XX
Die Rue de Brea in Brüssel hatte sich in den Jahren nach der Jahrhundertwende zu einer Geschäftsstraße erster Ordnung entwickelt. Die alten, niedrigen Fachwerkhäuser waren von großen, modernen fünfstöckigen Geschäftshäusern verdrängt worden. Es herrschte lebhafter Verkehr in dieser Straße.
Das Pflaster war zum Teil aufgerissen. Eine Straßenbahnlinie sollte hindurchgeführt werden.
Das Leihhaus »Lombard« war schon von weitem zu erkennen. Es ragte über die Nachbarhäuser hinaus. Ein großes Schild zog sich über die beiden Schaufenster und über die Ladentür hin. Die Fensterscheiben in der ersten Etage waren alle aus Milchglas. Sie trugen die gleiche Aufschrift wie das Ladenschild:
»LEIHHAUS LOMBARD«
Dem Leihhaus gegenüber stand ein Bauzaun. Er war weniger der Schönheit als des Geschäfts halber mit Plakaten und Bekanntmachungen beklebt. Ein Steckbrief von besonderer Größe erregte die Aufmerksamkeit der Passanten. Er zeigte das Bild Mackies und Flynns, das die Fotografen vor dem Palace Hotel aufgenommen hatten. Fünfhundert Franc Belohnung wurden in großen Lettern demjenigen versprochen, der über den Verbleib der beiden Hochstapler etwas auszusagen hätte. Unter dem Bild befand sich ein genaues Signalement von Morris und Mackie.
Neben dem Steckbrief war ein Astloch, und hinter dem Astloch stand der eine der beiden Abgebildeten, nach denen gefahndet wurde.
Flynn hatte schon eine ganze Weile das gegenüberliegende Haus Nummer 13 beobachtet. Er hatte aufmerksam die beiden Schaufenster studiert, in denen Möbel, alte Bilder, Fahrräder und getragene Kleidung ausgestellt waren.
Das Geschäft schien gut zu gehen. Etwa alle fünf Minuten kam ein Kunde, sah sich vorsichtig um und verschwand dann in dem Laden.
Morris beobachtete alles scharf. Die Zeit des Ladenschlusses rückte heran. Doch seltsamerweise verließ keiner der Kunden das Geschäft. Der Verkehr auf der Straße wurde immer lebhafter.
Über die Köpfe einiger Passanten hinweg, die an dem Bretterzaun vorübergingen, sah Flynn endlich Mackie auf der anderen Straßenseite auftauchen. Er schlenderte an den Schaufenstern entlang, betrachtete die Auslagen, sah den Leuten, die an ihm vorbeigingen, aufmerksam ins Gesicht. Er hielt Ausschau nach Flynn. Ein Pfiff ließ ihn herumfahren. Doch er vermochte nichts zu entdecken. Weder Flynn, mit dem er sich hier verabredet hatte, noch etwas Feindliches, von dem ihm Gefahr drohte.
Gleich darauf pfiff es zum zweitenmal.Diesmal etwas leiser. Mackie entdeckte den Bauzaun. Er überquerte die Straße, sprang über die herausgerissenen Pflastersteine und trat an den Zaun heran. Dort stockte er und las den Steckbrief. Es durchfuhr ihn wie mit einem elektrischen Schlag, als er sein Bild entdeckte.
Amüsiert beobachtete ihn Flynn durch das Astloch.
Mackie blickte sich scheu um, und es sah aus, als ob er im nächsten Augenblick davonrennen würde.
»Mackie !« flüsterte Flynn.
Mackie erschrak. Dann sah er das Astloch. Er tat so, als ob er den Steckbrief genauer studieren wollte.
»Du, Morris, hier hängt unser Steckbrief.«
»Ich weiß«, beruhigte ihn Morris hinter der Bretterwand.
»Reiß ihn ab. Eine bessere Legitimation kann ich mir gar nicht wünschen.«
»Ich trau’ mich nicht.«
»Du mußt es tun«, flüsterte Morris zurück. »Ich gehe damit in den Laden. Du bleibst hier und wartest auf mich. Die Sache ist goldrichtig. Ich wette, daß in dem Haus drüben die Bande steckt. Es gehen nur immer welche hinein, aber niemand heraus. Da sind auch unsere Marken. Laß das Haus nicht aus den Augen; wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, holst du die Polizei. – Los! Reiß den Steckbrief ab!«
Mackie hob die Hand, aber da trat ein junges Mädchen neben ihn und las ebenfalls den Steckbrief. Mackie wußte nicht, wo er sich hinwenden sollte. Aber das Mädchen ging weiter, ohne Mackie zu beachten.
»Du, Morris, ich hab’ so das Gefühl, als ob’s schiefgehen wird.«
»Das hast du ja immer.«
»Ja, aber diesmal …«
»… diesmal kann es überhaupt nicht schiefgehen«, behauptete Flynn. »Ich komme nämlich als guter Freund.«
Mackie hatte Bedenken. »Mary hat auch Angst«, sagte er trübe.
Hinter dem Zaun blieb es still. Dann erschien Flynn neben seinem Freund.
Sie stellten sich beide so, daß sie ihr Bild auf dem Steckbrief verdeckten.
»Mit den Mädchen hat alles geklappt?«
»Nein«, beichtete Mackie.
Flynns Selbsbbeherrschung geriet ins Wanken.
»Wieso?« fuhr er auf. »Was ist los? Wo hast du die Mädchen gelassen?«
»In Sicherheit; bei Doktor Balderin.«
»Was quatscht du also dann?«
»Ja, aber …«, sagte Mackie, »es hat einen furchtbaren Krach gegeben.«
»Warum?« wollte Flynn wissen.
»Deinetwegen. Es gibt noch ein Drama.«
»Ein Drama?«
»Sie sind beide wahnsinnig in dich verliebt.«
»Wenn das alles ist …« Flynn lachte und kratzte dabei angelegentlich mit der Hand hinter seinem Rücken am Bauzaun. »Wo soll es da ein Drama geben?«
»Bei mir«, gestand Mackie kläglich. »Ich bin nämlich auch verliebt. Wahnsinnig!«
»Aber Mackie«, sagte Flynn vorwurfsvoll, »du kannst doch jetzt nicht an die Mädchen denken. Jetzt, da wir unseren Fall lösen!«
Es waren die gleichen Worte, die Mackie ihm in dem Polizeiauto gesagt hatte, als sie den Auftrag von dem Generaldirektor der Weltausstellung erhalten hatten.
»Doch«, meinte Mackie. »Sag mir, für welche du dich entschieden hast, Mary oder Jane? Wen magst du mehr? Ich möchte schließlich wissen, in welche ich wahnsinnig verliebt bin.«
Morris antwortete nicht. Er hielt den abgerissenen Steckbrief in der Hand, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche.
Mackie starrte ihm nach, wie er über die Straße jagte und mit einem Satz im Lombardhaus verschwand.
Das Leihhaus »Lombard« bestand in der Hauptsache aus einem hohen, langgestreckten, saalartigen Raum, in dessen halber Höhe eine von einem Eisengeländer umgebene Galerie herumführte. Dieser Raum diente als Lagerplatz für aufgespeicherte Möbel. Lange Reihen von Garderobenständern waren mit eingemotteten Kleidern und Pelzwerk behangen. Kisten türmten sich auf. Dazwischen trieben sich Fahrräder herum, Schreibmaschinen und Standuhren und all die tausend Dinge, die man versetzen oder ersteigern kann.
An dem Schmalende des Lagerraums führte eine eiserne Schiebetür in den Packhof. Vor der Laderampe stand ein Möbelwagen. Es herrschte lebhafter Betrieb. Verschnürte Pakete wanderten aus dem Keller durch eine Falltür zum Möbelwagen hinauf, wo sie verstaut wurden.
Auffällig war, daß die hier beschäftigten Leute alle elegant gekleidet waren. Die meisten von ihnen behielten bei der Arbeit die Hüte auf dem Kopf, modisch geformte helle Filzhüte. Einer von ihnen trug sogar Handschuhe. Ein anderer legte bei der Arbeit nicht sein spanisches Rohr mit dem Silberknopf fort, während er die Pakete zu dem Wagen schaffte. Es sah so aus, als hätte man die Stammgäste eines Cafes oder eines Billardsalons höflichst gebeten, doch einmal mit Hand an eine Arbeit zu legen, die allen Anlaß bot, schnell bewältigt zu werden.
An der anderen Hinterwand des Lagerraums stand ein Tisch, hinter dem ein Mann saß, der offenbar der Lagerverwalter war. Ein blasser Jüngling mit einer Blume im Knopfloch tippte auf einer Schreibmaschine. Sie nahmen beide auf, wieviele Pakete hinausgingen. Sie zählten sehr sorgfältig.
Durch die Tür, die zum Laden führte, waren zwei Männer eingetreten, nicht weniger elegant gekleidet als die übrigen.
»Nun?« fragte der Lagerverwalter, als er sie bemerkte.
Die beiden zuckten die Achseln.
»Nichts«, sagte der eine von ihnen, »wir haben alle Hotels abgeklappert, auch die kleinen in den Vororten. Keine Spur.«
»Die beiden sind sicher auf und davon«, ergänzte der zweite.
Ärgerlich warf der Lagerverwalter seine halbgerauchte Zigarette weg und trat sie aus.
»Und das soll ich dem Alten erzählen?« knurrte er böse.
»Die Polizei sucht sie auch«, berichtete der erste wieder.
»Überall hängen Steckbriefe.«
»Was?« brüllte der Verwalter und sprang auf. Der blutarme Jüngling neben ihm bekam einen furchtbaren Schreck. »Die Polizei sucht sie auch? – Der müssen wir zuvorkommen! Wo sind unsere anderen Leute?«
»Die suchen noch«, sagte der zweite. »Vielleicht haben sie mehr Glück als wir.«
Der Verwalter bleckte die Zähne.
»Glück …«, fauchte er und verschwand hinter zusammengerollten Teppichen. Dort war eine schmale Tür.
Die beiden zurückgekehrten Späher sahen sich verwundert um. Der aufgeregte Betrieb schien ihnen aufzufallen. »Was ist denn hier los?« fragten sie und deuteten auf den Möbelwagen an der Laderampe.
Der blasse Jüngling mit der Blume im Knopfloch gab Auskunft: »Sie haben Poll und Peter gefaßt. Die Polizei war in Yvelles. Und der Alte hat Angst, daß sie dort etwas gefunden haben. Spuren oder so. Darum soll noch heute nacht das ganze Material weg.«
Hinter der Tür, vor der die Teppichrollen standen, hörte man eine laute Stimme. »Weitersuchen!« erklang es herrisch »Und schneller machen sonst komme ich ’raus und helfe euch Faultieren!«
Einen Augenblick standen die eleganten Gepäckträger still. Aber kaum hatten sie die Drohung vernommen, verdoppelten sich Tempo und Arbeitseifer.
Der Jüngling mit der Blume erschien noch um eine Schattierung bleicher. »Der Alte hat eine Stinkwut im Bauch. Wenn er die zwei erwischt, dann bleibt nichts ganz!«
»Wenn er Sie erwischt.«
Die Tür des Ladens, der sich vor dem Lagerraum befand, wurde aufgerissen. Morris Flynn stürzte herein. Seine Brust keuchte.
Im Laden waren nur ein Kanzlist und ein Taxator. Sie fuhren vor Schreck zusammen.
»Ich muß zum Chef«, rief Flynn außer Atem. »Die Polizei ist hinter mir her! Er muß mich verstecken!«
Die beiden Männner hinter dem Ladentisch verständigten sich mit einem schnellen Blick. Der Kanzlist schlug sein Hauptbuch zu. Der Taxator nahm die Gewichte von einer Waage.
»Augenblick«, sagte er und ging in den Lagerraum.
Morris schwang sich mit einem Satz über den Ladentisch und stellte sich hinter ein Regal, um nicht von der Straße aus gesehen zu werden.
Der Taxator rief in den Lagerraum: »Er ist da.«
»Wer?« fragte der Lagerverwalter und kam aus der Tür hinter den Teppichen.
»Der falsche Sherlock Holmes! Er ist nebenan im Laden. Will den Chef sprechen.«
Das war eine tolle Nachricht. Die eleganten Arbeiter setzten ihre Pakete ab und ließen die Karren stehen. Der Lagerverwalter kam weiter in den Raum.
»Das kann er haben. ’rein mit ihm!«
Und dem jungen Mann befahl er: »Sag dem Chef Bescheid!«
»Aufpassen!« rief er dann den Männern zu. Die gruppierten sich alle zu einem Halbkreis und starrten auf die Tür, durch die der Taxator wieder in den Laden ging.
Im Laden kam Flynn aus seinem Versteck hervor. Der Taxator sah ihn prüfend an. Flynn wurde es unbehaglich. Das Abenteuer war gewagt. Aber im Notfall war ja Mackie da. Er würde bestimmt die Polizei alarmieren, wenn es schiefgehen sollte.
Der Taxator öffnete die Tür zum Lagerraum und ließ Morris eintreten. Der sah sich in dem unheimlich düsteren Raum um, sah die verdächtigen Gestalten stehen. Der Lagerverwalter erwartete ihn hinten am Tisch.
»Hallo, Chef!« sagte Flynn und reichte ihm die Hand.
Der Lagerverwalter erwiderte Flynns Händedruck. Das gab Morris etwas von seinem Selbstvertrauen zurück. Langsam kamen die Männer ringsherum näher. Morris griff in die Tasche und holte den abgerissenen Steckbrief hervor.
»Ihr müßt mir helfen«, sagte er schlicht.
»Ach, das bist du!« sagte der Lagerverwalter. Sein Erstaunen klang nicht ganz echt.
Flynn nickte lächelnd. Er fühlte es mehr, als er sah, daß sich hinter ihm ein Kreis schloß. Alle im Lagerhaus Beschäftigten hatten sich eingefunden. Sie lächelten auch. Aber ihr Lächeln verhieß nichts Gutes.
Der Lagerverwalter zeigte auf den Steckbrief.
»Eine gute Idee, was?«
»Nicht so gut, wie ich dachte«, winkte Flynn ab. Er blickte sich vorsichtig um und sah in die Gesichter der schweren Jungs, die ganz nahe an ihn herangerückt waren.
»Ja«, sagte der Lagerverwalter und tat, als überlegte er. »Was sollen wir denn mit dir anfangen?«
»Ach«, sagte Morris, »ich bin überall zu gebrauchen. Ich mache alles. Ich fange auch gleich an, wenn ihr wollt.«
»Ganz schön. Doch darüber kann nur der Chef bestimmen.«
»Der Chef?« sagte Flynn verblüfft. »Du bist also gar nicht der Chef?«
Der Lagerverwalter schüttelte den Kopf.
»Soso«, meinte Flynn, »wo ist denn der Chef?«
»Dort«, sagte der Lagerverwalter und zeigte auf die zusammengerollten Teppiche.
Da stand der würdige ältere Herr aus dem Palace Hotel.
Flynn fühlte, daß er sich verfärbte. Obwohl er so etwas Ähnliches erwartet hatte und seit dem ersten Auftauchen dieses Mannes auf seiner Hut gewesen war, war er doch sehr erschrocken. So eine große Bedeutung hatte er dem seriösen Herrn nicht beigemessen. Es war hoffnungslos, ihn ein zweites Mal täuschen zu wollen.
Der andere bot ihm auch keine Gelegenheit dazu. Ohne ein Wort zu sagen, pflanzte er sich vor Flynn auf und landete plötzlich, ohne sich vorher durch ein Wimperzucken zu verraten, einen Haken genau auf Flynns Kinnspitze. Flynn stürzte hintenüber und schlug mit dem Schädel auf die Dielen.
Die Leute warfen sich auf ihn. Wie ein Bündel Kleider wurde er in eine Ecke geschleppt.
Der vornehme ältere Herr zeigte keine Spur von Erregung. Er ließ wieder seine Taschenuhr an dem Seidenband um den Zeigefinger kreisen.
Hinter den Teppichen hatte die elegante Dame, die immer im Gefolge des älteren Herrn aufzutauchen pflegte, alles beobachtet. Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen blickten böse. Doch aus ihrem Gesicht war nicht herauszulesen, ob sie mit dem brutalen Vorgehen ihres Partners einverstanden war.
Während Flynns umnebelte Sinne sich langsam wieder in die reale Welt zurücktasteten, gab der Chef seinen Leuten ein Zeichen, sich nach Flynns Kameraden umzusehen. Mit Recht vermutete er, daß Mackie sich irgendwo in der Nähe herumtreiben müsse. Dann beobachtete er mit Interesse Flynns Bemühen, wieder zu sich zu kommen.
»Unangenehme Überraschung, was?« fragte er, nicht ohne Sympathie.
Mühsam richtete Flynn sich auf und hielt Umschau. Die elegante Frau war zu der Gruppe getreten. Flynn nickte ihr zu. »Nicht für mich«, antwortete er. »Ich habe immer gehofft, daß wir uns einmal wiedersehen würden. Ich habe unsere Verabredung nicht vergessen. Und ich bitte nachträglich um Entschuldigung, Madame, daß ich gestern abend nicht gekommen bin. Aber es genügt wohl, wenn ich jetzt da bin.«
»Werde hier nicht frech!« verwies ihn der Chef. »Wo sind die Sachen?«
»Ja, richtig, das Geld und die Pläne«, sagte Flynn und tat als erinnere er sich erst jetzt. »Die hab’ ich natürlich nicht bei mir. Ich wußte ja nicht, daß ich dich hier treffen würde.« Er stellte mit Vergnügen fest, daß der Ohef bei dem unvermuteten Du die Augenbrauen hob. Der blasse Jüngling zerzupfte vor Nervosität seine Blume aus dem Knopfloch. Auch die elegante Dame begann unruhig zu werden. Flynn jedoch wahrte ihr gegenüberdie Form. »Wissen Sie, gnädige Frau, es war mir zu unsicher, so viel Geld mit mir herumzutragen. Es gibt so viel schlechte Menschen.«
»Durchsuchen!« befahl der Chef.
Sofort stürzten sich drei Burschen über Flynn und durchwühlten seine Taschen. Aber das Ergebnis freute den Chef nicht. Sein Gesicht wurde länger und länger, als die Quittungen und der Postaufgabeschein zum Vorschein kamen.
»Alles an die Banken zurückgeschickt«, sagte er grimmig, während er der eleganten Dame die Formulare reichte. »Die Gulden nach Amsterdam, die Pfunde nach London, die Francs nach Cherbourg …«
»… und die Pläne an die Polizei«, ergänzte Flynn. »Sogar dechiffriert. War eine Heidenarbeit. Großartiges System.«
Jetzt verlor die elegante Dame ihre Haltung. Der Firnis ihrer Wohlerzogeniheit platzte. »Also ein Spitzel bist du, mein Junge!« schrie sie, und ihre Stimme überschlug sich in der Erregung. »Das wird dich teuer zu stehen kommen!« Sie war drauf und dran, sich auf Flynn zu stürzen.
Der Chef hielt sie zurück. »Warte«, befahl er. »Hier sind noch andere interessante Sachen.«
In der Brusttasche von Flynns Rock hatten die Lombardleute die Brieftasche der »Lords« entdeckt und darin zwei Briefe gefunden, die sie ihrem Chef überreichten.
»Wie kommst du dazu?« fragte er drohend Flynn.
Er zeigte die beiden Briefe seinen Leuten und erklärte der eleganten Dame den Zusammenhang. »Unser Brief an den Ausstellungsdirektor wegen der Mauritiusmarken und unsere Korrespondenz mit dem alten Berry in Yvelles. – Das ist ja ein unglaublicher Bursche!«
Nervös spielten die Finger des Chefs wieder mit der Uhr an dem Seidenband. Sie pendelte hin und her, während er sich den Mann besah, dessen Gefährlichkeit ihm plötzlich aufgegangen war. »Nun wird mir vieles klar«, sagte er. »Zum Beispiel, warum der sonst so ängstliche Herr Ausstellungsdirektor überhaupt nicht auf unseren Brief reagiert hat. Wie erklärst du dir das?«
Flynn schwieg. Seine Augen folgten aufmerksam dem Spiel mit der Taschenuhr.
»Er hat es vorgezogen, dich mit dem Fall zu betrauen«, gab der Chef sich selbst zur Antwort. Sherlock Holmes wird ihm versprochen haben, die echten Marken wieder herbeizuschaffen.«
Flynn nickte.
»Das war das Klügste, was der arme Mann tun konnte!«
»Der alte Trottel.« Der Chef lachte schallend. Morgen hat er den schönsten Skandal.«
»Oder auch nicht«, meinte Flynn trocken.
»So?«
»Er kriegt, wie ich’s versprochen habe, die echten Marken zurück.«
Jetzt lachte nicht nur der Chef, sondern das ganze Leihhaus.
Flynn sah einen nach dem anderen an, und dann mußte er mitlachen. Immerhin zwang seine Haltung den Chef zur Anerkennung.
»Ich muß schon sagen – Ehre, wem Ehre gebührt. Vielleicht hast du auch in Yvelles …«
»Jawohl«, versetzte Flynn prompt, »ich habe. Ein sehr interessantes Laboratorium.«
Ein betretenes Schweigen sagte ihm, daß der Schlag saß. Doch der Chef faßte sich schnell. »Eine Spürnase wie der richtige Sherlock Holmes. Schade, daß du deine Fähigkeiten so am falschen Platz einsetzt. Aus dir hätte noch was werden können!«
Morris verbeugte sich geschmeichelt.
Jetzt fuhr die Frau auf. »Aber ein kleiner Zufall bricht dir nun das Genick.«
»Der Zufall bin ich!« frohlockte der Chef.
Und wieder lachten alle.
»Pech.« Flynn richtete sich auf und klopfte den Staub von den Hosenbeinen. »Damit habe ich allerdings nicht gerechnet, daß du hier Chef bist.« Er war nicht ganz bei der Sache; denn er hatte bemerkt, daß einer von den Leuten an den Chef herangetreten war und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Flynn wurde mißtrauisch. Lauerte im Hintergrund noch eine Überraschung?
»Jaja, so geht das«, sagte der Chef in einem Ton falscher Gemütlichkeit. Er ließ seine Taschenuhr wieder um den Finger schwingen und lachte dabei. »Gerade jetzt, wo du am Ziel bist, ist es aus mit dir. – Wo du deinen ganzen schönen Fall beisammen hast, kannst du nichts mehr damit anfangen. Jetz, wo du mich entdeckt hast und meine sehr geschätzten Mitarbeiter, unser schönes falsches Geld und die schönen echten Marken! – Denn glaube ja nicht, daß du dich auf deine liebe Polizei noch verlassen kannst.«
»Oder daß du hier noch einmal lebendig herauskommst«, ergänzte die elegante Dame scharf.
Flynn hörte nicht mehr zu. Seine Augen hingen an der goldenen Uhr, die jetzt wieder in des Chefs Westentasche verschwand.
Gemurmel, Scharren von Füßen ließ ihn aufhorchen. Durch die Männer, die Flynn immer noch umringten, ging ein unterdrücktes Gelächter.
Die Tür zum Laden war geöffnet worden, und Flynn sah seinen Freund Mackie mit glückstrahlendem Lächeln in die Lagerhalle treten.
Mackie war, wie nicht anders zu erwarten, prompt in die Falle gegangen.
Der Kanzlist hatte ihn vor dem Laden auf der Rue de Brea entdeckt. Er hatte ihm zugewinkt, und Mackie war herübergekommen.
»Komm ’rein, Mensch, dich suchen sie doch auch!« hatte er ihm zugeflüstert, und Mackie hatte dankend seinen flachen Hut abgenommen und war in den Laden getreten. Dort öffnete ihm der Taxator die Tür zum Lagerraum. Er war ihnen prompt auf den Leim gekrochen. Sie brauchten nicht einmal zu warten, bis der Leim trocknete.