I
Es regnete nicht, es goß. Kaum sichtbar, eine einsame Spur, zog sich der Schienenstrang durch die von Regenschleiern verhängte Nacht. Die Luft troff von Feuchtigkeit, die, zu dichten Nebelschwaden geballt dampfend vom Boden wieder aufstieg. In der Stille, in der nur das monotone Rieseln des niedergehenden Regens hörbar war, begleitet vom leisen Summen der Telegrafendrähte, wirkte diese Stockfinsternis unheimlich und von unbestimmten Drohungen erfüllt.
»Wann kommt der Brüsseler Nachtexpreß?« fragte plötzlich eine Stimme.
Die Worte, die irgendwo aus der Dunkelheit herkamen, fielen, so schien es, ins Leere und wurden von der Nacht verschluckt.
Es dauerte eine ganze Weile, bis eine andere Stimme Antwort gab.
»Elf Uhr achtundvierzig. In vier Minuten.«
»Und du willst es wirklich tun?« fragte die erste Stimme wieder.
Aber diesmal gab die andere Stimme keine Antwort.
Ein Streichholz flammte auf und beleuchtete zwei Männer, die auf dem Bahndamm hockten. Der eine von ihnen, der größere, trug einen karierten Mantel und .eine Reisemütze, beides vom Regen klitschnaß. Der andere neben ihm war viel kleiner. Er hatte einen runden Hut auf, trug einen schwarzen Havelock und saß auf einem schwarzen, länglich geformten Kasten, der im ersten Augenblick wie ein Kindersarg aussah.
Da verlosch das Streichholz.
»Verdammt! Bei diesem Regen kann das Zeug ja nicht brennen!« sagte der Mann mit der Reisemütze und warf das Streichholz ärgerlich fort. Die Flamme sorglich mit der Hand vor dem Windzug schützend, versuchte er es nochmals. Wieder vergeblich. Er nahm die Shagpfeife aus dem Mund und klopfte sie gegen die Schuhsohlen, um den durchweichten Tabak aus ihr herauszubekommen. Dann schob er sie wieder in den linken Mundwinkel zurück, zündete eine Laterne an und stand auf.
Auch sein Begleiter erhob sich. Er zitterte in seinem durchweichten Radmantel an allen Gliedern. Ob vor Kälte oder vor Angst, blieb ungewiß.
»Überleg dir’s noch mal, Morris!« sagte er beschwörend.
»Vielleicht hast du es noch nicht genug überlegt.« Aber der andere würdigte ihn keiner Antwort. Er schien sich alles genug überlegt zu haben. Er ging und blieb mitten zwischen den Schienen stehen.
Der kleine Mann mit dem runden Hut klemmte sich erschrocken den »Kindersarg«, auf dem er gesessen hatte und der sich jetzt als Geigenkasten entpuppte, unter den Arm und folgte dem Mann mit der Reisemütze nach.
Der ließ sich auf beide Knie nieder, beugte sich zu einer der Schienen hinab und legte sein Ohr darauf. Der andere hielt den Atem an. Er wollte etwas sagen; aber an den beschwörenden, abwehrenden Handbewegungen, mit denen der andere ihn am Sprechen zu hindern suchte, erkannte er, daß der Lauschende den Expreßzug nahen hörte. Der große Mann mit der Reisemütze richtete sich wieder auf. An seiner Backe hatte er von der nassen Schiene einen Dreckstreifen. Der kleine Mann zog sein Taschentuch heraus und versuchte, ihm das Gesicht zu säubern. Dabei sagte er zaghaft: »Vielleicht ist es gar nicht die richtige Stelle dazu … Vielleicht ist es gar nicht der richtige Zug … Und wenn Polizei drin ist? Ich hätte bestimmt heute nacht geträumt, daß es schiefgeht, wenn du mich hättest schlafen lassen.«
Ein Kopfschütteln war alles, was sein Kumpan für ihn übrig hatte. Mit schnellen Schritten ging er über die Schottersteine des Bahndammes. Der Kleine folgte ihm, stolperte über die Schwellen und drückte den Geigenkasten ängstlich ans Herz.
Der Brüsseler Nachtexpreß jagte heran. Die Regenböen drückten seine Rauchfahne an den Fenstern der Waggons vorüber, an denen die Vorhänge niedergelassen waren.
Im Dienstabteil saßen der Zugführer und ein Schaffner, jeder in seiner Ecke kauernd, und dösten.
»Elf Uhr achtundvierzig«, sagte der Schaffner, schaute auf ein vorweltliches Ungetüm von Diensttaschenuhr und gähnte.
»Noch acht Stunden bis Brüssel«, ergänzte der Zugführer.
Ein scharfer Ruck – gleichzeitig kreischten ohrenzerreißend die Bremsen auf – warf beide plötzlich fast von den Sitzen. Sie sprangen aus dem Halbschlaf auf und sahen sich fassungslos an. Kein Zweifel der Zug stand.
Sie liefen den Gang des Schlafwagens entlang und nestelten dabei die geöffneten Kragen ihrer Uniformröcke zu. Sie schauten durch die Fenster. Der Zug hielt auf offener Strecke. Mit einem kräftigen Fußtritt öffneten sie die vordere Wagentür und stürzten hinaus in die Dunkelheit. Eine Signalpfeife schrillte. Der Lokomotivführer lehnte mit dem Oberkörper weit aus dem Führerstand heraus.
Vorn, zwischen den Schienen, von den Lichtkegeln der Lokomotive scharf beleuchtet, standen regungslos zwei Gestalten: ein großer, kräftiger Herr in kariertem Ulster und mit einer Reisemütze, eine Shagpfeife im Mund, und neben ihm ein kleinerer, schwarzer Mann, weniger selbstbewußt. Der Geigenkasten, den er in den Händen trug, schien der einzige feste Punkt im Weltall zu sein, an den er sich in seiner Verlegenheit klammerte. Wie sie dort so stillstanden, erschienen sie seltsam unwirklich, so daß man hätte meinen können, die Scheinwerfer einer Laterna magica hätten ein Bild auf den finsteren Hintergrund der Nacht projiziert.
Die Täuschung verlor sich sofort, als sich der größere von ihnen bewegte, um nach der Laterne zu greifen, die er zu seinen Füßen abgesetzt hatte. Es war eine Dienstlaterne, mit der er durch Hinundherschwenken den Expreß aufgehalten hatte. An der Lokomotive vorbei, von der aus Lokomotivführer und Heizer mit offenem Munde im verrußten Gesicht ihnen nachstarrten, gingen die beiden zu den Wagen.
»Kein Aufsehen, bitte!« sagte der Mann im Reisemantel zu dem aufgeregt herankeuchenden Zugführer. »Lassen Sie die Leute schlafen.«
Er bestieg, gefolgt von seinem Schatten mit dem Geigenkasten, den Zug. »Weiterfahren!«
Der Zugführer folgte ihm. Er konnte ja nicht allein auf dem Bahndamm zurückbleiben. Er wollte Einspruch erheben; aber er war viel zu sehr außer sich, als daß ihm die Zunge hätte gehorchen wollen. Für den Unbekannten schien er überhaupt nicht vorhanden zu sein. Der durchschritt gelassen den Gang im Schlafwagen, als sei diese Art, einen Nachtexpreß zu besteigen, die selbstverständlichste Sache von der Welt, und es schien tatsächlich so, als habe er über alle Eisenbahnverwaltungen Europas zu bestimmen.
Der Mann mit dem Geigenkasten drückte sich flink an dem Zugführer vorbei, führte im gleichen Augenblick eine Trillerpfeife, die er an einer Schnur um den Hals trug, an die Lippen und pfiff. Direkt in die Ohren des Zugführers. Der ·schrille Ton wirkte außerordentlich. Der Beamte drehte sich einmal um sich selbst mit entsetzt aufgerissenen Augen. Der fremde Herr im Reisemantel hatte sich aus dem Fenster gebeugt und rief ungeduldig zum Führerstand der Lokomotive: »Lassen Sie den Zug endlich weiterfahren!«
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Der Schlafwagenschaffner stellte die beiden Abenteurer im Gang. Nachdem sich der Zugführer so schmählich geschlagen gab, hielt er es für seine Pflicht.
»Mein Herr, was soll das bedeuten?« fragte er.
»Nicht Sie haben hier zu fragen, sondern ich!« fuhr ihm der Herr im Reisemantel über den Mund. »Wer ist hier der Zugführer?«
Der Zugführer stand unwillkürlich stramm.
»Ist Ihnen etwas Verdächtiges aufgefallen?« fragte der Unbekannte.
»Natürlich nichts«, fügte er mit geringschätziger Handbewegung hinzu und wandte sich zu seinem Begleiter, dem er den Geigenkasten kurzwreg abnahm.
»Doktor, Sie durchsuchen sofort den ganzen Zug! Ich werde die Türen beobachten, ob jemand abspringt.‹«
Der kleine Mann machte kehrt und lief den Gang entlang. Der Mann im Reisemantel wandte sich wieder dem Zugführer zu.
»Sie wecken auch den anderen Schlafwagenschaffner! Ich muß sofort die Pässe aller Reisenden sehen:
»Aber wieso?«
»Gehen Sie, wenn Ihnen Ihre Stellung lieb und wert geworden ist!« fiel ihm der Unbekannte ins Wort. »Zu solchen Fragen ist jetzt keine Zeit.«
Der Zug gewann von Sekunde zu Sekunde wieder an Geschwindigkeit. Donnernd fegte er über die Schienen. Es galt, die Verspätung aufzuholen. Der Zugführer hatte sich entschlossen, das Unvorhergesehene in die gewohnte Ordnung der Dinge aufzunehmen.
»Sehr wohl, Monsieur«, sagte er, »ich werde sofort alles nach Ihren Wünschen veranlassen.«
Er wandte sich auf den Hacken um und eilte den Wagengang entlang. Er sah nicht, wie sich das Gesicht des Unbekannten erhellte. Der Mann mit der Shagpfeife triumphierte. Er grinste und triumphierte.
In diesem Augenblick kam, sich beim Schwanken des Zuges an den Türgriffen haltend, dem Unbekannten ein Reisender entgegen. Seine Haare waren verstrubbelt, und er machte einen verschlafenen· Eindruck. Er stutzte, als er den Mann im karierten Mantel erblickte, und fixierte ihn schnell. Er betrachtete den Ulster, die Reisemütze, die Shagpfeife, er sah das markante Profil mit dem kühn vorspringenden Kinn. Dann fiel sein Blick auf den Geigenkasten, und der Reisende verfärbte sich leicht.
Höflich trat er zur Seite und gab dem anderen den Weg frei. Doch blieb er auch dann noch stehen, als der Unbekannte längst, nachdem er dankend an seine Mütze getippt hatte, an ihm vorbeigegangen war. Nachdenklich sah er dem seltsamen Mann nach, der um die Gangecke bog. Dann stürzte er auf die Tür des nächsten Schlafwagenabteils zu und riß sie schnell auf.
In dem Schlafwagenabteil saß auf dem bereits für die Nacht hergerichteten unteren Bett ein junger, elegant gekleideter Mann, der lilafarbene seidene Strümpfe, eine gleichfarbige Krawatte und ein wohlgepflegtes schwarzes Bärtchen trug. Er legte eine Konfektschachtel aus der Hand und sah überrascht zu dem erregt eintretenden Reisegenossen auf. Der keuchte nur das eine Wort: »raus!«
Mit phlegmatischer Verwunderung hob der andere die Augenbrauen. »Was ist los, Billy?«
Billy blickte ihn an, mit einem Ausdruck in den Augen, in dem eine Armee von Plänen vernichtet lag.
»Weßt du, warum der Zug anhielt?«
»Na?« fragte der Herr mit dem Bärtchen.
»Damit er einsteigen konnte.«
»Wer?«
»Wer, wer, wer?« schrie der andere unbeherrscht. »Ein Mann! Durchbohrender Blick! Schottische Reisemütze! Shagpfeife! Karierter Mantel! Und Geigenkasten!«
»Geigenkasten?« wiederholte der Mann mit dem Bärtchen ungläubig. Einen Augenblick lang sahen sich die beiden in fassungslosem, sprachlosem Entsetzen an.
»Sherlock Holmes?« Der Mann mit dem Bärtchen flüsterte es tonlos. »Sherlock Holmes?« fragte er dann noch einmal. Aber er wartete schon gar nicht mehr auf die Antwort. Beide griffen, ohne noch ein Wort zu verlieren, nach ihren Handkoffern. Der Mann mit dem Bärtchen riß seine Jacke vom Haken, zog sie über. Billy öffnete leise, ängstlich um die Ecke spähend, die Tür des Abteils. Der Gang war leer.