32.
»Wie weit ist es nochmal bis zur anderen Seite?«, fragte Jeff.
Er schaute hinauf auf die dunkelgraue Kugel, die den Zentrumsbereich des Schiffes darstellte.
»Zehn Kilometer«, antwortete der Ingenieur. »Wer nimmt Joanne?«
Jeff seufzte. »Das mache ich.« Er beugte sich über seine immer noch bewusstlose Kameradin und aktivierte den Fluggürtel. Er stellte die Trägheitsdämpfung auf Ausgleich. Joanne wog nun nichts mehr und Jeff hob sie mühelos an, bis sie auf Höhe seiner Taille schwebte. Er verband ihren Gürtel mithilfe des Karabinerhakens mit seinem eigenen und legte seinen linken Arm unter ihre Hüfte.
»Auf geht’s!«, sagte Jeff. »Flieg du voraus.«
Green antwortete nicht, sondern schwebte langsam nach oben davon, wie ein Heliumballon, dessen Leine gerissen war.
Mit der rechten aktivierte Jeff seinen eigenen Levitator und folgte dem Ingenieur in den unwahrscheinlichen Himmel.
Die Innenhülle des äußeren Schiffsbereiches hatte kaum Strukturen und so war es sehr schwer, ihre Höhe über dem Boden abzuschätzen. Genauso, wie weit es noch bis zur Oberfläche des Zentrumsbereichs war. Nur das Radar seines Anzugs lieferte Zahlen, die der Computer ihm auf das HUD seines Helmes projizierte.
Der Anblick war einfach atemberaubend. Surreal. Als wäre er vom Boden einer riesigen Schüssel abgeflogen, und steuere nun eine große Kugel an, die ein Stück über der Schüssel schwebte. Eine Szene wie aus einem Fiebertraum.
Jeff war etwa auf der Höhe von Green, als es ihm plötzlich die Beine nach oben riss. Verzweifelt hantierte er an der Steuerung seines Fluggürtels und versuchte, sich zu stabilisieren. Es dauerte eine Zeit, bis er aufhörte, sich um seine eigene Achse zu drehen.
Green war es leichter gefallen. Aber er hatte auch nicht Joanne mit sich herumzutragen, die zwar kein Gewicht, aber doch noch ihre Masse hatte.
»Der Vektor der Schwerkraft hat sich wieder geändert«, erklärte Green völlig überflüssigerweise. Das hatte Jeff ja schließlich selbst gemerkt. Der Boden war nun nicht mehr die Innenwand des äußeren Schiffsbereiches, sondern die Oberfläche der Zentrumskugel.
Ihm wurde schon wieder übel.
Diese verdammten Schwerkraftänderungen!
Allmählich näherten sie sich dem ›neuen‹ Boden. Green zeigte auf ein hellgraues Quadrat in einigen Kilometern Entfernung. »Das da könnte eine Schleusenluke sein«, sagte er.
Jeff zuckte mit den Schultern. »Probieren wir es. Bring uns hin.«
Green flog voraus und wenige Minuten später landeten sie neben dem Quadrat, das tatsächlich eine Schleusenluke zu sein schien. Mit einigen Metern Durchmesser war sie mehr als groß genug für sie. Jeff legte Joanne vorsichtig auf dem Boden ab, ließ ihren Gürtel aber noch aktiviert. Irgendwie mussten sie ja in die Schleuse gelangen. Er blickte sich um. Steuerelemente gab es hier nicht. Wenn das Innere wirklich hermetisch abgeschlossen sein sollte, dann würde sie niemals hineinkommen und hätten sich den Weg sparen können.
»Hey«, sagte Green. »Die Luke geht ja von alleine auf.«
Tatsächlich. Die Luke fuhr ein Stück nach innen und dann seitlich in die Wand hinein. Die dahinterliegende Schleusenkammer erhellte sich.
Green stellte sich an den Rand, sprang ab und schwebte mit Hilfe seines Gürtels langsam zu Boden.
Jeff zögerte. Es machte doch keinen Sinn, den Innenbereich hermetisch abzuschirmen, wenn dann für jeden Ankömmling gleich eine Luke aufging. Es kam ihm vor wie eine Einladung. Wollte der Dämon sie wirklich im Zentrum seines Reiches haben? Wenn ja, wieso? Was machte sie so verdammt wertvoll? Oder handelte es sich wirklich nur um ein perfides Spiel?
»Kommst du?«, fragte Green. »Ich möchte nicht, dass die Luke wieder zugeht und ich alleine hier drin bin.«
Jeff nickte. Sie wollten ja schließlich ins Zentrum. Aber sie mussten auf der Hut sein. Er schnappte sich Joanne, trat an den Rand und ließ sich ebenfalls sanft zu Boden sinken. Kaum war er unten, fuhr die Schleusenluke über ihnen wieder zu. Kurz darauf war das Pfeifen einströmender Luft zu hören.
Schließlich fuhr eine Luke in der Wand auf. Jeff überprüfte den Luftdruck und öffnete dann den Helm seines Anzugs. Kühle, frische Luft strich über sein Gesicht.
»Ahhhhh«, machte Green, der ebenfalls seinen Helm geöffnet hatte.
»Ja, zum ersten Mal, seit wir an Bord gegangen sind, herrscht eine angenehme Atmosphäre.« Jeff trat durch die Luke und fand sich in einem sterilen weißen Raum wieder, der etwa die Größe einer kleinen Sporthalle hatte. Es war ein typischer Schleusenvorraum, wie es ihn auch an Bord eines irdischen Schiffes hätte geben können. Schränke, Regale, Ausrüstungsgegenstände und sonstiger Kram war überall verteilt. Eine einzige Luke mit zwei Türflügeln führte nach draußen.
Green war bereits dorthin unterwegs. Jeff folgte ihm mit Joanne.
Die Luke ließ sich über einen Knopf in der Wand problemlos öffnen. Dahinter war ein Raum, der nur ein paar Meter zu messen schien. Kontrollen waren an der Wand angebracht, und als Jeff eintrat, wurde ihm klar, dass es sich um einen Lift handeln musste.
Er legte Joanne auf den Boden und stellte sich neben Green, um die Schalttafel zu begutachten. Im Grunde waren es zwei Reihen senkrecht angeordneter Knöpfe, neben denen goldene Schriftzeichen aufgemalt waren.
»Hmmm, tja«, machte Jeff.
»Ich würde sagen: Wir wollen ganz nach unten«, sagte Green und drückte, ohne auf Jeffs Antwort zu warten, auf den untersten Knopf. Schon schloss sich die Tür und eine leichte Erschütterung ging durch die Kabine. Sollte es wirklich so einfach sein?
Es gab keine Anzeigetafeln oder Lichter, die auf ihre aktuelle Position hindeuteten. Nur die Vibration ließ darauf schließen, dass sie tatsächlich in Richtung des Schiffsmittelpunktes unterwegs waren. Vierzig Kilometer waren sie noch vom Zentrum entfernt, also mochte die Fahrt eine Zeitlang dauern. Andererseits hatten sie keine Ahnung, wie schnell der Lift unterwegs war.
Am Ende fuhren sie nicht mal eine Minute. Zischend öffneten sich die Aufzugstüren. Jeff hob Joanne aus der Fahrstuhlkabine, sah sich um und seine Augen weiteten sich. Eigentlich sollte ihn nichts mehr überraschen, aber das hier ...?
Sie befanden sich in einer riesigen Halle. Es war finster und man konnte die Umrisse nur erahnen. Der Fahrstuhl, den sie gerade verlassen hatten, ruhte in einer hunderte Meter hohen, grauen Säule, durch die sie herabgefahren sein mussten.
Es gab noch weitere Säulen, die den riesigen Raum durchzogen, aber in seltsamen Winkeln nach oben und seitwärts hin zu einer halbkugelförmigen Decke führten, die so weit über ihnen hing, dass man ganze Kathedralen in diesen Raum hätte stellen können. Tatsächlich ähnelte der ganze Raum einer riesigen Halbkugel mit einem Durchmesser von sicherlich einem halben Kilometer. An den Wänden gab es in unregelmäßigen Abständen Luken, von denen einige offen waren und durch die rötliches Licht schimmerte. Im Zentrum des Raumes befand sich weitere Halbkugel, deren Hülle so schwarz war, dass sie Jeff wie ein riesiger blinder Fleck im Sichtfeld erschien.
»Na, dann wird das wohl das Zentrum des Schiffes sein«, sagte Green überzeugt und ging langsam auf eine dunkelgraue Luke zu, die einige dutzend Meter von ihnen entfernt war.
Konnte es sein? War diese Halbkugel das Steuerzentrum des Schiffes? Hatten sie es wirklich erreicht? Und würde darin der Dämon auf sie warten? Beziehungsweise dessen hermetisch abgeschlossene Kryokammer?
Green schien jedenfalls überzeugt zu sein, das Ziel erreicht zu haben. Er war fast an der Luke angekommen und winkte Jeff zu sich heran. »Komm schon. Wir sind da.« Er grinste.
Jeff blieb starr stehen. Irgendetwas störte ihn an Green. Hatte ihn die ganze Zeit gestört. Allerdings mehr unbewusst. Der Ingenieur hatte sich verändert, doch das hatten sie alle, seit sie dieses Schiff betreten hatten. Green aber besonders. Jeff erinnerte sich daran, dass es dem Ingenieur ziemlich schlecht gegangen war, nachdem sie ihre Unterkunft bezogen hatten. Was hatte er gehabt? Kopfschmerzen. Schwindel. Das hatte Green vorher schon einmal gehabt. Aber wo? Auf der Charon. Bei dem Angriff auf Acheron-4. Als sie von Psychostrahlen getroffen wurden und Green festgestellt hatte, dass sein Abschirmnetz defekt war.
Sein Abschirmnetz war defekt.
Jeff bekam eine Gänsehaut und Sterne tanzten vor seinen Augen. Wie konnten sie nur so blind gewesen sein? Wie konnte er
nur so blind gewesen sein?
Jeff ließ Joanne auf den Boden gleiten und richtete sich auf. Green starrte ihn an, sein Gesicht immer noch in einem Grinsen gefroren. Er musste ahnen, was in Jeff vorging, denn er trat langsam auf ihn zu. »Alles in Ordnung?«
Jeff wich einen Schritt zurück und schüttelte mit dem Kopf. »Du bist es!«, krächzte er. »Du bist der Dämon.«
Green kam näher. Sein Grinsen wurde breiter. »Aber, aber«, sagte er mit übertrieben schmeichelnder Stimme. »Wer wird denn so unhöflich sein wollen, seinen Gastgeber zu beleidigen?«
Irgendetwas war in Greens Gesicht. Etwas Fremdes, das Jeff noch nie zuvor gesehen hatte. Eine Fratze, die sich unter der Haut versteckte und nun hervorbrach. Jeffs Herzschlag beschleunigte sich und seine Hände wurden feucht. Er stand direkt vor dem Dämon, der so viel Leid angerichtet hatte, nur um sich selber zu befriedigen. Er brauchte lediglich die Hand nach ihm auszustrecken, um ihn zu berühren. Instinktiv wusste er, dass er kein gleichwertiger Gegner für dieses finstere Wesen war. Er konnte nur verlieren.
Als ob Green seine Gedanken gelesen hätte, begann er zu lachen. Es war ein raues Lachen, voller Verachtung.
Jeff drehte sich um und stürzte durch die offene Luke davon. Hier konnte er nichts gegen seinen Gegner ausrichten. Greens Lachen hallte ihm nach.