17.
»Wie weit wollen wir heute noch gehen?«, fragte Owl. Die Müdigkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Es muss doch langsam mal gut sein.«
Die matte Stimme des Funkers riss Jeff aus seiner Lethargie und ihm wurde erst jetzt bewusst, dass er seit einer langen Zeit nur noch seine Stiefel angestarrt hatte, die sich mechanisch seit Stunden über den finsteren Boden bewegten. Der Korridor, durch den sie gingen, schien endlos zu sein. Natürlich kannten sie von dem Hologramm seine ungefähre Länge, aber in der Realität fühlte sich der Marsch durch dieses hundert Kilometer lange Kirchenschiff mit seinen regelmäßigen seitlichen Säulen, die sich über ihnen zu schwarzen Bögen vereinigten, wie der Gang durch eine surreale Horrorfilmkulisse an. Nur hin und wieder bogen Gänge nach links oder rechts ab. Noch seltener führten Türen zu am Gang anliegenden Räumen, die alle nur wenige Quadratmeter groß waren.
Mehr als einmal hatten sie unheimliche Geräusche wahrgenommen. Mal schien es ein Krächzen gewesen zu sein, dann wieder ein Schleifen und einmal meinte Jeff den Schrei eines Wahnsinnigen gehört zu haben, der aus weiter Entfernung durch den Korridor hallte, wobei man wegen des Echos nie so recht sagen konnte, ob das Geräusch von vorne kam oder hinter ihnen entstanden war. Alleine der Gedanke, dass irgendein unheimliches Wesen ihnen im Schutze der Dunkelheit folgte, ließ Jeffs Magengrube sich zusammenziehen.
Er warf einen Blick zu Joanne, die stoisch an seiner Seite dem fernen Ende des Korridors entgegenmarschierte. Sie erwiderte seinen Blick und nickte. Offenbar wusste sie sofort, was er wissen wollte. Sie hob ihr Handheld. »Seit dem Tor sechsunddreißig Kilometer.«
Jeff seufzte. Er hatte gehofft, dass sie in den vergangenen acht Stunden eine größere Strecke zurückgelegt hatten. Zumindest hatte er das aus dem schmerzenden Zustand seiner Füße geschlossen. Jedes Mal beim Auftreten stach ein heller Schmerz durch seinen großen Zeh. Er hatte sich ganz sicher eine Blase gelaufen. Und er zweifelte nicht daran, dass es den anderen genauso ging. Er wäre lieber noch ein Stück weiter gelaufen. Je schneller sie am Kern des Schiffes ankamen, umso eher würden sie endlich Antworten erhalten. Zudem sollten die Männer ihn nicht für einen Schwächling halten, der als Erster bei einem Marsch schlappmachte. Dazu kam noch ein unbestimmtes, aber nicht zu ignorierendes Gefühl in seinem Bauch, dass ihre Zeit langsam, aber unaufhörlich ablief.
Jeff sah ein, dass es keinen Sinn machte, heute noch weiterzulaufen. Sonst wären sie am Ende so ausgelaugt, dass sie morgen noch weniger Strecke zurücklegen würden. »In Ordnung. Wir suchen uns ein Nachtlager.«
»Nacht ...«, brummte Castles.
»Bitte?«
»Hier ist doch immer Nacht«, sagte der Waffenoffizier. »Es ist immer gleich dunkel in diesem Scheißhaus. Mich macht das langsam wahnsinnig.«
Jeff ging darauf nicht ein. »Wir gehen weiter, bis wir einen Raum finden, den wir als Nachtlager nutzen können.« Er wollte nicht mitten im Korridor die Schlafsäcke ausbreiten. Unter dieser hohen kathedralenartigen Decke mit diesen fürchterlichen Geräuschen im Hintergrund würde er kein Auge zumachen können. Nein, er wollte einen übersichtlichen Raum haben, dessen Türe sie verbarrikadieren und vor der sie eine Wache aufstellen konnten.
»Da vorne ist ein Eingang«, sagte Finni und zeigte zur linken Wand des Korridors.
Der Radartechniker hatte recht. Als sie sich näherten, sah Jeff, dass in der Wand neben der Tür ein schmales Fenster eingelassen war. Das war gut, so konnten sie von drinnen den Korridor im Auge behalten und für potenzielle Eindringlinge war es so schwerer, sie zu überraschen.
»Da geht ein Gang ab«, bemerkte Joanne.
Sie hatte recht. Ein gutes dutzend Meter weiter bog ein schmaler Gang nach links ab. Das hatte aber keinen Einfluss auf Jeffs Entscheidung, den vor ihnen liegenden Raum als Quartier zu nutzen.
Die Tür zu dem Raum war geschlossen, und Jeff leuchtete mit seiner Lampe durch das Fenster. Die Tür ließ sich öffnen, indem er einfach dagegen drückte. Ohne ein Geräusch und mit erstaunlich wenig Widerstand schwang sie auf.
Bis auf einige Tische, die an den Seiten standen, war der Raum leer. Er war nicht sonderlich groß. Gerade so, dass sie halbwegs bequem nebeneinander Platz fanden. Die grauen Tischbeine waren weit genug voneinander entfernt, und sie konnten ihre Schlafsäcke problemlos unter den Tischen ausbreiten.
»Stellt den Ausrüstungsschlitten neben die Tür. Wenn wir schlafen, blockieren wir den Ausgang damit.«
»Was sollen wir essen?«, fragte Castles, während er achtlos seinen Rucksack auf den Boden rutschen ließ und sich dann hinsetzte, wobei er seinen Rücken an einer Wand abstützte.
Es war eine blöde Frage, auf die der Waffenoffizier sich eigentlich selber die Antwort geben konnte. »Wir nehmen die Konzentratnahrung aus dem Schlitten«, sagte Jeff tonlos.
Mac ging in die Hocke und holte die Päckchen mit den kleinen grauen Würfeln aus einem Fach heraus und verteilte sie. Jeder bekam einen Würfel, wobei Mac offenbar peinlich genau darauf achtete, dass Jeff seinen als Letzter erhielt. Wenn das Macs einzige rebellische Aktion blieb, dann sollte es Jeff recht sein. Er legte seinen Rucksack auf einen der grauen Tische und setzte sich daneben. Er fuhr sich durch die Haare und stellte überrascht fest, dass sie nassgeschwitzt waren. Er schaute auf seine Multifunktionsuhr am Handgelenk und schnalzte mit der Zunge.
»Was?«, fragte Joanne, die gerade ihren Konzentratwürfel auspackte.
»Es ist wärmer geworden.«
Owl und Shorty blickten gleichzeitig auf ihre Uhren hinab.
»Tatsächlich«, sagte Castles. »25 Grad. Ist mir gar nicht aufgefallen. Offenbar wird es wärmer, je weiter wir ins Innere des Schiffes gelangen.«
»Wenn das linear so weitergeht, dann ist es im Kern des Schiffes über 50 Grad heiß«, rechnete Finni.
»Abwarten«, meinte Joanne.
»Das Zeug schmeckt echt scheiße«, sagte Mac und spuckte einen letzten Rest seines Konzentratwürfels auf den Boden.
»Du darfst gern die aus deinen Exkrementen aufbereitete Breinahrung aus deinem Kampfanzug schlürfen«, verkündete Castles sarkastisch. »Deinen Anteil an Konzentratnahrung werde ich mir dann unter den Nagel reißen.«
Shorty gähnte laut. »Ich bin so müde. Ich würde mich jetzt wirklich gerne in den Schlafsack verkriechen.«
Jeff blickte auf seine Uhr und nickte. »Nur zu. Wir machen jetzt zehn Stunden Pause und gehen dann weiter.«
»In zehn Stunden?«, fragte Joanne. »Dann ist es vier Uhr morgens.«
Jeff seufzte. Vielleicht wäre es wirklich besser, ihren Biorhythmus nicht völlig durcheinanderzubringen. Nicht umsonst hatte man auf den Schiffen des Imperiums eine einheitliche Uhrzeit eingeführt, an die sich alle Besatzungen zu halten hatten. Aber er bekam sogleich wieder dieses diffuse und beunruhigende Gefühl, dass sie nur noch wenig Zeit hatten, um an ihrer Situation irgendetwas zu ändern. Wenn die unsichtbare Uhr abgelaufen war, dann wären sie verloren. Jeff schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, woher dieses Gefühl kam. Er erinnerte sich an den Major, der auch am Vorabend seines Todes eine Vorahnung gehabt hatte, die am Morgen grausame Realität geworden war, und beschloss, auf dieses Gefühl zu hören. Doch das mussten die anderen nicht wissen. »Wie Castles schon so treffend formulierte, ist Tag hier eh nicht von der Nacht zu unterscheiden und zehn Stunden Pause sollten wirklich reichen.«
»Stellen wir wieder eine Wache auf?«, fragte Joanne.
»Sicher.«
»Dann möchte ich die erste übernehmen«, sagte seine Kameradin.
»Bist du sicher?«
Joanne nickte. »Ich fühle mich noch nicht so müde.«
»In Ordnung. Ich löse dich in zwei Stunden ab. Dann Green und dann Finni.«
Jeff breitete seinen Schlafsack so aus, dass er halb unter einem der Tische lag und drückte auf den Knopf, der die eingebaute Iso-Matte aufpumpte. Er setzte sich auf die weiche Unterlage und zog sich stöhnend die schweren Stiefel aus. Trotz des atmungsaktiven Materials war der ihm entgegenströmende Geruch alles andere als angenehm. Er zog sich die Socken aus, winkelte das Bein an und betrachtete seinen rechten Fuß. Er verzog das Gesicht. Unter dem Zeh hatte sich eine Blase gebildet, die prall mit Flüssigkeit gefüllt war. Er widerstand dem Drang, sie aufzustechen, und brachte stattdessen einen Wundheilstreifen an, den er aus Joannes Rucksackapotheke holte.
Jeff seufzte und schlüpfte in den Schlafsack. Einen Moment lang beobachtete er Joanne, die sich einen Tisch vor dem Fenster zurechtrückte und darauf im Schneidersitz Platz nahm. Sie überprüfte ihre Waffe und legte sie neben sich auf den Tisch. Dann dimmte sie die Lampe so weit herunter, dass Jeff seine Umgebung nur noch schemenhaft erkannte. Irgendwo neben sich hörte er Finni schnarchen.
Jeff schloss die Augen, aber obwohl er von dem langen Tag, der so erschütternd begonnen hatte, wirklich erschöpft war, dauerte es lange, bis er sich entspannen konnte. Immer wieder sah er den grauenhaft zugerichteten Körper des Majors vor sich auf seinem Bett liegen und unwillkürlich fragte sich Jeff, wer der nächste sein würde, den sich dieses finstere Schiff holte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fiel Jeff in einen unruhigen Schlaf.