II
Im Dientstabteil war der Zugführer unterdessen bemüht, den aufgeregt auf ihn eindringenden Fragen der beiden Schlafwagenschaffner standzuhalten. Das war sehr schwer, weil er eigentlich selbst nichts wußte.
»Wozu denn noch einmal die Pässe? Die Kontrolle ist doch schon lange gewesen!« sagte einer der Schaffner ärgerlich.
»Das ist es ja!« pflichtete der Zugführer ihm bei. »Hält den Zug an, droht mit Rausschmiß, verlangt die Pässe und fuchtelt mir mit dem Geigenkasten unter der Nase herum!«
»Geigenkasten?« wiederholte einer der Schlafwagenschaffner.
Der Zugführer nickte. »Und einen karierten Reisemantel.«
»Shagpfeife?« fragte derselbe Schlafwagenschaffner weiter.
Ein Verdacht schien in ihm aufzuglimmen.
Der Zugführer nickte.
»Und da weißt du nicht, wer das ist?«
Verständnislos blickte der Zugführer den Schaffner an. In Gedanken ließ er die Bilder seiner sämtlichen hohen und allerhöchsten Vorgesetzten vor seinen Augen vorbeiziehen, ohne daß es ihm gelungen wäre, zwischen ihnen und dem Unbekannten eine Ähnlichkeit festzustellen. Er kannte keinen Vorgesetzten, der Geige spielte.
Aber der zweite Schlafwagenschaffner hatte begriffen.
»Mensch!« sagte er verächtlich und langte nach einem Stapel illustrierter Blätter und broschierter Romane, die er im Gepäcknetz des Dienstabteils verstaut hatte. Es war die Lektüre, die von Reisenden liegengelassen worden war. Er suchte einen Augenblick darin herum. Dann hielt er dem Zugführer ein Magazin »The Strand« unter die Augen. »Sherlock Holmes«, las der mit stockendem Atem. »Der Hund von Baskerville!«
»Hast du von dem schon mal was gelesen?« fragte der Schaffner und zeigte mit dem Finger auf einen Kopf, der in einer Vignette neben dem Titel zu sehen war. Das war das Gesicht des Unbekannten, mit Shagpfeife, Reisemütze und aufgeschlagenem Mantelkragen. Mißtrauisch blickte er auf der Zeichnung um die Ecke. Der Rauch aus seiner Shagpfeife kräuselte sich zu einem Fragezeichen.
»Nee, hab’ ich noch nicht!« entgegnete der Zugführer und war sichtlich von der Belesenheit des anderen beeindruckt.
»Der ist es!« versicherte der Schlafwagenschaffner.
»Sherlock Holmes?«
Der Schaffner nickte, und der Zugführer studierte das Titelblatt genauer, als plötzlich hinter ihrem Rücken jemand laut und deutlich sagte: »Der bin ich nicht!«
Die beiden Schlafwagenschaffner und der Zugführer drehten die Köpfe nach der Abteiltür, in der der Unbekannte im Reisemantel aufgetaucht war. Tatsächlich hatte der Mann eine verbüffende Ähnlichkeit mit dem Titelbild auf dem Magazin.
Der Unbekannte lächelte liebenswürdig und trat auf den Schaffner zu, nahm ihm das Magazin aus der Hand, rollte es zusammen, tippte ihm damit vor die Brust. »Flynn heiße ich. Morris Flynn! – Verstanden?«
Jedem der drei Männer eindringlich in die Augen sehend, fügte er hinzu: »Und ich wünsche auch nicht, daß man diskutiert, ob ich es bin oder nicht bin.«
»Selbstverständlich, Mister Holmes!« erklärte der eine Schlafwagenschaffner beflissen. Er hatte als erster sofort begriffen.
»Flynn !« wies ihn der Angeredete zurecht. »Darf ich jetzt um die Pässe bitten?«
Er nahm die Pässe, die man ihm reichte – es war eine stattliche Anzahl -, und begann sofort, jeden einzelnen durchzublättern.
Die Beamten standen daneben und sahen ihm zu. Jetzt war es allen dreien klar, daß sie dem weltberühmten englischen Detektiv Sherlock Holmes Hegenüberstanden. Obwohl sie vor Neugier fast zerplatzten, dauerte es eine Weile, bis der Zugführer sich zu der Frage entschloß: »Sind denn Verbrecher im Zug?«
»Verbrecher können überall sein«, war die Antwort. »Aber wo ich auftauche, ist bestimmt einer. – Darf ich Sie bitten, mich allein zu lassen?«
Gehorsam verließen die Beamten das Dienstabteil. Sie waren tief beeindruckt. Sie verbeugten sich und traten auf den Gang. Der Zugführer sagte kopfschüttelnd: »Wissen möchte ich nur, wo er die Laterne herhat? Das ist eine Dienstlaterne.« Aber einer der Schlafwagenschaffner beruhigte ihn. »Da mach dir keine Gedanken, bei dem ist alles möglich. Nichts kann ihm verborgen bleiben. Seine Kombinationsfähigkeit grenzt ans Überirdische. Er ist der Schrecken aller Verbrecher!«
Im Dienstabteil war der Mann, der sich Morris Flynn genannt hatte, nur wenige Minuten allein, dann öffnete sich wieder die Abteiltür, und der kleine Mann in dem schwarzen Umhang und mit dem runden Hut trat ein.
»Verdächtiges?« fragte Morris Flynn, ohne von den Pässen aufzusehen.
Der kleine Mann hatte vorsichtig die Tür hinter sich zugezogen und ließ sich dann niedergeschlagen auf eine der Bänke sinken.
»Nichts«, sagte er verzweifelt, »aber auch gar nichts! Weder ein Sitzplatz noch ein Bett ist frei. Der Zug ist überfüllt.«
»Dann werden wir hier im Dienstabteil bleiben, und die Paßrevision wird sich sehr in die Länge ziehen«, entgegnete gleichmütig Mr. Flynn.
Mr. Flynn hatte schon fast alle Pässe durchgesehen. Jetzt hielt er einen Paß seinem Gefährten hin und sagte dabei schmunzelnd: »Guck mal, Mackie. Hübsch, was?« Und im gleichen Atem fuhr er fort: »Hände weg von den Fahrkarten!«
Als hätte man ihm auf die Finger geklopft, zog Mackie erschrocken die Hand von den Fahrkarten zurück, die, zu einem Stapel geschichtet, auf dem kleinen Klapptisch am Fenster lagen und von denen er zwei Karten herausziehen wollte. Er steckte die Hände in die Rocktaschen und beugte sich dann neugierig über die Schulter seines Freundes.
Flynn hielt zwei Pässe nebeneinander und zeigte auf die beiden Paßbilder: zwei Mädchenköpfe, blond der eine, der andere dunkel. Trotz der schlichten, braven Haarfrisur und der kleinstädtisch anmutenden Kleidung waren die Gesichter nicht ohne Liebreiz.
»Gestatte mal!« sagte Mackie interessiert und nahm seinem Freund die beiden Pässe aus der Hand. Er las die eigenhändigen Unterschriften unter den Fotos: Mary Berry und Jane Berry. Und dann kombinierte er: »Schwestern. Aus Middletown.«
»Richtig«, nickte Flynn.
»Landsmänninnen, Kleinstädterinnen. – Vierzigtausend Einwohner.«
Und dann kombinierte er weiter: »Erste große Reise.«
Sein Freund zeigte ihm die funkelnagelneuen Pässe, deren unbeschriebene Blätter er durch seine Finger gleiten ließ. Mackie bestätigte die Kombination von Morris, aber der zog bereits weitere Schlußfolgerungen.
»Beide sind Vollwaisen«, ·sagte er. »Hier … Vater und Mutter in der schwarzen Emaillebrosche. – Weiter! – Sie sind von großer Wahrheitsliebe, von ebenso großer Zurückhaltung, frühzeitig gereift und von einer geradezu rührenden Bescheidenheit und Sparsamkeit.«
Mackie betrachtete die Unterschriften der beiden Mädchen.
»Stimmt«, sagte er, »zarte Aufstriche, alles ohne eitle Schnörkel.«
,,Jawohl, die großen Anfangsbuchstaben sind fast klein geschrieben – sehr sympathisch.«
»Richtig«, sagte Mackie.
Plötzlich kreischten wieder die Bremsen. Der Expreßzug verlangsamte sein Tempo, und Morris fragte, ohne von den Paßbildern der beiden Mädchen aufzuschauen: »Welche Station?«
Mackie stürzte ans Fenster.
»Gar keine.«
»Gar keine?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Offene Strecke.«
»Also Notbremse«, kombinierte Flynn sachlich, »aber warum?»
»Unseretwegen«, erwiderte Mackie ebenso sachlich.
»Wieso?«
»Der Traum ist aus«, flüsterte Mackie.
»Richtig«, bestätigte Flynn, warf die Pässe fort und sprang auf.
Einen Augenblick sahen sie sich erschrocken an, dann sprang Flynn zum Fenster, riß es herunter, und indem er nach Mütze und Mantel griff, zischte er Mackie zu: ,»’raus! Vergiß nicht den Geigenkasten!« Und schon hatte er ein Bein aus dem Fenster herausgeschwungen. Aber dann hielt er mitten im Schwung inne und spähte in die Nacht hinaus.
Den Bahndamm sprangen zwei Gestalten hinab. Sie trugen Handtaschen. Die offene Tür des vorderen Schlafwagens verriet, daß sie aus dem Zuge gesprungen waren.
Der eine war Billy, der andere war der Mann mit dem kleinen Bärtchen und dem lila Schlips. Beide liefen, was sie konnten, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren.
Flynn und Mackie sahen ihnen nach.
Jetzt tauchte unter dem Fenster des Dienstabteils der Zugführer auf.
»Mister Holmes! Mister Holmes!« schrie er. »Dort laufen sie!« Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Schnell, schnell, sie entwischen!«
Ärgerlich winkte Flynn ab.
»Flynn heiße ich«, sagte er streng und zog das Bein wieder zurück. »Lassen Sie sie laufen. Kommen Sie ’rein, Mann, und lassen Sie den Zug weiterfahren!«
Er wandte sich zurück ins Abteil und steckte, von Mackie unbemerkt, zwei Fahrkarten zu sich, die oben auf dem Stapel lagen. Er ging auf den Gang und winkte seinem Freund, ihm zu folgen.
Draußen schrillte die Pfeife des Zugführers. Die Lokomotive antwortete. Wieder setzte sich der Zug in Bewegung.
Neben der Tür, durch die der Zugführer im letzten Augenblick wieder aufgesprungen war, standen die Schaffner.
»Da habt ihr’s!« sagte triumphierend der Schlafwagenschaffner, der nicht umsonst seine Kriminalromane gelesen hatte.
»Die beiden haben ihn schon gewittert. Wenn Sherlock Holmes es auf sie abgesehen hätte, wären sie ihm natürlich nicht entwischt. Sicher sucht er andere Schwerverbrecher, die mehr Dreck am Stecken haben, Dreck bis an die Krücke. Er übernimmt nämlich nur sensationelle Kriminalfälle.«
»Keine Aufregung, meine Herren! Ruhe, Ruhe, Ruhe«, sagte Mr. Flynn, als er, von den Beamten gefolgt, den Schlafwagengang entlangkam. »Zeigen Sie mir das Abteil der beiden.«
Vor dem Abteil der beiden geflüchteten eleganten Herren mit den schlechten Gewissen blieben sie stehen. Morris Flynn trat ein. Mackie wollte ihm folgen, doch dann sah er den Zugführer herankommen. Er musterte ihn von oben bis unten geringschätzig und sagte vorwurfsvoll: »An Ihrer Stelle würde ich den Namen Sherlock Holmes noch lauter in alle Welt hinausschreien. Sie wissen doch, daß es der Meister nicht will.«
»Gewiß«, entgegnete der Zugführer kleinlaut, »aber die beiden Verbrecher – jetzt sind sie weg.«
»Merken Sie sich eines«, belehrte ihn Mackie: »Die Großen hängt man, die Kleinen läßt man laufen.« Damit ließ er ihn stehen.
Mr. Flynn blickte sich einmal flüchtig um und erkundigte sich dann bei den Schaffnern nach dem Namen der nächsten Station. Er erfuhr, daß der Zug erst wieder in Saint-Dimier halten würde.
»Und wie heißt der Ort, der der Stelle, wo die beiden Gauner abgesprungen sind, zunächst liegt?« fragte er weiter.
Das müsse Valsy gewesen sein, erhielt er von dem Zugführer zur Antwort.
»Valsy also«, sagte Flynn, und dann befahl er seinem Freund: »Doktor, eine Depesche an die Gendarmerie in Valsy mit dem Tatbestand und einer Beschreibung der Entflohenen!«
»Jawohl, Meister«, nickte Mackie, beklopfte aufgeregt seine Brusttasche, zog schließlich einen Stenogrammblock und einen Bleistift heraus und fing an zu schreiben.
Flynn sah sich jetzt genauer um, bückte sich und schaute unter das Bett. Er hob die Kopfkissen auf, und von den anderen unbemerkt, nahm er darunter etwas hervor und steckte es in seine Manteltasche.
Auf dem Klapptischchen am Fenster lagen englische Zeitungen, Zigarettenschachteln, die angebrochene Bonbonniere, und daneben stand eine Flasche Kognak.
Der Schlafwagenschaffner wollte Flynn alles reichen.
»Nichts anfassen!« herrschte Flynn ihn an. Er betrachtete ihn mit einem mitleidigen Lächeln. »In jedem Kriminalroman können Sie lesen, daß an einem Tatort nichts berührt und verändert werden darf.«
Verlegen versteckte der Schaffner die Hand hinter seinem Rücken. Seine Bewunderung war, soweit das überhaupt möglich war, noch im Wachsen.
Flynn betrachtete die Dinge auf dem Klapptischchen und sagte gewichtig: »Das werde ich nachher alles eingehend untersuchen.«
Mackie riß in diesem Augenblick die Seite aus seinem Stenogrammblock.
Er hatte das Telegramm fertig formuliert.
»Unterschrift?« fragte er.
»Natürlich«, sagte Flynn.
Mackie versuchte sich durch ein Augenblinzeln mit ihm zu verständigen.
»Welche?« fragte er vorsichtig.
»Die richtige«, entgegnete Flynn unbekümmert.
Hilflos stand der kleine Mann mit dem runden Hut und dem Havelock da. Flynn grinste ein bißchen schadenfroh, aber dann nahm er seinem Freund das Blatt aus der Hand und übergab es dem Zugführer.
»Setzen Sie Ihren Namen darunter, meine Herren«, sagte er liebenswürdig, »und geben Sie das Telegramm in Saint-Dimier auf. Auch Ihnen gebührt ein Anteil an der Ehre, mit mir unter den Verbrechern aufgeräumt zu haben.« Und dann blickte er auf die unbenutzten Betten und fügte hinzu: »Wir bleiben hier. Jetzt sind zwei Betten frei. Wenn irgend etwas vorfällt, wecken Sie uns bitte sofort. Sonst erst zum Frühstück.«
»Jawohl, Mister Holmes«, sagte der Zugführer und salutierte. Und die Schlafwagenbeamten salutierten ebenfalls.
»Flynn!« verbesserte der andere ärgerlich und hob warnend den Zeigefinger. »Nicht Holmes. – Im übrigen, meine Herren, war ich mit Ihnen sehr zufrieden. Wir möchten nicht schlafen gehen, ohne Ihnen vorher unseren Dank ausgesprochen zu haben.«‹
»Schönen Dank!« sagte Mackie und bemühte sich um eine weltmännische Verbeugung.
»Und gute Nacht!« fügte Flynn abschließend hinzu.