20.
»Aufgeschlitzt«, sagte Joanne, nachdem sie die Untersuchung von Finnis Leiche beendet hatte. Sie war blass. »Und zwar von der Unterlippe gerade herunter bis zu seinem Anus.«
Jeff schüttelte sich. »Bis zu seinem Anus? Aber ...«
»Penis und Hoden wurden abgetrennt und in seine Bauchhöhle gesteckt.« Joanne schluckte. »Zusammen mit seinen Augen.«
»Scheiße, verdammte«, fluchte Owl.
»Das kann doch nicht sein«, sagte Castles. Seine Stimme war nur ein Winseln. »Das kann einfach nicht sein. Wer tut denn so etwas?«
Er bekam keine Antwort.
»Du hättest ihn nicht alleine lassen dürfen«, sagte Mac zu Green.
»Es ging darum, Jeff zu finden«, erwiderte Green ruhig.
Mac schnaubte. Es war offensichtlich, wessen Tod ihm lieber gewesen wäre.
»Ihr hättet zusammen nach Jeff suchen müssen«, sagte Joanne ruhig, aber mit vorwurfsvoller Stimme. Green zuckte mit den Schultern und wandte sich ab, um die Überreste von Finnis Handheld aufzuheben.
»Oder ihr wärt alle drei draufgegangen«, fuhr Joanne fort. »Und wir hätten euch in diesem Labyrinth suchen müssen und womöglich niemals gefunden.«
Jeff presste die Lippen zusammen und nickte. Natürlich hatte Joanne recht. Es war unverantwortlich gewesen, die Gruppe überhaupt zu trennen. Er hatte etwas Zeit sparen wollen und nun war Finni tot. Wenn Jeff vor zwei Stunden eine andere Entscheidung getroffen hätte, wäre der Kamerad noch am Leben. Sicher, die Tatsache, dass diese verdammte Luke hinter ihm heruntergekracht war, war nicht seine Schuld und das hätte auch passieren können, wenn sie mit der ganzen Gruppe in die Lobby gegangen wären.
Green hätte nicht alleine auf die Suche nach ihm gehen dürfen, aber Jeff hatte auch nie wirklich Regeln für einen solchen Fall aufgestellt. Das würde er zwar nun nachholen, aber am Tod des jungen Ortungsspezialisten änderte das nichts mehr.
Jeff holte aus dem Ausrüstungsschlitten eine Decke. Dann ging er zu Finnis Leiche. Er trat in die Blutlache, was ihm ziemlich unangenehm war, aber die war inzwischen so groß geworden, dass er einfach keine andere Wahl hatte. Er breitete die dünne, grün-braun gestreifte Decke über seinem Kameraden aus und legte den Rucksack mit seinen Habseligkeiten neben ihm. Dann berührte er die Stelle der Decke, unter der Finnis Schulter sein musste und murmelte ein kurzes Gebet. Obwohl Christ, war er nie sonderlich gläubig gewesen und so verschaffte ihm die Fürbitte auch keine wirkliche Erleichterung.
Er ging einige Schritte rückwärts, bis er wieder in der Lobby stand. »Will noch jemand was sagen?«, fragte er leise. Er erhielt keine Antwort.
Dann drückte er auf das Quadrat in der Wand, woraufhin die Tür nach unten fuhr.
»Ich verstehe es nicht«, sagte Joanne, die hinter Jeff stand.
Jeff drehte sich herum. »Was verstehst du nicht?«
»Das Lichtwesen, das du gesehen hast.«
»Was ist damit?«, fragte Jeff.
»Warum ist es abgehauen, als Green aufgetaucht ist?«
»Vielleicht trauen sie sich nur, uns anzugreifen, wenn wir alleine sind.«
»Du hast gesagt, dass du auf das Wesen geschossen hast, und die Kugel mitten durch es hindurchgegangen ist«, sagte Castles.
»Ja«, antwortete Jeff und nickte.
»Wenn unsere Waffen doch eh nichts ausrichten, warum sollten sie dann Angst haben?«
»Ich weiß es nicht«, gab Jeff zu.
»Und wenn sie immateriell sind wie Geister, wie schaffen sie es dann, Menschen so aufzuschlitzen?«, fragte Owl.
»Vielleicht können sie es irgendwie steuern«, vermutete Joanne. »Vielleicht ist es wirklich eine Art technische Schutzvorrichtung, die sie nach Belieben aus- und anschalten können.«
»Oder nur ihre Waffen sind für uns materiell«, sagte Castles.
»Eine erschreckende Vorstellung«, flüsterte Joanne.
»Ich glaube nicht, dass es intelligente, technisch begabte Wesen sind. Sonst sähe es auf diesem Schiff anders aus«, wandte Mac ein.
Jeff schüttelte den Kopf. Sie hatten diese Diskussion doch schon geführt. Sie führte zu nichts. »Es ist letztlich alles Spekulation und einer der Gründe, warum wir zum Zentrum des Schiffes gehen. Denn wir glauben ja, dass wir dort Antworten finden.«
»Wenn wir bis dahin nicht alle draufgegangen sind«, meinte Mac gehässig.
»Ich habe auch schon gesagt, dass ich es für keine gute Idee halte«, jammerte Owl. »Wir hätten zur Hülle gehen und uns den Weg nach draußen freisprengen sollen. Es ist noch nicht zu spät. Wir können immer noch zurückmarschieren.«
Shorty nickte grimmig.
Jetzt ging diese Diskussion wieder von vorne los. Genau das hatte Jeff vermeiden wollen. Allerdings war es wohl eine logische Konsequenz nach dem fürchterlichen Tod von Finni. »Wir haben bereits einen großen Teil des Weges zum Zentrum des Schiffes zurückgelegt. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben.«
Mac lachte schallend. »Eine große Strecke?« Er lachte wieder. »Wir sind gerade mal hundert Kilometer ins Innere vorgedrungen. Vor uns liegen weitere vierhundert Kilometer.«
»Ich sage, wir kehren um, bevor wir alle am Ende tot sind«, sagte Owl.
Jeff blickte nacheinander seine Kameraden an. Owl, Mac und Shorty waren für die Rückkehr zur Außenhülle. Jeff war sich sicher, dass Owl und Mac auch gegen seinen Willen aufbrechen würden, aber es war fraglich, ob sie ohne den Rückhalt zumindest eines Offiziers eine Meuterei anzuzetteln bereit waren.
»Ich frage mich auch, ob wir weiter ins Innere dieses verdammten Höllenschiffes eindringen sollen«, sagte Castles.
Scheiße!
Als hätten Mac und Owl nur auf diesen Moment gewartet, traten sie sogleich neben den Waffenoffizier.
»Dann gehen wir zurück!«, verkündete Mac an den Offizier gerichtet. »Soll der Musterknabe doch alleine das Schiff auskundschaften, wenn er so verdammt scharf darauf ist.«
»Was meinst du?«, fragte Castles Joanne.
»Du bist ein verdammter Idiot«, zischte seine Kameradin und trat neben Jeff.
»Private Short! Private McGuinness!«, sagte Green plötzlich mit eisiger Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Selbst Jeff zuckte zusammen. »Das Kommando hat Captain Austin und der Befehl lautet, zum Zentrum dieses Schiffes zu gehen. An diesen Befehl werden wir uns halten, verstanden?«
Mac starrte den Ingenieur mit offenem Mund an. Jeff konnte sich nicht erinnern, Green jemals so bestimmt auftreten gesehen zu haben. Möglicherweise hatte der Tod Finnis etwas in ihm ausgelöst. Vielleicht hatte er zusätzlich auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Jeff, weil er Finni alleine gelassen hatte.
»Ist das verstanden?«, wiederholte Green.
»Verstanden, Sir«, antwortete Owl tonlos.
Mac sagte nichts, aber er senkte den Kopf und nickte.
Jeff atmete auf. Hätte Green nicht direkt reagiert, hätte er es jetzt womöglich mit einer handfesten Meuterei zu tun. Nun war es wichtig, dass er die Kontrolle wieder an sich nahm. »Wir werden hier in der Lobby übernachten und morgen machen wir uns dann auf die Suche nach dem Hohlraum«, sagte er. Er bemühte sich um eine feste Stimme, aber er hörte nur ein bemitleidenswertes Krächzen. »Um einen erneuten Überfall zu verhindern, werden wir von jetzt an immer zusammenbleiben und uns nicht mehr aufteilen. Die nächtliche Wache werden wir ab heute zu zweit machen. Noch irgendwelche Fragen?«
»Wer wird wohl der Nächste sein?«, murmelte Owl so leise, dass Jeff beschloss, nicht darauf einzugehen. Denn im Grunde genommen fragte er sich dasselbe.