IX

Vor dem Hotel erwartete sie das Polizeiauto. Zwei Fotoreporter stürzten sich aus der Reihe der Neugierigen, die rechts und links neben dem Hoteleingang standen, auf Morris und Mackie, um sie zu fotografieren. Seit drei Stunden hatten sie auf diese Gelegenheit gelauert. Jetzt lüpften sie dankend ihre Hüte, klappten ihre Kameras zu und stürzten davon.

Morris Flynn und MacMacpherson wurden in den Fond des Polizeiautos gebeten; ihnen gegenüber setzten sich der Colonel und einer seiner Begleiter, während der dritte Kriminalbeamte zu dem Chauffeur stieg. Die Fahrt war nicht sehr unterhaltsam. Mit steinernen, unbeweglichen Gesichtern sahen die Herren der Kriminalpolizei vor sich hin. Flynn wurde es unbehaglich. »Wie sind denn eigentlich die Gefängnisverhältnisse hier in Brüssel ?« eröffnete er die Konversation.

»Ausgezeichnet!« erwiderte Colonel Gizzard stolz. »Zwei ganz neue Gebäude!«

»Viel zu komfortabel für das Gesindel!« fügte sein Begleiter verächtlich und mürrisch hinzu.

Mackie fühlte sich getroffen.

»Sind ja schließlich auch Menschen, nicht wahr?« suchte er das »Gesindel« zu verteidigen, aber Colonel Gizzard sah ihn nur kalt und verächtlich an.

Flynn war sachlicher.

»Viel zu tun?« forschte er weiter. »Wohl mächtiger Hochbetrieb? Da ist sicher kein Platz mehr in den neuen Gebäuden?«

»Platz genug«, erwiderte der Colonel trocken.

Mackie schloß ergeben die Augen. Das Auto fuhr mit ziemlicher Geschwindigkeit. In Flynns Gehirn arbeitete es.

»Fahren wir noch lange?« fragte er.

»Nein«, sagten die beiden Beamten gleichzeitig. »Wir sind schon da.«

Tatsächlich bog in diesem Augenblick das Auto durch ein mit Eisenspitzen besetztes Tor auf den Hof eines riesigen roten Backsteinbaues, einer Mischung von Bahnhof, Festung und Charite. Es war das Polizeipräsidium. Es wirkte drohend und düster. Der Chauffeur bremste, und der Wagen stand. Das große schmiedeeiserne Tor mit den scharfen Spitzen, die wie Bajonette in die Luft standen, schloß sich hinter ihnen.

Mackie sah es und schauderte.

Morris stellte noch fest, daß Wachen vom Auto bis zu einer breiten Freitreppe Spalier bildeten. – Sie saßen also in der Falle. Ein Sergeant eilte herbei und riß den Wagenschlag auf. Flynn stieg als erster aus, gefolgt von Mackie, während die Herren von der Kriminalpolizei zu dem diensthabenden Sergeanten traten und ihm leise meldeten, wen sie hier eingebracht hätten. Der Sergeant riß die Augen auf und starrte die beiden an.

Morris und Mackie blieben einen Augenblick sich selbst überlassen. Diese Gelegenheit nutzte Flynn.

»Mir ist ganz klar, wie es herausgekommen ist«, flüsterte er Mackie zu. »Du bist daran schuld!«

»Ich?« fragte Mackie.

Flynn nickte ärgerlich und besah sich das Häufchen Unglück. Sein Freund sah aus wie ein Hampelmann, fand er, dem die Strippen im Rücken durchgeschnitten sind. »Ja, wer sonst?« zischte er. ,,Ich bin als Sherlock Holmes schon richtig. Aber daß wir jemand haben einreden wollen, du seist Doktor W atson, das war Irrsinn.«

»Meinst du?« flüsterte Mackie kleinlaut und sah sich die Gesichter der Polizeisoldaten an. Dabei steckte er aus lauter Verlegenheit abwechselnd die Hände einmal in die Jackentaschen und dann wieder in die Hosentaschen.

»Natürlich«, sagte Flynn, »du bist der Fehler.«

»Aber du hast mich doch selbst darum gebeten!« versuchte Mackiesich zu entschuldigen.

»Leider!« gab Flynn bitter zu.

Die drei Herren von der Kriminalpolizei traten zu ihnen, und auf einen Wink ging es weiter. Sie stiegen die Freitreppe hinauf und fanden sich dann in einer hohen, dämmrigen Halle, von der nach allen Seiten fliesenbelegte Gänge ausliefen. Ihre Schritte hallten gespenstisch, als sie einen dieser Korridore entlanggeführt wurden. Die beiden Freunde waren viel zu sehr mit sich beschäftigt und mit den kümmerlichen Perspektiven, die ihnen das Leben noch bot, als daß sie bemerkt hätten, wie ihnen rechts und links aus den Türen viele Neugierige nachstarrten.

Flynn zermarterte vevgeblich sein Hirn nach einem Ausweg. Mackie nahm sich vor, alles zuzugeben. Das erschien ihm das beste. Er legte sich sogar schon die Worte zurecht.

Der Klang einer Stimme ließ sie aufhorchen. Sie kam aus einem Zimmer am Ende des Korridors und verriet ein beträchtliches Maß von Erregung. Jedenfalls war sie so laut, daß Flynn trotz der gepolsterten Doppeltür alles verstand. Je näher sie kamen, um so deutlicher wurde die Stimme.

»Es ist unfaßbar!« brüllte jemand hinter der Tür. »Dieser Schwindel ist die größte Frechheit, die mir in meiner Praxis je vorgekommen ist! Wie stehen wir da? Beschämt bis auf die Knochen! Wir sind das Gespött von ganz Brüssel! Die Weltausstellung ist blamiert! Die ganze Welt wird sich den Bauch halten vor Lachen, weil wir auf diesen Betrug hereingefallen sind!«

Man war vor dem Zimmer angekommen. Einer der Beamten öffnete eine Tür und ließ Morris und Mackie eintreten. Es war ein Vorraum, in den man sie führte, denn eine zweite Tür trennte sie von dem dahinter gelegenen Raum, aus dem die wütende Stimme nun mit größter Lautstärke auf sie eindrang. »Sie mußten doch wissen, meine Herren«, rollte das Gewitter, »daß sich alles Gesindel hier treffen würde! Alle Gauner! Alle Verbrecher! Hochstapler!« Bei dem letzten Wort zuckte Mackie schmerzhaft wie unter einem Peitschenhieb zusammen.

Unterdes näherte sich Colonel Gizzard der verschlossenen Tür. Die Ehrfurcht zwang ihn, auf Zehenspitzen zu gehen. Mit Vorsicht öffnete er die Tür, um sich hindurchzuschieben. Drinnen näherte sich das Gewitter seinem Höhepunkt. »Ich sagte: Augen und Ohren auf!« donnerte es, als ob es einschlüge. »Und was haben Sie getan? Geschlafen haben Sie! Das nennen Sie Dienstauffassung? Ich nenne es eine Schweinerei! Keiner von Ihnen hat etwas gemerkt. Natürlich nicht! Wie sollte er auch? – Ein wildfremder Mensch muß erst kommen und der Polizei die Augen öffnen! Eine Schande ist das, eine Affenschande, sage ich! Ein Weltskandal!« Und jetzt schien es wirklich zu donnern, weil jemand mit geballten Fäusten auf einen Tisch trommelte. »Aber wir werden mit diesen Burschen abrechnen! Wir werden mit ihnen umspringen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht!«

Mackie wollte schon nichts mehr hören und sehen. Er schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu. Aber Morris Flynn schaute sich vorsichtig um. Er wunderte sich, daß man sie beide in diesem Raum allein ließ; denn die beiden anderen Kriminalbeamten waren nicht mit in den Vorraum eingetreten. Er schlich sich zur Korridortür und überzeugte sich, daß sie nicht einmal abgesperrt war. Wieder kam ihm der Gedanke an Flucht. Aber das alles konnte eine Falle sein. Mittlerweile war die Schimpfkanonade verstummt. Ein Geräusch an der Verbindungstür ließ Morris sich umwenden. Die Tür öffnete sich einen Spalt, durch den der Kopf eines kleinen Jungen sich vorsichtig hindurchschob. Flynns Anblick schien ihn freudig zu überraschen. Er zwängte seinen schmalen, mageren Jungenkörper durch die Tür, die er hinter sich lautlos wieder zuzog, machte einen Diener und lief mit ausgestreckter Hand auf Flynn zu. Er erwischte dessen Rockärmel, tat geheimnisvoll und vertraulich und begann dann erregt: »Mister Holmes, Mister Holmes!« flüsterte er heiser vor Aufregung. Es war ein komischer Junge. Die Haare standen ihm zu einer Bürste hochgekämmt. Er hatte gar keine Augenbrauen, blitzblaue Augen und unzählig viele Sommersprossen. Aber sein Gesicht war gut, trotz der Ohren, die so weit abstanden, wie es für Ohren überhaupt erreichbar ist. Er mochte etwa zehn Jahre alt sein und trug einen Stehkragen ohne Schlips. Der Anzug hatte früher einmal dem Vater gehört und war umgearbeitet worden, zweckmäßig, ohne daß dabei auf Schmiß und Sitz Rücksicht genommen worden war.

Mackie und Morris blickten verwundert auf den Jungen. Auf jeden Fall gab ihm Morris die Hand. Der Junge drückte sie begeistert und schüttelte sie kameradschaftlich und legte den Finger auf den Mund. »Ich hab’ alles ’rausgekriegt!« flüsterte der Junge so leise, daß man ihn kaum verstand. »Den ganzen Schwindel! Ich, Putzke, Erwin Putzke aus Berlin! Ich bin zu Fuß hergekommen und hab’ alles ’rausgekriegt!«

Mit einer kleinen, nachdenklichen Falte zwischen den Brauen hörte Flynn zu. Noch verstand er gar nichts, aber er witterte Morgenluft.

»Alle sind falsch!« haspelte Erwin Putzke emsig weiter. »Alle vier! Die beiden roten und die beiden blauen! Eine große Sache! Was die da drinnen sind, die haben längst keine Luft mehr. Aber eins weeß ick: Sie welrden’s ’rauskriegen! Sie bestimmt! Für Sherlock Holmes is det das reine Kinderfest!«

In Flynn begann es langsam zu dämmern. Der begeisterte Junge, sein Stehkragen und sein Dialekt taten ein übriges, um seine Laune wieder aufzufrischen.

Erwin blickte auf Mackie. »So sieht Doktor Watson aus? Den hab’ ick mir janz anders vorjestellt. Jrößer und mit ’ne Brille.«

Da öffnete sich vor ihnen die Tür zum Nebenzimmer. Ein Herr trat ihnen entgegen, der einen ziemlich aufgelösten Eindruck machte. Am stärksten trat diese Auflösung an seinem Hemdkragen zutage, der sich wie ein nasser Lappen um seinen Hals wand. Der Herr tupfte sich mit einem auffallend weißen, nach Eau de Cologne duftenden Taschentuch die Stirn ab. Dicke Tropfen perlten darauf. Es war der Regen, der jedem Gewitter zu folgen pflegt.

»Mister Holmes«, sagte der Herr süß, als hätte er Veilchenpastillen im Mund, »wie soll ich Ihnen danken, daß Sie hergekommen sind!« Und dabei hielt er die Arme ausgestreckt und faßte Flynn mit beiden Händen an den Schultern.

Flynn lächelte. Die Begrüßung ging ihm ein wie guter alter schottischer Whisky. Sie wärmte ihm den Magen und fuhr belebend durch sein Gehirn.

»Nichts zu danken«, erklärte er verbindlich. Er war wieder ganz der alte. »Das ist doch schließlich meine Pflicht!« sagte er freundlich.

Die beiden Herren wandten sich zur Tür und hatten eine Weile damit zu tun, sich gegenseitig den Vortritt anzubieten. Aber schließlich trat der Herr mit dem durchweichten Hemdkragen so weit in das Zimmer zurück, daß sich Morris erstaunt umblickte. Da benutzte Mackie die Gelegenheit, um als erster einzutreten. Dann folgten ihm Morris und der selig lächelnde Herr, und zum Schluß flitzte auch Erwin Putzke mit in das Zimmer.

Im Nebenzimmer war eine stattliche Anzahl Herren versammelt, denen Mackie jovial mit der Hand zuwinkte. Der freundliche Herr – Flynn hatte längst schon begriffen, daß es niemand anders sein konnte als der Chef der Brüsseler Kriminalpolizei – machte sie alle miteinander bekannt.

»Exzellenz Vangon«, sagte er, einen sehr würdigen, weißhaarigen Herrn vorstellend, der Morris und Mackie verbindlich die Hand reichte. »Seine Exzellenz ist der Generaldirektor der Weltausstellung.«

Flynn und Mackie nahmen das mit stummer Verbeugung zur Kenntnis. Dann mußten sie noch einigen anderen Herren die Hand schütteln, die ihre Namen so undeutlich sprachen, daß sie niemand verstand. Flynn ließ sich aber jeden Namen von den Herren noch einmal deutlich nennen; das gab ihm sofort einen Anstrich exakter Gewissenhaftigkeit und imponierte sichtlich. Seinen und Mackies Namen wünschte keiner der Herren zu hören. Sie wußten alle, wen sie vor sich hatten.

Schließlich war man dann soweit. »Bitte, nehmen Sie Platz!« sagte der Chef der Kriminalpolizei.

Flynn ließ sich nieder, schlug die Beine übereinander und drückte mit einem leisen Knacks seinen hohen Hut ein. Dann ließ er seine erste Pointe fallen. »Also alle vier sind falsch!« eröffnete er das Gespräch. »Das ist allerdings ein starkes Stück!«

Die Exzellenz hinter dem Schreibtisch wurde immer kleiner. Einige der Herren blickten auf das Parkett. Der Chef der Kriminalpolizei tupfte sich wieder die Stirn.

»Wie konnte das geschehen, Messieurs?« fügte Morris nicht ohne Vorwurf hinzu.

Die Exzellenz nahm das Stichwort auf. »Nicht wahr? Wie konnte das geschehen?« rief sie verzweifelt. »Ist es nicht entsetzlich? Versetzen Sie sich bitte in meine Lage, Mister Holmes! Ich bin ruiniert!« Mit diesen Worten versank er fast ganz hinter dem Schreibtisch wie eine angeschossene Schießbudenfigur. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder auftauchte. »Durch Ihre Schuld, meine Herren!« sagte er fast weinend und sah die Herren von der Kriminalpolizei anklagend an.

Da begann das schon abgezogene Gewitter aus der Ferne von neuem zu grollen. »Wie können Sie mir die Schuld geben, Exzellenz?« empörte sich das Polizeioberhaupt. »Ich habe alles getan, was möglich war, aber … «, sein vernichtender Blick traf die Untergebenen, »man hat meine Befehle nicht befolgt. Sie haben sich nicht gescheut, meine Stellung zu untergraben, Messieurs! Wenn die Öffentlichkeit von der Sache Wind bekommt, bin ich ein toter Mann. Aber Sie, Messieurs, wackeln dann auch, das sage ich Ihnen! Sie auch!«

Noch wackelten die Herren nicht, sondern standen still da und wagten nicht zu atmen. Einer der Beamten trat mit einer entschuldigenden Handbewegung vor.

»Herr Kriminalrat … »,stotterte er.

»Schweigen Sie!« herrschte ihn der Polizeigewaltige voll Gift und Galle an.

Ein Beamter in Uniform räusperte sich.

»Sie auch!« wandte sich der Chef zu ihm. Die Wut packte ihn vonneuem. »Eins erkläre ich Ihnen ein für allemal: So wird es nicht weitergehen! So nicht!«

»Ganz meine Meinung«, erklärte Flynn trocken. »Und darum bitte ich um den Tatbestand.«

Er wandte sich an den Herrn, der ihm noch die meiste Zurechnungsfähigkeit zu besitzen schien. Und das war in diesem Fall Seine Exzellenz Vangon. Da er aber sah, daß alle in diesem Augenblick wie auf ein Kommando den Mund öffneten, erhob er abwehrend die Hand.

»Aber nur einer! Und wenn ich bitten darf«, fügte er hinzu, »immer hübsch der Reihe nach und nicht so durcheinander.«

Mit einem Seufzer der Erleichterung sank der Kriminalrat in seinen Stuhl. Er hatte sich entladen. Mackie und Morris betrachteten ihn nicht ohne Mitleid. Dann wandte sich Morris mit einer stummen Aufforderung an Seine Exzellenz.

»Bitte, helfen Sie mir, Mister Holmes!« sagte der Generaldirektor der Ausstellung. Seine Stimme war voller Hoffnung. »Sie sind der einzige, der mir noch helfen kann.«

Beruhigend nickte Flynn ihm zu. »Aber ich bitte Sie, Exzellenz«, meinte er freundlich, »dafür bin ich ja da!« Er hatte den Ton eines Arztes, und man konnte sich gut vorstellen, daß er jetzt dem alten Herrn den Puls fühlen und ihm dabei über das weiße Haupt streichen würde.

Auf einen Wink des Kriminalrats war der Sekretär vorgetreten und wollte seinen Bericht beginnen.

»Einen Augenblick noch«, ließ sich da Mackie vernehmen, während er seinen Stenogrammblock hervorzog und den Bleistift zückte. Dann gab er dem Sekretär das Startzeichen.

»Heute morgen um halb elf Uhr«, begann der Sekretär seinen Bericht, »betrat der Jugendliche Erwin Putzke, geboren am 8. 12.1899, wohnhaft zu Berlin, Kottbusser Damm 68, das Gelände der Weltausstellung von der Seite des Vergnügungsparks vermittels Herausreißens einer Zaunlatte, da er nicht im Besitz einer Eintrittskarte war, und begab sich in den Pavillon der Kuriositäten und Seltenheiten, um dort die vier wertvollsten Briefmarken der Welt zu besichtigen. Der Junge gibt vor, zu diesem Zweck zu Fuß von Berlin bis Brüssel gelaufen zu sein.«

»Gibt vor?« unterbrach Erwin Putzke empört. »Bin ick ooch!« Er setzte sich auf einen Schreibmaschinentisch, streckte die Beine vor und wies auf seine durchlöcherten Schuhsohlen.

Lächelnd nickte Morris Flynn dem Jungen zu. Doch sein Blick warnte vor weiterer Unterbrechung.

»Besagter Erwin Putzke«, las der Sekretär weiter aus seinem Protokoll vor, »sagte aus, daß er den Pavillon der Seltenheiten etwa gegen elf Uhr betreten und dort eine ganze Reihe von Besuchern vorgefunden habe. Er habe sich durch die Menge hindurchgedrängt und sei dann an die Vitrine herangetreten, um die berühmten Marken zu besichtigen. Es handelt sich um vier Exemplare der Mauritiusmarken, die letzten vier, die es auf der Welt noch gibt. Dort sagte er plötzlich laut und entrüstet: »Die sind ja falsch!«

»Die sind ooch falsch!« klang plötzlich wieder Erwin Putzkes Stimme dazwischen. Der Junge ging zu Flynn und redete aufgeregt auf ihn ein. »Die sind ooch falsch!« wiederholte er beschwörend. »Die haben ja kein Wasserzeichen! Alle viere nicht! Mir kann man doch nischt vormachen! Ick sammle doch selbst!«

Seine Exzellenz trommelte nervös auf der Schreibtischplatte. »Willst du gleich still sein, du Lümmel« fauchte er aufgebracht.

Morris fuhr dem Jungen beruhigend über die Haarbürste.

Der zog sich gekränkt zur Tür zurück.

»Eine sofortige Prüfung durch einen Fachmann bestätigte die Aussagen des Jungen.« Der Sekretär hatte wieder mit seiner ausdruckslosen Stimme seinen Vortrag aufgenommen. Was mochte er schon alles so teilnahmslos vorgetragen haben!

»Am Dienstag, dem 17. des Monats, wurde Mademoiselle B. in der Rue de Chateaudun mit zertrümmerter Hirnschale aufgefunden.« Oder: »Heute erschien der Mundharmonikafabrikant Albin Fayard und verwahrte sich dagegen, daß seine Ehefrau, mit der er achtundzwanzig Jahre verheiratet sei, ihn auf Grund des Attestes des Nervenarztes Doktor C. entmündigen lassen wolle.« Er war durch nichts mehr zu erschüttern. Und so fuhr er fort, als ginge es ihn gar nichts an: »Da es einwandfrei feststeht, daß bei Eröffnung der Weltausstellung die vier Originale vorhanden waren, besteht leider kein Zweifel, daß Fälschungen untergeschoben wurden, um den Raub der Originale zu vertuschen. Bisher konnte nicht festgestellt werden, wann und wie dieser Tausch vor sich gegangen ist. – Von den Tätern fehlt jede Spur.«

Den letzten Satz spach er nur so wie nebenher, weil fast jeder seiner Berichte so endete.

Flynn rührte sich nicht. Er enthielt sich vorläufig jeder Äußerung.

»Die Originale‹«, sagte jetzt Seine Exzellenz Vangon, »sind Leihgaben verschiedener hochgestellter Persönlichkeiten beziehungsweise öffentlicher Institute. Sie müssen wissen, Mister Holmes, daß sie insgesamt einen Wert von sechshunderttausend Franc repräsentieren.«

»Katalogwert!« schrie Erwin Putzkes Falsett dazwischen. »Der wirkliche Wert ist viel größer!«

Mackie war vor Aufregung über diese märchenhaften Zahlen die Bleistiftspitze abgebrochen.

Seine Exzellenz war wieder hinter dem Schreibtisch verschwunden.

»Schaffen Sie diesen Putzke ’raus!« verlangte er. »Ich will ihn nicht mehr sehen!«

Aber Flynn winkte dem Jungen und zog ihn an dem Jackenknopf dicht an sich heran. Er sah ihm einen Augenblick bedeutsam in die Augen. »Erwin«, sagte er ernst, »ich sehe, du bist nicht auf ,den Mund gefallen.«

»Nee, bin ick ooch nich.« bestätigte Erwin überzeugt.

»Aber ab heute«, bedeutete ihm Flynn, »hast du es zu sein! Verstanden?«

»Nee«, erwiderte Erwin Putzke.

»Doch«, wiederholte Flynn freundlich. »Du sagst keinem Menschen was von den falschen Marken. Der freundliche Herr Ausstellungsdirektor wird dich gewiß gern einladen. Du bekommst zu essen und zu trinken, was du willst, und neue Stiefel auch. Das bezahlt alles die Ausstellung. Du kannst dir die Ausstellung ansehen, sooft du willst, und brauchst nicht durch die Zaunlücke zu klettern, aber – Mund halten!«

Exzellenz Vangon begriff. Er war durchaus einverstanden. »Alles, was er will. Er soll nur den Mund halten.«

Putzkes Gesicht glänzte wie mit Bimsstein poliert. »Au fein!« sagt er. »Neue Stiefel?« Doch dann meinte er großzügig und ehrlich: »Ick hätt’ aber auch so nischt gesagt. Ehrensache! Schließlich sind wir doch unter Männern.«

Auf einmal sahen alle den Jungen freundlicher an. Der besann sich auf seine Erziehung, machte vor dem Direktor und dem Kriminalrat seine Verbeugung, dann wandte er sich an Flynn. »Hat mich sehr gefreut, Mister Holmes!« Seine abstehenden Ohren leuchteten vor Stolz. »Wiedersehen, Doktor Watson !« sagte er. Im vollen Bewußtsein seiner Wichtigkeit stelzte er zur Tür, die Colonel Gizzard für ihn offenhielt. Bevor er jedoch endgültig von der Bildfläche verschwand, wandte er sich noch einmal zurück. »Und wenn Sie mir einmal brauchen sollten«, erklärte er, »brauchen Sie nur zu pfeifen. Dann bin ick da.«