VII
Mackie befand sich in dem Zustand, in dem der Herr dieser Erde ihn geschaffen hatte. Das Wasser in der Badewanne duftete nach Lavendel. An den Rändern der Wanne, wo auf den Kacheln blaue Lilien standen, die so taten, als ob sie aus dem Wasser herauswüchsen, hatte es zarte, grünliche Töne. Mackie prüfte mit den Zehenspitzen. Erschrocken fuhr er zurück. Das Wasser war eisig.
»Doktor!« ertönte im selben Augenblick von der anderen Seite des Salons aus dem Badezimmer Flynns Stimme.
»Ich weiß schon«, rief Mackie zurück, hängte sich den großen Bademantel um und ging zum anderen Bad hinüber. Nur seine Kleider blieben zurück. Melancholisch geringelt lagen Mackies Hosenbeine auf dem fliesenbelegten Fußboden. Kurz darauf betrat Flynn die Badestube mit dem eingelassenen kalten Wasser, während er Mackie das warme Bad überließ. Kopfschüttelnd hob er Mackies Hose auf, um sie neben dem dazugehörigen Jackett aufzuhängen. Dabei fiel sein Blick auf ein feines Goldkettchen, das aus der Hosentasche herausbaumelte. Neugierig begann Morris daran zu ziehen, und aus der Tasche glitten die beiden Medaillons, die Jane Berry und Mary Berry den gestrengen Herren Detektiven im Schlafwagen hatten aushändigen müssen.
Flynn betrachtete die beiden Mädchenköpfe, deren Bildnisse die kleinen Gehäuse bargen. An der Innenseite eines jeden befand sich eine Gravierung: »Ewig deine Mary« – »Ewig deine Jane«. Jane trug also Marys Bild um den Hals und Mary das von Jane. Flynn wog eine Weile die beiden kleinen Schmuckstücke in der Hand und sah sich das Gesicht mit dem blonden Haar und das Gesicht mit dem dunklen Haar versonnen an, bevor er sie in seine Bademanteltasche steckte.
»Doktor!« brüllte er dann.
»Jawohl, Meister!« brüllte Mackie zurück.
»Vermissen Sie nichts?« schrie Flynn.
»Nee!« schrie Mackie zurück.
»Na, dann ist es gut«, sagte Flynn vor sich hin und stürzte sich in die Fluten. Das kalte Wasser erfrischte ihn. Ihm war wunderbar wohl zumute.
»Jawohl, meine Herrn,
So haben wir es gern,
Von heut an gehört uns die Welt!«
begann er plötzlich zu singen. Der Text fiel ihm so im Augenblick ein. Er sang ihn nach der Melodie des Liedes »As I was walking down the street – A charming girl I chanced to meet.« Mackie in der Wanne aalte sich in dem warmen Wasser und seifte sich den Oberkörper ein. Er kannte die Melodie auch, und fidel sang er mit und improvisierte weiter:
»Wir tun, was uns gefällt.
Und wer uns stört,
Ist, eh er’ s recht begreift,
Längst schon von uns eingeseift.«
Und dann sangen beide gleichzeitig und zweistimmig:
»Jawohl, meine Herrn,
Drauf können Sie schwörn.
Jawohl, jawohl, jawohl!«
Im Salon liefen die Stubenmädchen hin und her. Der erste der beiden Schrankkoffer war schon ausgepackt. Sie hörten den übermütigen Gesang der beiden Männer in den Badewannen und kicherten.
Als das eine Mädchen jetzt eine Schublade aus dem zweiten Koffer zog, um die Wäsche herauszunehmen, ließ es plötzlich die herausgezogene Schublade fallen. Es schrie leise auf und hielt erschrocken beide Fäuste an den Mund gepreßt. Die Kollegin kam herbei.
»Hach !« schrie sie auch auf. Aber die erste hatte sich schon gefaßt und legte der anderen beschwörend ihre Hand auf den Arm. Dann nahmen beide die Schublade wieder auf, um sie in den Koffer zurückzuschieben. Sie taten das hastig und leise und hofften, daß keiner ihr Tun bemerkt habe.
»Was ist denn los?« sagte da plötzlich eine Männerstimme hinter ihnen. Die beiden Mädchen fuhren herum. In der Tür des Salons, die auf den Hotelkorridor führte, stand ein noch junger, mit unauffälliger, aber angenehmer Korrektheit gekleideter Herr. Unter den Arm geklemmt trug er einen Stapel Zeitungen, Telefon- und Adreßbücher, Stadt- und Fahrpläne, die ihm jeden Augenblick davonzurutschen drohten.
Der junge Mann schob mit dem Fuß hinter sich die Tür zu und befreite sich von seiner Last, indem er alles auf den nächstbesten Stuhl packte. Dann eilte er auf die beiden Stubenmädchen zu. Die waren instinktiv zur Seite getreten und wiesen stumm auf die Schublade. Obenauf lagen vier Revolver mit der dazugehörigen Munition, zwei funkelnagelneue amerikanische Brownings, eine Mauserpistole und ein elegantes Taschenterzerol mit einem Kolben aus Elfenbein, einige mit Patronen gefüllte Magazine, daneben eine wohlassortierte Auswahl von Schlagringen, Totschlägern und Stiletten. Der junge Mann öffnete einen Pappkasten. Darin lagen Perücken, Bärte und Schminken.
Das Gesicht des jungen Mannes verfinsterte sich. Für ihn war alles klar. Er hielt die Zähne so fest aufeinandergepreßt, daß man sah, wie sich seine Kiefer vor Erregung bewegten. Er sah nach rechts und dann nach links und lauschte auf den zweistimmigen Gesang von Morris und Mackie, die jetzt dazu im Takt mit Händen und Füßen im Wasser platschten:
»Und wer uns stört,
Ist, eh er’ s recht begreift,
Längst schon von uns eingeseift.
Jawohl, jawohl, jawohl.«
Der junge Mann pfiff vielsagend vor sich hin. Auf einen kurzen energischen Wink von ihm verließen die beiden Mädchen gehorsam und geschwind den Salon. Der junge Mann folgte und schloß hinter ihnen die Tür zu. Aus der Tasche zog er seinen Revolver und entsicherte ihn. Es war klar: der junge Mann war der Hoteldetektiv, um den Morris Flynn gebeten hatte. Nun war er da. Er setzte sich auf einen Sessel unweit der Türen zu den beiden Badezimmern und harrte schußbereit der Dinge, die da kommen sollten.
»Meister!« hörte er von rechts Mackies Stimme rufen. »Wenn ich ein letztes Mal kritisieren darf … «
»Nein!« kam Morris’ Stimme von links.
Der Kopf des Detektivs ging auf seinen Schultern hin und her wie der eines Zuschauers beim Tennisturnier. Er war ganz Ohr.
»Dann ein freies Wort«, hob die Stimme von rechts wieder an. »Ich bewundere immer aufs neue Ihre Kombinationsgabe. Auch beuge ich mich stets vor Ihrer Menschenkenntnis. Dennoch bitte ich Sie, mir einen Einwand zu gestatten: Ihren Wagemut und Ihr Draufgängertum in Ehren, aber den Detektiv des Hauses in die Höhle des Löwen zu locken, ist ein Spiel mit dem Feuer. Ein Fehler in der Taktik, den ich nicht verstehe.«
Aus dem anderen Badezimmer war eine Weile nichts zu hören als ein Schnaufen und Prusten. Endlich ließen sich wieder deutliche Worte erkennen.
»Beileid!« rief Flynn. »Kombinieren!« Und dann wieder: »Wer ist der einzige Mann im ganzen Hotel, der unseren Plan durchkreuzen kann?«
»Der Hoteldetektiv«, kam es von rechts.
»Richtig«, ertönte es von links.
Der junge Mann war aufgestanden und lauschte mit erhöhter Konzentration auf das Zwiegespräch, das sich da ahnungslos weiterspann.
»Was tut man in einem solchen Fall?« kam diesmal die Frage von links.
»Man geht diesem Mann aus dem Wege«, antwortete es rechts.
»Im Gegenteil«, protestierte Morris Flynn, »man bittet ihn zu sich, man macht ihn zum Freund und appelliert an seine Verschwiegenheit und Kollegialität. Man reizt seine Kombinationsgabe, baut auf seine Intelligenz – wenn er welche haben sollte –,und er wird sofort erkennen, mit wem er es in Wirklichkeit zu tun hat.«
Lebhafter Beifall von rechts: »Bravo! Bravo! Ausgezeichnet! – 0 wunderbar! – So was kann nur einem Sherlock Holmes einfallen.«
Bei der Nennung dieses Namens zuckte der junge Mann im Sessel zusammen. Als erwarte er, einen Geist auftauchen zu sehen, blickte er nach dem Schlafzimmer links. Aber es kam noch niemand heraus. Nur Morris’ Stimme hörte man wieder. »Danke, danke, Doktor Watson!« sagte er.
Und wieder durchzuckte es den jungen Mann im Salon. Sein Blick wanderte umher und machte Inventur. Ihm entging die auf dem Tisch liegende Shagpfeife sowenig wie der karierte Reisemantel und die entsprechende Mütze am Kleiderhaken. Er sah auch den geöffneten Geigenkasten, neben dem die Geige lag. In seinem Gehirn begann es lebhaft zu arbeiten. Der Inhalt der Schublade im Schrankkoffer bekam plötzlich für ihn einen ganz anderen Sinn. Als erstes Anzeichen, daß seine Überlegungen zu einem befriedigenden Ende geführt hatten, sicherte er den Revolver wieder und steckte ihn ein.
Mackie erschien zuerst wieder auf der Bildfläche. Er hatte sich in seinen Bademantel gehüllt und die Kapuze über den Kopf gezogen. Wie ein Beduine sah er aus. Als er den fremden jungen Mann im Salon erblickte, blieb er erschrocken stehen. Der junge Mann verbeugte sich.
»Warten Sie schon lange hier?« fragte Mackie stotternd.
»Ich wollte nicht stören«, entgegnete der junge Mann höflich.
Durch das linke Schlafzimmer kam Morris Flynn. Er war auch in ein Badetuch gehüllt und stutzte ebenfalls einen Augenblick, als er den jungen Mann entdeckte. Er orientierte sich mit einem schnellen Blick, überlegte kurz und schritt dann auf den jungen Mann zu. »Sie sind der Hoteldetektiv«, sagte er freundlich. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Mackie schwankte ein wenig, ehe der junge Mann bestätigte: »Jawohl, Mister Holmes.«
Mackie fand bei der Nennung des Namens das Gleichgewicht wieder und riß die Augen auf.
Morris Flynn war einen Augenblick verdutzt. Blitzschnell rekonstruierte er das vorausgegangene Gespräch von Badewanne zu Badewanne und überlegte, ob er sich vielleicht eine Blöße gegeben hätte. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht täuschte, bestand jedoch keinerlei Gefahr .
»Sie sind sehr tüchtig, Herr Kollege«, sagte er liebenswürdig. Die Anerkennung schmeichelte dem jungen »Kollegen«. Er wies auf die halb herausgezogene Schublade im Schrankkoffer, auf den Geigenkasten und auf die Shagpfeife des berühmten Mannes.
»Das war gar nicht so schwer«, meinte er leichthin, aber man merkte ihm an, daß er doch sehr stolz war, dem berühmtesten aller Kriminalisten gegenüberstehen zu dürfen. Mit einem knabenhaft offenen Blick fuhr er fort: »Bauen Sie auf meine Kollegialität, Mister Holmes. Verlassen Sie sich auf meine Intelligenz. Rechnen Sie mit meiner Verschwiegenheit.
»Wie kann ich mich Ihnen nützlich machen?«
»Indem Sie mich Flynn nennen«, entgegnete der große Mann … Ich bin Flynn, nichts weiter als Flynn. Und mein Freund hier ist natürlich nicht Doktor Watson, sondern . . . «
»Mackie MacMacpherson«, stellte Mackie sich vor. Er trat dabei neben seine Pantoffel und verbeugte sich. Dann trat er wieder in die Pantoffel. Er war sichtlich froh, endlich einmal seinen richtigen Namen nennen zu können.
»Es ist wichtig«, fuhr Morris Flynn fort, »daß niemand erfährt, wer wir in Wirklichkeit sind. Denn wir sind selbstverständlich nicht ohne Grund hier, wie Sie sich denken können. Sollte sich das Gerücht bereits verbreitet haben, daß Sherlock Holmes und Doktor Watson angekommen sind, dann bestreiten Sie es! Dementieren Sie! Leugnen Sie! Sie dürfen schwören, auf was Sie wollen. – Es gibt hier nur einen Mister Morris Flynn und einen Mister MacMacpherson – beileibe keinen Sherlock Holmes oder Doktor Watson.«
Der Detektiv hatte sofort begriffen.
»Verstehe, Mister … Flynn.«
»Und wenn ich Sie brauche …«, sagte Flynn.
»… bin ich da«, ergänzte der andere.
»Wir danken Ihnen«, sagte Flynn einfach, aber nicht ohne Größe. Dann verbeugten sich die Herren voreinander, und beschwingt verließ der junge Detektiv den Schauplatz seines Erfolges.
Morris und Mackie gingen sofort auf die herausgezogene Schublade im Schrankkoffer zu. Mackie nahm eine Perücke heraus, und Morris betrachtete die Revolver.
»Das war allerdings nicht schwer zu erraten, wer wir sind!« sagte Flynn.
Mackie überlegte und sagte dann: »Hoffentlich ist er nicht so intelligent, daß er wirklich niemand sagt, wer wir sind!«
Aber Morris, der jetzt kritisch die herausgepackten Anzüge betrachtete, unter denen auch ein funkelnagelneuer Frack war, antwortete: »Da kannst du beruhigt sein. In einer Stunde weiß es das ganze Hotel.«
Es war elf Uhr.
»Ist er’ s oder ist er’ s nicht?« fragte der Portier.
Monsieur Dulac hatte den Hoteldetektiv die Treppe herunterkommen sehen und ihn vertraulich beiseite genommen. Mit einem vieldeutigen Lächeln blickte ihm der Hoteldetektiv ins Gesicht. »Er ist es natürlich nicht!« sagte er und blinzelte dabei. Dann eilte er weiter.
,,Ich hab’ es doch gleich gewußt«, wandte sich Monsieur Dulac triumphierend an den Empfangschef. »Auf den ersten Blick hab’ ich ihn erkannt.«
Der Hoteldetektiv trat in das Büro des Hoteldirektors. Der blätterte in seiner Zeitung und blickte nicht auf, als der Hoteldetektiv ihm in freudiger Erregung zurief: »Herr Direktor, Herr Direktor!«
Der Herr Direktor antwortete nicht .
Der Hoteldetektiv trat dicht zu ihm, schraubte seine Begeisterung zurück und begann: ,,Ich weiß, Herr Direktor, daß Sie mit mir unzufrieden sind. Sie zweifeln an meinen Fähigkeiten, und Sie benutzen jede Gelegenheit, mich spüren zu lassen, daß ich in Ihrem Unternehmen Ihrer Meinung nach überflüssig bin.«
Der Herr Direktor blätterte ein Zeitungsblatt um, nickte und sagte trocken: »Jawohl.«
»Vielleicht ändern Sie nun Ihre Meinung. – Ich habe herausgebracht, daß Sherlock Holmes angekommen ist.«
Aber der Hoteldirektor war nicht im geringsten beeindruckt.
»Das steht bereits in der Zeitung.«
»Aber ich weiß mehr – Mister Flynn in Nummer vierundfünfzig bis sechsundfünfzig ist Sherlock Holmes.«
Jetzt blickte der Hoteldirektor auf.
»Woher wissen Sie das?«
»Ganz einfach: Ich hab’ es ihm auf den Kopf zugesagt, daß er Sherlock Holmes ist. – Was blieb ihm anderes übrig, als es zuzugeben?«
Der Hoteldetektiv hielt die Brust vorgereckt. Er schien dem Hoteldirektor tatsächlich zu imponieren.
»Donnerwetter!« sagte der und warf die Zeitung auf den Tisch. Aber der Hoteldetektiv näherte sich dem Ohr des Hoteldirektors und flüsterte ihm zu: »Es ist natürlich streng vertraulich.«
»Selbstverständlich«, nickte der Direktor und nahm sich vor, daß sofort die Öffentlichkeit erfahren müsse, welchen illustren Gast sein Hotel beherberge.
»Niemand im Hotel außer uns darf es wissen!« beschwor ihn der Hoteldetektiv mit erhobenem Zeigefinger. Doch der Hoteldirektor antwortete schon nicht mehr, sondern stürzte aus dem Büro. Er lief quer durch die Halle zu dem Blumenkiosk neben dem Eingang.
»Machen Sie ein ausgesucht schönes Arrangement zurecht!«
Aber die hübsche Blumenverkäuferin wußte schon längst durch den Empfangschef Bescheid.
»Für Sherlock Holmes?« fragte sie.
»Fragen Sie nicht so dumm«, sagte der Direktor, »ein besonders schönes Arrangement, und schicken Sie es ihm auf sein Zimmer!«
»Chrysanthemen«, sagte die Verkäuferin und zog schon ein paar der langstieligen Blumen aus einer hohen Vase.
»Warum Chrysanthemen?« fvagte der Direktor v.erblüfft.
»Seine Lieblingsblumen«, entgegnete die junge Dame beinahe entrüstet; denn sie begriff nicht, daß man über eine so weltbekannte Tatsache, die in dem »Abenteuer im verlassenen Haus« ausführlich geschildert war, in Unkenntnis sein konnte.
Als das Gerücht bis zu den Liftboys durchgesickert war, war es halb zwölf Uhr. Alle Pikkolos und alle Boys standen hinter der großen Palme im Wintergarten um ihren Kollegen gedrängt, der vor noch nicht langer Zeit die beiden Berühmtheiten im Fahrstuhl nach oben befördert hatte. Er war gerade dabei, einen detaillierten Bericht abzulegen:
»Sherlock Holmes ist berühmter als Nat Pinkerton oder Nick Carter. Ein Blick, sage ich euch! Der geht durch die Wände! Und solche Muskeln!« Er zeigte an seinem Oberarm, wie groß die Muskeln wären.
»Ich weiß was«, sagte der kleinste von ihnen. Er war nur zweiundachtzig Zentimeter groß.
»Was weißt du?« fragte ein Pikkolo.
»Ich klau’ ihm was.«
»Was denn?«
»Seine Pfeife.«
»Du, das laß lieber sein«, warnte ein kleiner Negerboy.
»Bloß mal sehen, ob er überhaupt was merkt.«
Aber da war man sich einig.
»Der merkt dir schon die Absicht an, wenn er dir nur ins Auge blickt«, sagte der Liftboy. Die Augen mußten es ihm angetan haben.
Als der Zimmerkellner das Gulasch aus der Küche holte, war es elf Uhr fünfundvierzig. Und schon wußten alle Köche und Köchinnen, wer in den Zimmern 54 bis 56 im zweiten Stock wohnte. Der Buchverkäufer am Zeitungskiosk hatte es auch schon gehört. Er war ein behender Mann, der zuerst ans Geschäft dachte. Darum zog er ohne innere Reue die neuesten literarischen Erscheinungen der Saisonproduktion aus der Auslage zurück und ersetzte sie durch die Abenteuer des berühmten Gastes.
Ein Herr trat an den Zeitungskiosk. Er wollte eine Zeitung kaufen, stutzte aber, als er die lange bunte Reihe der Sherlock-Holmes-Kriminalromane sah. Dort fehlte kein Band der Serie des Kriminalschriftstellers Arthur Conan Doyle.
»Die fünf Apfelsinenkerne«, las er; auf deren Titelbild sah man wie Sherlock Holmes seinem Freunde Watson freundschaftlich die Arme auf die Schulter legt, während im Hintergrund ein Mann in schwarzem Trikot und mit schwarzer Larve einen Spazierstock waagerecht an den Mund hält. Es war natürlich kein Spazierstock, sondern ein Blasrohr mit kleinen vergifteten Pfeilen. Weiter: »Der Hund von Baskerville«, »Der Mord in Abbey Grange·, »Die tanzenden Männchen«, »Die sechs Napoleonbüsten«, »Des Löwen Mähne«. Auch Conan Doyles historischer Roman »Onkel Bernac« lag aus Versehen in dieser Reihe, da der Buchhändler annahm, daß es auch ein Abenteuer Sherlock Holmes’ sei. Auch die letzte11schienene Novellensammlung »Sherlock Holmes’ Notizbuch« lag in englischer Sprache aus. Sie war noch nicht ins Französische übersetzt worden.
Diese Lektüre in der vordersten Reihe einer Buchhandlung eines so guten Hotels zu finden bedeutete für den Herrn eine Überraschung. Er sah sich um. Niemand beobachtete ihn. Er trug einen karierten Reisemantel und eine gleichartige Mütze. Aber Mütze und Mantel waren feiner und unauffälliger kariert als die von Morris Flynn. Er war von stämmiger Statur, breitschultrig, hatte ein rundes Gesicht mit gutmütigen, blauen Augen und trug einen grauen, buschigen Schnurrbart. Er hatte auch eine Shagpfeife im Mund. Der Mann spürte sofort die Unruhe, die in dieser Hotelhalle vibrierte. Überall standen Gruppen von Gästen und von Hotelangestellten, die die Köpfe zusammengesteckt hielten und flüsterten. Hier mußte irgend etwas los sein. Der Herr fragte den Zeitungsverkäufer: »Was gibt es hier?«
»Das wissen Sie nicht?« fragte der Zeitungsmann erstaunt. Er beugte sich zum Ohr des Neuankömmlings hinab und flüsterte ihm leise etwas zu. Überrascht blickte der Gast auf und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Sherlock Holmes?« wiederholte er wie einer, der nicht recht verstanden hat.
Der Mann hinter den Büchern nickte. »Jawohl – und Doktor Watson auch.« Verblüfft sah ihn der Mann im Reisemantel an. Dann wandelte sich plötzlich der Ausdruck seines Gesichts, und er begann herzlich zu lachen. Er lachte so laut, daß alle in der Halle sich nach ihm umdrehten. »Sherlock Holmes«, lachte er, und er trocknete sich die Lachtränen von den Wangen. »Das ist köstlich!«
In diesem Augenblick schlug die Standuhr in der Hotelhalle zwölfmal.
Vor seinem Spiegel im Schlafzimmer stand Morris Flynn und musterte sich kritisch. Er trug einen schwungvoll geschnittenen Cutaway, dazu gestreifte Hosen, eine taubengraue Weste und blütenweiße Pikeegamaschen. Er sah wahrhaftig aus wie ein Lord. Die Burschen, denen die Sachen aus den Schrankkoffern gehörten, hatten Geschmack; denn der Anzug war bei einem erstklassigen Schneider gearbeitet worden und hielt jene Balance zwischen dezent und auffallend, die die Kleidung eines wahren Gentlemans auszeichnet.
Morris war mit seinem Spiegelbild recht zufrieden. Nur die Krawatte fehlte noch. Er wählte sorgfältig und lange aus; denn ein wirklicher Gentleman braucht eine Stunde zu seiner Toilette, aber dann vergißt er sie.
Mackie kam aus dem anderen Schlafzimmer durch den Salon. Er sah recht unglücklich drein. Aus den Armen seines Cuts sahen nur seine Fingerspitzen heraus, und die Hosen waren das klassische Beispiel für das, was man mit Ziehharmonikahosen bezeichnet. Den schwarzen steifen Hut wagte er gar nicht aufzusetzen. Er wäre ihm über die Ohren gegangen. »Nichts paßt mir«, meinte er enttäuscht, »der andere Gauner muß eine total verbaute Figur haben!«
Da klopfte es an die Salontür. Mackie verkroch sich hinter das Bett. Aber Flynn trat in den Salon. Dort stand ein Chrysanthemenstrauß mit Beinen in der Flurtür. Es war der kleinste Boy, der diesen Riesenstrauß anbrachte. Er stellte die Blumen in eine Kristallvase und entledigte sich seines Auftrages. »Von der Hoteldirektion!« meldete er und stand dabei stramm.
Instinktiv griff Flynn in die Westentasche und fand darin zu seinem eigenen Erstaunen ein Fünffrancstück. Er schnippte es dem Jungen zu, der es geschickt auffing.
»Merci, Mister Holmes!« sagte er strahlend, kniff ein Auge zu und zog sich dann zurück.
»Sherlock Holmes« grinste und sah sich nach seinem »Doktor Watson« um. Der stand neugierig in der Schlafzimmertür und starrte auf die Chrysanthemen.
»Siehst du wohl, Mac«, sagte Morris, »sie haben’ s gefressen. Jetzt ist’s überall herum. Nun ist Sherlock Holmes erst richtig angekommen.« Er nahm die beiden Biergläser, die auf dem Tisch neben dem leer gegessenen Mittagsgedeck standen, füllte sie, gab Mackie ein Glas und stieß mit ihm an. »Er soll leben!«
»Prosit!« sagte Mackie.
Beide leerten ihre .Gläser auf einen Zug.