XVI
Mackie war Pessimist von Geburt. Für ihn hatte jedes Ding zwei Seiten, eine helle und eine dunkle, und die dunkle schien ihm bei weitem die größere.
»Das Leben ist wie eine Glaskugel«, hatte er einmal in einer philosophischen Abendstunde dem Freunde erklärt. »Es hat ein oder zwei Licht reflexe. Der Rest aber hält sich bescheiden im Schatten.«
So ist es zu verstehen, daß gerade ihm als erstem zum Bewußtsein kam, daß dieser großartige Fall, der ihnen Glück und Erfolg verhieß und der alles erfüllen würde, was sie sich ausdachten, für jemand anders Enttäuschung bedeutete.
»Aber Mary Berry und Jane Berry wären besser in Middletown geblieben«, sagte er trübe.
Mit schnellem Blick sah Flynn zu Mackie hinüber. Er begriff sofort, was jener meinte.
»Der Traum vom Schloß war kurz«, fuhr Mackie fort, »die Mädchen können natürlich dieses Erbe nicht übernehmen.«
»Natürlich nicht. Daran hab’ ich noch gar nicht gedacht. Mit der Erbschaft ist es Essig.«
Man sah, daß der Gedanke Flynn zu schaffen machte. Er überlegte und schob verdrießlich die Unterlippe vor.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir werden den beiden reinen Wein einschenken.«
»Natürlich müssen wir das«, pflichtete Mackie ihm bei. »Willst du es ihnen sagen?«
»Tja, das werde ich wohl tun müssen.« Ein Schatten legte sich über Flynns Gesicht. »Schade, Morris! – Du, auf einmal freut mich das Ganze nicht mehr.«
»Denkst du etwa, mich?«
Die Hand am Schalter, blickte Flynn noch einmal um sich. Teilnahmslos und kalt blitzten ringsumher die Apparaturen. »Komm!« sagte er zu dem Freund. Eine Drehung des Schalters, und der Raum versank wieder in Dunkelheit. Nur die Kerze, die weiter niedergebrannt war, leuchtete. Flynn ergriff sie, und beide gingen nach der Tür zurück.
»Hallo«, sagte er plötzlich, »wo kommen Sie denn her?«
Der Ausruf galt dem alten Diener Jean, der zitternd und völlig verstört unterhalb der Treppe im Türrahmen lehnte. Seine weit aufgerissenen Augen starrten Flynn an. Er war unfähig, sich von der Stelle zu rühren.
»Sie haben also alles gehört?« stellte Flynn fest.
Jean nickte nur. Er konnte nicht antworten.
Nachdem auf Flynns Rufen hin Mackie in den Tiefen des Geheimganges verschwunden war, hatten Jean und der Rechtsanwalt Dr. Balderin aufregende Minuten durchgemacht. Sie wußten nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollten, vor dem Alleinbleiben in der offenen, schlecht beleuchteten Halle oder vor dem Eindringen in eine Welt, wo zwar zwei tatkräftige Männer auf sie warteten, zugleich aber auch Geheimnisse und Gefahren.
Die Ungewißheit dehnte Sekunden zu Minuten, Minuten zur Ewigkeit. Der geheime Gang hinter dem Bücherregal wirkte wie ein Magnet, der sie mit unheimlicher Stärke anzog. Von unten drang hin und wieder ein Geräusch herauf, das Murmeln von Stimmen und einige laute Ausrufe.
»Hören Sie mal«, sagte der Rechtsanwalt, »mit wem schimpfen denn Sherlock Holmes und Doktor Watson da unten? – Das beste wäre, Jean, Sie gingen hinunter und sähen nach. Ich warte hier oben, damit niemand die Tür zuschlagen kann.«
»Schön«, sagte Jean, »dann gehe ich.«
Er wagte sich in den Gang hinein, bis zur Treppe. Die modrigen Stufen, die in einen Abgrund zu führen schienen, dessen Ende nicht abzusehen war, schreckten ihn. Er kehrte zu dem Rechtsanwalt wieder zurück.
»Vielleicht ist es doch besser, Sie gehen und ich bleibe hier, damit Sie keiner im Rücken angreifen kann.«
»Gehen wir beide«, entschied Dr. Balderin, »das scheint mir am sichersten.«
»Aber dann ist doch niemand hier oben!« wagte der Diener einzuwenden.
»Da haben Sie wieder recht!« pflichtete der Rechtsanwalt ihm bei.
Beide sahen sich ratlos an. Nach weiterem Hin und Her entschloß sich Jean, das Abenteuer zu bestehen. Und zwar allein. Er nahm einen Leuchter, bewaffnete sich mit einem Schürhaken vom Kamin und setzte sein ganzes Vertrauen in die Vorsehung und auf Sherlock Holmes.
Nicht ohne Gewissensbisse blickte der Rechtsanwalt ihm nach, als der dunkle Gang den Diener verschlang. Es dauerte nicht lange, und er bedauerte von ganzem Herzen, den anderen im Stich gelassen zu haben. Das Alleinsein war noch unerträglicher als zuvor.
Jean aber war unten angekommen und hatte alles gesehen und alles gehört, was Morris über seinen toten Herrn sagte. Er war völlig zerschmettert.
»Ja, das ist nun mal so«, tröstete ihn Morris. »Kommen Sie! Erst muß der Doktor Balderin fort. Ich baue auf ihre Verschwiegenheit und Zuverlässigkeit.«
Und dann nahmen Morris und Mackie den alten, völlig verzweifelten Mann in ihre Mitte und führten ihn die steile Treppe wieder hinauf.
Oben in der Halle stand der Rechtsanwalt und wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren. Hinter der Bibliothek war alles von gespenstischen Schatten erfüllt, die durch die Halle zu huschen schienen. Vom zerbrochenen Fenster her strich ein Windzug über ihn hin, unter dem er erschauerte.
Nach einer endlosen Zeit, während der er sich um Jahre altern fühlte, hörte er endlich Tritte die Treppe heraufkommen. Jetzt wagte er, seinen Kopf in den Gang hineinzustecken. »Haben Sie etwas gefunden?« fragte er neugierig.
Flynn stellte den Leuchter aus der Hand, zog die Türe des Geheimganges wieder zu und schloß sie ab. Dann überreichte er Dr. Balderin ein kleines Heft.
»Hier ist ein Geheimkonto über zweihundertzwanzigtausend Franc. Es dürfte das Geld sein, das Sie gesucht haben.«
Bewegt schüttelte der Rechtsanwalt ihm die Hand.
»Gottlob, da ist es ja!« rief er beglückt aus. »Nun ist ja alles in schönster Ordnung! Ich werde den Damen ein Konto einrichten und das Geld überweisen lassen.«
Flynn hob die Hand.
»Bitte, warten Sie damit noch, Herr Doktor. Ich komme morgen mit den Damen nach Brüssel und werde Sie in Ihrem Büro aufsuchen. Ich schlage Ihnen vor, jetzt gleich mit dem Polizeiauto zurückzufahren.«
Diesem Rat war der Rechtsanwalt sofort zugänglich. Nachdem er dem Detektiv seinen Dank ausgesprochen hatte, empfahl er sich und eilte die Treppen hinauf in das Gästezimmer, um zu packen. Er war froh, hier so schnell wie möglich wegzukommen, das merkte man ihm an.
Flynn wandte sich an den Diener, der völlig niedergeschmettert war. »Hat der Keller mit der Waschküche noch einen zweiten Ausgang?«
»Nein. Man muß hier durch die Halle.«
»Dann sagen Sie bitte dem Chauffeur Bescheid«, sagte Flynn, »und legen Sie sich schlafen. Wir haben noch zu tun.« Der Diener verbeugte sich und ging schwankend in das Souterrain, um dem Chauffeur zu melden, daß er sich zur Abfahrt bereitmachen solle.
Flynn reckte sich und gähnte herzhaft. Er legte seine Pfeife weg und zog ein Zigarettenpaket aus der Tasche.
»Endlich einmal eine Zigarette«, sagte er, zündete sie an dem Leuchter an und öffnete das Fenster. Fahl dämmerte der Morgen am Horizont. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen. Der neue Tag brach an mit neuen Aufgaben. Nachdem Flynn Luft und Zigarettenrauch abwechselnd tief in sich eingesogen hatte, wandte er sich ins Zimmer zurück.
»Jetzt kommen die Gauner aus dem Expreßzug mit ihrem Klüngel dran!«
Er griff nach dem Geigenkasten, öffnete ihn, entnahm ihm zuerst das Paket mit den Plänen, das obenauf lag, und schob es Mackie zu.
»Dechiffrieren!«
Dann nahm er aus dem Geigenkasten die Geldscheinbündel und begann die Noten zu zählen.
Mackie stützte den Kopf in beide Hände und machte sich an die Arbeit .
»Wisch habit micelle hinderlich derogation anglikanisch sandale schmalz derogation triade«, las er vor und stöhnte.