XIV
Die Waschküche im Schloß Yvelles war sehr klein. Sie erweckte die Vorstellung, als ließen sich hier allenfalls ein paar Schnupftücher waschen. Im übrigen besaß sie einen Steinfußboden und dicht unter der Decke ein kleines, fest vergittertes Fenster. In der einen Ecke stand ein einfacher hölzerner Waschtrog auf drei Beinen. Das war alles.
Peter wurde in den Trog gelegt, doch das Einweichen sparte man sich. Poll mit dem Künstlerschlips wurde in die gegenüberliegende Ecke geschubst.
»So«, sagte Flynn, hier seid ihr schön sicher, außerdem habt ihr’s bequemer als auf der kalten Bank. Deckt euch gut zu, und wenn euch etwas fehlt, braucht ihr nur zu läuten. – Wenn ich die ›Dinger‹ gefunden habe, dann hole ich euch wieder ab und schaffe euch gratis und franko, uneingeschrieben als Muster ohne Wert, zur Polizei.« Damit überließ er die beiden ihrem Schicksal.
Er nahm dem Diener die Kerze aus der Hand und überreichte sie dem Polizeichauffeur.
»Hier!« sagte er. »Sie bleiben unten und halten Wache. Die zwei da drinnen sind ausgekochte Jungen. Geben Sie acht, daß sie uns nicht durch die Lappen gehen!«
»Befehl, Mister Holmes«, sagte der Polizeimann und präsentierte die Kerze.
Wohlwollend nickte Flynn ihm zu. Dann ging er mit Mackie, dem Diener und dem Rechtsanwalt wieder über die Kellertreppe nach oben.
»Mister Holmes«, begann der Rechtsanwalt Dr. Balderin, nachdem sie einige Stufen schweigend zurückgelegt hatten, »welch ein glücklicher Zufall, daß Sie gerade jetzt hergekommen sind!«
»Zufall?« wiederholte Flynn geringschätzig. »Ich komme niemals zufällig.«
»Ich war nämlich eben im Begriff, die Polizei zu benachrichtigen.«
»Die Polizei?« fragte Flynn verdutzt und zog seine Shagpfeife aus der Manteltasche .
»Ja«, erwiderte Dr. Balderin, »es gibt hier eine ganze Reihe rätselhafter Vorgänge und Umstände, die ich zur Anzeige bringen wollte.«
Flynn kramte nach seinem Tabakbeutel und begann die Pfeife zu stopfen.
»Das haben Sie jetzt nicht mehr nötig. Jetzt bin ich da, sie zu enträtseln.«
»Ich würde mich freuen, wenn es Ihnen gelänge«, entgegnete Dr. Balderin.
Während dieser Unterhaltung hatten sie die Halle erreicht. Vor dem Kamin blieben sie stehen. Jean entzündete die Kerze auf dem Gesims. Ihr warmer goldener Schein beleuchtete das Porträt mit dem Trauerflor.
Flynn zündete sich seine Pfeife an und wies dann mit dem Mundstück nach oben.
»Professor Berry?«
Der Rechtsanwalt nickte.
»Seit wann?« fragte Flynn. Er meinte den Trauerflor.
Dr. Balderin wurde ernst. »Vor zehn Tagen, ganz plötzlich.«
Flynn blies langsam den Rauch vor sich hin. »Und Mary Berry und Jane Berry aus Middletown sind die Erbinnen?« fragte er mit einem schnellen Blick auf Dr. Balderin.
»Ganz recht«, bestätigte der, durch die Allwissenheit von Morris überrascht. »Aber … « Er war sich nicht sicher, ob Flynn das, was er noch zu sagen hatte, nicht auch schon wußte. Doch darin irrte er sich.
Der Detektiv wartete eine Weile, daß Balderin fortfahren sollte. »Bitte; bitte«, ermunterte er ihn schließlich, »sprechen Sie nur weiter!«
»Tja«, antwortete Dr. Balderin und rieb sich verlegen das Kinn. »Sie werden meine Verzweiflung als Nachlaßverwalter gewiß verstehen. Laut Testament soll ich den beiden Mädchen die Hinterlassenschaft auszahlen. Zweimal hunderttausend Franc. Aber, so lächerlich es klingt, das Geld ist nirgends zu finden.«
Flynn nahm jedoch die Angelegenheit durchaus ernst. Er sah lange auf das Bild. »Ist denn im Testament der Aufbewahrungsort des Geldes nicht angegeben?« wollte er wissen.
»Das ist es ja!« stöhnte der Rechtsanwalt und fuhr sich verzweifelt durch die Haare, die noch von der gestörten Nachtruhe wild durcheinanderstanden. »Nach seinen sehr genau geführten Geschäftsbüchern muß das Geld hier im Schloß sein. Wir haben alle Räume vom Dach bis in den Keller durchsucht und nicht einen Sou gefunden.«
»Sie werden auch weiterhin nichts finden«, sagte Flynn sehr bestimmt. Er drehte dem Bild den Rücken zu und ging hinüber in die Bibliothek. Der Rechtsanwalt folgte ihm mit einem entsetzten Gesicht.
In der Bibliothek nahm jeder der Herren in einem bequemen Sessel Platz. Der Rechtsanwalt spürte jetzt erst, wie abgespannt er war. Die Aufregung war ihm in die Beine gefahren. Das rechte Bein zitterte in dem Pantoffel, und er mußte die Hand fest aufs Knie legen, damit man nicht sah, wie es vibrierte. Der Mann vor ihm wußte entschieden sehr viel mehr als er selbst. Aber schließlich war er der Testamentsvonstrecker und hatte ein Recht, zu erfahren, was gespielt wurde! Trotzdem kostete es ihn einige Überwindung, das Gespräch wiederaufzunehmen.
»Sie sind also tatsächlich der Meinung, daß wir nichts finden wevden? Darf ich fragen, warum nicht?«
»Weil der Professor es ausgegeben hat«, versetzte Flynn bestimmt. Er hatte sich schon alles zusammengereimt.
Dr. Balderin stutzte. »Eine solche Summe? Ich wüßte nicht, wofür. Es handelt sich immerhin um zweimal hunderttausend Franc.«
Flynn zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete. »Es gibt Dinge im Wert von zweimnal hunderttausend Franc, die so klein sind, daß man schon einen großen Detektiv bemühen muß, um sie wiederzufinden.«
Er machte eine Pause, um die Worte wirken zu lassen. Er sah zu Mackie hinüber. Der hatte bereits wieder Stenogrammblock und Bleistift herausgenommen und nickte dem Meister vielsagend zu. Er hatte begriffen, worauf Morris hinauswollte.
Der wandte sich jetzt an das Faktotum Jean.
»Wie lange sind Sie bei Professor Berry?«
»Zwölf Jahre.«
»Der Professor war Sammler, nicht wahr?«
»Nein!« antwortete Jean kurz und bestimmt.
Die Antwort überraschte Morris.
»Er hatte kein Steckenpferd? Keine Neigung für kostbare Kunstgegenstände, Raritäten oder sonstige Seltenheiten?«
»In keiner Weise.«
»Womit beschäftigte er sich denn am liebsten?« fragte Flynn ein wenig nervös.
Auch darüber wußte Jean nichts auszusagen.
»Na, hören Sie«, sagte Flynn aufgebracht, »wenn Sie zwölf Jahre hier im Hause sind, müssen Sie doch wissen, was ihr Herr getan hat – womit er sich die Zeit vertrieb! Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Mann!«
Mackie hielt im Mitschreiben inne und sah mißtrauisch auf den weißhaarigen Diener. Sollte dieser Mann, im Gegensatz zu den ehrwürdigen Domestiken aus den Kriminalromanen, ein Komplice sein?
Jean wußte durchaus nicht, was in seinen Aussagen lächerlich sein sollte. Er verstand auch nicht den schrägen, mißtrauischen Blick, den Mackie ihm zuwandte. Er war gern bereit, nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft zu geben. »Der selige Herr hat nie mit mir darüber gesprochen«, versicherte er. »Ich habe auch nie etwas gesehen. Er hat viel gearbeitet. Aber immer nur nachts. Da hat er sich eingeschlossen, und ich durfte nicht stören.«
Jetzt ging Flynn los. Frage und Antwort fielen Schlag auf Schlag.
»Kam nie Besuch?« wollte Flynn wissen.
»Nie.«
»Aber der Herr Professor fuhr häufig nach Brüssel?«
»Im Gegenteil, sehr selten.«
»Er hat viel korrespondiert?«
»Kaum.«
»Sie waren dabei, als er starb?«
»Nein. Ich bin erst dazugekommen, als er schon tot war.«
»Erzählen Sie!«
»Der Herr Professor«, berichtete Jean, »hatte an diesem Tage einen Brief erhalten, dessen Inhalt ihn sehr aufregte. Er befahl mir, die großen Koffer zu packen, denn er wollte sofort verreisen. Als die Koffer längst gepackt waren und der Wagen vorfuhr, saß der Herr Professor in dem Schreibtischsessel, in dem Sie jetzt sitzen, und rührte sich nicht mehr.«
Flynn stand aus dem Sessel auf.
»Es wäre gut«, sagte er zu Jean, »wenn Sie mir zeigen könnten, wie Sie Ihren Herrn vorgefunden haben.«
Der Rechtsanwalt und Mackie folgten interessiert jeder Bewegung des Dieners. Jean war ganz bei der Sache. Er nahm im Schreibtischsessel Platz, ließ den Kopf vornüberfallen, während seine Arme längs der Sessellehne herabpendelten.
»So saß der Herr da«, sagte er, und er blieb eine ganze Weile so sitzen. Dann blickte er Morris an. »Der Arzt hat einen Herzschlag festgestellt.«
Flynn fotografierte sich die Stellung des Dieners in sein Gedächtnis und ließ dann seine Augen über die Schreibtischplatte wandern. Sie glitten über das Tintenfaß, die Federschale, über einen großen geschliffenen Achat, der als Briefbeschwerer diente, alles Dinge, die zum normalen Bestand eines Schreibtisches gehören. Plötzlich aber stutzte er.
»Lag dieses Glas damals auch hier?« fragte er und deutete auf ein Vergrößerungsglas, das rechter Hand neben dem Wiegelöscher lag.
Der alte Diener zögerte mit der Antwort. »Ich glaube, ja.«
Flynn lächelte. Sein Blick suchte den Freund, der das Lächeln zurückgab.
»Darf ich kombinieren?« bettelte Mackie.
Flynns Nicken bedeutete Aufforderung.
»Alles ist sonnenklar«, belehrte Mackie die Anwesenden.
»Inhalt des Briefes, der Professor Berry so aufregte: die beiden roten und die beiden blauen Mauritiusmarken. Vermögen, das nicht aufzufinden ist, vom Professor an die Gauner gezahlt, um die seltenen Marken für ihn zu stehlen. Professors Freude über Marken so groß, daß darüber Verstand verloren. Vielmehr Leben. Herzschlag. – Plan der beiden Gauner unten in der Waschküche: Marken zurückstehlen und dann erpressen. Verweise auf diesbezüglichen Brief an die Ausstellungsleitung.«
Während dieser MacMacphersonschen Erkenntnisse hatte Flynn sich am Schreibtisch zu schaffen gemacht. Er hatte von dem Kalender, der seit dem Todestag nicht umgeblättert worden war, ein Blatt abgerissen, das er in vier Schnitzel zerriß. Jedes hatte die Größe einer Briefmarke. Ausnahmsweise einmal stimmte er mit Mackies Ansichten überein. Trotzdem konnte er sich nicht enthalten, die Redeweise des Freundes leicht zu parodieren.
»Richtig. Doch die Rechnung ohne Sherlock Holmes und Doktor Watson gemacht, die die vier versteckten Marken finden und ihnen vor der Nase wegschnappen werden.«
»Richtig«, pflichtete Mackie ihm bei.
Flynn nahm die Papierschnitzel und legte sie auf das Löschblatt. Sie lagen jetzt direkt vor dem Diener, der immer noch im Schreibtischsessel saß.
»Was haben Sie dann gemacht?« Flynn kehrte mit dieser Frage wieder zur Untersuchung zurück.
»Ich öffnete das Fenster.«
»Und dann liefen Sie davon, um den Arzt zu holen?«
»Nein«, widersprach Jean, »ich holte kaltes Wasser und Eau de Cologne.«
Flynn schien für diese Dinge eine merkwürdige Vorliebe zu haben. »Ach bitte, holen Sie doch beides noch mal!« ersuchte er Jean.
Das Ansinnen verblüffte nicht nur den Diener, sondern auch den Rechtsanwalt Dr. Balderin. Selbst Mackie kam nicht dahinter, was Flynn sich von diesem Unternehmen versprach.
Jean hatte nicht umsonst eine zwölfjährige Dienerpraxis hinter sich. Ein guter Diener hat nicht zu fragen, warum ein Wunsch geäußert wird, sondern ihn zu erfüllen. So gab er seine markierte Totenstarre auf und enteilte, um das Glas Wasser und Eau de Cologne herbeizuschaffen.
Als er die Tür öffnete, die von der Halle in die Wirtschaftsräume führte, sahen die in der Bibliothek Zurückgebliebenen, wie die Gardinen an dem zerbrochenen Fenster sich im entstandenen Luftzug leise bewegten. Die vier Papierschnitzel auf dem Schreibtisch flatterten auf und flogen davon. Sie segelten quer durch den Raum, bis zu dem Kamin, auf dessen Rost sie sich anmutig niederließen . Mackie stürzte zum Kamin. Entgeistert sah er auf den Rost, auf dem die imaginären vier Mauritius notgelandet waren. Über die Schulter hinweg suchte sein Blick den Freund.
»Aus«, sagte er tonlos, »verbrannt!«
Betretenes Schweigen. Dr. Balderin konnte sich das alles nicht zusammenreimen. Er glaubte aber, daß diese seltsamen Manipulationen alle zu dem Ermittlungsverfahren eines großen Detektivs gehörten. Er begann langsam zu ahnen, was Flynn mit seinen Fragen und Untersuchungen bezweckte. Das Resultat bedeutete einen schweren Schlag.
Flynn war der einzige, der sich nicht so leicht entmutigen ließ. Er hockte sich neben seinen Freund am Kamin und betrachtete aufmerksam die Feuerstelle.
»Doktor, wann ist in diesem Kamin das letztemal Feuer gemacht worden?«
Mackie griff an den Rost und besah sich danach seine Fingerkuppen.
»Das ist schwer zu bestimmen.«
»Das ist leicht zu bestimmen.«
»Wieso?« fragte der »Doktor« verdutzt.
Flynn schmunzelte. »In diesem Kamin hat überhaupt noch nie ein Feuer gebrannt.«
Dabei wies er mit der Hand noch oben. »Er ist eine Attrappe. Er hat überhaupt keinen Abzug.«
»Richtig«, sagte Mackie beschämt, nachdem er halb in den Kamin gekrochen war und die Sachlage überprüft hatte. Nun waren sie wieder soweit wie zuvor. Es bedeutete für sie eine sichtliche Erleichterung, als der Diener mit einem Glas und einer Flasche Eau de Cologne zurückkam.
»Stellen Sie alles dorthin, wo es damals stand«, befahl Flynn.
Jean setzte Glas und Flasche auf dem Schreibtisch ab.
»Was war sonst noch auf dem Schreibtisch?«
»Dieselben Gegenstände wie jetzt.«
Doch Flynn gab sich damit nicht zufrieden.
»Nichts, was Ihnen auffiel?«
»Doch«, gestand der Diener zögernd.
»Und was wäre das?«
»Ein Buch.«
»Aufgeschlagen?«
»Nein, zugeschlagen.«
Nervös biß Flynn sich auf die Lippen.
»Bei Ihnen stimmt aber auch gar nichts. Welches Buch?«
Jeans Augen wanderten über die endlosen Reihen der Bücher an den Wänden hin. Sein Gesichtsausdruck wurde von Sekunde zu Sekunde hilfloser.
»Das weiß ich nicht mehr«, sagte er schließlich.
»Sie haben’s also in die Bibliothek zurückgestellt?«
»Jawohl.«
»Oben oder unten?« Doch darauf konnte Jean sich nicht mehr besinnen. Flynn versuchte wieder, ihm auf die Sprünge zu helfen.
»Haben Sie die Leiter benutzt?«
»Nein.«
Doch diese Frage mußte eine Erinnerung in ihm wachgerufen haben. Er trat an die Regale heran und wies auf ein Fach ungefähr in seiner Brusthöhe.
»Hier muß es gewesen sein. Es war ein dickes Buch.«
Das war immerhin ein Anhaltspunkt.
»Doktor, blättern Sie bitte diese Bücher durch!« sagte Flynn.
»Verstehe vollkommen«, erwiderte Mackie.
Während er Buch für Buch aus dem Fach nahm, die Seiten durchblätterte, die Bücher an den Deckeln hochhob, damit versteckte Dinge herausfallen könnten, wandte sich Flynn wieder dem Diener zu .
»Was hat Professor Berry angehabt?«
»Denselben Anzug wie auf dem Bild. Seinen Sonntagsanzug: gestreifte Hose und dunkler Gehrock.«
Flynn lag, so schien es, auf neuer Fährte. Die Pfeife hatte er aus dem Mund genommen. Seine Fragen überstürzten sich.
»Was war in den Taschen? Die haben Sie doch sicher ausgeräumt?«
»Natürlich.«
»Na und?«
»Ein Taschentuch, seine Uhr, Schlüsselbund, zwei Bleistifte und die Brieftasche.«
»Und in der Brieftasche?«
»Vierhundertfünfzig Franc.«
»Die haben wir den beiden Damen für die Reise geschickt«, fiel der Rechtsanwalt ein.
Flynn runzelte die Stirn. Er war mit seinen Fragen abermals in eine Sackgasse geraten.
»Und sonst fanden Sie nichts?« bohrte er weiter.
Der Diener schüttelte den Kopf. Doch plötzlich besann er sich eines Besseren: »Doch.«
»Was noch?«
»Ein paar Briefmarken.«