Eine Woche im September

Wie Populisten die UN bekämpfen

Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: (…) Freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln (…).

UN-Charta, Art. 1 (2)

Ende September ist New York aufgeheizt. Es ist kein Sommer mehr, aber auch noch kein Herbst. Eine anstrengende Schwüle liegt über der Stadt. Die Bewohner sind gereizt. Wenige Schritte, dann hat der Schweiß die weißen Hemden unter den tailliert geschnittenen Sakkos der Diplomaten durchnässt, die vor mir her mit einem Kaffee in der Hand von der Grand Central Station zum UN-Hauptgebäude am East River strömen. An sonnigen Tagen reflektiert das schmale, gläserne, 39 Stockwerke hohe Sekretariatshochhaus das Licht so stark, dass es zu leuchten scheint. Pünktlich um acht hat ein knappes Dutzend Mitarbeiter bereits die 193 Flaggen der Mitgliedsstaaten gehisst, jede einzelne etwa 120 x 180 cm groß, alphabetisch nach den englischen Ländernamen sortiert. Kontrolle, die UN sind extraterritoriales Gelände. Wer keinen Dienstausweis besitzt, braucht einen Reisepass. Und Geduld an den Metalldetektoren. Schließlich Einlass in die Lobby. Unter den keuchenden Stößen der Klimaanlage scheint der gesammelte Schweiß binnen Sekunden auf dem Rücken zu gefrieren. Draußen sperren Polizisten unterdessen zehn Blocks zwischen First und Second Avenue ab, tackern Schilder an Bäume: Sicherheitszone, Anhalten verboten, auch für Fahrräder. Für eine Woche steht jetzt alles still.

Es ist die zweite Woche der UN-Vollversammlung, Zeit für die Generaldebatte, zu der Staats- und Regierungschefs aus aller Welt einfliegen und dann in ihren Limousinen die abgesperrten Straßen hinabrasen bis zur First Avenue, die nur für sie geöffnet ist. Die aufgeheizte Stimmung der Stadt überträgt sich auf das Geschehen im Saal. Im September 2017 gilt das besonders. Erstmals wird der neue US-Präsident sprechen: Donald Trump, der die UN schon in seinem Wahlkampf als reine Zeit- und Geldverschwendung bezeichnet hat, als Klub von Schwätzern, die es sich gut gehen lassen wollten. »Wann haben die UN jemals ein Problem gelöst? Im Gegenteil, sie schaffen Probleme«, lästerte er. Was wird der Mann jetzt sagen, wo sich die Krisen und Konflikte weltweit kaum noch zählen, geschweige denn lösen lassen? Nicht wenige glauben, dass er die Vereinten Nationen in ihren Grundfesten gefährdet. Diese Angst gab es schon früher, bei anderen Feinden der UN. Trump und seine Unterstützer im Geiste könnten es jetzt schaffen, die Weltgemeinschaft in den Abgrund zu stoßen.

Deshalb steht auch im hochklimatisierten Saal der UN-Vollversammlung vielen Diplomaten der Schweiß auf der Stirn. Sie wissen: Es steht viel auf dem Spiel. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs haben sie es in New York irgendwie geschafft, alles zusammenzuhalten, den drohenden Atomkrieg verhindert. Und jetzt könnte ein mäßig erfolgreicher, durch eine Fernsehshow zur Berühmtheit aufgestiegener Bauunternehmer aus dem wenige Kilometer entfernten Queens das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen. Die Zukunft der Vereinten Nationen scheint in diesen Septembertagen an US-Präsident Trump zu hängen – einem Mann, der kaum ein Jahr nach dem Tag geboren wurde, an dem die 50 Gründungsnationen in San Francisco ihre Charta unterschrieben. Sie beginnt mit den Worten: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen.« Es war der 26. Juni 1945.

Die Vollversammlung ist das einzige UN-Organ, in dem alle Mitgliedsstaaten gleich sind. Hier gilt die Regel: ein Land, eine Stimme. Aber die Resolutionen der Vollversammlung haben keine völkerrechtliche Verbindlichkeit, anders als die des UN-Sicherheitsrats, in den die Vollversammlung zehn ihrer Mitglieder auf zwei Jahre entsendet. Fünf weitere sind dann immer schon da: die »P5«, die ständigen Mitgliedsstaaten, die nicht nur den Vorteil des institutionellen Wissens haben, sondern zusätzlich ein Vetorecht. Wenn China, Frankreich, Großbritannien, Russland oder die USA etwas nicht wollen, sagen sie einfach Nein. Was die Vollversammlung denkt und beschließt, interessiert allerdings selbst die nichtständigen Mitglieder nur selten.

Und trotzdem wird die UN-Vollversammlung zu Recht »Parlament der Menschheit« genannt. In ihr spiegelt sich der politische Zustand der Welt so wider wie in keinem anderen Forum, und nicht nur das: Was hier gesagt wird, verändert die Welt, auch weil sie längst zusieht. Vom Rednerpult der UN-Vollversammlung aus wurde das Ende des Kolonialismus befördert, die Verständigung zwischen Ost und West ermöglicht und die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre eingeleitet. Reden in der UN-Vollversammlung waren ein Ventil, um Aggressionen anders als durch Krieg Luft zu machen, eine Möglichkeit, in schwierigen Zeiten Signale der Verständigung zu senden oder zumindest ein Frühwarnsignal, wenn Verständigung nicht möglich war. Bis in Bismarcks Zeiten hatte das Motto gegolten: Jede Nation für sich. Für jeden Herrscher stand die unbedingte Souveränität seines Staates im Mittelpunkt. Dass die UN-Vollversammlung auch als »größte Politshow der Welt« belächelt wird, verkennt, dass die hier gesprochenen Worte gleich doppelt Auswirkungen haben: in der diplomatischen Welt und der »richtigen« Welt. Auf dem diplomatischen Parkett gilt das gesprochene Wort noch etwas, zumindest war das in den letzten sieben Jahrzehnten so. Auch Twitter hat daran nichts geändert.

In der Vollversammlung entscheidet sich, wo die Weltgemeinschaft durch die UN tätig wird, welche Krisen sie zu lösen versucht, welche Hilfen sie wem zukommen lässt, wen sie isoliert und wen sie fördert. Dort, wo die UN vor Ort, »on the ground«, tätig sind, schlagen sich die Folgen der New Yorker Beschlüsse unmittelbar nieder. Darüber hinaus hat der Diskurs in der Vollversammlung die Grundlagen internationaler Beziehungen entscheidend geprägt: offene Grenzen, der (weitgehende) Verzicht auf Krieg als Mittel der Politik oder universelle Grundrechte, um nur einige zu nennen. Dass die UN auch ganz praktisch das Zusammenleben in der globalisierten Welt ermöglichen – die Tatsache, dass wir internationale Flüge im heutigen Ausmaß haben, unsere Mobiltelefone und Kreditkarten weltweit benutzen können oder auch technische Geräte, die irgendwo sonst auf der Welt hergestellt wurden –, ist eine direkte Folge davon. Ohne die UN-Vollversammlung stünden heute überall Mauern, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Das schließt eine Kritik an dem Gremium, an seiner Langsamkeit, den formelhaften Ritualen und umständlichen Geschäften nicht aus, im Gegenteil. Doch an der Macht der Diplomatie in der Versammlung der Nationen der Welt zu zweifeln, hieße, die Nachkriegsgeschichte zu ignorieren.

Ein bisschen Show ist natürlich trotzdem, und das sind die Momente, die im kollektiven Gedächtnis bleiben. Die Stühle in der Assembly Hall reichen für je fünf Delegierte pro Mitgliedsstaat, und die waren voll besetzt, als der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow am 12. Oktober 1960 ans Rednerpult stürmte. Der Botschafter der Philippinen hatte gerade in seiner Rede der Sowjetunion vorgeworfen, den Völkern Osteuropas ihre Freiheit genommen zu haben. Chruschtschow schob den Botschafter zur Seite und begann eine Tirade gegen den »Trottel und Speichellecker, den Lakaien und Strohmann des amerikanischen Imperialismus« – alles Teil eines vorgeblichen Geschäftsordnungsantrags. Irgendwann soll Chruschtschow in seiner Erregung nicht nur mit seiner Faust, sondern auch mit dem eigenen Schuh auf das Rednerpult eingeschlagen haben. Fotos davon gibt es nicht, aber viele Augenzeugenberichte in den Zeitungen vom Tag danach. Der Höhepunkt des Kalten Kriegs stand damals kurz bevor: 1962 kam die Welt in der Kubakrise einem Atomkrieg so nah wie nie. In der Vollversammlung spiegelte sich die Eskalation zwischen den Blöcken wider, mit einem Schuh statt einer Atomrakete.

1960 war ein gutes Jahr für Skandale, in der Vollversammlung flogen gleich mehrmals die Fetzen. Drei Wochen vor Chruschtschow hatte Fidel Castro zum Plenum gesprochen. Da regierte er seit einem Jahr mit den von ihm geführten Kommunisten Kuba, nachdem der von den USA gestützte Diktator Batista geflohen war. »Obwohl uns nachgesagt wird, dass wir gerne lange reden, seien Sie sicher, dass wir vorhaben, uns kurzzufassen«, begann er seine Rede. Darin prangerte er unter anderem den Umgang mit seiner Delegation an: »Wir sind die einzige Delegation, die Manhattan nicht verlassen darf; alle Hotels wurden davor gewarnt, uns Zimmer zu vermieten, man bekämpft und isoliert uns, unter dem Vorwand der Sicherheit.« Die Rede war mitreißend. Unter den Delegierten gewann Castro viele Anhänger. Er prangerte Rassismus und Kolonialismus an, beschrieb den Befreiungskampf auf Kuba aus seiner Perspektive und beschwor die Einheit der armen Nationen. »Politische Unabhängigkeit ohne wirtschaftliche Unabhängigkeit ist eine Lüge; deshalb unterstützen wir das Streben aller Staaten, politisch und ökonomisch frei zu sein. Freiheit besteht nicht darin, eine Flagge zu besitzen, ein Wappen oder eine Vertretung bei den Vereinten Nationen.« Das richtete sich dagegen, dass China damals noch vom heutigen Taiwan vertreten wurde. Castros Forderung, die Volksrepublik möge Chinas Platz einnehmen, erfüllte sich erst elf Jahre später. Doch niemand zweifelt daran, dass auch Castros kämpferische Rede diesen Zeitenwechsel eingeleitet hat.

Worte zählen in der UN-Vollversammlung, die bis heute eine Art Hochmesse der Diplomatie ist. Ganz so viele wie bei Castro müssen es aber nicht sein: Seine Rede ist bis heute die längste, die jemals vor der Vollversammlung gehalten wurde. Als er mit den Worten endet: »Einige von Ihnen wollten wissen, welche Politik die revolutionäre Regierung Kubas verfolgt – bitte sehr, so sieht unsere Politik aus«, sind 269 Minuten vergangen, fast viereinhalb Stunden. Selbst Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi kam in seiner Rede von 2009, in der er alles zurückwies, »was in der UN-Charta nach der Präambel geschrieben steht«, nur auf eineinhalb Stunden.

Nun also Trump, der Mann, der es gerne spannend macht. Und so inszeniert er am Vortag seines Auftritts ein nicht mal einstündiges Gipfelchen, das er »UN-Reformgipfel« nennt. Seine UN-Botschafterin Nikki Haley hat dafür extra einen Zehn-Punkte-Plan entwickelt. Den ersten Entwurf, so erzählen sich Diplomaten, habe sie in einer absurd undiplomatischen Sprache verfasst. So sei die Rede davon gewesen, man werde UN-Generalsekretär António Guterres für eine bessere Überprüfbarkeit der Institutionen »haftbar machen«. Doch zehn erfahrenen Diplomaten, unter ihnen auch der deutsche UN-Botschafter, gelingt es, die Erklärung vorzeigbar zu formulieren. Sie beginnt jetzt mit den Worten: »Wir danken dem UN-Generalsekretär, dass er seiner Ankündigung einer robusten Reformagenda … Taten folgen lässt.« Die Unterzeichner erklären Guterres ihr Vertrauen, sagen ihm auf vielerlei Weise ihre Unterstützung zu und loben die Rolle der UN als Plattform der Verständigung. Das passt auf eine halbe Seite und ist inhaltlich unspektakulär, zumal unter dem Schreiben nicht der Hinweis fehlt, es sei völkerrechtlich völlig irrelevant. Aus dem Versuch, Guterres zu schwächen, wird ein Schreiben, das die US-Regierung zu seinem Unterstützer macht.

Haley scheint davon nichts zu merken, als sie bei Trumps Vorgipfel freudestrahlend verkündet, bereits 128 Staaten hätten ihre Unterschrift unter die »Ten point declaration« gesetzt. Die Veranstaltung selber ist nicht weniger skurril. Staats- und Regierungschefs, Außenminister oder hochrangige Diplomaten geben die Kulisse ab zu einer Rede von Guterres und einer zweiten von Trump. Man gibt sich demonstrativ geschlossen, auch wenn Trump auf ein paar Provokationen nicht verzichten will. In den vergangenen Jahren hätten die UN ihr volles Potenzial wegen Bürokratie und Missmanagement nicht ausgeschöpft, kritisiert er. Aber dies ändere sich nun unter Guterres, der einen fantastischen Job mache. Der UN-Generalsekretär bekräftigt seinerseits seinen Willen zu umfassenden Veränderungen. Die UN hätten die Verpflichtung, weniger Bürokratie und mehr Ergebnisse zu liefern. Deshalb würden Friedenseinsätze künftig effizienter gestaltet, die UN-Entwicklungsarbeit werde mehr als bisher auf die Arbeit im Feld fokussiert sein. Guterres verweist zudem auf das konsequente Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch durch UN-Personal und die Einrichtung eines Rats von hochrangigen Vermittlern, die präventiv tätig werden und damit die Eskalation von schwelenden Krisen frühzeitig verhindern sollen. Damit geben beide wenig preis, aber die Stimmung ist gut. Trump scheint vor der Welt eine gute Figur machen zu wollen. Die Nervosität in der Vollversammlung lässt nach. Zu Unrecht, wie sich am nächsten Morgen herausstellt.

Am Dienstag, dem 19. September 2017, tritt Donald Trump ans Rednerpult der UN-Vollversammlung. Der 2014 komplett renovierte Saal erinnert nicht von ungefähr an einen Tempelbau. Hinter dem erhöhten Sprecherpult aus dunklem Marmor schießt eine golden leuchtende Wand in die Höhe, in deren Zentrum das Wappen der Vereinten Nationen steht: die Kontinente umgeben vom friedensspendenden Lorbeerkranz. Wer hier spricht, der richtet sich an die ganze Welt. Als Papst Franziskus 2015 von dieser Kanzel aus erklärte: »Ein selbstsüchtiger und grenzenloser Durst nach Macht und materiellem Reichtum führt zum Missbrauch unserer verfügbaren Ressourcen und zur Zurückweisung der Schwachen und Benachteiligten«, da schien der Saal zu leuchten.

Als Donald Trump sich jetzt an die Vertreter aller 193 UNMitgliedsstaaten wendet, ist das Bild ein anderes. Während der 45. Präsident der Vereinigten Staaten über 72 Jahre diplomatischer Gepflogenheiten hinwegwalzt, ähnelt die Szenerie immer mehr der eines dunklen Kults in einem Horrorfilm. Die beiden neben der goldenen Wand montierten Riesenbildschirme, die Trumps Fratze monsterhaft vergrößern, verstärken diesen Eindruck noch. Es ist das Bild einer Entweihung und Trumps Auftritt zu Beginn der Vollversammlung ermutigt andere, durch ihre Reden an der Zukunft der Vereinten Nationen zweifeln zu lassen. Das Parlament der Menschheit zeigt sich gespalten, zerrissen zwischen globaler Verständigung und Solidarität auf der einen Seite und dem nationalistischen Egoismus und Populismus, dessen Symbolfigur Trump ist, auf der anderen. Blutrünstige Diktatoren haben hier gesprochen, Hardliner und Kriegstreiber, Rassisten, Imperialisten, Kolonialisten, Kommunisten und religiös Verblendete. Die Institution hat sie alle überlebt. Und diesmal?

In seiner Rede prahlt Trump zunächst von seinen (vermeintlichen) Errungenschaften als Präsident und betont die Stärke der USA. Seit seiner Wahl seien die Aktienkurse an der Wall Street auf ein Allzeithoch gestiegen, die Arbeitslosigkeit sei dank seiner Arbeitsmarktreformen so niedrig wie seit 16 Jahren nicht mehr, Firmen kehrten in die USA zurück, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Die gebannt zuhörenden Unterhändler aus aller Welt fröstelt es vielleicht zum ersten Mal, als Trump erklärt, sein Land werde fast 700 Milliarden Dollar in Militär und Verteidigung investieren: »Unser Militär wird bald das stärkste sein, das wir jemals hatten.« Diese Botschaft hallt nach, während Trump ein Plädoyer für den souveränen Nationalstaat hält. »In der Außenpolitik werden wir, wie schon die Gründer Amerikas, das Prinzip staatlicher Souveränität wieder in den Mittelpunkt stellen. Als Regierung sind wir zuerst unserem Volk, unseren Bürgern verpflichtet.« Er, Trump, werde immer Amerika an die erste Stelle setzen, »so wie Sie, als Führer Ihrer Staaten, ebenfalls Ihre Nationen an die erste Stelle setzen werden und sollten«. Applaus, wenn auch zaghaft.

Noch ist nicht ganz klar, worauf Trump eigentlich hinauswill. Die Vereinigten Staaten würden immer ein großer Freund der ganzen Welt und vor allem ihrer Verbündeten bleiben, verspricht er. »Aber wir werden uns nicht länger ausnutzen lassen oder einseitige Verträge unterzeichnen, für die die Vereinigten Staaten nichts zurückbekommen. Solange ich dieses Amt bekleide, werde ich Amerikas Interessen über alle anderen setzen.« Jetzt klatscht niemand mehr, obwohl sich manche ins Fäustchen lachen dürften. Denn was Trump Souveränität nennt (21 Mal benutzt er den Begriff in seiner Rede), ist in Wirklichkeit ein Rückzug ins Nationale. Trump ruft alle Staaten auf, für sich selbst zu kämpfen, und behauptet, nur starke, souveräne und unabhängige Nationen könnten die Welt als Ganzes stärken. »Die wirkliche Frage, der sich die Vereinten Nationen heute stellen müssen, ist eine ganz grundsätzliche: Sind wir immer noch Patrioten? Lieben wir unsere Nationen genug, um ihre Souveränität zu verteidigen und ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen?« Trump zitiert dafür sogar einen seiner Amtsvorgänger, Harry S. Truman, der – ganz im Gegensatz zu Trump – 1946 vor den UN ein flammendes Plädoyer für diese Institution hielt. Trump vereinnahmt den Demokraten dessen ungeachtet als Kronzeuge für sein nationalistisches Gegenprogramm: »Präsident Truman sagte vor gut 70 Jahren, der Erfolg der UN hänge von der individuellen Stärke ihrer Mitglieder ab.« Nichts anderes, so Trump, wolle er.

Was die UN angeht, so wird er ganz konkret: Die USA seien nur einer von 193 UN-Mitgliedsstaaten und müssten dennoch 22 Prozent des Haushalts zahlen, oder sogar mehr. »Die USA schultern eine ungerechte Last, wobei, lassen Sie mich ehrlich sein, wenn die UN ihre Ziele verwirklichen würden, vor allem Weltfrieden, also dann wäre die Investition es voll wert.« Doch dem sei eben nicht so: »In weiten Teilen der Welt herrschen Konflikte und einige Länder sind tatsächlich auf dem Weg zur Hölle.« Eine Welt souveräner und starker Nationen, wie Trump sie sich vorstellt, soll die Lasten für Hilfsoperationen, Militäreinsätze oder andere UN-Operationen offenbar unabhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Staaten schultern. Die USA jedenfalls wollen damit nicht belastet werden. Man könnte meinen, das zu sagen sei zwar ungewöhnlich, aber Trumps gutes Recht. Doch dann stellt sich unweigerlich die Frage nach der Verantwortung für den Zustand der Welt. Nicht nur im Nahen und Mittleren Osten tragen die Vereinigten Staaten eine erhebliche Mitschuld daran, dass Konflikte und Kriege ausgebrochen sind und bis heute schwelen, von der Verantwortung für Klimawandel und wirtschaftliche Ungleichheit ganz zu schweigen.

In seiner Predigt für die unbedingte Souveränität aller Nationen teilt Trump außerdem kräftig gegen diejenigen aus, deren – souveränes – Handeln ihm nicht gefällt. Allen voran natürlich Nord-Korea unter seinem Herrscher Kim Jong-un, mit dem sich Trump schon vor der Vollversammlung einen heftigen Schlagabtausch via Twitter geliefert hat. Diplomaten hatten gehofft, unter dem Wappen der UN lasse sich Trump zu einer Versöhnungsgeste hinreißen, schließlich bedrohen sich beide Seiten mit Atomwaffen. Doch das Gegenteil ist der Fall. »Die Vereinigten Staaten haben große Stärke und Geduld, aber wenn wir gezwungen sind, uns oder unsere Verbündeten zu verteidigen, dann haben wir keine Wahl, als Nordkorea komplett zu zerstören.«

Stille im Saal. Die Zerstörung einer anderen Mitgliedsnation hat noch niemand in diesem Forum angedroht. Es ist der offensichtlichste Bruch mit 72 Jahren US-amerikanischer Weltpolitik. Trump merkt nichts von der Irritation im Publikum. Der nordkoreanische Botschafter kann nicht protestieren, er hat den Saal schon verlassen, als Trump ans Rednerpult gerufen wurde. Der US-Präsident fährt fort, indem er Kim Jong-un persönlich verhöhnt, den »Raketenmann«, der auf einer Kamikaze-Mission für sich und sein Regime sei. »Die Vereinigten Staaten sind bereit, willens und in der Lage, aber hoffentlich wird das nicht nötig sein. Dafür sind schließlich die Vereinten Nationen da. Schauen wir mal, wie sie das anpacken.« Sie, nicht wir.

So geht es weiter. Das Atomabkommen mit dem Iran: eine Schande. Kubas Regierung: korrupt. Venezuelas sozialistischer Herrscher Maduro: ein Diktator, der die einst so reiche Ölnation an den Rand des Zusammenbruchs geführt habe, »nicht weil der Sozialismus schlecht umgesetzt wurde, sondern weil er wortgetreu eingeführt wurde«. In Venezuela könnten die USA nicht einfach dastehen und zusehen: »Unser Respekt für Souveränität ist ein Aufruf zum Handeln« – eine Aussage, die nahezu alle südamerikanischen Vertreter als Bereitschaft zum militärischen Eingreifen verstehen und die vom Maduro-Regime auch umgehend zu Propagandazwecken genutzt wird. Es ist vielleicht das Einzige, was die Venezolaner noch eint: der Widerstand gegen eine mögliche US-Militärintervention in ihrem Land.

Dreiundvierzig Minuten dauert Trumps Rede. Danach herrscht Aufruhr. Trump hat den Saal längst verlassen, trotzdem wird dort über seine Rede immer noch lautstark diskutiert. Die ständigen Ermahnungen des Präsidenten der Vollversammlung nutzen nichts. Trumps Nachredner, Guineas Präsident Alpha Condé und die schweizerische Bundespräsidentin Doris Leuthard, sprechen vor allem fürs Protokoll. Das Erschütterndste an Trumps Rede ist nicht einmal, dass der Oberbefehlshaber der größten Atommacht mit der möglichen Auslöschung eines Landes und seiner 25 Millionen Bewohner kokettiert hat. Und auch nicht, dass Trump ohne erkennbare Strategie das mühsam ausgehandelte Atomabkommen mit dem Iran torpediert hat und damit in einer ohnehin explosiven Weltgegend zündelt. Am erschütterndsten ist vielmehr, dass Trump den Austritt der USA aus dem Wertesystem erklärt hat, das sie seit dem Zweiten Weltkrieg angeführt haben, auch wenn man die Kluft zu ihrem tatsächlichen Handeln kritisieren mag. Die USA haben den Westen erfunden, jenes ideelle Konstrukt, in dem – wie der damalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel später in New York sagen wird – die Stärke des Rechts das Recht des Stärkeren bricht. Damit ist es unter Trump vorbei, für ihn gilt das Gesetz des Wilden Westens.

Selbst George W. Bush hat noch um die Zustimmung der Weltgemeinschaft geworben, als er am 10. November 2001 auf der wegen der Anschläge vom 11. September verschobenen Vollversammlung seinen Krieg gegen den Terror vorbereitete. »Das Handeln der Vereinten Nationen in den vergangenen zwei Monaten belegt unsere gemeinsame Antwort auf diese Herausforderung«, sagte er und lobte den Sicherheitsrat für seine Anti-Terror-Beschlüsse und alle Delegierten der Vollversammlung für ihre Unterstützung. Dass Bush im Sicherheitsrat mit gezinkten Karten spielte, wie in einem späteren Kapitel erörtert wird, steht freilich auf einem anderen Blatt. Doch selbst der vor Trump vielleicht umstrittenste US-Präsident nach Nixon setzte auf eine globale Politik mit den USA an der Spitze, während Trump sein Land zum einsamen Reiter macht. In seiner Drohung, Nordkorea »auszulöschen«, ist keine Rede davon, etwa eine Entscheidung im Sicherheitsrat herbeizuführen. Trump schafft ein Bild von »wir« gegen »die«: »Die«, nämlich die UN, sollen sich abmühen, Kim in die Schranken zu weisen. Sonst kommen »wir«, die USA, und zerstören sein Land.

Dass Trump ausgerechnet Harry S. Truman zu seinem Kronzeugen macht, ist einen genaueren Blick wert. Der 1884 als Sohn einfacher Bauern in Missouri geborene Truman meldete sich 1918 freiwillig als Soldat zum Ersten Weltkrieg, ging dann in die Politik und machte sich im Zweiten Weltkrieg als Vorsitzender des Ausschusses für Rüstungsproduktion einen Namen. An der Seite Franklin Roosevelts wurde Truman 1944 als Vizepräsident gewählt, musste aber nach wenigen Monaten wegen Roosevelts Tod das Präsidentenamt übernehmen. Als amtierender US-Präsident nahm er 1945 in San Francisco an der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen teil und sprach am 23. Oktober 1946 vor der ersten UN-Vollversammlung. Das von Trump verwendete Zitat stammt aus einer Rede, die Truman am 19. Dezember 1947 vor dem Kongress in Washington hielt, um Geld für den von ihm vorangetriebenen Marshallplan lockerzumachen. Bei allen drei Gelegenheiten plädierte Truman indes leidenschaftlich für die globale Zusammenarbeit. Er sprach sich nicht etwa für, sondern ausdrücklich gegen Nationalismus aus. Die Mitgliedsstaaten dürften ihre Macht nicht aus egoistischen Motiven gebrauchen, weder zum eigenen Vorteil noch dem einer kleinen Gruppe von Staaten. »Wir alle müssen uns klarmachen, dass wir nicht immer machen können, was wir wollen, egal wie groß und stark wir sind«, sagte Truman in San Francisco. »Jede Nation, die ihre Sicherheit erhalten will, muss bereit und willens sein, diese Sicherheit mit allen zu teilen – das ist der Preis, den jede Nation für den Weltfrieden zahlen muss.«

Hätte Truman erlebt, wie Trump vor den UN für nationalen Egoismus plädiert, während Teile der Welt »zur Hölle« gehen – er hätte vermutlich lautstark protestiert. Dass Trump ihn in seine Rede einbaute, ist nichts weniger als Geschichtsfälschung. Und es zeigt, dass selbst Trumps Redenschreiber sich offenbar bewusst sind, was für einen enormen Paradigmenwechsel sie im Verhältnis der USA zum Rest der Welt und der UN unternehmen. Nahezu hilflos suchen sie ausgerechnet dort nach Unterstützung, wo die bisherigen Säulen der amerikanischen Weltpolitik verortet waren: bei ihren ideologischen Gegnern, den Befürwortern der UN.

Zu denen gehört auch Thomas G. Weiss, der von 1999 an ein Projekt zur Ideengeschichte der Vereinten Nationen geleitet hat und Professor am Graduate Center der City University of New York (CUNY) ist. Weiss ist einer der gefragtesten Experten, wenn es um Geschichte, Konzeption und Praxis der UN geht, aber unkritisch ist er nicht: Eines seiner bekanntesten Bücher trägt den Titel »Was mit den UN nicht stimmt und wie wir das beheben können«. 2016 erhielt er das renommierte Andrew Carnegie Fellowship und forschte zu der Frage, wie eine Welt ohne die UN aussehen könnte. Als ich ihn am Tag nach Trumps Rede treffe, wirkt er überraschend mitgenommen, als könne er noch nicht glauben, was sein Präsident da getan hat: »Ich verfolge die Geschehnisse bei den UN seit 50 Jahren, aber das ist ein neuer Tiefpunkt in der internationalen Diplomatie.« Und er ist überzeugt, dass Trumps Auftritt Folgen haben wird. »Die Lage ist sehr, sehr besorgniserregend für die UN«, so Weiss. »Die USA sind für bestimmte Aktivitäten der UN absolut essenziell.«

Zudem sei Trump nicht der Einzige, der die UN als Garant aufklärerischer Werte und Menschenrechte demontieren will, bestätigt Weiss. »Für mich sieht es so aus, als hätte Trump mit seiner Rede gestern Beifall von denen erheischen wollen, die Menschenrechte für Luxus halten – auf ›Staatssouveränität‹ berufen sich schließlich Simbabwe oder Myanmar, aber auch China, Russland und Indien. Das Trump-Zeitalter ist eben auch das Zeitalter von Putin, Erdoğan, Duterte und den rechten Parteien in Frankreich und Deutschland, wo Nationalismus und Isolationismus immer mehr an der Tagesordnung sind.« Allerdings haben die USA innerhalb der UN immer schon ihre eigene Politik verfolgt. Gerade weil sie viele internationale Organisationen mitbegründet oder vorangetrieben haben, konnten sie massiv Einfluss nehmen und »westliche Werte« ebenso etablieren wie westliche Interessen. Damit ist es jetzt vorbei, doch das ist keine gute Nachricht, wenn man sich Trumps Unterstützer ansieht – und diejenigen, die die USA als führende Kraft bei den UN ablösen wollen: die Chinesen.

Den bisherigen Verbündeten der USA hat Trump den Krieg erklärt, wenn auch vorerst nur einen kalten. Er hat sein Land diesmal auf der anderen Seite postiert, auf der jener Nationen, die sich jede Einmischung von außen verbitten, die Multilateralismus verteufeln und die Existenz universeller Menschenrechte bestreiten. Es gibt zu denken, wenn Russlands Außenminister Sergej Lawrow in der Vollversammlung Trump dafür lobt, dass er endlich das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten in den Mittelpunkt der amerikanischen Weltpolitik stelle. Erst im Dezember 2016 hatte Russland eine Abstimmung zum Thema in der Vollversammlung gewonnen. Daran erinnert Lawrow jetzt: »Die Länder, die ungeachtet der Ziele und Prinzipien der UN-Charta versuchen, die globale Politik zu dominieren und ihre eigenen Modelle von Entwicklung und Werten anderen Staaten aufzuzwingen, waren die Unterlegenen in dieser Abstimmung.« Fast wirkt der erfahrene Diplomat so, als könne er selbst noch nicht glauben, dass die (im Dezember 2016 noch unter Obama unterlegenen) USA ihre Weltpolitik so grundlegend ändern könnten wie von Trump angekündigt.

Mit »Werten« meint Lawrow zudem etwas anderes als die meisten Völkerrechtler: Seit Jahren setzt sich Russland mit wechselnden Allianzen autoritärer Staaten dafür ein, das Konzept der »universellen Menschenrechte« durch das der »traditionellen Werte« zu ersetzen. Wenn in Russland Schwule verfolgt werden, dann wäre das nach Lawrows Lesart kein Menschenrechtsverstoß, sondern legitim im Sinne traditioneller Werte. Werte, die jede Regierung nach Gusto umdeuten kann, versteht sich. Immer mehr autoritäre Regime in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten, in Asien und auch in Europa unterstützen explizit oder implizit eine solche Umdeutung bislang als unveräußerlich verstandener Grundrechte. Zählt jetzt auch Trump zu den Unterstützern?

Zweifellos zählt Rodrigo Duterte dazu, der seit Mitte 2016 regierende philippinische Präsident, in dessen »Kampf gegen die Drogen« mehr als 7000 angebliche Kriminelle innerhalb von nicht einmal einem Jahr getötet worden sein sollen. Die meisten davon ohne Prozess, oft auf offener Straße. Er selber habe als Bürgermeister eigenhändig Drogenhändler erschossen, um Polizisten ein gutes Beispiel zu geben, sagte Duterte einmal. Sein Außenminister Alan Cayetano singt in der UN-Vollversammlung ein Loblied auf den Regierungschef und rechtfertigt den erbarmungslosen Feldzug von Polizei und Todesschwadronen. Dabei beruft er sich auf das Konzept der Schutzverantwortung – ein von den UN nach dem Völkermord von Ruanda geprägter Begriff, der die Zivilbevölkerung vor schwersten Menschenrechtsverletzungen (wie denen in Dutertes Philippinen) schützen soll. Und er zitiert Trump: Es sei richtig, dass die Souveränität jeder Nation Vorrang habe vor allem anderen. »Wir nehmen die Weisheit in den Worten zur Kenntnis, die da lauten: Alle verantwortlichen Führer müssen die Interessen ihrer eigenen Bevölkerung an erste Stelle setzen.« Die philippinische Regierung mache genau das und schütze dabei die Menschenrechte der Gesellschaft, die von Drogengangs zerstört zu werden drohe. So wird gemäß Trump-Doktrin aus von der Regierung angeordneten, zumindest aber geduldeten Massenhinrichtungen, die ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof sein müssten, eine durch die staatliche Souveränität gedeckte Entscheidung, mutmaßliche Straftäter per kurzem Prozess hinzurichten, um die »Menschenrechte« anderer zu schützen.

Auch Ungarns Außenminister Péter Szijjártó stellt sich an die Seite Trumps. Man sei geschockt, dass es nach den barbarischen Terroranschlägen überall in Europa noch Repräsentanten internationaler Organisationen und Regierungschefs großer Staaten gebe, die Migration als etwas Positives bezeichneten. »Das ist ein unakzeptables und extrem unverantwortliches Verhalten.« Wer auf der Suche nach einem besseren Leben fliehe, der erhöhe für die Bevölkerung in den Zielländern die Gefahr, Opfer von Terroranschlägen zu werden. Der Ungar versucht gar nicht erst, diesen hanebüchenen Zusammenhang zu erklären. Stattdessen zitiert auch er Trumps Mantra der staatlichen Souveränität: Alle Staaten hätten das fundamentale Recht und die Pflicht, die eigene Bevölkerung und die eigenen Grenzen zu schützen und alleine zu entscheiden, wen sie aus welchen Gründen auch immer auf ihr Territorium lassen. Tatsächlich garantiert das Völkerrecht all das. Nur hat Ungarn internationale Verträge geschlossen, mit denen es weiter gehende Verpflichtungen eingegangen ist, etwa die, Verfolgte aufzunehmen und jedem ein ordentliches Anerkennungsverfahren zu garantieren. Das erwähnt Szijjártó nicht, sondern beruft sich schlicht auf »Souveränität«.

Deutschlands Außenminister Gabriel, der wenige Tage vor der Bundestagswahl bereits zu wissen scheint, dass er aus dem Amt scheiden wird, wirkt dagegen fast verloren. Er setzt sich in seiner Rede vehement für die UN-Architektur ein: Nicht »Germany first«, sondern der Vorrang von europäischer und internationaler Verantwortung habe Deutschland Frieden und Wohlstand verschafft. Globale Probleme ließen sich nur durch das oftmals mühselige Herausarbeiten gemeinsamer Interessen lösen. Dazu brauche es starke, internationale Institutionen, allen voran die Vereinten Nationen. »Den Vereinten Nationen müssen wir die Mittel und auch mehr Freiheiten geben«, so Gabriel. »Sie werden eher mehr Geld brauchen.« Es könne nicht sein, dass die UN mehr Zeit mit Bettelbriefen und Bittstellungen verbrächten als damit, effektive Hilfe zu organisieren. Ein solches Bekenntnis, zumal eines reichen Landes, hört man sonst kaum. Schließlich appelliert Gabriel: Gerade mit Blick auf das Weiterverbreitungsverbot atomarer Waffen sei ein größeres Vertrauen zwischen den USA, Russland und China unentbehrlich. Doch woher dieses Vertrauen in diesen Tagen kommen soll, das weiß auch Gabriel nicht.

Auffällig ist auch, wen der Totalausfall der USA in diesen Septembertagen stärkt. Selbst Irans Präsident Hassan Rohani, dessen Land gerade mehrere Kriege im Mittleren Osten führt, wirkt geradezu wie ein Staatsmann, wenn er Trump vorwirft, dessen Hassrhetorik sei dem Rahmen der UN nicht angemessen. Über allen aber strahlt China. Bei der UN-Vollversammlung ist es Außenminister Wang Yi, der in seiner Rede die Bedeutung der UN hervorhebt. Entscheidend sei ihre Rolle in den vergangenen Jahrzehnten gewesen, bei der Wahrung eines relativen Friedens ebenso wie bei der Entwicklung weiter Teile der Welt. Jetzt befinde man sich an einem Scheideweg: »Um Frieden, Entwicklung und Würde für alle zu gewährleisten, müssen wir die UN als Wächter des Weltfriedens akzeptieren.« Wang lobt China als »Champion des Multilateralismus«, der gegen drohende Rückschläge in der Globalisierung streiten werde. Die Aussage ist klar: China möchte starke Vereinte Nationen, solange die eigene Nation eine führende oder womöglich schon bald die führende Rolle spielen kann. So, wie die USA sieben Jahrzehnte lang immer wieder westliche Werte und Interessen durchdrücken konnten, würde es dann wohl auch China tun – mit seinen Werten und Interessen. Die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, die China bei Kritik an seinen Menschenrechtsverletzungen immer wieder fordert, könnte dann zur völkerrechtlichen Doktrin werden. Was das bedeuten würde, ist Thema in einem späteren Kapitel.

Doch die UN-Vollversammlung hat auch gezeigt: Die Verfechter einer liberalen Weltordnung wachen auf. Allen voran bot Generalsekretär António Guterres den Trumps dieser Welt die Stirn. Er warnte vor denen, die zum eigenen Vorteil spalten und dämonisieren. Die Flüchtlingskrise: für Guterres auch eine Krise der Solidarität. Die Armut in der Welt: Folge des sagenhaften Reichtums einiger weniger. Die Lösung: enger zusammenrücken, gemeinsam für die eine Welt streiten. Dabei ist Guterres kein Träumer, sondern ein Macher. Gerade hat er die Reform der Blauhelmeinsätze, des UN-Entwicklungsprogramms, der Verwaltung angeschoben. Alles gleichzeitig und unter massivem Spardruck, vor allem aus Washington. Er hat einen Rat von prominenten Vermittlern einberufen, der Kriege im Vorfeld verhindern soll, und eine Opferanwältin für diejenigen ernannt, die sexuelle Gewalt durch UN-Angestellte ertragen mussten. Unter anderem. Mit seinem Drive und mit seinem Idealismus versteht es Guterres, bei der schweigenden Mehrheit der Mitgliedsstaaten die Lust auf mehr UN zu wecken. Und Trump hat seinerseits den Widerstandsgeist angefacht. So könnte es sein, dass gerade Trumps kalte Kriegserklärung bereits seine Niederlage eingeleitet hat. Wirklich Vereinte Nationen könnten über Trump triumphieren.

Doch um darauf hoffen zu können, müssen sich die Vereinten Nationen selbst grundsätzlich verändern. Das zeigt der Blick ins Feld, dorthin, wo die UN die mit Abstand meisten ihrer Mitarbeiter beschäftigen. Im Südsudan, der jüngsten Nation der Welt, versuchen Soldaten und Polizisten unter UN-Mandat, einen seit Ende 2013 wieder aufgeflammten Bürgerkrieg zu beenden. Dort zeigt sich, mit welchen konkreten Herausforderungen es die UN tagtäglich zu tun haben, welche Auswirkungen Budgetkürzungen für Millionen Menschen gerade in den ärmsten Ländern der Welt haben – und wie groß die Herausforderungen sind, die mit einer Reform der Vereinten Nationen einhergehen. Bereits jetzt lässt sich im Südsudan feststellen, was passiert, wenn die Weltgemeinschaft zu wenig tut, um grundlegende Menschenrechte zu gewährleisten: Zerfall der zivilisierten Ordnung, Chaos, Krieg.