Ein Nachwort von Volker Weidermann

Ich habe mit Gidget gesprochen. Es war kurz nach Mitternacht, europäische Sommerzeit, und sie war gerade von ihrer Arbeit bei Duke’s nach Hause gekommen. »Na ja, Arbeit«, sagt die fröhliche Stimme am Telefon und lacht. »Ich begrüße die Leute, laufe herum und sehe gut aus.« Das Duke’s ist ein Restaurant direkt am Meer in Malibu, nicht weit von jenem Strand, an dem Gidgets Geschichte spielt. An den Wänden hängen Gidget-Filmplakate, Gidget-Buchcover, Star-Fotos aus den Gidget-Filmen. Und sie – läuft zwischen den Abbildern ihrer Erinnerungen herum, trägt eine Blüte im Haar und erzählt ihr Leben.

In Wahrheit heißt sie Kathy Zuckerman und kam am 19. Januar 1941 hier in Kalifornien als Katherine Klara Kohner auf die Welt. Ihr Vater Friedrich Kohner war mit seiner Ehefrau Fritzi und Tochter Ruth 1936 aus Berlin in die USA ausgewandert, nach Hollywood. Der Film war ihre Hoffnung. Friedrich Kohner war Journalist und Drehbuchautor, er hatte in Paris und Wien Literaturgeschichte studiert und wurde mit einer der

Friedrich und seine Brüder Paul und Walter waren im böhmischen Teplitz-Schönau, am Fuß des Erzgebirges, in dieser neuen leuchtenden bewegten Bilderwelt aufgewachsen. Denn ihr Vater hatte das einzige Lichtspieltheater der Stadt betrieben. Kino-Kohner wurde er genannt und seine Söhne trieben sich immer wieder heimlich im dunklen Vorführraum herum, schauten all den neuen Filmen zu und wuchsen in diese Geschichten hinein.

Film war ihr Leben. Paul ging schon mit achtzehn Jahren nach New York, wo er als Botenjunge bei Universal arbeitete, 1924 ging er nach Hollywood, 1931 gründet er in Berlin die Deutsche Universal. Auch Friedrich war früh nach Hollywood gegangen. Das »Berliner Tagblatt« hatte ihn als Sonderkorrespondent nach Hollywood entsandt. Ein Traumjob für einen jungen Journalisten mit einer Leidenschaft für den Film. Doch Friedrich Kohner hasste es. »Ich hasste den ewigen Sonnenschein, die Palmen, die gepflegten Rasenflächen, die öden Schwätzer, mit denen ich zusammenkam – die endlosen Partys – einfach alles.«

Er läuft wie ein schlechtes Klischee des missmutigen, alten Europäers durch die Sonnenstadt – und

Wie von einem Trauma befreit, kehrte ich im August 1930 Hollywood den Rücken und fuhr überglücklich in das kalte, aber geliebte Europa zurück.«

Doch dieses kalte, geliebte Europa wird Friedrich Kohner und seiner Familie nicht mehr lange Heimat sein. Die Kohners sind Juden. Ihnen ist das im Alltag nicht sonderlich wichtig. Aber der Welt um sie herum wird es bald sehr wichtig sein. Friedrich Kohner wird das in einem dunklen Kinosaal wie aus dem Nichts heraus als Schock erleben.

Er hatte im Auftrag seines Bruders Paul und der Deutschen Universal, zusammen mit Alfred Polgar, in nur sechs Wochen eine Drehbuchfassung aus Stefan Zweigs Novelle »Brennendes Geheimnis« erstellt. Die Geschichte eines dreizehnjährigen Jungen, der angesichts einer sich anbahnenden außerehelichen Affäre seiner Mutter plötzlich und schockartig erwachsen wird. Friedrich Kohner liebte die Geschichten Stefan Zweigs von Jugend an. »Er war ein imponierender

Das Drehbuch gelingt, Robert Siodmak übernimmt die Regie, am 31. März 1933 feiert der Film im prachtvollen Berliner Filmtheater »Capitol« Premiere. Alle Mitwirkenden sind im Zuschauerraum, Friedrich Kohner hat seine Frau mitgenommen. Ein großer Moment in seinem Leben. Er hat ein Buch seines Helden Stefan Zweig für die Leinwand verwandelt und umgeschrieben. Zum ersten Mal in seinem Leben wird er jetzt seinen Namen im Vorspann aufleuchten sehen. Die Vorfreude ist riesig. Er ahnt nichts.

Sein Name erscheint nicht. Überhaupt kein Name erscheint. »Meine Frau und ich sahen uns fassungslos an. Ich zermarterte mir das Hirn, um irgendeine plausible Erklärung zu finden.« Aber er findet keine. Erst nachdem der Film zu Ende und vom Premierenpublikum frenetisch gefeiert worden ist, wird er es von seinem Bruder Paul erfahren. Der Propagandaminister Joseph Goebbels persönlich hatte vor der Premiere ultimativ verlangt, dass die Namen aller jüdischen Mitwirkenden des Films eliminiert werden müssten. Ansonsten werde der Film verboten.

Die Kohners, wie auch Stefan Zweig, wie viele, viele andere deutsche Juden in diesen Tagen, hatten nicht im Traum daran geglaubt, dass sie, dass ihre Arbeit,

Noch schien das alles unglaublich. Am nächsten Tag feierte die, noch weitgehend freie deutsche Presse den Film, die Namen aller Mitwirkenden wurden an prominenter Stelle genannt. Doch, so erinnert sich Friedrich Kohner später, »es war der Schwanengesang der freien deutschen Presse. Nach jenem Tage wurden alle ›rassisch belasteten‹ Redakteure zusammen mit ihren liberal oder linksgerichteten Kolumnisten und Rezensenten auf einen Schlag entlassen.«

Und das Land unter der gehassten ewigen Sonne – das Land der Palmen, der Schwätzer und der gepflegten Rasenflächen – nahm Friedrich Kohner und seine Familie ein zweites Mal auf. Diesmal für immer. Sein Bruder Paul war außerordentlich erfolgreicher Agent in Hollywood. Außerdem gründet er 1938, zusammen mit Ernst Lubitsch, den European Film Fund, der mittels Geld und Arbeitsverträgen hunderten jüdischer Flüchtlinge aus Europa das Leben rettet.

Friedrich nennt sich nun Frederick und schlägt sich so durch mit Film-Scripts, Stories und Ideen. Mitte der

Als es endlich wieder zurück nach Kalifornien ging, machte Kathy Kohner die Entdeckung ihres Lebens. Sie entdeckte das Surfen, das Emporgehobenwerden auf den Wellen, das Glück der Schwerelosigkeit, das nur einen Augenblick lang dauert. Die ganze perfekte Leichtigkeit des Lebens. Und sie erzählte ihrem Vater davon, der hatte gerade nichts anderes zu tun und schrieb die Geschichte eines Lebensgefühls in sechs Wochen auf. Er nahm sie selbst nicht so ernst. Es war ihm doch gar zu leicht gefallen. Er zeigte die Geschichte seinem Bruder Paul, der fand sie auch zu leicht, zu gewöhnlich, zu sehr das, was sie hier ja ohnehin jeden Tag erlebten. »Versuch es bei einem Literaturagenten«, riet er ihm. Frederick folgte Pauls Rat, wandte sich an einen New Yorker Agenten, der war begeistert, »Gidget« erschien – und eine der erstaunlichsten Bucherfolgsgeschichten nahm ihren Lauf.

Und nicht genug damit, dass viele Menschen Gidget lasen und Gidget schauten – viele, viele Menschen wollten Gidgets Leben leben. Wollten surfen wie Gidget, ein sommerleichtes Leben wie Gidget. Kathys Geschichte, so wie ihr Vater sie der Welt erzählte, wurde zur Sehnsuchtsgeschichte. Surfen in Malibu wurde ein Massenereignis. Die alternative Lebensform einiger Lebenskünstler, die auf Wohlstand verzichteten und nur den Wellen und dem Moment verpflichtet waren, wuchs sich zu einem Ideal aus, das eine unüberschaubare Zahl von Nacheiferern in aller Welt ebenfalls leben wollten. Und in Gidgets Folge vor allem auch Frauen und Mädchen.

Auch in Deutschland waren die Gidget-Romane erschienen. Hier nannte man sie aus irgendeinem Grund April, was schon mal irgendwie etwas

Ich habe im Sommer 2022 von Gidget erfahren. Die Hamburger Autorin Susanne Homann hatte mir einen Brief an die Redaktion der »Zeit« geschrieben. Sie hatte Kathys Schwester Ruth zufällig in Kalifornien kennengelernt und dabei von Kathys Geschichte und der Lebensgeschichte der drei Kohner-Brüder erfahren. Susanne Homann hatte das Gefühl, die Geschichte müsse unbedingt aufgeschrieben werden und wendete sich an mich. Sie hat über Jahre jede Menge Material über alle Kohners gesammelt und stellte mir alles großzügig zur Verfügung. Unter anderem auch Kathys Telefonnummer.

Und so kam es zu diesem wundersamen nächtlichen Telefonat mit einer Romanfigur. Sie hatte mir vorher schon tolle Porträtaufnahmen von sich geschickt, 81 Jahre alt, Blume im Haar, sportlich, sonnig, lachend. Ich hatte ihr ein Bild von mir geschickt und sie hatte euphorisch zurückgeschrieben »oh my god – I’m crushing on you!«

Das Telefonat dauerte lange. Ich hatte gehört, dass sie immer noch surfe, ob das stimmt? »Jede Nacht in meinen Träumen«, sagt sie. Und in Wirklichkeit natürlich nicht mehr, nein. Und sie erzählt, dass sie eigentlich erst nach dem Tod ihres Vaters, das war 1986, innerlich zur Gidget-Story zurückgekehrt sei. »Ich

Sie erzählt von ihren Jahren in Berlin, und als ich sie frage, ob der Holocaust in ihrer Familie, in den Erzählungen ihres Vaters, ihrer Mutter je eine Rolle gespielt habe, sagt sie »Nein«. Und fügt hinzu: »Das hat mich zu Gidget gemacht«. Kathy Zuckerman lacht viel, wenn sie über ihr Leben spricht. »Ich bin keine so tiefe Denkerin«, sagt sie. »Ich mag es easy. Je easier, desto besser für mich.«

Und so ist das also, wenn man um Mitternacht mit einer Romanfigur spricht, die irgendwann beschlossen hat, ihr Leben als Romanleben weiterzuführen. Diese Kathy am Telefon könnte ebensogut wie Gidget, von der wir gerade gelesen haben, sagen, dass es natürlich viel sinnvoller ist gute Geschichten zu erleben, als sie zu schreiben. Dass es gewiss viel leichter ist, ein Buch zu schreiben, als ein Buch zu lesen. Dass man sich nicht einschüchtern lassen darf von der Lebensklugheit des Vaters, nur weil der zwischen tausenden von Büchern lebt. Und dass alte Leute aus irgendwelchen Gründen alle so traurig und ernst und verloren aussehen, als hätten sie die ganze Herrlichkeit des Lebens, des Surfens, des Strandes vergessen. Und dass sie, Gidget, nur deshalb daran gedacht habe, ihre Glücksgeschichte aufzuschreiben, weil sie gehört habe, dass

Sie sagt dann noch – in ihrem herrlichen Gemisch aus angelerntem Vaterdeutsch und kalifornisch-Englisch – diesen wundervollen Satz eines glücklich geretteten Emigrantenkindes: »Beach ist meine Heimat«, ein Satz, in dem mir ein ganzes deutsch-jüdisches Jahrhundertglück aufbewahrt zu sein scheint. Im Vorwort einer amerikanischen Gidget-Ausgabe hat die Autorin Deanne Stillman die Vermutung geäußert, es sei vielleicht gar nicht die Filmindustrie Hollywoods gewesen, die all die deutschen Emigranten nach Kalifornien gelockt habe, sondern einzig und allein das Meer. Und die Welle. Das Emporgehobenwerden aus einem tiefen Wellental mit Hilfe eines Brettes und etwas Körperbeherrschung – ein schöneres Symbol für die Bewahrung des wertvollsten der deutschen Kultur im Exil lässt sich eigentlich gar nicht erträumen. Surfen als Rettung und Lebensform, Konservierung des Glücks mittels der Literatur. Kathy Zuckerman spricht heute so, als lebe sie für immer diesen Roman, als könnte sie noch heute ihrem eigenen frühen Leben wie einem Film zuschauen. Dem Film, den ihr Vater aus ihren Erzählungen gemacht hat. Und wie der junge Friedrich Kohner einst im dunklen Vorführraum des Kinos seines Vaters in Teplitz-Schönau saß und schaute und mit