XVII

Im Zimmer 5 im ersten Stockwerk des Palace Hotels waren die Vorhänge noch herabgelassen. Das Morgenlicht fiel grünlich gedämpft auf ein großes Bett. Vom Schläfer war fast nichts zu sehen. Nur zwischen Deckbett und Kopfkissen ragte ein Haarbüschel hervor, strubbelig wie der Bart einer Kokosnuß .

Es gehörte Erwin Putzke, der noch im Halbschlaf lag und sich überlegte, ob er geruhen sollte, endgültig aufzuwachen. Wenn er es ehrlich gestand, hatte er längst ausgeschlafen. Aber hieß es nicht etwas Kostbares verschwenden, wenn er sich allzufrüh aus dem Prunkbett bequemte?

Der vergangene Tag war ein nie erträumter Tag im Paradies gewesen. Ein Schutzmann hatte ihn auf Schritt und Tritt begleitet, und die Leute sahen sich nach ihm um, als ob er etwas ausgefressen hätte. Wie groß war dann sein Triumph, wenn dieser Schutzmann mit ihm ins Geschäft eintrat, ein Paar herrliche braune Schnürschuhe für ihn einkaufte oder einen graukarierten Anzug und eine schottische Reisemütze mit einem Knopf darauf, einen blendendweißen Kragen und einen taubenblauen Schlips! Es war wie Geburtstag. Jeder Wunsch wurde ihm erfüllt. Nur der Kauf einer Shagpfeife wurde von dem Schutzmann abgelehnt. Dafür hatte sich Erwin gewünscht, in demselben Hotel zu wohnen wie Meister Sherlock Holmes, um immer in seiner Nähe zu sein .

Im Hotel hatte man sich um ihn bemüht, als wäre er der Sohn Rockefellers. Er hatte alle Boys und Pikkolos zum Abendbrot eingeladen, ihnen von Berlin erzählt und ihnen berichtet, was in Rixdorf los sei. Trotzdem begann Erwin Putzke zu bedauern, daß auch der reichste Mann nicht mehr tun konnte als sich ausschlafen, sich satt essen und seinen Durst stillen. Mehr ging nicht. Mehr ging beim besten Willen nicht.

Erwin Putzke wußte nicht, daß andere vor ihm schon diese Erfahrung gemacht hatten. Und wenn er es auch gewußt, hätte es ihn mit den Tatsachen nicht versöhnt.

Er gähnte. Daß Sherlock Holmes so Knall und Fall abgereist war, hatte ihn enttäuscht. Er hätte sich gern in seiner neuen Aufmachung präsentiert. Man konnte ihm auch nicht sagen, wann er wiederkam. Und so mußte er warten.

Ein Stockwerk über seinem Schlafzimmer lagen die Appartements von Morris Flynn und Mackie MacMacpherson. Hier waren die Vorhänge gleichfalls noch zugezogen, und man wartete auch auf die Rückkehr von Morris und Mackie.

Ohne Wissen der Hotelleitung hatten sich die elegante Dame und ihr Freund, der ältere Herr, hier häuslich eingerichtet. Ein Aschenbecher, in dem sich die Zigarettenstummel bis zum Rand häuften, verriet, daß sie schon geraume Zeit auf ihre ungetreuen Vertragspartner gewartet haben mußten. Die elegante Dame war noch im Abendkleid und wirkte jetzt schon etwas abgestanden.

Mit nervösen Schritten ging der elegante ältere Herr im Salon auf und ab und spielte wieder mit seiner Uhr. Er ließ das schwarzseidene Band um seinen Zeigefinger kreisen und durch die Schwungkraft der Uhr wieder abwickeln. Plötzlich sagte er, nachdem er mit diesem Spiel innegehalten und einen Blick auf die Uhr geworfen hatte: »Fürs Abendessen ist es wohl ein bißchen zu spät. Oder willst du vielleicht auch mit dem Frühstück auf die Herren warten?«

Seine Ironie traf die Dame nicht. Sie würdigte ihn keiner Antwort.

»Und das alles wegen euch! Ihr Idioten!« fuhr der würdige Herr fort und blieb vor der Tür zum linken Schlafzimmer stehen. Es zeigte sich nun, daß sich noch mehr Leute in dem Appartement von Morris und Mackie eingenistet hatten. Die durften sich aber rühmen, die beiden zu kennen. Es waren die beiden »Lords« aus dem Schlafwagen, die auf dem Deckbett im grünen Schlafzimmer lagen. Freilich in einem Aufzug, der diesen Titel wenig glaubwürdig erscheinen ließ.

Ihren Anzügen war die Bekanntschaft mit Mutter Grün anzusehen. Sie hatten sicher in einem Heuschober genächtigt. Ihre Stiefel waren von einer langen Fußwanderung völlig verstaubt. Sie rührten sich nicht und lagen wie erschöpft da.

Schuldbewußt blickten sie den älteren Herrn an, der jetzt zu ihnen ans Bett trat. »Rücken vor einem Mann mit Geigenkasten aus! Lassen Geld und Pläne im Stich! Verschenken die Arbeit eines ganzen Jahres! So was von Dummheit ist mir noch nicht vorgekommen. Wenn eure Blödheit euch weh täte, dann liefet ihr laut schreiend durch die Welt!«

Seine Vornehmheit drohte in die Binsen zu gehen.

»Ich habe das Gefühl«, meinte die elegante Dame beschwichtigend, »wir sollten uns lieber woanders weiterzanken. Die Polizei könnte uns hier zu leicht finden.«

»Die Polizei?« Die beiden »Lords« richteten sich im Bett auf.

Die Dame in der Schlafstubentür lächelte nur mitleidig. »Was hindert die beiden daran, uns zu verpfeifen?«

Der ältere Herr stimmte ihr zu und steckte erschrocken die Uhr in die Westentasche zurück. »Sie können nichts Gescheiteres tun, wenn sie es nicht schon getan haben.«

Es klopfte an die Salontür. Es klang, als hätte ihr eigenes schlechtes Gewissen an die Tür geklopft.

Die Dame lief durch das Schlafzimmer bis in das dahinterliegende Badezimmer. Die beiden auf dem Bett sprangen auf und folgten ihr. Nur der vornehme ältere Mann flüchtete nicht. Er schlich sich auf Fußspitzen in den Salon zurück.

»Ja?« fragte er zögernd und tat so, als wäre er sehr verschlafen.

Die Tür öffnete sich um einen Spalt. Eine Kinderhand in einem mit Tressen besetzten Armel reckte sich ins Zimmer. Sie gehörte dem kleinsten der Boys, der sich seinem Abgott nützlich zu machen suchte. Er reichte ein zusammengefaltetes Journal herein. »Mister Holmes«, piepste es, »die Morgenausgabe. Mit einem Bild von ihnen.«

»Gib her!« sagte der elegante Herr, nahm hinter der Tür Deckung, ergriff das Blatt und schloß die Tür wieder.

Aus dem Schlafzimmer kamen die Dame und die beiden Gauner wieder in den Salon.

Vier neugierige Köpfe beugten sich über die Titelseite der Zeitung. Eine Aufnahme Flynns und Mackies in dem Augenblick, als sie unter Polizeibegleitung das Hotel verließen.

»Der Welt berühmtester Detektiv Sherlock Holmes mit seinem Freunde Doktor Watson«, las der vornehme Herr vor und lachte blechern. Er las weiter: »Unser Bild zeigt sie auf dem Wege zum Polizeipräsidium, einer Einladung des Polizeidirektors folgend.«

Jetzt lachte auch die Dame.

Aber der Herr wandte sich an die beiden »Lords«.

»Hundert Exemplare kaufen und das Bild ausschneiden und an unsere Leute verteilen. Wir müssen sehen, daß wir die Burschen in die Hände kriegen!«

Die nickten stumm und schlichen sich dann vorsichtig, einer nach dem anderen, unauffällig auf den Korridor hinaus.

Merkwürdigerweise gab es noch mehr Leute auf der Welt, die Mr. Flynn in diesem Augenblick gern unter den Fingern gehabt hätten. So zum Beispiel der Polizeidirektor von Brüssel.

Mit finsterer Miene betrat er an diesem Morgen im Polizeipräsidium sein Büro, wo ihn der Stab seiner Untergebenen erwartete. Auch der Chef der Kriminalpolizei. Sie alle merkten beim Eintritt des Polizeidirektors sofort, daß irgend etwas nicht stimmte, und jeder überschlug in Gedanken rasch sein heimliches Sündenregister, um dahinterzukommen, wie und was seinem Vorgesetzten wohl die Laune hatte verderben können. An die Zeitung, die der Herr Direktor in der Hand hielt, dachte keiner.

Dieser faltete die Zeitung zusammen und schlug damit auf den Tisch, daß es knallte.

»Messieuns«, sagte er drohend, »was soll das bedeuten?«

Das Blatt wurde den Herren vor die Füße geschleudert, wo es mit der Titelseite nach oben liegenblieb. Die Herren gingen in die Kniebeuge, um zu erkennen, was der gestrenge Chef gemeint haben könnte. Sie sahen das Bild eines ihnen wohlbekannten Herrn und seines Freundes, aber auch nicht mehr.

»Was das bedeutet, frage ich Sie!« wiederholte der Direktor, da ringsum alles stumm blieb. »Ich habe ihn nicht eingeladen! – Wer hat ihn eingeladen?«

»Ich, Herr Polizeidirektor«, sagte der Chef der Kriminalpolizei und richtete sich aus der Kniebeuge wieder auf. Sein Vorgesetzter sah ihn an, als hätte er ihn noch nie gesehen und suchte das Bild für alle Zeiten in sein Gedächtnis fest einzuprägen.

»Sie also!« sagte er, und sein Ton konnte ebensogut Anerkennung bedeuten wie Ironie. »Dieser Herr war wirklich hier? Hier im Haus?«

»Jawohl«, bestätigte der Chef der Kriminalpolizei. »Sogar in diesem Zimmer.« ·

»Wozu?« fragte der Direktor scharf.

»Ich hatte ihn gebeten, uns im Fall der vertauschten Mauritiusmarken zu helfen.«

»Soso«, sagte der andere eine Oktave höher. »Gebeten haben Sie ihn. Sie haben ihn wohl auch noch durch eine Ehreneskorte abholen lassen?«

»Jawohl«, bestätigte der Chef der Kriminalpolizei. Der Unglückliche merkte nicht, was eigentlich los war.

Der Polizeidirektor nickte sechsmal kurz hintereinander. Eine Art grimmiger Freude hatte sich seiner bemächtigt. »Sie haben ihm hier im Polizeipräsidium den offiziellen Auftrag gegeben, die gestohlenen Briefmarken herbeizuschaffen?«

Aus seiner Stimme – darüber war jetzt kein Irrtum mehr möglich – klang nacktester Hohn.

»Jawohl«, bestätigte abermals der Chef der Kriminalpolizei und war über den Ton seines Vorgesetzten etwas verwundert. Als er aber sah, daß der Schnurrbart des Herrn Direktors an den Enden zitterte, begann er doch zu ahnen, daß die Sache irgendwo einen Haken haben müsse.

»Hat er sich Ihnen gegenüber als Sherlock Holmes legitimiert?«

»Nein, das natürlich nicht«, stotterte der Gefragte, »das war doch nicht nötig. Die ganze Stadt spricht von ihm.«

Langsam begann das Polizeioberhaupt zu kochen. »Sie sind also fest überzeugt, daß dieser Mann Sherlock Holmes ist?«

»Ich zweifle nicht einen Augenblick daran«, erklärte der Chef der Kriminalpolizei standhaft. Er hätte es lieber nicht tun sollen.

Die Worte waren der Tropfen, der das Maß voll machte. Sein hoher Vorgesetzter kochte über.

»Sie tun mir leid, meine Herren! So muß ich Ihnen sagen, wer der Mann ist: ein Hochstapler! Ein Schwindler! Ein Betrüger! Der andere auch. Alle beide! Lumpen! Strolche! Gauner! Von einer Frechheit, die zum Himmel schreit! – Und Sie fallen darauf herein! Sie alle! – Der Chef der Kriminalpolizei verhandelt mit ihnen im Polizeipräsidium! Bittet sie um Hilfe! – Einen Verbrecher um Hilfe! Sie haben uns lächerlich gemacht, einfach unmöglich gemacht! Von uns nimmt in ganz Brüssel kein Hund ein Stück Brot mehr!«

»Herr Direktor, ich dachte …«, wagte der Chef der rimlnalpolizei eine Einwendung.

»Unterbrechen Sie mich nicht!« schnaubte der Direktor. »Denken Sie vorher und nicht hinterher! Was heißt hier, ich dachte! – Einen Tag lang bin ich nicht da, und gleich passiert ’ne Schweinerei!«

»Aber, Herr Direktor«, versuchte der Angeschnauzte nochmals sein Heil, »er ist bestimmt … «

»Er ist es bestimmt nicht!« unterbrach ihn der Polizeidirektor scharf. »Wo sind die Burschen?«

Er sah sich dabei im Büro um, als hoffte er, Flynn und seinen Spießgesellen unterm Schreibtisch hervorkriechen zu sehen.

Da dies leider nicht der Fall war, riß er sich mannhaft zusammen. »Verhaften! Sofort festnehmen! Steckbriefe heraus! Erkennungsdienst alarmieren! Signalement telegrafisch an alle Polizeistationen! In einer Stunde stehen die Banditen vor mir! – Sonst sind Sie die längste Zeit Chef der Kriminalpolizei gewesen!«