In der Rückschau kann ich gar nicht mehr sagen, was ich großartiger fand: auf dem Board raus aufs Meer zu paddeln und in die Kunst des Surfens eingewiesen zu werden – oder, dass die Jungs mich als Teil der Crew akzeptierten.
Ich war Gidget, die Kleine, aber sie hatten alle ihre absurden Namen, und als ich soweit war, es auf dem Bauch durch die ersten Wellen bis hinter die Surf-Line zu schaffen, hatte ich schon längst vergessen, dass sie eigentlich anders hießen, und manchmal vergaß ich sogar, dass ich Franzie hieß, kein Scherz.
»Olé – da ist Gidget!«
»Hey, Gidget, wann gibt’s die nächste Lammkeule für uns?«
»Hast du was Hochprozentiges dabei, Gidget?«
»Ich glaube, wir müssen mit Gidget in der Hütte mal an der Technik feilen.«
Junge, Junge, ich fühlte mich bei der Crew direkt zu Hause. Das waren alles normale Typen – nicht diese grabbeligen High School-Idioten, die denken, Mädchen sind so ’ne Art Sandsack, an dem sie sich ausprobieren können. Keine Schweißhände und peinlichen Fummelversuche auf rutschigen Ledersitzen in irgendwelchen frisierten Autos. Die Streuner von Malibu wussten genau, wie man mit einem Mädchen spricht, mit ihm umgeht, es wie eine Erwachsene behandelt.
Jeden Tag – und ich schaffte es fast jeden Tag in die Bucht – überließ mir jemand anderes sein Board zum Üben. Auf Don Pepes Board lernte ich, mich mittig zu halten und gleichmäßig zu paddeln, – auf dem von Hot Shot Harrison, wie man mit den Füßen lenkt, – auf Malibu Macs, wie man aus einem »Friedhof«, wenn man zwischen lauter brechenden Wellen gefangen ist, wieder rauskommt, – auf dem frisierten Board Scooterboy Millers lernte ich, wie man es vermeidet, die Spitze des Surfboards in einer Welle zu versenken.
Der große Kahoona zeigte mir zum ersten Mal, wie man auf die Knie geht, die Schultern hochdrückt und den Körper zurückschiebt – wie man schnell auf die Füße kommt und sie in einer fließenden Bewegung hüftbreit aufstellt. Das ist nicht ohne. Aber Surfen lernt man eben nicht nebenher, und je mehr mir gelang, desto verrückter wurde ich danach, und je verrückter ich danach wurde, desto härter arbeitete ich.
Währenddessen musste ich zu Hause immer mehr Bälle in der Luft halten. Zuerst dachte ich, dass ich meine alte Dame in alles einweihe, aber Larue redete es mir aus. In Bezug auf Erwachsene machte sie sich keine Illusionen. »Hör mir zu, Jazz-bo«, sagte sie, »ich kenne deine Mom sehr viel besser als du. Vielleicht würde sie dich sogar gehen lassen und auch den alten Herren um den Finger wickeln, aber du kannst Gift darauf nehmen, dass das nicht alles wäre. Sie würde zu Hause sitzen und sich Sorgen machen, und ehe du dich’s versiehst, würde sie sich alles anschauen wollen und plötzlich da draußen in Malibu auftauchen, und dann, meine Liebe, würde sie so ein Board auch mal ausprobieren wollen, und sportlich wie sie ist, würde ihr es womöglich auch noch Spaß machen, und eins fix drei ist sie zusammen mit dir auf dem Wasser und das ist das Ende von allem. Also, Jazz-bo, schlag dir diese Idee aus dem Kopf, ja?«
Larue hat fast so viele Hirnzellen wie Pickel, ihr Kopf funktioniert einwandfrei. Also beschloss ich, mich lieber weiter durchzumogeln.
Und ihr wisst doch, wie es ist, wenn man mit einer klitzekleinen Lüge anfängt – man denkt, man kommt damit durch, und dann wächst sich diese klitzekleine Lüge zu einer dicken, fetten, haarigen Lüge aus.
Natürlich stimmte es, wenn ich sagte, dass ich mich auf den Weg nach Malibu machte, und manchmal begleitete mich auch eines der Mädchen, die mich abholten – Mai Mai oder Barbara (wenn Larue ihr Auto brauchte) – aber in die Bucht selbst nahm ich nie jemanden mit, noch nicht einmal in die Nähe der Bucht. Sie waren zwar neugierig auf die Surferjungs, aber ich schaffte es immer, sie auf Abstand zu halten. Sie waren einfach noch viel zu unbeleckt – auch wenn Barbara zugegebenermaßen ein Fahrgestell hatte, das Jayne Mansfield erblassen lassen würde.
Und dann war da noch die Sache mit dem, was sich die Jungs zwischen die Kiemen schoben.
Dass man mal den Kühlschrank leer futtert – geschenkt. Aber die Mengen an Lammkeulen, Käserädern, Erdnussbuttersandwiches und Bananen, die ich mit mir herumführte, gingen auf keine Kuhhaut, um es mal milde auszudrücken. »Fütterst du die Seehunde?«, fragte mich meine Mutter eines Tages, als sie mich dabei erwischte, wie ich verstohlen eine ganze Packung Wiener Würstchen in meiner Strandtasche verstaute.
»Haha.« Was für ein Lachen. »Wir machen ein Lagerfeuer.«
»Wer ist wir?«
»Barbara und ich. Sie hat einen Bandwurm, weißt du – und er liebt Wiener Würstchen.«
Der Blick meiner alten Dame sprach Bände. Ich glaube, das war das erste Mal, dass sie mein falsches Spiel bemerkte.
So oder so, das, was ich in der Küche zusammenkratzte, machte mir viele Freunde unter den Draufgängern von Malibu.
Ihr Appetit war nicht von dieser Welt.
Wie Wölfe machten sie sich über meine Strandtasche her.
Keiner von ihnen hatte je etwas zu essen dabei, und wenn sie hungrig waren, schmissen sie zusammen und holten sich drüben in Johnny Frenchmans Bude Hamburger, dazu ein paar Flaschen Cola und Bier. Vor allem Bier. In null Komma nichts konnten sie problemlos zwei Bierkästen leeren. Am meisten Rätsel gab mir anfangs der große Kahoona auf. Wie kam er über die Runden? In seiner Hütte standen immer ein paar Dosenbohnen herum, auch Kaffee und Zucker, aber das ist wohl nicht gerade das, was man unter ausgewogener Ernährung versteht.
Der große Kahoona! Er ging mir nicht aus dem Kopf. Ich kannte Herumtreiber aus Skigebieten, solche wie Warren Miller, auch in Aspen, Colorado, und überall dort, wo meine alte Dame mich im Winter hinschleppte, gab es welche. Sogar einen Typen, der am Strand lebte, hatte ich schon mal gesehen, in einem trutschigen Film mit Irene Dunne. Er hatte einen kilometerlangen Zottelbart und schnitze immer an irgendwelchen Treibhölzern herum. Aber schwuppdiwupp hatte er sich rasiert, und es stellte sich heraus, dass er gar kein Einsiedler war, sondern irgendein verpfuschter Schriftsteller mit Liebeskummer oder so.
Cass war alles andere als das.
Lord Gallo war derjenige, der mir eines Nachmittags, als wir beide auf dem Wasser waren und auf eine halbwegs ordentliche Welle warteten, alles auftischte. Lord Gallo heißt eigentlich Stand Buckley, geht aufs Pomona College und war der gebildetste unter den Jungs, obwohl er diese fatale Schwäche für Gallo-Wein hatte, die ihn manchmal wie einen Bowlingkegel kurz vor dem Fall schwanken ließ.
»Ich erzähl dir ein bisschen was über den Typen, Gidget«, sagte der Lord. »Wir sind ja alle so ’ne Art Saison-Surfer, aber bei Cass ist das anders. Er ist schon rumgekommen, von Peru bis Nanakuli. Das hier ist für ihn eine Badewanne. Wusstest du, dass er der einzige Typ neben Duke Kahanamoku ist, der unbeschadet aus ’nem Zero Brake rausgekommen ist?«
Den Duke kannte ich, weil Scooterboy seinen Namen auf seinem Board stehen hatte und Duke Kahanamoku für die Surfer in etwa das ist, was Babe Ruth für die Baseballfreaks ist. Aber mit Zero Brake konnte ich nichts anfangen.
»Zero Brake hat man nur einmal im Jahr, bei Stürmen oder wenn es ein Erdbeben oder irgendwelche Verschiebungen unter dem Meeresspiegel gab«, erklärte mir der Lord. »Jetzt mit diesen ganzen Wasserstoffbombentests hat man sie häufiger. Aber nur auf den Inseln. Die Wellen sind dann zehn Meter hoch und rollen mit fünfzig Stundenkilometern an. Alter Schwede!«
Ich war äußerst beeindruckt. Aber trotzdem, was macht man im Rest des Jahres? Mein Hirn gehört nicht zu den besten, doch selbst ich kapiere, dass man ein paar Penunzen – l’argent – Money – braucht. Und auf einem Surfboard kann man auch nicht um die Welt reisen.
Doch glaubt man Lord Gallo, hatte der große Kahoona die große Entdeckung gemacht, dass das sehr wohl möglich war.
»Auch wenn du es vielleicht nicht ganz schnallst, Gidget«, sagte der Weise von Pomona, »aber für Cass ist das Umherziehen von Strand zu Strand eine Lebenseinstellung, … so sagt er. Das ist sein Handwerk, so wie jemand anderes von Tür zu Tür geht und Staubsauger verkauft. Und glaub mir, dafür braucht man Können und Talent und Hirnschmalz. Er verpasst nie eine Saison wegen so etwas Bescheuertem wie einem Einkommen oder einem Job.«
»Und wovon lebt er?«, fragte ich.
»Vom Meer, Mäusehirn«, antwortete seine Lordschaft. »Er brät sich ein Abalonensteak oder einen Hummer, und zwar solche, die man nicht bei Jack’s oder King’s bekommt. Manchmal einen Schwarzbarsch oder Wolfsbarsch. Oder er saust hoch nach Pismo für diese Riesenmuscheln, die man im Boden backen kann. Vielleicht laden wir dich zu unserem nächsten Luau ein, kleiner Kobold, … dann weißt du, wovon ich spreche.«
Nun gut, damit war Einiges geklärt. Eine ziemlich eintönige Ernährung, finde ich, aber anscheinend kommt man damit recht weit. Jetzt verstand ich, was für eine willkommene Abwechslung meine Erdnussbuttersandwiches für ihn waren.
»Die Jungs bringen ihn durch. Schon mal was vom großen Aga Khan gehört?«, fuhr der Lord fort. »Nun ja, er ist ein winziger Strippenzieher im Vergleich zum großen Kahoona.«
Ich wagte noch eine weitere konventionelle Frage: »Was macht jemand wie er, wenn er älter wird?«
»Dafür hat er eine Theorie«, vertraute mir der Lord unter den Draufgängern an. »Er hat einmal zu mir gesagt: ›Der einzige Weg, wirtschaftlich unabhängig zu sein, ist die Unabhängigkeit von der Wirtschaft. Je mehr Geld man macht, desto abhängiger ist man davon. Und wenn man erstmal richtig viel Kohle scheffelt, ist man abhängiger als man es je ohne war.‹«
Der Lord fasste sein Portrait des großen Kahoona noch einmal abschließend zusammen: »Glaub mir, Kleines, dieser Typ hat was. Er hat die Antwort auf ziemlich viele Dinge gefunden, die uns nerven. Kohle kann man scheffeln, wenn man alt und klapperig wird. Aber solange man jung ist, sollte man urlauben. Und er macht schon verdammt lang Urlaub – seit er geboren ist.«
Ich hatte immer noch eine ganze Reihe von Fragen, zum Beispiel, warum Cass nie geheiratet hatte oder, wenn ja, was passiert war, und auch, warum ich noch nie ein Mädchen bei ihm gesehen hatte, wie er seine Hütte gebaut hatte und ob es immer die gleiche war und wie er sie mitnahm und wo er hinging, wenn die Saison im Oktober zu Ende war, und wie es sich anfühlte, bei Zero Brake auf den Wellen in Makaha zu reiten, aber da hatte seine Lordschaft sich schon umgedreht und ein paar geniale, schnelle Wellen auf uns zukommen sehen, und er rief: »Schieß durch!«, was heißt, dass die Welle hinter einem dabei ist zu brechen, und ich hab mich in Position gebracht und wir haben sie beide verpasst und Fiasco – das ist das Brett des Lords – soff ziemlich übel ab und schlug uns entgegen und wir beide tauchten schnell unter und als wir wieder hochkamen, war Fiasco meilenweit entfernt.
Und eh ich mich’s versah, packten mich zwei Hände und rissen mich aus der Strömung – und, ach nee, es war Moondoogie mit seinem selbstgefälligen fetten Grinsen, als hätte er nur darauf gewartet, mich aus dem Wasser zu fischen.
Ich wollte vom Board runter, um Lord Gallo dabei zu helfen, Fiasco einzufangen, aber er hielt mich fest.
»Zappel nicht so, du Zwerg.«
»Du kannst mich mal kreuzweise!«, warf ich ihm an den Kopf. Das war einer der Kraftausdrücke, die ich von den Jungs aufgeschnappt hatte. Auch wenn ich nicht genau wusste, was er bedeutete.
»In der Ruhe liegt die Kraft.«
»Schlafen kann man, wenn man tot ist.«
Jetzt hatte ich es ihm gegeben.