XXI
Kaum hatte Mackie gemerkt, daß er auf die beiden freundlichen Herren, die ihm versprochen hatten, ihn zu seinem Freund führen zu wollen, hereingefallen war, als er sich auf den klügeren Teil der Tapferkeit besann und ausriß.
»Weg!« hatte ihm Morris noch zubrüllen können. Doch Mackie kam nicht weit. Eine Faust fuhr hoch. Eine mit einem Schlagring bewaffnete Faust. Mackie griff in den Nacken, aber diesmal wurde wirklich zugeschlagen. So heftig, daß er vornüber fiel, mit dem Gesicht auf die Dielen aufschlug und platt liegenblieb, ohne sich noch einmal zu rühren. Die Lombardmänner johlten vor Vergnügen.
Diesen Augenblick benutzte Flynn. Mit einem Ruck riß er sich von den drei kräftigen Burschen, die ihn gefaßt hielten, los und stürzte sich auf den Chef. Der Anprall war so heftig, daß beide zu Boden stürzten. Doch Flynn war als erster wieder auf den Beinen. Er setzte sich gegen die auf ihn eindringenden Männer zur Wehr.
Die elegante Dame war bis zu den zusammengerollten Teppichen zuruckgesprungen. Sie sah, wie es Morris gelang, sich von der Meute zu befreien. Mit einem Satz erreichte er das Geländer der Galerie und versuchte, sich hinaufzuziehen. Er schaffte es.
Von Scharank zu Schrank, von Klavier zu Klavier riskierte Flynn die waghalsigen Sprünge. Tische stürzten um, leere Schubladen rutschten heraus und fielen polternd zu Boden. Wo Flynns Fuß aufsetzte, stürzte alles zusammen; was nicht von selber fiel, brachte Flynn mit Absicht zu Fall, indem er derart vor seinen Verfolgern eine Barriere nach der anderen aufbaute. Trotz allem war, das sah er bald ein, an ein Entkommen nicht zu denken. Im Lagerraum wimmelte es wie in einem aufgestötten Ameisenhaufen. Donnernd rollten auf einen Wink der eleganten Dame vor den Schaufenstern die Rolläden herab. Die Falltür, die in den Keller führte, wurde zugeschlagen. An allen Ausgängen hatten sich Männer mit geladenen Revolvern aufgebaut. Auch die eiserne Tür an der Laderampe wurde zugeschoben.
Als sich Flynn auf der Galerie von seinen Verfolgern in wilder Jagd umstellt sah – denn es waren ihm von der anderen Seite einige Kerle entgegengelaufen gekommen –, schwang er sich aufs Geländer und wagte den Sprung ins Leere. Im Fallen ergriff er einen der zahlreichen von der Decke herabhängenden Kronleuchter. Der setzte sich mit ihm in pendelnde Bewegung. Ein paar mal ließ sich Flynn hin und her schaukeln, bis er mit dem Lüster zusammen herunterstürzte. Der Haken in der Decke hatte nachgegeben. Mann und Leuchter sausten in die Tiefe. Zum Glück geschah dies über der Kleiderabteilung. Flynn landete auf einem Regal, das voller Pelze hing und krachend unter ihm zusammenbrach. Eine Wolke von Mottenpulver flog auf.
Mackie sah von dieser rasenden Hatz nichts. Er lag immer noch besinnungslos am Boden. Niemand kümmerte sich um ihn. Es floß ihm Blut aus dem Mund.
Alle waren zu den Kleiderregalen gestürzt, wo Morris zwischen den aufgehängten Kleidern verschwunden war. Man riß die vielen Mäntel, Fracks, Smokings und Anzüge herunter. Irgendwo unter diesen Kleiderbergen mußte sich Flynn versteckt haben. Man hob die Kleider hoch, trat auf ihnen herum, schlug mit Knüppeln darauf ein. Aber Morris war nicht zu finden.
Er war hinter ein hohes Regal gesprungen, das mit Schuhen und Hüten vollgepackt an der Wand stand. Er hatte es abgerückt und hielt sich dahinter verborgen.
Dort entdeckte ihn der blasse Jüngling. Er schrie hysterisch auf und zeigte mit beiden Zeigefingern auf Morris. Der trat kurz entschlossen gegen das Regal. Es schlug um. Hüte und Schuhe prasselten auf die Angreifer nieder. Aber es nützte Morris nicht viel. Der Chef war auf ihn zugesprungen und hatte ihn an der Kehle. Sie wälzten sich beide zwischen den Kleidern und Hüten herum. Dem Chef kamen seine Leute zu Hilfe. Morris mußte aufgeben. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Trotzdem war er nicht so niedergeschlagen, wie er es der Lage der Dinge nach hätte sein müssen.
Er konnte sogar lächeln, als er die elegante Dame, die hinter den Teppichen wieder hervortrat, mit gezücktem Revolver vor sich stehen sah. Nur als er Mackies blutüberströmtes Gesicht gewahrte, verfinsterte sich sein Blick. Das Herz drehte sich ihm um, als er seinen Freund so wiedersah. Mackie wurde von zwei Kerlen aufgehoben. Er konnte noch nicht auf den Beinen stehen, wischte sich das Blut aus den Augen und sah sich um. Als er Morris erblickte, den vier Männer festhielten, lächelte er hilflos. Der Fluch, den Flynn zwischen den Zähnen zerbiß, war ordinär.
»’runter mit den beiden!« befahl der Chef, der sich die Haare aus der Stirn strich und seinen zerrissenen Rock wieder zurechtzog. Er sah nicht mehr so vornehm aus.
Der Lagerverwalter packte Morris, der jetzt keinen Versuch mehr machte, sich zu wehren, und stieß ihn vor sich her.
Durch die Falltür, die jetzt wieder geöffnet wurde, ging es in den Keller hinunter. Am Ende des langen Ganges befand sich eine schwere, eiserne Tür. Dahinter lag ein dunkler Raum, in den jetzt Morris und Mackie hineingestoßen wurden, nachdem des einen linke mit des anderen rechter Hand durch eine Fessel zusammengeschlossen worden waren. Der Stoß, mit dem sie in dieses Gefängnis hineinbefördert wurden, war nicht freundlich. Sie flogen bis zur anderen Seite die gegenüber der Tür lag, und fielen dort zu Boden. Dann schloß sich die eiserne Tür. Sie wurde zugesperrt.
Morris sah sich um. Sie waren im Kohlenkeller. Das einzige Fenster befand sich hoch oben, fast an der Decke. Es war vergittert, und daneben lehnte ein hölzerner Rost, der als Rutschbahn für die Kohlen diente, wenn sie durch das Fenster abgeladen wurden. Neben der Tür lag ein hoher Haufen großer Steinkohlenbrocken. Sonst befand sich in dem Keller nur altes Gerümpel.
Es war Flynn lieber, als wenn der Raum leer gewesen wäre. Denn kaum hörte er, daß sich die Schritte von ihrer Gefängnistür entfernten, als er eine fieberhafte Tätigkeit entfaltete. »Ich bitte dich, reiß dich zusammen!« bat er den Freund und zog den Willenlosen an der Handschelle auf. »Kannst du noch?«
Mackie nickte und sah, wie Morris sich an den Wänden entlangtastete.
»Was willst du?« fragte Mackie.
Flynn hatte einen alten Tisch entdeckt. Er kippte ihn um, daß er auf der Seite lag und seine Beine in die Luft standen. Dann schob er ihn mit der Platte gegen die Tür. »Frag nicht soviel, Mackie, faß lieber mit an! Sonst kommen sie und holen uns wieder ’raus.«
Die Logik dieser Bemerkung zu erfassen war selbst für einen Mann, der im vollen Besitz seiner fünf Sinne ist, nicht ganz einfach. Warum wollte Morris nicht wieder herausgeholt werden? Aber Mac gab sich nicht die Mühe nachzudenken. Getreulich ließ er sich von Morris an der gefesselten Hand hinterherziehen und bemühte sich nach Kräften, jenem beim Verbarrikadieren zu helfen.
Morris ließ den hohen hölzernen Kohlenrost aus der Ecke gegen die Tür fallen und klemmte ihn so zwischen die Tischplatte und die gegenüberliegende Wand, daß man die Tür nicht nach innen öffnen konnte. Ebenso packten beide eine lange Bank und stellten sie schräg gegen die Tür. Dann ergriff Flynn einen alten Besen, verkürzte ihn durch einen Fußtritt und klemmte den Besenstiel so unter die Türklinke, daß man sie nicht niederdrücken konnte. Zum Schluß machten sich beide daran, noch große Kohlenstücke auf die Barrikade zu legen. Sie wälzten die größten Brocken vor die Tür.
»Warum nur?« fragte Mackie. Er begriff es nicht, daß man sich das Ausbrechen aus einem Gefängnis so schwer machen konnte.
»Das wirst du gleich sehen«, lautete Flynns Antwort.
Und er bekam es in der Tat sehr schnell zu sehen. Eilige Schritte kamen wieder den Gang entlang und näherten sich der Tür des Kohlenkellers. Im Schloß wurde der Schlüssel herumgedreht, dann versuchte man, die Klinke herabzudrücken. Es ging nicht. Der abgebrochene Besenstiel war so fest daruntergeklemmt daß sich die Klinke nicht um einen Millimeter bewegen ließ. Man hörte, wie immer wieder der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde; wieder versuchte man mit aller Kraft auf die Klinke zu drücken, und dann hörten Morris und Mackie die ärgerliche Stimme des Chefs. Aber diese Türklinke reagierte selbst auf die Anschnauzer des Chefs nicht.
Dann wurde mit Fäusten gegen die Tür geschlagen. »Aufmachen!« brüllte der Chef.
Flynn rührte sich nicht. Er sah Mackie an und machte ihm mit einem Zeichen klar, daß er keinen Laut von sich geben dürfe.
»Das könnte dem so passen«, flüsterte er Mackie zu. »Weißt du jetzt, warum?«
Doch Mackie schüttelte den Kopf. Es war auch nicht mehr die geringste Spur vom Witz und Geist eines Dr. Watson in ihm. Seine Lust am Kombinieren hatte er verloren. Ja, er war nicht einmal überrascht, als Flynn eine goldene Uhr aus der Tasche zog und sie ihm zeigte.
Morris ließ die Uhr genau in der Art, wie der vornehme ältere Herr damit gespielt hatte, an dem Seidenband um den Zeigefinger kreisen.
»Die möchte er wiederhaben.«
»Die Uhr?« fragte Mackie verständnislos. »Warum?«
»Die teuerste Uhr der Welt«, versicherte Flynn leise und steckte sie wieder in die Tasche. »Wert sechsmal hunderttausend Franc.·
»Aufmachen!« brüllte der Chef vor der Tür. Und wieder donnerten von draußen die Fäuste und Füße gegen das Eisen.
Mary Berry und Jane Berry hatten sich nicht gern im Büro des Rechtsanwaltes Dr. Balderin absetzen lassen. Es fiel ihnen schwer, so untätig sein zu müssen, um so mehr, als sie vermuteten, daß sich zu gleicher Zeit ihre Freunde in Gefahr befanden. Mackies Bericht hatte zwar ihr Vertrauen völlig wiederhergestellt, ihnen aber auch gezeigt, wie schwierig die Aufgaben waren, die der seltsame Mann und sein Freund sich gestellt hatten. Ihre Stimmung wurde auch nicht durch die Tatsache gehoben, daß im Hause des Rechtsanwalts die Kriminalpolizei erschien. Es waren zwei der Beamten, die bereits die Ehre gehabt hatten, den mutmaßlichen Mr. Holmes vom Palace Hotel zum Polizeipräsidium zu eskortieren. Der eine von ihnen war der Colonel Gizzard, der auch jetzt wieder zur Eskorte bestimmt war, allerdings zu einer weit weniger ehrenvollen.
Die Mädchen horchten an der Tür, die zum Büro des Rechtsanwalts führte. Sie hörten, wie Colonel Gizzard den alten Dr. Balderin ins Gebet nahm. »Sie waren heutenacht auf Schloß Yvelles, Herr Doktor?«
»Jawohl«, antwortete der Rechtsanwalt.
»Sie waren dort mit zwei Männern zusammen, die sich als Sherlock Holmes und Doktor Watson ausgegeben haben.«
»Ausgegeben?« hörten die beiden Mädchen Dr. Balderin erstaunt fragen. »Ja, sind sie es denn nicht?«
Es dauerte eine Weile, bis der Rechtsanwalt die Aufklärung der Kriminalbeamten begriffen hatte.
»Wissen Sie, wo die beiden Männer sind?« fragte Colonel Gizzard schließlich.
Nein, das wußte der Rechtsanwalt nicht. Aber es sei verabredet worden, daß die beiden im Laufe des Nachmittags ihn hier in seinem Büro aufsuchen sollten.
Mary und Jane hatten genug gehört. Auf Zehenspitzen schlichen sie sich fort, schlüpften durch eine zweite Tür auf den Korridor, dann zum Treppenhaus, und so, wie sie waren, ohne Hut und Mantel, ging es auf die Straße. »Was sollen wir nun machen?« fragte Jane bekümmert.
»Sie warnen!« entschied Mary. »Die beiden dürfen auf keinen Fall in das Büro von Doktor Balderin kommen.«
»Ja, wie willst du es ihnen aber sagen? Weißt du denn, wo sie sind?«
»Natürlich, Leihhaus Lombard in der Rue de Brea.«
Im Kellergang des Leihhauses Lombard hatte sich jetzt die ganze Bande mit ihrem Anführer und der eleganten Dame vor Flynns und Mackies Verlies versammelt. Der Chef hatte sie zu einem Kriegsrat zusammengerufen. »Die Burschen haben sich von innen verbarrikadiert.« Dann wandte er sich an die stärksten Männer und befahl ihnen: »Einrennen!«
Sechs Männer stemmten jetzt mit aller Gewalt ihre Schultern gegen die Eisentür. Aber die gab nicht um einen Zentimeter nach.
Morris und Mackie paßten auf, daß die Versteifungen, die sich zwischen der eisernen Tür und der Kellerwand spreizten, nicht nachgaben, und vor allen Dingen, daß der Besenstiel unter der Klinke nicht wegrutschte.
Der Chef sah ein, daß so die Mühe seiner Leute vergeblich war. Die Tür konnte nur mit Gewalt eingerannt werden.
»Brecheisen herunter und die Wagendeichsel!«
Einige Minuten später erzitterte die Tür des Kohlenkellers unter den ersten Stößen des Rammbocks. Die Leute hatten die Wagendeichsel des Möbelwagens herausgezogen, hielten sie jetzt zu zehn Mann gefaßt, und mit kurzen Kommandos, wie sie die Möbelpacker gebrauchen, rannten sie gleichzeitig die eisenbeschlagene Spitze der Deichsel, an der sich ein schwerer Haken befand, gegen die Tür. »Hau ruck! Hau ruck!«
Die Situation wurde kritisch. Den ersten Stößen zwar hielt die feste Tür noch stand. Bei jedem Stoß aber rutschten die Versteifungen ein wenig beiseite. Die beiden Belagerten arbeiteten fieberhaft. Immer wieder rollte Morris die Kohlenstücke heran, die durch den Anprall der Wagendeichsel an der Tür jedesmal einige Zentimeter zurücksprangen.
Unermüdlich, in regelmäßigen Abständen, polterte die Wagendeichsel mit dumpfem Gedröhn gegen die Tür, und immer wieder erscholl das Hau ruck! In der eisernen Tür ließ jeder Stoß eine Beule zurück.
Mit Besorgnis betrachtete Flynn das Schloß. Es war die schwächste Stelle in ihrer Verteidigung. Es lockerte sich von Stoß zu Stoß.
Schließlich war es soweit. Ein Mauerstein fiel aus der Wand, und jetzt konnte der Riegel des Schlosses, der die Tür noch festhielt, nicht mehr wirksam sein. Die Klinke fiel heraus, und der Besenstiel verlor seinen Sinn. Den einzigen Schutz bildeten jetzt nur noch die schräggestellte Bank und die quer zum Tisch eingeklemmte Kohlenrutschbahn. Mit ihrer ganzen Kraft versuchten Mackie und Flynn, sie festzuhalten.
Sie waren durch ihre aneinandergefesselten Hände und durch Mackies Verwundung, die ihm große Schmerzen bereitete, stark behindert.
Morris sah besorgt seinen Freund an. Dessen Gesicht war aschfahl und das Blut wollte nicht aufhören zu rinnen.
»Wozu strengen wir uns eigentlich so an?« fragte sich Morris. Er war um die Antwort selber verlegen und wußte nicht, worauf er eigentlich noch hoffte. Wer sollte ihnen hier unten schon zu Hilfe kommen? Die Polizei etwa? Gegen seinen Willen mußte Flynn laut auflachen.
Mackie blickte ihn an und glaubte aus diesem Lachen Trost herauszuhören. Er nickte Morris zu.
Der wischte ihm das Blut aus dem Gesicht. Plötzlich spürte er, was ihm dieser Freund bedeutete. Dieser kleine Kerl, blutbeschmiert voller Kohlenstaub, war ihm auf einmal so nah und soviel wert, daß, möge geschehen was wolle, er sich sein Leben lang nicht wieder von ihm trennen würde.
Die Lage wurde immer gefährlicher. Die Tür war jetzt so weit in ihren Angeln erschüttert, daß sie oben bereits zu klaffen begann. Der Chef war nicht der Mann, der so eine Chance nicht wahrgenommen hätte. Er war fest entschlossen, mit den beiden da drinnen Schluß zu machen. Mit allen Mitteln. Er machte seinen Leuten ein Zeichen und befahl, zu einem neuen Stoß auszuholen. Gleichzeitig ließ er sich von der Frau den Revolver reichen.
In dem Moment, als die Tür durch einen neuen Stoß wieder um einen Spaltbreit weiter wich, schob er die Mündung des Revolvers durch die Öffnung und drückte ab. Ein, zwei, drei, vier Schüsse fielen schnell hintereinander. Dann noch ein fünfter und sechster Schuß, bis die Trommel leer war. Die beiden Gefangenen waren rechtzeitig zur Seite gesprungen.
Morris war jetzt die Möglichkeit genommen, die Bank und den Kohlenrost weiterhin zu stützen. Überdies war Mackie in die linke Hand getroffen worden. Mackie hielt sich einen Augenblick an der Wand fest. Dann sackte er auf den Kohlenhaufen. Da er durch die rechte Handfessel behindert war, war er jetzt so gut wie wehrlos.
Das ist der Anfang vom Ende, dachte Flynn.
Jane und Mary fragten sich nach der Rue de Brea durch. Einmal waren sie im Kreise gegangen, dann wieder hatten sie eine Verbindungsstraße verfehlt, und trotz aller Anstrengungen hatten sie das Gefühl, niemals in die gewünschte Straße zu gelangen. Nur aus Träumen kennen normale Menschen einen solchen Zustand. Die beiden Mädchen begannen zu laufen.
Fast schien es ihnen ein Wunder, daß sie ihr Ziel schließlich doch erreichten. Sie standen endlich vor dem Leihhaus Lombard und erlebten eine neue Enttäuschung. Das Haus schien verlassen. Die Rolläden an den Fenstern und an der Ladentür waren herabgelassen, die Toreinfahrt versperrte ein Gitter. Sie sahen nach den oberen Stockwerken empor, doch an den Fenstern zeigte sich kein Licht.
»Wie kommen wir da ’rein?« fragte Jane verzweifelt.
Mary wußte es auch nicht. »Vielleicht sind sie schon weg. Vielleicht sind sie einen anderen Weg gegangen und sind jetzt schon bei Doktor Balderin. Und die beiden Polizisten …«
»Wir müssen wieder zurück!«
Sie waren verzweifelt. Ihre Tatkraft war beträchtlich im Sinken. Sie gingen auf die andere Straßenseite und behielten das Haus im Auge. Das war ein guter Einfall, denn ihre Ausdauer wurde belohnt. Sie sahen plötzlich zwei Männer die Straße entlangkommen, die ihnen merkwürdig bekannt vorkamen. Die beiden Männer sahen sich vorsichtig um und machten sich dann am Gitter der Toreinfahrt zu schaffen.
»Du.« Mary stieß ihre Schwester mit dem Ellbogen an. »Das sind doch die beiden Lords aus dem Zug.«
Jane hatte sie auch sofort erkannt. »Ja, was wollen die denn da drin?«
»Wenn die zusammentreffen!«
Der Gedanke entsetzte Mary so, daß er ihr die Entschlußkraft zurückgab. »Komm!« sagte sie und zog die Schwester hinter sich her zu dem Torweg. »Wir müssen sehen, was da los ist. Da stimmt etwas nicht.«
Die beiden Männer hatten das Tor nicht wieder hinter sich verschlos:sen. Es öffnete sich willig, und die beiden Mädchen traten ein. Auf Zehenspitzen schlichen sie durch den Torweg. Als sie den Lagerhof erreichten, blieb Mary stehen.
»Da«, sagte sie und hielt ihre Schwester zurück.
Jane blickte sich um, konnte aber nichts entdecken. Es gab auch nichts zu sehen, sondern nur zu hören. Ein dumpfes, in regelmäßigen Abständen wiederkehrendes Gedröhn schlug an ihr Ohr. Es schien direkt aus der Erde zu kommen. Der Boden, auf dem sie standen, zitterte. Sie hörten auch die Rufe, die vor jedem Gedröhn ertönten: »Hau ruck! Hau ruck!«
Die beiden »Lords« waren verschwunden. Mary faßte Jane bei der Hand und zog sie wieder durch den Torweg hinaus auf die Straße.
»Wir müsssen die Polizei rufen!«
Der Schutzmann auf dem Boulevard Huyghens blickte sehr verwundert, als er aus der Rue de Brea zwei junge Damen herauslaufen und auf sich zustürzen sah. Sein Lächeln, mit dem er ihrem keuchend hervorgestoßenen Bericht zuhörte, verlor sich rasch. Was die beiden Mädchen da vorbrachten, klang zwar sehr wirr, doch war in der Gehetztheit, die auf den jungen Gesichtern lag, etwas, was den Beamten zur Teilnahme zwang. Aber er konnte sich kein klares Bild machen: Lords, Notbremse, Geheimgänge, verschwundene Erbschaft, gespenstische Geräusche in einem leeren Bürohaus. Alles ging durcheinander.
»Also noch einmal: Wer soll ermordet werden?«
»Mister Flynn und Mister MacMacpherson.«
»Wer sind Mister Flynn und Mister MacMacpherson?« fragte der Schutzmann.
»Der Mann, der Sherlock Holmes ist!«
»Und der andere ist Doktor Watsonl« ergänzte Mary in Todesangst.
Der Schutzmann war wie elektrisiert.
»Kommen Sie mit, meine Damen. Das Polizeibüro ist gleich um die Ecke. Das beste ist, Sie sagen, was Sie zu sagen haben, gleich an Ort und Stelle.«
Fünf Minuten später stand die Brüsseler Polizei unter Großalarm. Von allen Seiten rasten die Überfallkommandos auf die Rue de Brea zu. Die Scheinwerferkegel der Polizeiwagen blitzten über den Asphalt. Die Straße wurde abgesperrt. Der Chef der Kriminalpolizei erschien persönlich und übernahm das Kommando. Mit einem Trupp seiner besten und zuverlässigsten Leute näherte er sich dem Leihhaus Lombard. Um das Gebäude zog sich der Absperrungskreis immer enger zusammen. Neugierige Passanten drängten zum Lombardhaus.
Auch Mary und Jane waren vom Polizeibüro in die Rue de Brea zurückgekehrt. Sie klammerten sich angstvoll an den Ärmel des zu ihrem Schutz mitgegebenen Konstablers und spähten aufmerksam durch den Torweg in den Lagerhof.
Ein Pfiff schrillte. Die Polizeibeamten sprangen von den Autos, liefen durch das Tor und verteilten sich rings über den Hof. Die Schiebetür zum Lagerraum wurde von den Polizisten aufgeschoben, Mary und Jane lauschten. Das aus der Erde herausdröhnende Stampfen, das sie noch kurz zuvor so erschreckt hatte, war verstummt. Waren sie zu spät gekommen?
»Alles durchsuchen!« ertönte das Kommando des Polizeihauptmanns.
»Wer Widerstand leistet, wird verhaftet!«
»Habt acht Leute«, warnte der Chef der Kriminalpolizei, »die beiden Burschen sind gefährlich! Sie haben sicher Schußwaffen bei sich.« Damit betrat er als erster den Lagerraum.
Auf dem unterirdischen Kampfplatz war Ruhe eingetreten. Die Wagendeichsel lag am Boden. Brecheisen und Meißel hatten das Werk fortgeführt.
Mit Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit, wie sie den Menschen angesichts des Unabwendbaren befällt, sah Flynn zu, wie sich die kunstvoll errichtete Barriere immer mehr verschob. Er bereute in diesem Augenblick sehr, den Freund mit in das Abenteuer hineingezogen zu haben.
Mackie fühlte, was in dem Freund vorgehen mochte. Er lächelte ihn an.
»Darfst es mir nicht übelnehmen, daß ich dich so in die Patsche gezogen habe«, sagte Morris schuldbewußt und band sein Taschentuch um Mackies zerschossene Hand. Aber Mackie lächelte nur weiter und schüttelte den Kopf.
»Sieh mal, Mackie, du mußt mir glauben; daß es so kommen würde, hab’ ich wirklich nicht geahnt.«
Morris schien viel verzweifelter als Mackie, der sich überraschenderweise der Lage gewachsen zeigte. Seine Ängstlichkeit hatte dem Mut der Verzweiflung Platz gemacht. Er war in einem Stadium jenseits seiner selbst, in dem er sogar den Schmerz seiner Wunde nicht mehr spürte.
»Morris«, sagte er und ergriff die Hand des Freundes, die mit der Handfessel an seine angeschlossen war, »kümmere dich gar nicht um mich.«
Die beiden drückten sich die Hände. Mackie lehnte sich an Morris. Er schwankte.
»Ich habe was Wunderbares.« Mackie sagte es verklärt. Morris fürchtete, daß sein Freund schon im Fieber rede. »Ich habe es in der Tasche.«
Flynn tastete Mackies Taschen ab, griff in eine hinein und fühlte einen Revolver. Er zog ihn heraus. Es war der Revolver, den er dem großen Peter in der Schloßhalle abgenommen hatte.
Bersten und Knirschen erfüllte in diesem Augenblick den Kellerraum. Die eiserne Tür hob sich, legte sich zurück und fiel mit ohrenbetäubendem Lärm über die Barrikade hinweg auf die aufgeschichteten Kohlen. Der Fall der Tür geschah so plötzlich, daß der Chef einen Augenblick zögerte, bevor er als erster sich anschickte, über die Barriere hinwegzuklettern.
»Hände hoch!« ertönte plötzlich eine scharfe Stimme hinter seinem Rücken. Ein Dutzend entsetzter Gesichter wandten sich zur Falltür, in deren Rahmen man Pistolen blitzen sah.
»Die Polizei!« Der Chef traute seinen Augen nicht.
Die Mitglieder der Bande drückten sich in die äußersten Winkel des Kellerganges und hoben die Hände. Die Kellertreppe herab kamen tressenbesetzte Hosenbeine. Schwere Polizeistiefel polterten herunter. Immer mehr Polizisten stiegen herab, bis sich im Gang ein Kordon bildete.
»Einzeln heraufkommen!« befahl der Kriminalrat. Langsam kam Bewegung in die vor Schreck erstarrten Gestalten. Einer nach dem anderen schlichen sie zur Treppe, die Hände über den Kopf erhoben, als riefen sie wie ein antiker Bewegungschor den Himmel um Gnade an.
Morris und Mackie warteten immer noch auf den ersten Verbrecher, der über die umgestürzte Tür den Kohlenkeller betreten würde. Das Getrappel und Gescharre machte sie stutzig.
Den Revolver immer schußbereit in der Faust, schaute Flynn vorsichtig um die Ecke. Der Anblick, der sich ihm im Kellergang bot, tat seinem Herzen wohl. Er zog Mackie zu sich heran. Mit Genugtuung beobachteten sie beide, wie ihre Gegner, einer nach dem anderen, die Kellertreppe hinaufexpediert wurden.
»Ist ja gar nicht schiefgegangen !« sagte Mackie.
Flynn nickte nur. Die Verzweiflung der letzten Minuten saß ihm immer noch in den Knochen. Um darüber hinwegzukommen, wußte er sich keinen anderen Rat; er knuffte Mackie. »Natürlich nicht – was hast du dir sonst gedacht, Mackie? Dir rutscht immer gleich das Herz in die Hosen.«
»Entschuldige«, sagte Mackie. Sein Gesicht war jetzt völlig mit Blut beschmiert. Er sah aus wie ein roter Neger. »Entschuldige bitte!« sagte er noch einmal und lächelte. Und dann knuffte er mit der gefesselten Hand zurück. Sie benahmen sich wie zwei Schuljungen, denen ein Streich geglückt ist.
Der Kellereingang war leer. Alle Mitglieder der Bande, auch die elegante Dame und der Chef, waren die Treppe hinaufgestiegen, und der letzte Schutzmann war ihnen gefolgt.
»Komm schnell«, sagte Flynn, »sonst vergessen sie uns!« Vorsichtig und mit einer Zartheit, die Mackie ihm niemals zugetraut hätte, half Morris dem Freund über die Hindernisse und trug ihn den Kellergang entlang und die Treppe hinauf.
Im Lagerraum und auf dem Hof wimmelte es von Polizisten. Bis zu dem Möbelwagen stand die Polizei und bildete Spalier für die Gefangenen, die, zu zweit aneinandergefesselt, in den Möbelwagen wie die Hammel hineingetrieben wurden.
»Das ist ja ein toller Fang!« stellte der Kriminalrat fest. »Der Laden wird hier abgeschlossen. Alles bleibt unter Bewachung.«
In der Falltür tauchten jetzt Morris und Mackie auf. Morris setzte Mackie nieder und sah, wie die Polizisten die Tür des Möbelwagens hinter der gefangenen Bande schließen wollten.
»Einen Augenblick!« rief er laut. »Hier sind noch zwei!«
Morris und Mackie eilten, so schnell sie konnten, zur Laderampe. Die Polizisten wandten sich überrascht um.
Morris sah auf dem Tisch, an dem sie vorübergingen, noch die Aufgabebescheinigung und die Quittungen liegen, die der Chef dort wütend hingeworfen hatte. Wie spielend fuhr Flynns Hand im Vorbeigehen über den Tisch. Doch als er sie aufhob, war sie nicht leer. Die wertvollen Dokumente waren wieder in seinem Besitz. Der Kriminalrat blickte auf die beiden, als wären es Erscheinungen aus einer anderen Welt. Sie sahen auch einigermaßen toll aus. Die Kleider hingen ihnen in Fetzen vom Leib, und ihre Gesichter waren unter dem Kohlenstaub und dem Blut nicht zu erkennen.
Mackie hatte hinter den Polizisten neben dem Möbelwagen Mary und Jane entdeckt. Mit einem Ruck an der Handfessel machte er Flynn auf sie aufmerksam. Wie Schwimmer warfen sich beide gegen die Polizisten, die jetzt auf sie zukamen, denn Morris und Mackie wollten zu Mary und Jane gelangen.
Aber man hinderte sie daran. Eine Hand legte sich schwer auf Morris’ Schulter. Es war ihr alter Freund, der Chef der Kriminalpolizei.
»Im Namen des Gesetzes«, sagte er gewichtig, »Sie sind verhaftet!«
»Wir bitten darum«, sagte Morris Flynn höflich.