht wundern, wenn es noch mehr von diesen Kavitäten gibt«, sagte Finni. »Was soll das überhaupt sein? Riesige Lagerhallen vielleicht?«
»Sie liegen jedenfalls an den Hauptkorridoren«, meinte Joanne. »Damit sind sie von überall aus dem Schiff gut zu erreichen.«
Jeff nickte. »Ja, diese fraktale Struktur der Gänge scheint es nur in den Außenbereichen des Schiffs zu geben. Weiter innen ähnelt es doch wieder mehr unseren eigenen Schiffen und Stationen, bei denen Hauptzugänge von einem Teil zu allen anderen führen.«
»Jedenfalls haben wir einen guten Weg gefunden, die Kernsektion des Schiffes zu erreichen«, erklärte Joanne. »Ich habe die ungefähren Koordinaten auf mein Handheld geladen. Ich übertrage die Daten später auf eure Rechner.«
Jeff studierte weiter den Bildausschnitt des Hologramms. Der erwähnte Korridor endete an einem Kreis, der mit weißer Farbe gefüllt war. »Der Kernbereich des Schiffes wird auf der Karte nicht dargestellt«, sagte er.
»Ist zum Glück nicht so groß, der Bereich«, sagte Green.
»Fünfzig Kilometer Durchmesser, würde ich sagen«, meinte Joanne.
»Da werden wir den Weg dann wohl selber suchen müssen«, verkündete Owl bissig.
»Ich frage mich, warum dieser Bereich nicht dargestellt wird. Als wäre dort etwas versteckt, dass man nicht finden soll«, sagte Joanne.
Niemand antwortete ihr.
Jeff beendete das unheimliche Schweigen nach langen Sekunden. »Lasst uns aufbrechen.«