XXII
Die Verhandlung in Sachen Flynn-MacMacpherson alias Sherlock Holmes-Dr. Watson fand in dem größten Gerichtssaal des berühmten Brüsseler Justizpalastes statt. Trotzdem war der Raum viel zu klein. Die Zuhörerbänke waren dicht besetzt, und vor den Türen drängten sich Hunderte von Menschen, die vergeblich noch Einlaß forderten. Morris und Mackie konnten mit dem Aufsehen, das ihr Prozeß erregte, zufrieden sein.
Aufgeregtes Summen und Geflüster ging durch den Saal, als die beiden Angeklagten hereingeführt wurden. Sie sahen nicht niedergeschlagen aus. Gar nicht wie arme Sünder. Selbst Mackie, den Arm in der Binde, hielt selbstbewußt den Kopf siegessicher hoch und sah sich neugierig um.
Das Publikum wußte nicht recht, ob es ein so unbekümmertes Aussehen der Angeklagten für angebracht halten sollte. Man war sich nicht einig, ob man für oder gegen die beiden sein sollte.
Der Vorsitzende des Gerichts war ein älterer, jovialer Herr mit einem klugen Gesicht.
In der ersten Reihe der Zuschauer saß jener Mann mit dem buschigen Schnauzbart, dem karierten Reisemantel und der Reisemütze, der beim Anblick der beiden in der Hotelhalle des »Palace« so herzhaft gelacht hatte. Auch jetzt schmunzelte er vergnügt oder lachte andauernd lautlos vor sich hin, daß ihm die Schultern zuckten. Er konnte nicht anders. Immer mußte er lachen, wenn er Morris zu Gesicht bekam oder wenn jemand auch nur den Namen Sherlock Holmes erwähnte. Plötzlich aber mußte er laut losprusten, so sehr er sich auch zu beherrschen suchte.
Der Vorsitzende am Richtertisch, der Staatsanwalt und die beiden Beisitzer runzelten die Stirn. Der uniformierte Gerichtsdiener stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Mann, der da lachte, zu entdecken und ihn dann auf einen Wink des Vorsitzenden hinauszuwerfen. Doch er konnte ihn nicht herausfinden.
»Wer lacht da?« fragte streng der Vorsitzende. »Hier gibt’s nichts zu lachen.«
»Ach, lassen Sie den Herrn ruhig lachen, Herr Vorsitzender«, meinte Flynn ungefragt. »Den Mann kenne ich, der lacht immer, wenn er uns sieht.« Der Vorsitzende hatte geahnt, daß bei diesem Prozeß irgend etwas passieren würde. Er war auf der Hut.
»Angeklagter, schweigen Sie, und setzen Sie sich!« befahl er in scharfem Ton und gebärdete sich dabei sehr würdevoll, läutete die Glocke und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Das Lachen verstummte.
Der Vorsitzende wandte sich an die Zuhörer: »Ich mache Sie alle darauf aufmerksam, daß ich bei der geringsten Störung der Verhandlung den Saal räumen lasse!« Das war alles etwas zu scharf und zu laut gesagt. Die Zuhörer, die glücklich einen Platz erwischt hatten, erwarteten ein Fest.
Morris’ und Mackies Auftritt entsprach so ganz ihren Erwartungen, und darum flogen beiden die Sympathien der Zuschauer zu.
Flynn sah zur Zeugenbank. »Da haben wir alle hübsch beieinander«, sagte er leise zu Mackie. Er erkannte den Blockstellenwärter, dem sie die Signalpfeife und die Laterne gemaust hatten, den Zugführer, die beiden Schlafwagenschaffner, den Hoteldetektiv, den Empfangschef, Monsieur Dulac, den Hausknecht, den Zimmerkellner und die beiden Zimmermädchen, den Antiquitätenhändler, die beiden Kriminalkommissare und Colonel Gizzard und auch Seine Exzellenz Vangon, den Generaldirektor der Weltausstellung. Dann glitt Morris’ Blick zu dem Tisch vor dem Richter. Er überzählte schnell die Dokumente, sah dort seine Reisemütze, die Shagpfeife, den Reisemantel und den leeren Geigenkasten, die dort als Corpora delicti aufbewahrt lagen.
»Es ist alles da, Herr Vorsitzender«, sagte er. »Wir können anfangen.«
Ein Blick des Vorsitzenden genügte, um die aufkommende Heiterkeit im Saal sofort wieder verstummen zu lassen. Er begann seines Amtes zu walten.
»Ich eröffne die Hauptverhandlung gegen Morris Flynn, geboren am 10. Juni 1880, und Mackie MacMacpherson, geboren am 15. Mai 1885, beide in London gebürtig. Sie sind gemeinsam angeklagt:
1. der vorsätzlichen Eisenbahngefährdung durch Anhalten eines Zuges auf offener Strecke unter Entwendung der dazu notwendigen Dienstutensilien;
2. Der Nötigung von Beamten im Dienst;
3. der Amtsanmaßung durch Vornahme nichtberechtigter Paßkontrolle und Untersuchung von Passagieren;
4. des Diebstahls zweier Eisenbahnkarten und unberechtigter Benutzung zweier Schlafwagenplätze;
5. der Zechprellerei und des Betruges durch Nichtbezahlen der Hotelrechnung;
6. des schweren Betruges zur Erlangung eines Vermögensvorteils durch falsche Legitimation, erschwert durch den Umstand, daß eine gröbliche Irreführung der Behörden vorliegt, und endlich
7. der Hochstapelei durch unberechtigte Beilegung der Namen bekannter Persönlichkeiten.«
Die beiden Angeklagten saßen auf dem Armesünderbänkchen, als ginge sie das alles gar nichts an. Ihre Aufmerksamkeit war anderweitig in Anspruch genommen. Auf der letzten Zuhörerbank hatten sie Mary Berry und Jane Berry entdeckt.
Sie saßen zwischen dem alten Diener Jean und dem Rechtsanwalt Dr. Balderin. Freundliches Grüßen herüber und hinüber. Die Mädchen hoben die Fäuste – aber nicht um zu drohen, sondern damit Mackie und Morris sehen sollten, daß sie die Daumen für sie drückten. Mackie warf ihnen mit seiner gesunden Hand eine Kußhand zu.
Der Vorsitzende bemerkte die Kußhand nicht, weil er aus der Anklageschrift weiter vorlas.
»In der Voruntersuchung haben die beiden Angeklagten sich dieser Straftaten schuldig bekannt, mit einer Einschränkung, nämlich daß all ihren Unternehmungen keine verbrecherischen Absichten zugrunde lägen.«
Der Vorsitzende änderte seine Tonart und legte die Anklageschrift nieder. »Angeklagter Flynn, bleiben Sie bei diesem Geständnis?«
Der Angeklagte erhob sich. »Jawohl!« Er blieb dabei.
»Angeklagter MacMacpherson«, wandte der Vorsitzende sich an Mackie, »sagen Sie …«
»Der hat überhaupt nichts zu sagen«, unterbrach ihn Flynn, »er ist nur mitgekommen.«
»Sie haben zu schweigen«, wies der Vorsitzende ihn zurecht. »Antworten Sie nur, wenn Sie gefragt werden.«
Flynn setzte sich wieder.
»Also, Angeklagter MacMacphenson, bleiben Sie auch bei Ihrem Geständnis ?«
»Ich bitte«, bemerkte der Angeredete bescheiden, indem er sich erhob, »daß mein Freund Morris Flynn antworten darf, wenn Sie mich fragen.«
Das Publikum jubelte.
Der Vorsitzende schwang seine Glocke. Man beruhigte sich schnell, weil sich sowohl der Staatsanwalt als auch die Beisitzer im gleichen Augenblick erhoben. Dann erst fuhr der Vonsitzende fort: »Angeklagter Flynn, was bezweckten Sie mit Ihrer Hochstapelei?«
Die Antwort kam allen überraschend. »Wir wollten der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen«, erklärte er schlicht.
Das Publikum hielt den Atem an, doch nur für einen Augenblick. Dann setzte ein brüllendes Gelächter ein, gegen das der Vorsitzende vergeblich anzukämpfen suchte. Er schwenkte die Hand auf und ab, als winke er seiner Autorität ein Lebewohl zu. Es war aus. In der ersten Runde erledigt.
Der Staatsanwalt sprang in die Bresche. Seine hagere Gestalt reckte sich steil an der Schmalseite des Richtertisches auf. »Sie sind hier vor Gericht!« rief er schneidend. »Unterlassen Sie ihre Witze!«
Flynn besah sich den Mann.
»Es ist mein heiligster Ernst«, beteuerte er mit der Miene gekränkter Unschuld. »Glauben Sie uns etwa nicht?«
»Aber, Angeklagter«, warf der Vorsitzende vorwurfsvoll ein, »Sie können uns doch nicht weismachen, daß sie stehlen, hochstapeln und betrügen, um hier als ein Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit zu erscheinen.«
»Warum nicht? Es ist so. Für Recht und Gerechtigkeit!«
»Ich bitte ums Wort«, meldete sich wieder der Herr Staatsanwalt. »Ich werde die wahren Motive der Angeklagten klarlegen.« Der Vorsitzende erteilte ihm die Erlaubnis zum Sprechen.
»Da bin ich neugierig«, sagte Flynn und setzte sich wieder neben Mackie.
»Lassen wir ihn auch mal kombinieren«, flüsterte der wohlwollend Morris zu.
Die neu aufsprudelnde Welle der Heiterkeit verebbte. Der Staatsanwalt begann. Mit einem großen Aufwand an geistiger Schärfe führte er sehr geschickt aus, wie er sich die Sache dachte. Aus Anlaß einer solchen Weltausstellung, meinte er, befänden sich derzeit viele reiche Leute in Brüssel. Die reichsten Leute aus der ganzen Welt. Reiche Leute hätten immer Sorgen, das liege in der Natur der Sache. Je mehr Geld sie hätten, desto mehr Angst hätten sie auch, daß ein anderer ihnen das Geld wieder abjagen könne. Was liege näher, war die Ansicht des Staatsanwalts, als die Wahrscheinlichkeit, daß sich diese armen, geplagten reichen Leute an eine Berühmtheit wie Sherlock Holmes zu wenden versuchten, der rufällig in Brüssel anwesend sei, um von ihm Rat und Hilfe zu erbitten, um ihm ihre Sorgen anzuvertrauen, ja, daß sie sicher geneigt wären, recht beträchtliche Honorarvorschüsse zu zahlen? Außerdem sei es nicht ausgeschlossen, meinte der Staatsanwalt weiter, daß die beiden Angeklagten gehofft hätten, man werde ihnen besonders kostbare Wertstücke zur Aufbewahrung anvertrauen.
»Ahnen Sie, hoher Gerichtshof«, sagte der Staatsanwalt mit erhobenem Zeigefinger, »ahnen Sie die ungeheuren Möglichkeiten eines solchen Betrugsmanövers? Wenn genug Vorschüsse, Honorare und anvertraute Kostbarkeiten beisammen sind, verschwindet man ebenso plötzlich wieder, wie man auftauchte.«
Auf der Zeugenbank seufzte der Generaldirektor der Ausstellung zustimmend.
Flynn und Mackie hörten mit Erstaunen an, was sie alles versäumt hatten. Ja, Mackie interessierte die Belehrung so sehr, daß er sofort seinen Stenogrammblock zückte und eifrig mitstenografierte.
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr der Staatsanwalt fort.
»Wie groß sind erst die Geschäfte, die ein falscher Detektiv mit anvertrauten Geheimnissen machen kann! Man kann sie weiterverkaufen. Man kann erpressen! – Meine Herren, spüren Sie die Gefährlichkeit und die Hintergründe dieses Betruges? Die Frivolität, sich mit dem Namen eines großen Verfechters des Rechtes das Vertrauen seiner Mitmenschen zu erschleichen, um es zu verbrecherischen Erpressungen zu mißbrauchen? – Ein gemeiner Gaunertrick. Dabei ohne Risiko! Gelingt der Betrug, hat man für lange Zeit ausgesorgt. Wird man erwischt, dann schweigt man sich über die wahren Motive aus und gibt dem Ganzen den Anschein eines harmlosen Gaunerstückchens, so daß man die Lacher der oberflächlichen Beobachter auf seiner Seite hat. Nicht wahr, Herr Angeklagter?«
»Großartig«, wandte Flynn sich zu Mackie. »Wieso sind wir nicht auf diese Idee gekommen?«
Mackie bedauerte es auch. »Schade.- Jetzt ist es zu spät!«
Unaufhaltsam glitt der Staatsanwalt auf der schiefen Ebene seiner logischen Schlußfolgerungen weiter.
»Jawohl, meine Herren, zu spät. Gottlob ist die Polizei Ihnen zuvorgekommen.« Er sagte es in einem Tonfall, als sei diese Tatsache sein Verdienst. »Gottlob sitzen diese beiden Männer, die der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen wollten, schon auf der Anklagebank, noch ehe sie ihr Vorhaben ausführen konnten. Und sie sind geständig. Doch welch geringfügige Strafen erwarten sie schon?
§ 315 Eisenbahngefährdung,
§ 114 Beamtennötigung,
§ 442, § 446 Diebstahl, Amtsanmaßung und Zechprellerei,
§ 362 und § 363 Betrug und falsche Legitimation – alles in allem ungefähr drei Jahre sieben Monate Gefängnis, zweitausendeinhundert Franc Geldstrafe und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf ein Jahr.«
»Direkt geschenkt«, pflichtete Flynn dem Staatsanwalt bei.
Und Mackie ergänzte in dem gleichen nebensächlichen Ton des Staatsanwalts ironisch: »Was ist das schon?«
Der Staatsanwalt überhörte es geflissentlich. »Aber die Angeklagten kalkulieren mit diesem Geständnis falsch«, verkündete er. »Ich werde bei der Festsetzung des Strafmaßes den Vorsatz genau so werten, als seien es begangene Taten.«
Mit dieser Drohung war die Anklage beendet. Man spürte, wie die Stimmung des Publikums zu dem großen, hageren Mann an der Schmalseite des Richtertisches hinüberschwenkte. Das waren Perspektiven. Daran hatte man nicht gedacht. Selbst der ewig lachende Mann war ernst geworden und blickte nachdenklich vor sich hin. Die Gesichter auf der Zeugenbank aber zeigten große Befriedigung.
In der letzten Zuhörerreihe sahen sich Mary und Jane an. Sie waren von den Ausführungen des Staatsanwalts so betroffen, daß sich ihre Fäuste öffneten und sie nicht mehr die Daumen drückten.
Dr. Balderin kaute an seinem Schnurrbart. Und der Diener Jean nickte immerzu ganz kurz und schnell hintereinander mit seinem weißen Kopf.
Der Vorsitzende forderte die Angeklagten auf, sich zu den Ausführungen des Anklägers zu äußern, widrigenfalls der Gerichtshof sich gezwungen sähe, die angeführten Beweggründe, die einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit besäßen, anzuerkennen.
Es stand nicht gut um die beiden auf der Anklagebank. Das Pendel war nach der entgegengesetzten Seite ausgeschlagen.
Doch Flynn ließ sich nicht entmutigen. Er hatte einen Verteidiger abgelehnt und ergriff selbst das Wort. »Ich überlasse es dem Herrn Staatsanwalt, sich auf das Gebiet psychologischer Spekulationen zu begeben, und ziehe es vor, keine Theorien zu entwickeln. Ich habe nur Tatsachen. Darf ich die vorbringen?«
»Wir bitten darum«, sagte der Vorsitzende.
Der Staatsanwalt war voll ironischer Neugierde.
»Wir leugnen nicht!«, begann Flynn, »daß wir uns in mehr als einer Hinsicht strafbar gemacht haben. Wir haben eine Signallampe entwendet, wir haben den Nordexpreß angehalten, haben uns zwei Fahrkarten angeeignet und zwei Bettplätze benutzt, ohne sie zu bezahlen. Wir haben eine Paßrevision vorgenommen und die bereitwillige Unterstützung der Herren Beamten nicht zurückgewiesen. – Das Anhalten des Zuges war ein notwendiges Übel, wie ich Ihnen sogleich beweisen werde.«
Unter den Eisenbahnbeamten auf der Zeugenbank machte sich Unruhe bemerkbar, als sich der Angeklagte ihnen zuwandte und um Entschuldigung bat, während er ihnen zugleich seinen Dank abstattete. Im Namen der Gerechtigkeit.
»Wir haben«, nahm er seine Verteidigungsrede wieder auf, »ein Appartement im Palace Hotel bezogen. Sie nennen es Zechprellerei, wir nennen es ein Kredit-geschäft. Denn wir haben nie die Absicht gehabt, uns unseren Zahlungsverpflichtungen zu entziehen. Am Ende der Verhandlung werden wir durch die uns zufallenden Belohnungen in der Lage sein, den geringfügigen Betrag ohne irgendwelche Schwierigkeiten auszugleichen.«
»Geringfügigen Betrag?« entrüstete sich der Empfangschef und sprang von der Zeugenbank auf. »Fünfhundertvierundsechzig Franc, Monsieur!«
»Fünfhundertvierundsechzig Franc?«
»Die Zimmer sind bis heute noch immer nicht abbestellt«, belehrte der Empfangschef Morris.
Vorwurfsvoll wandte Flynn sich an Mackie.
»Du hast die Zimmer nicht abbestellt?«
»Nein, ich dachte, wir brauchten sie noch.«
Flynn fand das gar nicht so dumm von Mackie. »Lassen Sie das Appartement auf unseren Namen weiterlaufen«, wandte er sich wieder zum Empfangschef. »Wir kommen nachher gleich hin.«
Das Publikum atmete auf, und die bedrängten Herzen schafften sich in einem Gelächter Luft, bis sich die Glocke des Vorsitzenden wieder durchsetzte.
»Angeklagter, bleiben Sie bei der Sache!«
»Entschuldigung, Herr Vorsitzender!«
Mit einer kleinen Verbeugung quittierte Flynn den Einwand und fuhr fort: »Es wird uns vorgeworfen, wir hätten uns als Sherlock Holmes und Doktor Watson ausgegeben. – Nicht ein einziges Mal haben wir das getan! Im Gegenteil : Wir haben es bestritten, wo wir nur immer konnten.«
»Das ist es ja eben«, fuhr der Staatsanwalt ihm in die Parade, »gerade durch diese Beteuerung, daß Sie es nicht seien, bestärkten Sie Ihre Opfer in dem Glauben, daß Sie es doch seien. Das war ja ihr Trick!«
»Trick? Aber Herr Staatsanwalt! Hätten wir vielleicht zugeben sollen, daß wir es sind, damit die armen Opfer glauben, daß wir es nicht sind?« Flynn war sehr entrüstet.
Im Publikum rauschte erneut Gelächter auf. Der Staatsanwalt beharrte auf seinem Standpunkt: »Bei der Polizei haben Sie durchaus nicht bestritten, daß Sie Sherlock Holmes sind«.
»Dort hat man mich gar nicht danach gefragt«, entgegnete Flynn schlagfertig. »Dort hat man uns sehr höflich gebeten, einen Fall zu übernehmen, und wir haben ihn übernommen. Alle Herren schätzten sich glücklich, daß wir ihn übernommen haben. – Nicht wahr, Herr Kriminalrat?«
Der Chef der Kriminalpolizei sprang auf. Obwohl er aus seiner Praxis wußte, daß sich alle Leute, die ein schlechtes Gewissen haben, in den Affekt retten, tat er das gleiche. »Sie haben sich in infamster Weise als Sherlock Holmes in unser Vertrauen geschlichen!« Er zitterte vor Wut.
»Geschlichen?« fragte Flynn ironisch. »Mackie, haben wir uns in das Polizeipräsidium eingeschlichen?«
»Nö. Diese drei liebenswürdigen Herren dort haben uns in einem Auto abgeholt, und wir wurden mit großer Freude empfangen. ›Willkommen, herzlich willkommen!‹ haben sie gerufen.«
Der Vorsitzende räusperte sich. Er fuhr mit der Hand über den Mund, um ein Lächeln wegzuwischen. Auch die beiden Beisitzer klemmten die Mundwinkel ein.
Flynn kam jetzt in Fahrt: »Es war ein herzlicher Empfang. Und es war gleich Kontakt da. Wir dachten, Vertrauen gegen Vertrauen, und machten uns an die Arbeit. Sofort. Und gründlich. Tag und Nacht. Und mit Erfolg. – Und da der Herr Staatsanwalt besonderes Gewicht auf unsere tiefen, angeblich so verbrecherischen Absichten legt, will ich jetzt beweisen, daß nur die lautersten Motive uns geleitet haben.«
Flynn trat auf den Richtertisch zu und nahm die Einzahlungsbelege und den Aufgabeschein auf.
»Vor einigen Wochen wurden nacheinander drei freche, geniale Einbrüche verübt. In Amsterdam, in Cherbourg und in London. Zweimal wurden große Belohnungen für Hinweise, die auf die Spuren der Täter führten, ausgeschrieben. Wir haben die beiden gefährlichen Bankräuber entdeckt. Sie saßen im Expreßzug, den wir anhielten. Sie sehen also, wie notwendig es war, ihn anzuhalten. – Es handelt sich um zwei berühmte Spezialisten auf ihrem Gebiet, die bisher nirgends gefaßt werden konnten. Nicht nur alle staatlichen Kriminalisten sind hinter ihnen her, sondern auch Pinkerton’s National Detective Agency in Nordamerika versucht seit Jahren vergeblich, diese beiden Burschen zu fassen. Der eine von ihnen ist Billy Davenport, der der erste war, dem es gelang, das neu erfundene Yaleschloß aufzubekommen. Jetzt können sie beide unschädlich gemacht werden. Wir haben sie der Polizei in die Hände gespielt. Wir haben ihnen den Raub abgenommen und den geschädigten Banken die gestohlenen Summen, nahezu eine halbe Million, auf Heller und Pfennig, wie diese Postquittungen beweisen, wieder zurückgezahlt.«
»Die dechiffrierten Pläne!« soufflierte Mackie neben ihm aus seinem Stenogrammblock.
Flynn nickte und wandte sich an den Polizeidirektor, der neben dem Mann, der immer lachte, auf der Zuhörerbank saß. «Der Herr Polizeidirektor hat vor einigen Tagen dechiffrierte Pläne zu einem Bankeinbruch in Toulon zugeschickt erhalten, nicht wahr?«
»Jawohl«, bestätigte der Polizeidirektor verwundert.
»Daraufhin konnte dieser Bankeinbruch vereitelt und die Täter auf frischer Tat ertappt werden.«
Auch das mußte der Polizeidirektor zugeben.
»Diese Benachrichtigung war nicht mit Unterschriften gezeichnet, sondern mit Daumenabdrücken.«
Wiederum stimmte es.
»Haben Sie, Herr Polizeidirektor, im Verbrecheralbum nachgesehen, wer zu diesen Daumenabdrücken gehört?«
»Selbstverständlich.«
»Aber Sie haben dort nichts gefunden?«
Der Polizeidirektor schüttelte den Kopf.
»Das ist auch nicht gut möglich«, triumphierte Flynn, »denn es sind unsere Daumen gewesen. Bitte, überzeugen Sie sich.«
Auf seinen Wink hin ging Mackie zu dem Tisch des Gerichtsschreibers und lieh sich dort ein Stempelkissen aus. Flynn drückte seinen Daumen darauf, Mackie ebenfalls, und dann bat er den Polizeidirektor, sich etwas näher zu bemühen. Morris schob ihm den Ärmel seiner Uniform etwas zurück, und dann drückten er und Mackie ihre Daumen auf die weiße, steife Manschette.
Morris Flynn und Mackie MacMacpherson standen da wie Schauspieler nach einem guten Aktschluß. Das Publikum tobte. Leider gab es keine Vorhänge in dem Saal.
Der Vorsitzende ließ den Beifallssturm ausrasen. Was sollte er auch unternehmen?
Flynn verschaffte sich selbst Ruhe, indem er abwinkte.
Mackie soufflierte ihm ein neues Stichwort: »Lombard.«
Flynn nickte.
»Das ist noch nicht alles. Wir haben noch eine andere Kleinigkeit erledigt. Dem Herrn Kriminalrat ist es gelungen, eine große Fälscherbande auffliegen zu lassen, zu der die beiden genannten Gauner gehören. Diese internationale Bande konnte jahrelang nicht gefaßt werden. Wir, mein Freund Mackie und ich, haben sie aufgespürt, und dadurch war es auch möglich, die zahlreichen Zweigstellen in anderen Ländern unschädlich zu machen. Ein triumphaler Erfolg der Polizei. – Aber das ist noch nicht alles.«
Der Polizeidirektor stand immer noch mit dem hochgestreiften Armel seines Uniformrockes da und blickte auf Morris und Mackie. Auch der Chef der Kriminalpolizei war aufgesprungen. Der Vorsitzende, der Staatsanwalt, die Beisitzer, alle hingen an Flynns Mund.
Der schnipste ein klein wenig mit Daumen und Zeigefinger zur Seite. Mackie verstand und soufflierte: »Mauritiusmarken.«
Morris nickte dankend. »Ich komme zur Hauptsache. Exzellenz Vangon, der Direktor der Weltausstellung, und die Herren der Polizei haben uns in einer außergewöhnlichen Sache um Hilfe gebeten. Wir haben geholfen.«
Seine Exzellenz stürzte aus der Zeugenbank heraus und lief bis zur Mitte des Gerichtssaales.
»Wirklich?« rief er. »Sie haben …«
»Jawohl, wir haben«, nickte Flynn mit betonter Zurückhaltung. Er wandte sich wieder zum Richtertisch. »Herr Vorsitzender, wollen Sie bitte an der Uhr, die vor Ihnen liegt, den Deckel öffnen.«
Der Richter nahm die bezeichnete Uhr auf, es war die Uhr mit dem schwarzen Seidenband, die dem Chef der Bande gehörte. Der Richter ließ den Deckel aufspringen. Atemlose Spannung herrschte. Exzellenz Vangon stand da, als wollte er im nächsten Augenblick vornüber fallen.
»Bitte?« fragte der Vorsitzende, der die Uhr mit dem geöffneten Deckel in der Hand hielt.
»Was ist drin?« fragte Flynn siegesgewiß und blickte dabei an die Decke.
Der Vorsitzende blickte in die Uhr und dann auf. »Nichts«, sagte er.
Das Publikum kicherte.
Einen Herzschlag lang geriet Flynn aus der Fassung. Mackie hielt die Barriere vor der Anklagebank umklammert und sah überrascht zu Morris auf. Aber der hatte sich schon wieder gefangen.
»Andersherum. Bitte den hinteren Deckel zu öffnen.«
Der Vorsitzende griff nach dem vor ihm liegenden Brieföffner und bohrte damit an der Uhr herum. Alle Anwesenden verfolgten mit angespanntester Aufmerksamkeit seine Bemühungen.
Der einzige, der nicht hinschaute, war Flynn. Er blickte wieder an die Decke. Er schien völlig sicher zu sein, doch innerlich zitternd erwartete er mit nervöser Spannung den überraschten Ausruf des Vorsitzenden.
Es kam kein Ausruf. Der hintere Deckel der goldenen Uhr war aufgesprungen, und der Vorsitzende betrachtete ihn genau. Seine Exzellenz Vangon hatte die Neugierde nicht mehr an seinem Platz gelassen. Er war zum Richtertisch geschlichen, stellte sich auf die Zehenspitzen und starrte gleichfalls auf die Uhr.
»Die Marken sind nicht da«, sagte er mit verlöschender Stimme und wandte sich zu Morris.
Flynn setzte in elegantem Sprung über die Barriere hinweg und stürmte zum Richtertilsch. Er riß Seiner Exzellenz die Uhr aus der Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Die Uhr war leer.
Ach, das geheimnisvolle Zauberkunststück funktioniert wohl nicht«, lächelte ironisch der Staatsanwalt.
Flynn war blaß vor Wut und Enttäuschung. Man hatte ihm, als man ihn in das Untersuchungsgefängnis führte, alles abgenommen. Auch diese Uhr. Aber es war unmöglich, daß man sie geöffnet und die Marken herausgenommen hatte. Alle Sachen waren vor seinen Augen sicher eingeschlossen worden.
Er blickte auf Mackie. »Verflucht! Leer, Mackie! Jetzt können wir von vorn anfangen.«
»Aus«, sagte Mackie nur.
Da nahm Morris Flynn in aufwallender Wut die Uhr und schmetterte sie mit voller Wucht auf den Boden. Exzellenz Vangon fuhr vor Schreck zusammen und flüchtde sich wieder auf die Zeugenbank. Mit ingrimmigem Gesicht stand Morris da. Wie ein wildes Tier blickte er in die Runde.
Da sprang auf einer der Zuhörerbänke jemand auf, kletterte über die vor ihm Sitzenden hinweg, schlüpfte durch die breiten Sprossen der Barriere und lief zum Richtertisch. Es war Erwin Putzke. Der Junge hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, der Verhandlung beizuwohnen. Alle Hotelboys und Pikkolos waren mit ihm gegangen. Er hatte ihnen in dicken Tönen erzählt, welchen Triumph heute sein Freund bei der Verhandlung erleben würde. Sein Gefühl schwankte während der ganzen Zeit zwischen Enttäuschung und Bewunderung, wobei auf die Dauer aber die Bewunderung die Oberhand behielt. Die Niederlage, die sein Freund und Held hier erlitt, traf ihn persönlich. Er hatte von oben mit seinen sachverständigen Augen etwas erblickt. Er warf sich dicht vor dem Richtertisch flach auf den Boden. Sein Hände griffen in die Rädchen und Federn der Uhr. Die Angeklagten und Seine Exzellenz sahen ihm verwundert zu.
»Sie sind es! Sie sind es!« brüllte Erwin Putzke plötzlich.
Morris und Mackie und Seine Exzellenz Vangon brachen neben ihm auf die Knie.
Die Richter hatten sich von ihren Plätzen erhoben und beugten sich über den Richtertisch.
Alles starrte auf die paar Gramm Gold und die Glassplitter, die über den Fußboden hin verstreut lagen.
»Die echten Mauritiusmarken!« flüsterte Erwin Putzke fast tonlos vor Erregung und zeigte auf die vier bunten Blättchen, die im Innern der Uhr verborgen gewesen waren.
Das Publikum war von den Bänken aufgestanden und drängte nach vorn. Jeder wollte sehen, was der Junge dort am Boden gefunden hatte. Die Barriere, die den Zuschauerraum vom Gerichtssaal trennte, knackte bedenklich, und die Gerichtsdiener hatten alle Mühe zu verhindern, daß sie unter dem Ansturm der Massen zusammenbrach.
Mary und Jane waren auf die Bank gestiegen.
Erwin Putzke hatte aus den Taschen seines neuen karierten Anzugs ein Miniaturwarenlager herausgezogen, das jeder echte Junge mit sich herumführt, angefangen bei einem Stückehen Bindfaden über Siegellack und Nägel bis zu einer Pinzette, mit der er vorsichtig, eine nach der anderen, die kostbaren Marken aufnahm.
»Wir haben sie«, sagte der kleine Philatelist aus Rixdorf glücklich und hielt die vier Marken auf der flachen Hand. »Die beiden roten und die beiden blauen.«
Flynn nahm dem Jungen die Marken ab und reichte sie an Seine Exzellenz weiter. »Voilà!« sagte er.
Der Staatsanwalt hatte ebenfalls seinen Platz verlassen und betrachtete die Marken in der vor Glück zitternden Hand des Moillsieur Vangon.
»Herr Staatsanwalt, das Zauberkunststück ist geglückt.«
»Tausend Dank«, rief Seine Exzellenz. »Tausend, tausend Dank!«
Das Publikum brach in stürmischen Applaus aus.
Seine Exzellenz hatte vor Seligkeit fast den Verstand verloren, das heißt, soweit ihn eine Exzellenz überhaupt verlieren kann. Er zeigte die seltensten Marken der Welt jedem, der sie sehen wollte. Und wer wollte sie schließlich nicht sehen? Alles lief zu ihm, sogar der Vorsitzende verließ seinen Platz, um diese wiedergefundenen Kostbarkeiten zu bestaunen.
Morris und Mackie standen allein. Mackie reichte Morris die Hand und drückte sie kräftig.
»Gratuliere, Morris!«
»Danke.«
»Du bist das Dollste, was ’raus ist.«
»Und du hast wieder gedacht, es ginge schief, was?« lachte Morris. Man merkte ihm an, daß ihm ein Stein vom Herzen gefallen war.
»Ja, entschuldige bitte. Es war das letztemal.Ich danke dir, daß du mich mitgenommen hast.«
»Bitte, bitte«, sagte Morris und klopfte seinem Freund auf den Rücken.
»Darf ich weiter mitmachen?« fragte Mackie bittend.
»Natürlich – was wär’ ich ohne dich!«
Mackie nickte. Er sah das ein.
Jetzt kam der Generaldirektor der Weltausstellung mit weit ausgebreiteten Armen auf Morris und Mackie zu.
»Aber, Eure Exzellenz«, wich Flynn lachend der Umarmung aus, »ich dachte, der Fall sollte geheim bleiben?«
»Ach was!« rief Seine Exzellenz. »Geheim bleiben! Alle sollen es wissen. Alle sollen sich freuen! – Herr Vorsitzender, ich habe eine Erklärung abzugeben: Diese vier Marken wurden auf der Weltausstellung gestohlen und frech durch Fälschungen ersetzt. Man hat sie mir wiedergebracht. Ich danke ihm. Mir bleibt nichts übrig, als ihm hier in voller Öffentlichkeit meinen Dank abzustatten.«
»Hurra! Hoch!« schrie Erwin Putzke begeistert. Dann erschrak er und schämte sich fürchterlich. Das brauchte er nicht. Denn auch Seine Exzellenz schrie: »Hurra!«
»Hurra!« jubelte das Publikum.
Mary und Jane, der alte Jean und Dr. Balderin klatschten in die Hände.
Der Mann, der immer lachte, begann vor Freude mit den Füßen Beifall zu trampeln. Es war eine Szene, wie sie noch nie ein Gerichtssaal erlebt hatte. Der Vorsitzende war wieder auf seinen Platz zurückgegangen und schwang die Glocke.
»Bitte zur Ordnung!« rief er. Er war aber nicht mehr entrüstet, sondern befand sich ebenflls in freudiger Aufregung.
»Bitte zur Ordnung! Ich bitte die Herren vom Gericht und von der Polizei, mit gutem Beispiel voranzugehen und sich wieder auf die Plätze zu begeben. Und Sie, meine Herren Angeklagten, gehören auf die Anklagebank. Bitte, bitte, vergessen Sie doch nicht, wo wir sind! Ich bitte Sie sehr. Noch befinden wir uns hier in einem Gerichtssaal.«
Alles gehorchte. Die Polizeibeamten schlichen auf ihre Plätze zurück und die Angeklagten ins Körbchen. Es wurde wieder still.
»Mister Flynn und Mister MacMacpherson, warum haben Sie das alles nicht vorher gesagt?« fragte der Vorsitzende ernst und mit leisem Vorwurf.
Morris und Mackie blickten sich einen Augenblick schmunzelnd an.
»Jetzt los!« sagte Mackie und steckte den Stenogrammblock weg. Was jetzt kommen sollte, hatten sie genau einstudiert.
Sie stellten sich beide an die Barriere. Morris zögerte eine Sekunde, und dann begann er: »Wir müssen den Hohen Gerichtshof um Entschuldigung bitten. Doch es gehörte mit zu unseren dunklen Absichten, unsere verbrecherischen Motive nur in der denkbar größten Öffentlichkeit bekanntzugeben. Darum haben wir bis zu diesem Augenblick geschwiegen.«
»Wir bitten die Herren von der Presse«, rief Mackie zu dem Berichterstattertisch hinüber, »von nun an besondevs aufzupassen.«
»An einem regnerischen Nachmittag«, fing Flynn wieder an, »saßen mein Freund Mackie und ich ziemlich erledigt ganz oben in der Shaftsbury Avenue dreihundertelf, sechste Etage, in unserem kleinen Detektivbüro ›Argus‹ – Wir hatten nur noch vier Pfund.«
»Und ich Zahnschmerzen«, ergänzte Mackie.
»Das Büro war seit zwei Monaten nicht geheizt« – Morris sprach abwechselnd zum Richtertisch und zu den Zuhörern –, »denn wir bekamen keine Aufträge. Sie wissen nicht, was es bedeutet, wenn man monatelang nur Material zu Ehescheidungen beibringen soll, und Sie wissen auch nicht, wie uninteressant und wenig befriedigend es ist, heimlich zu erkunden, ob ein Zuckerbäcker wirklich das angegebene Kapital besitzt, um sich an einer Seifenfabrik beteiligen zu können. – Nach langem, eifrigem Überlegen sind wir auf den Fehler unseres Unternehmens gekommen.«
»Unser Geschäftsschild ›Detektivbüro Argus‹ war zu klein und hing zu hoch«, sagte Mackie, »man hätte selbst Argus sein müssen, um es zu entdecken.«
»Richtig!« bestätigte Flynn.
»Und da kam mein Freund Morris auf eine geniale Idee.«
Flynn löste wieder seinen Freund ab: »Wir kauften uns von unserem letzten Geld ein anderes Aushängeschild. Nämlich eine Reisemütze, einen karierten Ulster, eine Shagpfeife und eine Geige mit einem Geigenkasten. Alles, was Sie dort sehen. – Von diesem Augenblick an florierte unser Geschäft.«
Mackie nickte bestätigend.
»Als Sherlock Holmes und Doktor Watson bekamen wir Aufträge, die der kleine Privatdetektiv Morris Flynn und sein Büroangestellter Mackie MacMacpherson nie bekommen hätten. – Sogar die Polizei wandte sich an uns. Und wir durften zeigen, daß wir etwas können.«
»Das ist unsere Absicht gewesen«, triumphierte Mackie.
»Das sind unsere dunklen Hintergründe«, beteuerte Flynn.
»Das wollten wir erreichen!«
»Der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen!«
»Jetzt und immerdar!« schloß Mackie.
Es war eine so weihevolle, andächtige Stille eingetreten, daß Mackie auch ruhig hätte »Amen« sagen können. Sie verneigten sich beide vor dem Richtertisch und setzten sich wieder.
»Freie Bahn dem Tüchtigen!« schrie plötzlich Erwin Putzke aus Berlin in mitreißendem Fanatismus. Er brach den Bann.
Aber an der Schmalseite des Richtertisches erhob sich der Staatsanwalt. Er war Flynns Verteidigungsrede mit ernstem Gesicht aufmerksam gefolgt. Jetzt stand er da wie ein Ausrufezeichen. »Ich bitte ums Wort«, sagte er sehr leise. Im Saal wurde es still. »Tatsachen«, gestand der Vertreter der Anklage, »überzeugen mehr als Theorien! Ich bin bekehrt!«
Der wieder ausbrechende, tumultartige Beifall belehrte ihn, daß das Publikum mit ihm einer Meinung war. Aber der Staatsanwalt schenkte dem keine Beachtung. »Es liegt in der Macht des Gerichts«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »die Vergehen und die Leistungen dieser beiden Männer in die Waagschalen der Gerechtigkeit zu legen. Ich zweifle nicht daran, daß die Waagschale der Straftaten leicht und schnell in die Höhe gehoben wird durch das Gewicht der überzeugenden Erfolge.«
Flynn und Mackie verbeugten sich dankend. Der letzte Gegenspieler war umgeschwenkt. Es blieb kein Zweifel über den Ausgang der ganzen Szene.
Der Staatsanwalt jedoch erhob die Hand.
»Aber eines ist das Gericht nicht befugt zu verzeihen: den Mißbrauch des Namens und der Person von Sherlock Holmes! – Seine Interessen muß ich trotzdem hier als Ankläger vertreten.«
Aller Augen wandten sich zu Morris. Der war bereits von der Anklagebank aufgestanden. »Warum Sie, Herr Staatsanwalt? Warum nicht Sherlock Holmes selbst? – Wo ist er, der einzig Geschädigte?«
»Hier!« erscholl eine laute Stimme aus dem Publikum.
Während alle Köpfe herumfuhren, erhob sich neben dem Polizeidirektor der Mann, der immer lachte. Der Mann in graukariertem Ulster, der für Flynns Auftreten immer so viel Interesse gezeigt hatte, schritt durch die Klapptür der Barriere. Auch jetzt ließ sein Gesichtsausdruck den Ernst vermissen, den er der Würde des Gerichts schuldig war.
»Ich bin der Geschädigte«, erklärte er vergnügt.
Flynn starrte ihn an, als sehe er ein Gespenst.
»Ich bitte den Herrn Staatsanwalt, mich die Interessen Sherlock Holmes’ vertreten zu lassen«, sagte der Mann mit den blauen Augen und dem struppigen Schnauzbart.
»Warum Sie?« fragte der Vorsitzende und bat den Unbekannten, näher zum Richtertisch zu treten.
»Sherlock Holmes ist mein Kind«, antwortete der Fremde lachend. »Sherlock Holmes hat es nie gegeben. Er hat nie gelebt. Er ist ein Kind meiner Phantasie.«
Das Publikum wunderte sich. Einige schüttelten die Köpfe. Die meisten von ihnen hatten Sherlock Holmes für lebendig gehalten. Die literarische Gestalt war für sie Wirklichkeit geworden.
»Wer sind Sie?« erkundigte sich der Vorsitzende.
»Mein Name ist Arthur Conan Doyle.«
»Der Schriftsteller Sir Conan Doyle?« fragte der Vorsitzende interessiert.
»Jawohl«, bestätigte Conan Doyle. Und dann wandte er sich zur Anklagebank. Er reichte den beiden Freunden die Hand.
»Sie haben meinem Sherlock Holmes«, sagte der Schriftsteller, »für kurze Zeit Leben und Gesicht gegeben. Das war großartig von Ihnen!«
Und als er jetzt das verdutzte Gesicht von Morris sah und zum erstenmal dessen scharfes Profil und seine klaren, hellen Augen so dicht vor sich erblickte, überwältigte es ihn von neuem, und er lachte. Er lachte herzlich und schallend.
Das Publikum lachte mit. In Wellen pflanzte sich das Gelächter fort bis auf die Gerichtskorridore, bis hinaus auf die Straße, wo eine große Menge sich eingefunden hatte, um das Ergebnis des Prozesses abzuwarten. Es lachten der Vorsitzende, die Richter, die Schöffen und selbst der Staatsanwalt, soviel er sich auch Mühe gab, es zu verbergen.
Sir Arthur Conan Doyle wandte sich an alle Anwesenden: »Die Taten Sherlock Holmes’, die ich von seinem Freund Doktor Watson, den es auch nie gegeben hat, niederschreiben ließ, sind die Heldentaten unbekannter Kriminalisten, unbekannter Polizisten und unbekannter Privatdetektive vom Schlage des Mister Flynn und des Mister MacMacpherson.
Allen diesen unbekannten Kämpfern für das Recht habe ich in der Figur des Shedock Holmes in meinen Büchern ein Denkmal setzen wollen.«
Dann ergriff er die Hände von Morris und Mackie und schüttelte sie kräftig und bat: »Aber eine Bitte müssen Sie mir als Entschädigung erfüllen.«
»Von Herzen gern«, versicherte ihm Flynn . »Verlangen Sie, was Sie wollen.«
»Lassen Sie mich ihre Geschichte schreiben. Sie soll heißen: ›Der Mann, der Sherlock Holmes war‹.«
»Einverstanden!«
Flynn reichte ihm die Hand, die der Schriftsteller herzlich drückte.
»Okay«, sagte Mackie und trennte die beiden Hände durch eigenen Handschlag.
Der Vorsitzende hatte sich schnell mit seinen Beisitzern besprochen. Er stand auf. Alle erhoben sich und erwarteten stehend das Urteil.
»Das Gericht hat beschlossen, das Verfahren gegen die Angeklagten Morris Flynn und Mackie MacMacpherson niederzuschlagen.«
Als die beiden Freunde endlich durch Abtasten feststellen konnten, daß ihre Arme und Hände noch vorhanden seien – die unzähligen Händedrücke, die sie hatten austeilen müssen, hatten sie daran zweifeln lassen –, begannen sie sich nach Jane und Mary umzusehen. Sie waren aber umringt, und es schien keinen Ausweg zu geben.
»Hoch!« schrie man.
»Hoch Mac und Morris !«
In dem Gewühl sah Flynn einige zum Himmel ausgestreckte Armpaare. Es waren der Rechtsanwalt Dr. Balderin, der alte Diener Jean und, was Flynn am meisten freute, die beiden Mädchen, die sich zu ihnen durchzukämpfen versuchten.
Auch Mackie hatte sie entdeckt. Er winkte ihnen begeistert.
»Bitte, kommen Sie gleich mit mir ins Polizeipräsidium, Mister Flynn«, bat der Polizeidirektor. »Vergessen Sie nicht, Ihre Belohnung abzuholen. Und außerdem habe ich einen neuen Fall für Sie. Dreifacher Betrug und Urkundenfälschung. Sehr interessant!«
»Sofort, Herr Polizeidirektor«, antwortete Flynn, ohne dabei die Mädchen aus dem Auge zu lassen, »aber erst habe ich einen anderen Fall zu erledigen, das heißt, wenn er sich nicht von allein löst.« Er faßte Mackie bei der gesunden Hand und zog ihn durch die Menge.
Vor dem verlassenen Richtertisch stand der Hoteldetektiv und betrachtete aufmerksam den Reisemantel, die Reisemütze und die Shagpfeife. Er sah sehr nachdenklich aus. Neben ihn trat Conan Doyle. Er ahnte, welche Betrachtungen der junge Kriminalist anstellte. »Sie«, redete er ihn an und tippte ihm dabei auf den Arm, »das geht nur einmal. – Wiederholen kann man das nicht.«
Der Hoteldetektiv nickte.
In dem Gedränge hatten Mary und Jane ihre Begleiter verloren. Sie standen mit dem Rücken an die Wand gedrückt, unfähig, sich einen Zoll weiterzurühren.
»So geh doch allein zu ihm«, ermunterte Jane die Schwester.
»Er sucht dich schon und wartet auf dich.«
»Auf mich?« meinte Mary ungewiß, »Geh du doch hin, vielleicht wartet er auf dich.«
Jane tat, als zwänge die Ahnungslosigkeit ihrer Schwester sie, die Augen zu verdrehen. Aber es war nicht echt. Doch Jane war stolz. Sie sicherte sich so am besten den Rückzug, wenn Morris tatsächlich nicht sie erwählen würde.
Während die beiden Freunde Schulter an Schulter gegen die Menschenmauer ankämpften, ließen sie den blonden und den dunklen Kopf nicht aus den Augen.
»Vielleicht kannst du mir jetzt sagen«, meinte Mackie, der alle Mühe hatte, den Freund nicht zu verlieren, »vielleicht kannst du mir jetzt sagen, für welche du dich entschieden hast.«
»Kombiniere!« sagte Flynn und sprang über die Barriere.
»Alle beide?« rief Mackie voller Angst, während er ihm zu folgen versuchte.
»Nein«, sagte Flynn. Er hatte sich jetzt Luft gemacht und kam schneller vorwärts.
»Welche?« schrie Mackie ihm nach.
Er konnte nicht weiter. Denn plötzlich wurde er von einer begeisterten dicken Dame umarmt .
»Das wirst du gleich sehen«, rief Flynn zu ihm zurück.
Mackie, der sich endlich aus den Armen der Verehrerin befreit hatte, sah, daß Flynn vor den Mädchen stand, sah, wie sich die drei herzlich begrüßten. Mackie trat nach hinten aus, hieb mit seinem gesunden Arm um sich und kam rechtzeitig genug, um zu hören, wie Flynn streng fragte: »Wer von euch beiden ist auf den Einfall gekommen, uns die Polizei auf den Hals zu hetzen?«
Mary erblaßte vor Schreck.
»Wir dachten …«, stotterte Jane, »wir haben es doch gut gemeint.«
»Das interessiert mich nicht«, antwortete Morris Flynn brüsk. »Ich will wissen, wer es war!«
Verlegen sahen die Mädchen einander an. Sie konnten sich die Strenge Flynns nur so erklären, daß sie etwas falsch gemacht hatten, Jane konnte ein leises Triumphgefühl nicht ganz unterdrücken. Sie kämpfte mit sich. Sie war bestimmt nicht auf die Idee gekommen, die Polizei zu rufen, das wußte sie sicher. Aber da Morris sie jetzt so durchdringend anschaute, zeigte sie auf ihre Schwester und sagte: »Das war sie.‹«
»Du, Mary?« fragte Flynn.
Mary nickte. Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen.
Morris sagte nichts. Er nahm Mary in seine Arme und küßte sie. Merkwürdigerweise hatte Mary gegen diese Form der Bestrafung nichts einzuwenden. Im Gegenteil: sie bedankte sich dafür und gab den Kuß zurück.
Jane sah auf das Paar. Sie hatte Charakter genug, ihre Haltung zu bewahren, wenn sie auch diese Wendung nicht beabsichtigt hatte. Sie fühlte sich plötzlich sehr allein. Darum suchte sie nach Rückhalt. Ihr Blick fiel auf Mackie. Der lächelte sie verlegen an und zupfte an seinem Schlips. Jane lächelte zurück. Er hielt dies für eine Aufforderung und trat auf sie zu, doch auf halbem Wege verließ ihn der Mut. Denn Jane wich zurück und zeigte nach unten in den Gerichtssaal.
Das Publikum, alle Zeugen und die Richter blickten nach ihnen.
»Herr Vorsitzender«, rief Mackie, »wir bitten um Ausschluß der Öffentlichkeit.«
Der Vorsitzende nickte; er ergriff die Glocke, läutete sie und sagte laut und vernehmlich: »Die Sitzung ist geschlossen!«
Dann klappte er die Akten zu.
Das beste ist, wir machen es mit dieser Geschichte jetzt genauso.