29.
Jeff wachte auf, als Castles ihn am Arm schüttelte.
»Was ist denn?« Jeff blickte auf seine Uhr. Er hatte vier Stunden geschlafen und fühlte sich nicht im Geringsten erfrischt.
»Joanne«, sagte Castles. »Sie gefällt mir überhaupt nicht.«
»Was ist denn mit ihr?«, fragte Jeff, aber er stand schon auf und folgte seinem Kameraden.
Joanne lag in einer Ecke und hatte ihre Brust mit den Armen umschlungen. Ihre Lippen zitterten.
Als Jeff ihre weiten Pupillen sah, erschrak er. »Joanne!« Er beugte sich über sie.
»Wir werden alle sterben«, flüsterte sie. Speichel rann aus ihrem Mundwinkel.
Jeff stand wieder auf und zog Castles mit sich. »Es ist wie bei Owl. Da hat es auch so angefangen.«
»Was können wir tun?«, fragte der Waffenexperte.
»Auf jeden Fall müssen wir aufpassen, dass sie sich nicht selbst etwas antut, und sie im Auge behalten.«
»Was ist mit Medizin?«, fragte Castles.
»Was meinst du?«
»Dieses Zeug, das sie der Frau in der Höhle gegeben hat. Vielleicht wirkt es auch bei ihr.«
»Ich frage mich nur ...« Neben sich hörte er ein Geräusch und wirbelte herum.
Verdammt, was ...?
Er sah Joannes verzerrtes Gesicht. Ein Messer in ihrer Hand. Jeff sprang rückwärts, stolperte und ging zu Boden. Castles schrie auf und riss die Arme hoch.
Jeff wollte aufstehen, aber seine Stiefel rutschten über den Boden. Dann bohrte sich die Klinge in Castles’ Hals. Sein Schrei wurde zu einem Gurgeln. Blut sprudelte aus einer riesigen Wunde an seiner Kehle. Der Waffenexperte ging in die Knie und sackte dann in sich zusammen.
Joanne trat einige Schritte nach hinten. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Feine Blutstropfen waren über ihr Gesicht verteilt. Wie in Zeitlupe hob sie die Hand mit dem Messer.
»Nein«, schrie Jeff, endlich wieder auf den Beinen, als sie die Klinge zu ihrem eigenen Hals führte. »Tu es nicht!«
Aber Mac war schon heran. Er packte Joanne und wand ihr das Messer aus der Hand. Dann zog er ihre Hände hinter ihren Rücken. Die Klinge klapperte zu Boden.
»Gebt mir was, um sie zu fesseln«, schrie Mac.
Shorty reichte ihm mit zitternden Händen einen Riemen von Joannes Sanitätsrucksack. Mac band ihre Hände hinter dem Rücken zusammen.
»Gib mir noch einen«, forderte er Shorty auf.
Damit fesselte er auch ihre Füße.
Joanne war völlig weggetreten. Speichel rann aus ihrem offenen Mund.
Jeff wandte sich Castles zu. Green kniete bereits neben ihm. »Er ist tot.«
»Scheiße«, sagte Mac.
Jeff schlug sich die Hände vors Gesicht. Das durfte nicht wahr sein. Nicht noch einer! Und nicht auch noch Joanne!
Er tat zwei Schritte, trommelte mit beiden Fäusten gegen die Wand. »So eine verdammte Scheiße!«, schrie er. »Du verdammtes Drecksschiff! Lass uns doch einfach in Ruhe!« Seine Knie wurden weich und gaben nach. An der Wand gelehnt, rutschte er zu Boden und begann zu schluchzen. »Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr.« Er kippte rückwärts und wimmerte.
Am Ende wusste er nicht mehr, wie lange er so dagesessen hatte.
Endlich richtete er sich auf. Musste sich beim Aufstehen an der Wand abstützen. Langsam wandte er sich um. Mac und Shorty saßen neben der gefesselten Joanne. Shorty hatte rote Augen, musste ebenfalls geweint haben. Mac starrte zu Boden und rieb sich die Handgelenke. Ein Stück weiter lehnte Green an der Wand und blickte ihn ausdruckslos an.
Jeffs Wut verwandelte sich allmählich in kühlen Hass. Hass auf dieses verdammte Schiff, auf die verdammten Außerirdischen.
Der Grund für das ganze Elend, den ganzen Schmerz, den ganzen Horror hauste im Mittelpunkt des Schiffes und wartete geduldig auf sie. Er wollte dorthingehen und es töten. Was immer es war.
»Mac! Shorty! Green!«, sagte er mit rauer Stimme.
»Ja, Sir?«, fragte Shorty schwach.
»Aufstehen. Wir gehen zurück in die Höhle und holen die Levitationsgürtel.«
»Was machen wir mit Joanne?«, fragte Mac.
Jeff fuhr sich durch die Haare. Sie konnten ihre Kameradin unmöglich gefesselt den ganzen Weg zurückschleppen. Sie konnten sie aber auch nicht alleine hier zurücklassen.
Scheiße.
»Ich werde hier mit ihr auf eure Rückkehr warten«, sagte Green.
Jeff blickte auf. Er wollte die Gruppe nicht trennen. Jedes Mal, wenn sie das vorher getan hatten, war etwas Schreckliches geschehen. Aber was blieb ihm denn anderes übrig?
»Bist du sicher?«
Der Ingenieur nickte. »Ich glaube nicht, dass uns hier eine Gefahr droht. Es ist lange her, dass wir eines dieser Lichtwesen gesehen haben. Ich passe auf Joanne auf, bis ihr zurück seid.«
Jeff nickte dankbar und winkte Shorty und Mac zu sich heran. »Gehen wir.«
Zusammen krochen sie durch den engen Tunnel und kletterten über die Leiter im Vorraum wieder in den breiten Korridor, der sie zurück zur Höhle bringen sollte. Fünfzehn Kilometer hatten sie zurückzulegen und Jeff hoffte, dass sie es in zwei Stunden schaffen würden.
»Mich kotzt dieses verdammte Schiff echt an«, sagte Mac.
»Das geht mir genauso«, antwortete Jeff.
»Meint ihr, dass da vielleicht tatsächlich noch Außerirdische in dieser Zentralkugel sind, die das alles anrichten?«, fragte Shorty.
Jeff wollte sich nicht in Spekulationen ergehen. Er wusste, dass er auf die Wahrheit durch alleiniges Nachgrübeln nicht kommen würde.
»Kann vielleicht dieser Bordcomputer eine Rolle dabei spielen?«, hakte sein Kamerad nach.
»Hör zu, Shorty«, erwiderte Jeff mit Zorn in der Stimme. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir die Antworten im Mittelpunkt des Schiffes finden werden. Und wir werden sie uns jetzt holen gehen.«
»Chef ist sauer«, kommentierte Mac trocken. Jeff ging nicht darauf ein.
Endlich erreichten sie den Vorraum zur Höhle. Hier hatte sich nichts verändert. Immer noch lag da der Haufen Asche, der einmal sein Vater gewesen war. Jeff schluckte und ging schnell weiter.
Sie traten in das fahle Licht der riesigen Höhle und blickten auf die karge Landschaft hinab. In der Ferne konnte Jeff die Gruppe sehen, bei der er seinen Vater getroffen hatte. Als schwarzen Punkt erkannte er neben der kleinen Anhöhe den Transportschlitten. Sie gingen die Treppe hinunter und näherten sich langsam den Menschen. Offenbar hatten sie irgendwo neue Opfer gefunden, die nun auf dem Boden lagen und stoisch zusahen, wie ihre Folterer weitere Scheiterhaufen aufschichteten. Mussten die nicht mal schlafen? Oder etwas essen? Jeff verstand es einfach nicht.
»Sollen wir nur die Gürtel holen? Oder versuchen wir, den ganzen Schlitten fortzuschaffen?«, fragte Shorty leise.
Jeff überlegte. Wenn sie sich von hinten ranpirschten und den Beutel mit den Gürteln herunternahmen, hatten sie eine größere Chance, unbemerkt zu bleiben, als wenn sie versuchten, den ganzen Schlitten zu holen.
»Wir gehen kein Risiko ein«, entschied er. »Wir greifen uns die Gürtel und verschwinden.«
»In Ordnung«, sagte Mac.
Sie hatten den Schlitten fast erreicht. Die Männer und Frauen vor ihnen waren immer noch mit dem Aufschichten der Scheiterhaufen beschäftigt und nahmen keine Notiz von ihnen.
Jeff ging in die Knie und robbte die letzten Meter vorwärts. Der Beutel mit den Gürteln war nun dicht vor ihm. Er streckte die Hände danach aus, zog ihn ohne Mühe unter dem Packriemen hervor und hängte ihn sich um den Hals. Sie hatten es geschafft. Jetzt nur noch weg.
Jeff hob den Kopf, um einen letzten Blick auf die Männer und Frauen zu werfen.
Sein Blick fiel auf einen dünnen Mann, der beim Aufschichten des Scheiterhaufens half. Er drehte sich um und schaute in seine Richtung.
»Dad!«, schrie Jeff.
Die Männer und Frauen fuhren zu ihm herum.
Scheiße, was habe ich getan?
Es war zu spät. Sie hatten sie bemerkt.
»Ergreift sie!«, sagte sein Vater mit strenger Stimme.
Jeff sprang auf und wollte weglaufen. Doch schon hatte eine kräftige Hand seine Schulter gepackt. Mac fluchte und feuerte seine Pistole ab. Eine schmächtige Frau ging wimmernd zu Boden. Dann schlug ihm ein Typ mit breitem Kreuz die Pistole aus der Hand.
Eine Frau zog Jeffs Waffe aus dem Halfter und warf sie in hohem Bogen fort. Zwei stämmige Männer in Lendenschürzen ergriffen Jeff an den Armen und schleiften ihn nach vorne. Direkt vor seinen Vater, der aufrecht vor ihm stand.
»Du warst tot«, schrie Jeff. »Ich habe gesehen, wie du verbrannt bist.«
»Ich habe es dir ja gesagt. Wir sind bereits tot. Wir können nicht mehr sterben«, sagte sein Vater mit tonloser Stimme.
Jeff blickte ihm in die Augen. Gestern waren diese noch klar und fokussiert gewesen. Heute waren seine Pupillen geweitet und die Augen glasig.
»Was ist mit dir geschehen?«, fragte Jeff leise.
»Ich bin wiedergeboren worden«, antwortete sein Vater eisig. »So wie alle hier immer und immer wieder wiedergeboren werden, um zum ewigen Kreislauf von Bestrafen und Bestraftwerden beizutragen. Und diesmal bin ich wiedergeboren worden, um zu bestrafen.« Er beugte sein Gesicht nach vorne, bis seine Nasenspitze die von Jeff berührte. »Und heute werdet ihr bestraft. Denn ihr habt etwas Verbotenes getan, und seid darum Sünder vor Ihm
»Ihm?«, fragte Jeff verzweifelt.
»Dem Fürsten der Dunkelheit, der im Zentrum der Hölle über uns wacht und uns befiehlt, zu bestrafen und zu leiden, wie es sein Recht ist und seine Aufgabe.«
Jeff lief es bei den Worten kalt den Rücken runter. »Dad! Bitte!«
Sein Vater trat einen Schritt zurück und zeigte auf Mac und Shorty. »Bindet sie an die freien Pfosten«, befahl er den umstehenden Männern und Frauen. »Auf dass sie zuerst dem reinigenden Feuer übergeben werden.«
Shorty schrie, als man ihn zum nächsten Pfahl brachte und ihn daran festmachte.
»Verdammte Bastarde«, fluchte Mac, während man ihn an den Pfahl daneben fesselte. »Ich werde euch alle töten.«
Jeffs Vater hob eine brennende Fackel vom Boden auf. Die Menge johlte vor Begeisterung, als er damit die Holzhaufen entzündete.
Jeff versuchte, sich loszureißen, seinen Kameraden zu helfen, aber zu viele Hände umklammerten ihn. »Das könnt ihr nicht machen, ihr Schweine!«
Als hätte jemand Brandbeschleuniger über die Stapel gekippt, standen sie sofort in Flammen und Jeffs Kameraden waren im Nu vom Feuer umgeben. Shorty schrie, als seine krausen Haare brannten wie Zunder. Jeff schloss die Augen, aber die grässlichen Schreie konnte er nicht abstellen. Und es wurde immer schlimmer. Am Ende hatten die Schreie nichts Menschliches mehr an sich. Endlich verstummten sie und das Einzige, was Jeff noch spürte, war die brennende Hitze des Feuers auf seiner Haut.
Als Jeff die Augen wieder öffnete, sackte Shorty gerade endgültig in sich zusammen, während der große Mac, immer noch an den Pfahl gefesselt, wie eine nur noch entfernt menschenähnliche Fackel auf dem Holzhaufen stand. Jeff selbst würde der Nächste sein.
Als auch Mac in sich zusammensackte, johlten seine Bewacher und reckten die Fäuste in die Luft.
In diesem Moment riss Jeff sich los. Beinahe wäre er gestolpert, aber er war frei und rannte.
»Du wirst deiner Bestrafung nicht entgehen«, schrie sein Vater hinter ihm. »Du wirst dich hier wiederfinden und gemeinsam werden wir uns bestrafen für die Sünden unseres Lebens.«
Jeff biss sich auf die Zunge und rannte. Er rannte wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er blickte sich um und sah einige Männer, die die Verfolgung aufgenommen hatten, aber schon bald stehenblieben und sich wieder umwandten. Das Letzte, was ihn verfolgte, war das wahnsinnige Lachen seines Vaters.
Er stürmte die Treppe hinauf, durch den Vorraum und in den Korridor, wo er die Tür zurück in die Höhle mit einem Knopfdruck schloss. Dann sackte er auf dem Boden zusammen und schloss die Augen, während ihn ein Weinkrampf überwältigte. Er riss sich den Beutel mit den Levitatoren vom Hals und krampfte seine Hände hinein.