Berüchtigte Bataillone

Wie UN-Blauhelme die Zivilbevölkerung im Stich lassen

Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen (…) zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen.

UN-Charta, Art. 39

Margrit Yabo sitzt unter einem Dornbusch und schweigt. Bei jedem Schlag, einem lauten »Wumm«, zucken die nach vorne hängenden Schultern und die streichholzdünnen Beine der 78-Jährigen zusammen. Dabei sind es nur die beiden jungen Männer, die im Auftrag des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR aus grob behauenen Holzpfählen das Gerüst ihrer Notunterkunft zusammenzimmern. Sie sparen an Nägeln, deshalb sind es nur wenige Schläge. Wumm. Zuck. Auf Yabos Kleid sind bunte Blumen gedruckt. Sie strahlen im grellen Sonnenschein, was erstaunlich ist. Denn Yabo hat eine lange Flucht hinter sich. »Ich bin alleine zu Fuß vom Fluss Yei hierher nach Uganda gelaufen, acht Tage, acht Nächte«, sagt sie. Jetzt ist sie in Sicherheit, aber die Geschehnisse in ihrer Heimat, dem Südsudan, lassen sie nicht los. »Eines Tages kamen die Dinka, sie haben das ganze Dorf überfallen und uns abgeschlachtet wie Ziegen.« Wumm. Zuck. Dinka sind die größte Volksgruppe im Südsudan. Ihre Kampfverbände haben seit dem Wiederausbruch des Bürgerkriegs im Südsudan Ende 2013 zur Regierung von Präsident Salva Kiir gehalten. Vier Jahre später wankt diese Loyalität, doch Margrit Yabo ist überzeugt, dass die Dinkaverbände in ihrem Dorf aufseiten der Regierung kämpften, sie trugen Armeeuniformen. Wumm. Zuck.

Sie selbst und ihre Familie gehören zu den Kakwa, einer kleinen Ethnie, von der die Regierung in der Hauptstadt Juba pauschal behauptet, sie unterstütze die Rebellen des ehemaligen Vizepräsidenten Riek Machar. Der stammt zwar von ganz woanders, aber nach vier Jahren Bürgerkrieg spielen Fakten ohnehin keine Rolle mehr. Gut möglich, dass die Angreifer nur scharf waren auf das Vieh im Dorf, auf ein paar Lebensmittel oder auf Gewalt. Vergewaltigung, von Männern und Frauen, selbst von Babys, ist inzwischen gängige Kriegswaffe im Südsudan. Wumm. Zuck. »Den Rest meiner Familie haben sie noch im Dorf umgebracht, ich konnte meinen Mann nicht einmal begraben, sie kamen wieder, ich musste laufen, um zu überleben.« Mitnehmen konnte Margrit Yabo kaum etwas, die Täter plünderten die Hütten, bevor sie sie anzündeten. Das wenige, was sie bei sich hatte, haben ihr auf der Flucht Wegelagerer gestohlen. Wumm. Zuck. Das Gerüst steht, die Männer legen eine weiße Plane mit UNHCR-Logo darüber. Yabo entspannt sich etwas. »Ich hatte kein Essen dabei, ich musste im Busch von Gräsern leben und Wasser aus Bächen trinken.«

Das UNHCR, das Welternährungsprogramm der UN und humanitäre Helfer aus der ganzen Welt kümmern sich im Norden Ugandas um Flüchtlinge wie Margrit Yabo. Seit einem angeblichen Putsch am 15. Dezember 2013, den die Regierung Vizepräsident Machar zur Last legt, hat sich die Lage kontinuierlich verschlimmert. Im Sommer 2016 eskalierte sie derart, dass innerhalb weniger Wochen Hunderttausende nach Nord-Uganda flohen. Ende 2017 sind fast zwei Millionen Südsudanesen Flüchtlinge im eigenen Land, noch einmal genauso viele sind über die Grenzen geflohen, vor allem nach Uganda, Äthiopien und in den Sudan. Mehr als sechs Millionen Menschen im Südsudan sind – wegen des Bürgerkriegs und einer Dürre – auf Hilfen angewiesen. Doch der Bürgerkrieg geht dessen ungeachtet weiter, immer wieder spalten sich Rebellengruppen ab, was Friedensgespräche nahezu unmöglich macht. Zuletzt hatte die Regierung ohnehin kein Interesse mehr an einer friedlichen Einigung gezeigt. Die schmale Elite im erst 2011 als unabhängig anerkannten Staat, nach Schätzungen der ärmste der Erde, fährt teure Geländewagen, verschachert Tropenholz und kauft von den Gewinnen Villen im Ausland, gerne in den Edelvierteln der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Sie lässt keinen Willen erkennen, das Leid der Bevölkerung zu beenden, auch wenn die fehlenden Einnahmen aus dem Ölgeschäft spürbar die lokale Ökonomie geschwächt haben.

Dabei sollten eigentlich Truppen unter UN-Mandat eine Eskalation der Gewalt im Südsudan verhindern. Die UN-Mission im Südsudan, kurz UNMISS, gibt es seit dem ersten Tag des jungen Staats. Ihre Einrichtung hatte der Sicherheitsrat am Vorabend der Unabhängigkeit vom Sudan am 8. Juli 2011 beschlossen. Resolution 1996 beschwört nach mehr als 20 Jahren Bürgerkrieg ein kohärentes Vorgehen der UN im Südsudan. Bis zu 7000 Soldaten und 900 Polizisten sollen dazu beitragen, Frieden und Sicherheit in einem Land herzustellen, in dem praktisch jeder Haushalt über eine Kalaschnikow oder andere Schusswaffen verfügt und nur ein Bruchteil der Einwohner lesen oder schreiben kann. Die Folgen des Bürgerkriegs. Ziel soll es sein, der südsudanesischen Regierung ihre Arbeit zu ermöglichen, frühzeitig vor neuen Konflikten zu warnen und die Sicherheitskräfte des neuen Staats aufzubauen. Im ganzen Südsudan, der etwa so groß ist wie die Ukraine, gibt es kaum asphaltierte Straßen, weite Teile des Landes sind in der Regenzeit gar nicht erreichbar, weil selbst die Landebahnen überspült sind. Es ist eine Aufgabe kaum vorstellbaren Ausmaßes, zumal die Regierenden von heute die Rebellen von gestern sind. Außer Schießen haben die meisten nichts gelernt. Wie sollen sie jetzt regieren?

Doch der Sicherheitsrat gab sich in seiner Resolution optimistisch. Vielleicht könne die Zahl der Blauhelme ja nach drei oder spätestens sechs Monaten auf 6000 reduziert werden, heißt es dort. Es kam anders. Am 19. Dezember 2013, nur vier Tage nach Ausbruch des neuen Bürgerkriegs, wird das UNMISS-Camp in der Stadt Akobo überfallen; zwei indische Blauhelmsoldaten und zwanzig Südsudanesen, die in dem Lager Unterschlupf gesucht hatten, werden getötet. Der UN-Sicherheitsrat reagiert am 24. Dezember und erhöht die Zahl der Blauhelme auf 12 500. Es ist nicht das letzte Mal. Inzwischen sind bis zu 17 000 Soldaten Teil der UN-Mission im Südsudan, dazu kommen mehr als 2100 Polizisten. Auch Bundeswehr und deutsche Polizisten sind darunter, ihre Zahl schwankt. 2017 sind es 277 Soldaten, 37 Polizisten und 20 Militärexperten. Der Einsatz ist einer der teuersten der UN: Das Budget beträgt 1,08 Milliarden US-Dollar für zwölf Monate. Das ist fast ein Sechstel des gesamten Budgets von 6,8 Milliarden, mit dem die UN 14 ihrer 15 Friedensmissionen finanziert. Von ihnen haben nur die Missionen im Kongo, MONUSCO, und die in Mali (MINUSMA) ebenfalls ein Milliardenbudget.

Eine der wichtigsten Aufgaben, der die 17 000 UN-Soldaten im Südsudan nachkommen sollen, ist der Schutz der Zivilbevölkerung. In den mehr als vier Jahren Bürgerkrieg ist im Südsudan eine neue Art von Lagern für Flüchtlinge, die im UN-Jargon »intern Vertriebene« heißen, entstanden: die Protection of Civilian-Sites, Schutzzonen für Zivilisten. Als Bewaffnete Christine Waranis Haus in der Stadt Yambio überfielen, floh sie in eine dieser Zonen. »Alle sind dorthin gerannt, die Schutzzone ist innerhalb des UN-Geländes, deshalb ist es dort sicher«, erzählt sie mir in einem Flüchtlingslager in Uganda. Einige Tage habe sie dort ausgehalten, aber dann habe sie sich in einer Kampfpause vom Gelände geschlichen. »Wir sind von dort in den Kongo geflohen und dann über Umwege hierher nach Nord-Uganda.« Der Weg ist gefährlich, denn auch in den kongolesischen Provinzen, durch die Warani floh, wird gekämpft. Doch auf dem UN-Gelände bleiben wollte sie nicht. »Ja, es ist sicher, aber es gibt praktisch nichts: Keine Zelte, keine Latrinen, Wasser und Essen sind knapp.« Die Schutzzonen für Zivilisten sind innerhalb von UNMISS umstritten, weil die Führung Angst hat, gut ausgestattet könnten sie zu viele Flüchtlinge anlocken. Dafür fehlen Geld und Kapazitäten. Aber hätte Warani nicht warten können, bis die UN-Blauhelme eingegriffen und die Kämpfe in Yambio beendet hätten? Die Südsudanesin schaut mich erstaunt an. »Gegen die Soldaten können die Blauhelme doch nichts unternehmen. Sie sorgen für einen sicheren Ort, an den wir fliehen können, mehr nicht.« Und selbst das gelingt den Blauhelmsoldaten nicht immer.

Im Februar 2016 spitzte sich die Lage im Nordosten des Landes zu. Um die Kontrolle der Stadt Malakal am weißen Nil kämpften Rebellen und Soldaten da bereits seit Jahren. Mal nahm die eine Seite die Stadt ein, dann die andere. Mit den Bewohnern sind selbst Hilfsorganisationen in die von UN-Blauhelmen bewachte Schutzzone geflohen. Der Auslöser: ein bewaffneter Überfall im Februar 2014, bei dem die Angreifer Patienten in ihren Krankenhausbetten massakrierten und danach das Hospital zerstörten. Zwei Jahre später leben mehr als 47 000 Menschen auf engstem Raum in einer Zone innerhalb der UN-Basis, die einmal für 18 000 geplant wurde. Die einen sind auf der Flucht vor den Soldaten der Regierungsarmee, die anderen vor Rebellen. Viele wissen gar nicht, wer ihr Dorf überfallen hat, so undurchsichtig ist die Lage. Die UNMISS-Logistiker haben die Zone notdürftig in Sektoren aufgeteilt; so versuchen sie, die Kriegsparteien zu trennen. Doch am 17. Februar 2016 stellt sich heraus, dass das nicht gelungen ist.

Um 11 Uhr früh liefern aufgebrachte Bewohner eine Frau ins Lagerhospital ein, die von Jugendlichen mit einer Machete angegriffen und schwer verletzt worden ist. Die Frau ist Dinka, damit wurde sie von den Jugendlichen, die der Ethnie der Shilluk und der Seite der Rebellen angehören, aufseiten der Regierung verortet. Ärzte, die damals Dienst hatten, berichten, dass UNMISS-Beamte zunächst versuchten, auf die Ältesten beider Volksgruppen einzuwirken, um die wachsende Wut im Lager zu zügeln. Doch die beiden Gruppen können sich nicht einigen. Um halb elf Uhr abends beginnen innerhalb des Lagers Gefechte. Später in der Nacht werden Granaten auf Zelte geworfen, in denen Angehörige einer weiteren Ethnie, der Nuer, leben. UNMISS, so sagen interne Untersuchungsberichte, hätte vorgewarnt sein müssen. Schließlich sind die Blauhelme auch für den Lagerschutz zuständig. Seit Tagen hatten Soldaten an den Eingängen Waffen konfisziert. Dennoch gelangten mehrere Waffenlieferungen hinein. Mitarbeiter einer Hilfsorganisation hatten Tage vor dem Vorfall gemeldet, dass ein Loch in einen der Außenzäune geschnitten wurde. Der wachhabende UNMISS-Beamte habe zugesagt, sich zu kümmern. Doch einem internen Untersuchungsbericht von Ärzte ohne Grenzen zufolge, den Mitarbeiter aus Malakal mitverfasst haben, wurde nichts unternommen.

Eine andere Organisation behauptet, sie habe UNMISS frühzeitig vom Waffenschmuggel unterrichtet. Ebenfalls ohne Folgen. Als ein Helfer in einem Meeting warnte, die Stimmung sei aufgeheizt wie lange nicht, soll der anwesende UNMISS-Koordinator ihm Übertreibung vorgeworfen haben. Flüchtlinge, die UNMISS wegen einzelner Zusammenstöße um Hilfe baten, bekamen gesagt, sie sollten ihre Konflikte alleine lösen. Über Tage hinweg machten zudem Gerüchte die Runde, Regierungssoldaten hätten sich als Flüchtlinge verkleidet Zugang zum Lager verschafft. Auch deshalb wuchsen Angst und Hass auf die Dinka im Lager.

Entscheidender aber ist, was UNMISS nach dem Ausbruch der Kämpfe tut: nichts. Es sei zu dunkel gewesen, die Soldaten hätten nichts sehen können, rechtfertigt ein UN-Sprecher dies später. Ungehindert stürmen Soldaten der südsudanesischen Armee das Gelände, schießen, zerstören Zelte, plündern, töten. Das für Sicherheit zuständige UN-Department of Safety and Security hat da bereits einen Lockdown verfügt, das heißt: UN-Angestellten in Malakal wird Einbunkerung empfohlen. Nicht nur Soldaten und Polizisten, auch medizinische Helfer, die dringend benötigt werden, verschanzen sich in der Basis des Lagers, der sogenannten LogBase.

15 Stunden lang wird gekämpft, bis die Blauhelmsoldaten endlich eingreifen. Da sind bereits 65 Zivilisten getötet worden, ein Drittel der Flüchtlingsunterkünfte ist niedergebrannt oder verwüstet. »Ein Grund für das späte Eingreifen war aus unserer Sicht die komplizierte Befehlsstruktur: Die UN-Soldaten mussten erst um Genehmigung in ihren Heimatländern anfragen«, erklärt mir die Regionaldirektorin von Ärzte ohne Grenzen, Monica Camacho. Denn obwohl UNMISS gemeinsam kämpfen soll, werden Entscheidungen über den Einsatz der einzelnen Kontingente in weit entfernten Hauptstädten getroffen. Alleine wegen der Zeitunterschiede dauert es entsprechend lange, bis überhaupt etwas klar ist. Ein einheitliches Kommando, auch nur eine gemeinsame Sprache, in der die Soldaten sich verständigen könnten, gibt es nicht. UNMISS-Truppen stammen aus Indien und Ruanda, Nepal, Bangladesch und Äthiopien, China, der Mongolei, Ghana, Großbritannien und Korea. Und das sind nur die zehn größten Entsender. Außer Sprache und Kommando trennt die Blauhelme auch die militärische Kultur, wie weiter unten zu sehen sein wird. In Malakal kommt dazu, dass offenbar auch die UNMISS-Zentrale in der südsudanesischen Hauptstadt Juba zunächst ein Eingreifen untersagt. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass manche Soldaten darauf gedrungen haben, trotzdem einzugreifen. Doch die zuständigen Kommandeure auf der Basis sagten Nein. Diese Entscheidung war formal richtig. Nur in der Wirklichkeit war sie fatal.

Am nächsten Morgen herrscht eine Feuerpause. Es wäre der ideale Zeitpunkt, um Militärpräsenz zu zeigen, Zäune zu schließen, Feuer zu löschen. Doch UNMISS mauert sich weiter ein. Schlimmer noch: Soldaten schließen den einzigen Ausgang aus der abgezäunten Schutzzone, Gate Charlie. Panik bricht aus. Erst Hunderte, dann Tausende Schutzsuchende sammeln sich vor dem geschlossenen Tor. Schließlich reißen sie einen Zaun nieder, der zum Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen führt. Von dort bringen Mitarbeiter der Organisation die Fliehenden in Sicherheit. Erst gegen Mittag öffnet UNMISS Gate Charlie wieder. Die Soldaten sind mit Panzern aufgefahren, offenbar, um einen befürchteten Massenansturm zu verhindern. Als in mehreren Sektoren der Schutzzone Feuer ausbricht, müssen die Flüchtlinge sich selber helfen, weil UNMISS seine Basis immer noch nicht verlässt. Erst gegen 15 Uhr, so berichten es Augenzeugen, sollen die ersten Blauhelme in der Schutzzone aufgetaucht sein. Die Kämpfe enden abrupt, die letzten südsudanesischen Soldaten ziehen ab. Zurück bleibt Verwüstung. Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass innerhalb von 24 Stunden Hilfsgüter im Wert von vier Millionen Dollar zerstört worden sind. Zu den Toten kommen Dutzende Verletzte. 5000 Flüchtlinge sind nach Malakal zurück geflohen, weil sie die umkämpfte Stadt für sicherer halten als die Zone in Sichtweite der UN-Basis. 15 000 kauern sich inzwischen auf der LogBase zusammen. Für insgesamt 20 000 müssen neue Unterkünfte errichtet werden, ein Lager anstelle des Lagers. Die UN-Mission im Südsudan hat versagt – auf ganzer Linie.

Wie kann das sein? Überfälle auf Sicherheitszonen hatte es seit Ende 2013 schon mehrfach gegeben. Zwar war seit einigen Monaten ein Waffenstillstand in Kraft, der mehr schlecht als recht hielt. Doch wer 40 000 Zivilisten zu schützen hat, muss sich dennoch davor wappnen, überfallen zu werden. Anders als 1994 in Ruanda verfügen die UN-Blauhelme über das Mandat, alle nötigen Maßnahmen anzuwenden, um Bedrohungen von Zivilisten abzuwenden. Dazu gehört ausdrücklich auch der Gebrauch tödlicher Schusswaffen. Absprachen mit der südsudanesischen Regierung sind nicht vorgeschrieben. Doch die internen Absprachen überforderten die Führung der UN-Basis offenbar schon genug. So sehr, dass Ärzte ohne Grenzen stundenlang darum betteln musste, wenigstens die Operationssäle des UN-Krankenhauses nutzen zu dürfen. Selbst das erschien den Verantwortlichen nach dem Lockdown zu gefährlich.

Während Soldaten der südsudanesischen Armee vor ihren Toren ein Massaker anrichteten, telefonierten UN-Angestellte mit Juba und New York und mutmaßlich mit Generalstäben in mehreren Hauptstädten, weil ein Einsatz zum Schutz der Zivilisten womöglich die Soldaten aus mehreren Ländern gefährdet hätte. Es ist eine Nacht, die zeigt, was schiefläuft bei der Umsetzung gut gemeinter, im fernen New York von Diplomaten mühsam ausformulierter Absichten. Seit Ruanda, wo Blauhelme als mitverantwortlich dafür gelten, dass der Genozid nicht gestoppt wurde, hat der Sicherheitsrat den Schutz der Zivilisten bei allen bewaffneten UN-Missionen in den Mittelpunkt gestellt. Fast alle verfügen über ein robustes Mandat. Doch das Mandat alleine nutzte nichts. Monate nach dem Überfall von Malakal sind die Verfehlungen noch lange nicht aufgeklärt. Auch die Zäune um die Sicherheitszone sind nicht verstärkt worden. Ärzte ohne Grenzen warnt in der eigenen Auswertung der Geschehnisse, man habe »erhebliche Zweifel an der Kapazität von UNMISS, die zivile Bevölkerung im Fall eines ähnlichen Vorkommnisses zu schützen«. Die Organisation soll leider recht behalten.

Diesmal ist Juba das Schlachtfeld, die Hauptstadt des Südsudan. Im April 2016 kehrt Rebellenführer Riek Machar dorthin zurück. Seine Vereidigung als Vizepräsident ist Teil eines unter Druck internationaler Vermittler aus der Region ausgehandelten Friedensabkommens. Mit Machar kommen 1200 seiner Kämpfer in die Stadt, die nicht weit vom Hauptquartier der UN und zweier Sicherheitszonen für Zivilisten stationiert werden. Der UN-Kommandeur wehrt sich gegen die Ortswahl, ohne Erfolg. Weder Rebellen noch Regierung wollen einen anderen Ort akzeptieren. Damit sind Blauhelme und Zivilisten in der Schusslinie, als der brüchige Waffenstillstand Anfang Juli endgültig kollabiert. Die Armee setzt schwere Artillerie, Panzer und Kampfhelikopter ein, oft nur wenige Meter vom UN-Gelände entfernt. Vier Militäreinheiten mit insgesamt 1800 Soldaten unter UNMISS-Mandat sind in Juba stationiert, Chinesen, Äthiopier, Inder und Nepalesen. Es gibt kein gemeinsames Kommando. Und es gibt keinen Plan.

Ein vertraulicher UN-Untersuchungsbericht bemängelt, dass trotz der Bürgerkriegssituation keines der drei wahrscheinlichsten Szenarien jemals durchgespielt wurde: erstens der Massenansturm von Zivilisten auf das UN-Gelände, der ab dem 8. Juli eintritt. Zweitens, dass das UN-Gelände ins Kreuzfeuer geraten könnte, weil es in der Schusslinie zwischen Rebellen und Regierung liegt. Es gibt praktisch keine Schutzvorkehrungen, nicht einmal gegen Gewehrpatronen, geschweige denn gegen schwere Waffen, die eingesetzt werden. 182 Gebäude, so zählt die UNKommission später, werden von Gewehrkugeln, Mörsergranaten und Panzergeschossen durchsiebt. Und drittens haben die Soldaten keine Strategie für den Fall, dass die südsudanesische Regierung ihnen verbietet, den Stützpunkt zu verlassen. Genau das geschieht. Ihrer Aufgabe, Zivilisten zu schützen, kann UNMISS so nicht nachkommen. Denn gegen Anordnungen des host countries Südsudan zu verstoßen, hieße, womöglich ausgewiesen zu werden. Auf eine solche Gelegenheit aber wartet die Regierung im Südsudan schon lange.

Und so geschieht wieder einmal – nichts. Auch nicht, als am vierten Tag der Kämpfe gut 100 uniformierte Soldaten der Regierungsarmee einen gesicherten Wohnkomplex stürmen. Terrain Camp liegt kaum mehr als einen Kilometer vom UN-Gelände entfernt. Auch deshalb leben hier unter anderem fünf UN-Mitarbeiter, für deren Sicherheit UNMISS ebenso verantwortlich ist wie für die der gut 15 Angestellten von Hilfsorganisationen, die im Auftrag der UN arbeiten. Die restlichen 50 Männer und Frauen auf dem Gelände sind ausnahmslos Zivilisten, ihr Schutz ist damit ebenso UNMISS-Aufgabe. Es ist 15 Uhr 30. Ein ugandischer Mitarbeiter beschreibt die Soldaten später als aufgedreht, sie hätten gerade eine Rebelleneinheit besiegt. »Sie waren sehr erregt, sehr betrunken, standen unter Drogen, sie wirkten fast wie wahnsinnig, rannten rum und schossen um sich, auch in den Gebäuden.« Die Bewohner von Terrain Camp verstecken sich, verschanzen sich in ihren Schlafzimmern, in Badezimmern oder hinter den wenigen Stahltüren, die als sicher gelten. Protokolle belegen, wie alle versuchen, Hilfe herbeizuholen: Bei verschiedenen UN-Dienststellen gehen Anrufe ein, der erste um 15 Uhr 37, nur sieben Minuten nach Beginn des Überfalls. Es gibt Hilferufe auf Twitter und Facebook, Botschaften werden kontaktiert. Doch die Opfer der wütenden Soldateska bleiben allein. Einer berichtet später, die Soldaten hätten Waffen auf sie gerichtet und immer wieder geschrien: »Wir bringen euch um. Wollt ihr sterben?«, und alle hätten »Nein« rufen müssen. Vor einer Gruppe von Bewohnern wird ein südsudanesischer Journalist hingerichtet. Er ist Nuer, gehört der gleichen Volksgruppe an wie der jetzt wieder bekämpfte Riek Machar. »Einer schrie ›Nuer‹ und der andere erschoss ihn sofort.« Schreckliches erlebt die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation. Eine Gruppe Soldaten steht vor ihr, einer schreit sie an: »Entweder hast du Sex mit mir oder wir alle werden dich vergewaltigen und dann erschießen.« Als sie endlich befreit wird, haben sich 15 Soldaten an ihr vergangen.

In der UN-Basis ruft das zivile Kommandozentrum der UN, das Joint Operations Center, das Militär zu einer schnellen Entsendung einer Einheit auf das Gelände auf. Doch die Kommandeure der vier Armeen weigern sich, wie die UN später in ihrer eigenen Untersuchung bestätigen. Daran ändert sich auch nichts, als ein schwer misshandelter Amerikaner aus dem Wohnkomplex entkommen kann und sich zum UN-Gelände schleppt. Er sagt später aus, die Kommandeure persönlich angefleht zu haben, auszurücken. Doch alle weigern sich. Für zusätzliche Schwierigkeiten sorgt die Tatsache, dass es noch eine zweite UN-Kommandozentrale gibt, das militärische Security Information Operations Centre. Offenbar unterstützt man hier die Weigerung der Einheiten, das Gelände zu verlassen. Entgegen der Vorschrift liegen die beiden Zentralen zudem nicht im gleichen Haus, sondern weit auseinander. Kuriere spielen Stille Post. Die UN-Untersuchung wird später »fehlende Führung beim entscheidenden, hochrangigen Personal von UNMISS« feststellen, die zu einer »chaotischen und ineffizienten Reaktion auf die Gewalt« geführt hätten. Die »etablierte Kultur, nur in der eigenen Hierarchie zu denken, unterband eine effektive Hilfe zu einem Zeitpunkt, als gemeinsames und schnelles Handeln gefragt war«.

Ein Kommandeur der südsudanesischen Armee wird vorstellig und bietet erfolglos an, die UN-Einheiten zum Terrain Camp zu bringen. Um 19 Uhr schließlich, dreieinhalb Stunden nach Beginn des Martyriums, sind es Sondereinheiten der südsudanesischen Armee, die selber die Zivilisten aus den Klauen ihrer wild gewordenen Kameraden befreien. Doch nach ihrer Rückkehr zur UN-Basis stellen sie fest, dass drei Frauen zurückgelassen worden sind. Es ist 20 Uhr 40. Niemand regt sich. Die Kommandeure der UNMISS-Einheiten sind nicht bereit, Soldaten zur Rettung der Frauen auszusenden, zumal seit zweieinhalb Stunden Dunkelheit herrscht. Zwischen 21 und 22 Uhr gelingt es einer der drei Frauen, mit ihrem Handy die Sicherheitshotline der UN-Mission zu erreichen. Der Untersuchungsbericht verzeichnet, dass der Wachhabende ihr Flehen nach Hilfe brüsk ablehnt. Als die Verbindung abbricht, weil die Frau kein Guthaben mehr auf ihrer SIM-Karte hat, ruft er nicht zurück. Bis heute ist nicht aufgeklärt, wer den Anruf annahm, obwohl gerade auf solch heiklen Arbeitsplätzen Dienstpläne und Registrierungslisten existieren. Der Wachhabende muss gewusst haben, was er tat. Den Anruf nahm er nicht ins offizielle Logbuch auf. Die Frauen bleiben mit ihren Peinigern die ganze Nacht allein. Erst nach Sonnenaufgang am nächsten Morgen, um 7 Uhr, werden sie befreit. Von einer privaten Sicherheitsfirma, die im Auftrag einer Hilfsorganisation arbeitet. Die UN-Blauhelme, die über das Mandat verfügen, mit Waffengewalt UN-Angestellte und Zivilisten zu schützen, greifen bis zum Schluss nicht ein.

Die internen Ermittler fällen ein vernichtendes Urteil. Vor allem stellen sie fest, dass der Überfall auf das Terrain Camp die Angst und Untätigkeit der Blauhelme eher vergrößert als verringert hat. In den kommenden Tagen werden auf der Hauptstraße zwischen dem UN-Hauptquartier und der Stadt am hellichten Tage Dutzende Frauen vergewaltigt. Soldaten in Uniform überfallen gezielt Frauen von vermeintlich feindlichen Ethnien. Die Opfer werden in Hörweite der Blauhelme misshandelt, in manchen Fällen, so berichten Opfer, beobachten die Soldaten sie sogar. Einmal greifen Zivilisten ein, als sich ein Soldat nur wenige Meter vor dem Eingangstor zur UN-Basis an einer Frau vergeht. Die Blauhelme rühren sich auch dann noch nicht. Kein Wunder, dass die südsudanesischen Soldaten keine Angst vor Strafe haben. Sie stehen unter dem Schutz der Regierung von Salva Kiir, obwohl sie Kriegsverbrechen begangen haben. Der Prozess gegen eine Gruppe von Soldaten, denen die Beteiligung an dem Überfall auf Terrain Camp vorgeworfen wird, wird immer wieder verschoben, dann fordern die Richter als Bedingung zur Fortsetzung des Prozesses Aussagen der Opfer. Eine Frau traut sich schließlich, einzufliegen und auszusagen, doch ein Urteil ist bisher nicht gefallen. Der Armeesprecher selbst weist die Vorwürfe gegenüber Journalisten ohnehin zurück: im Südsudan habe jeder Zugang zu Waffen und Uniformen, es müsse sich bei den Tätern nicht um Armeeangehörige gehandelt haben.

Für die UN sind die massiven Menschenrechtsverstöße der südsudanesischen Regierung und ihrer Armee ein gewaltiges Problem. Auf ihren guten Willen ist die Organisation bei humanitären wie bei militärischen Operationen angewiesen. Ohne ihn müssten die Blauhelmtruppen abgezogen werden. Wobei sich die Frage stellt, welchen Sinn ein Militäreinsatz zum Schutz von Zivilisten macht, wenn die Regierung das einfach verhindern kann. Der offensichtlichste Effekt ist die Tatsache, dass die südsudanesische Bevölkerung die Vereinten Nationen und ihre Blauhelme bestenfalls als nutzlos, schlechtestenfalls als verlängerte Hand des verhassten Regimes empfindet. Womöglich ist es gerade das, was Kiirs Regierung erreichen will: eine Diskreditierung der internationalen Truppen, die ihm potenziell gefährlich werden könnten. Ein mindestens genauso großes Problem sind allerdings die UNTruppen selber. Nicht nur die Vorfälle im Südsudan belegen, wie desaströs ihr Zustand ist.

Insgesamt arbeiten mehr als 100 000 Männer und Frauen aus 127 Ländern für UN-Friedensmissionen, 12 000 davon sind Polizisten, knapp 80 000 Soldaten, der Rest zivile Mitarbeiter. Gerade einmal 767 Bundeswehrsoldaten sind unter ihnen. Die Deutschen sind gerne gesehen, weil sie gute Ausrüstung mitbringen, oft Spezialgerät, mobile Hospitäler oder die stets zu knappen Hubschrauber. Doch die meisten Soldaten, die ihr Leben für die Staatengemeinschaft riskieren, stammen aus den ärmsten Ländern der Welt. Äthiopien entsandte 2017 mehr als 8400 uniformierte Kräfte, das ist mehr als jeder elfte Polizist und Soldat unter UN-Mandat. Bangladesch schickte mehr als 7100, Indien 6400, Ruanda 6300, Pakistan 6200 und Nepal 5200. Für die Armeen all dieser Staaten ist die Beteiligung an UN-Missionen essenziell. Die Gelder aus New York finanzieren ihre Arbeit maßgeblich, dazu kommt der Nutzen von Fortbildungen und Kampferfahrung. Doch Geld ist das wichtigste Motiv – nicht für die Soldaten, sondern für die Staaten. Und zwar deshalb: Ein Soldat aus Bangladesch verdient zu Beginn seiner Karriere knapp 200 Euro. Die UN überweisen der Regierung in Dhaka aber das bei den UN übliche Gehalt, das ist etwa das Fünffache plus Zulagen, beispielsweise für die Ausrüstung. Bei 7100 Soldaten bedeutet das ein potenzielles Plus von mehr als fünfeinhalb Millionen Euro – im Monat. Für eine Nation, die zuletzt ein Jahresbudget von 31,4 Milliarden Euro hatte, ist das eine Menge Geld. Und so schicken viele arme Nationen Soldaten in Friedensmissionen, auch wenn sie weder qualifiziert noch motiviert sind. Schlimmer noch: Manche derer, die die Zivilbevölkerung schützen sollen, werden zu ihrem schlimmsten Feind.

Die Zentralafrikanische Republik ist eines der Länder, in denen sich die Hoffnungslosigkeit mit Händen greifen lässt. Auf der doppelten Fläche Polens leben hier gerade einmal etwas mehr Menschen als in Berlin. Die Regierung hatte selbst zu besten Zeiten kaum Kontrolle über das, was jenseits der Hauptstadt Bangui geschieht. Die Einnahmen aus dem (illegalen) Diamantengeschäft, aus dem Verkauf von Gold, Uran und Tropenholz nutzen nur einer auf wenige hundert Personen geschätzten Elite. Der Rest der Bevölkerung lebt in Armut und muss miterleben, wie alle paar Jahre Gewalt zwischen den politischen Lagern und ihren Unterstützern aus dem Ausland ausbricht. Doch so schlimm wie seit 2013 ist es lange nicht gewesen. »Es war vier Uhr in der Frühe, wir waren in der Moschee beim Gebet«, berichtet etwa der Imam von Zéré, einem Marktflecken im Nordwesten der Zentralafrikanischen Republik. Die Stimmung im Dorf war angespannt, weil dort einige Tage zuvor fünf Kämpfer einer Rebellengruppe, der Séléka-Bewegung, Stellung bezogen hatten. Mit einem Angriff hatte in Zéré dennoch niemand gerechnet. Dann aber stürmten gut 100 Mann das Dorf und richteten ein Massaker an.

»Ich war gerade dabei, vor dem Haus zu kochen«, erinnert sich die Frau des Distriktchefs. »Sie haben meinem Mann mit einer Machete die Kehle durchgeschnitten, dann haben sie das Haus angezündet und seinen Leichnam in die Flammen geworfen. Meinem 13-jährigen Sohn haben sie befohlen, sich auf den Boden zu legen, dann haben sie ihn mit zwei Machetenhieben getötet.« Sie, das sind Milizen der Anti-Balaka, die gegen die Séléka kämpfen. Beiden Seiten werden Kriegsverbrechen in großem Stil vorgeworfen. Im März 2013 hatte die Séléka-Bewegung den Autokraten François Bozizé aus dem Amt gejagt, der es dort immerhin zehn Jahre ausgehalten hatte. Sein Nachfolger Michel Djotodia brach gleich sein erstes Versprechen, nämlich dass seine Truppen friedlich bleiben würden. Nur Stunden nach Bozizés Flucht plünderten die Séléka-Einheiten die Hauptstadt Bangui, vergewaltigten und mordeten. Was von der alten Staatsmacht noch übrig war, habe seine Uniform versteckt und fleißig mitgeplündert, heißt es in Bangui. Die dort stationierten französischen Truppen taten das, was sie in der Vergangenheit bei ähnlichen Fällen auch getan hatten: Sie geleiteten die Ausländer sicher zum Flughafen.

Dass der Konflikt um Macht und Geld religiös angeheizt wird, macht die Lage noch schlimmer. Die Séléka ist mehrheitlich muslimisch, die Anti-Balaka gründete sich als christliche Bürgerwehr. Inzwischen sind beide Gruppen zersplittert und den meisten Menschen ist ohnehin egal, welcher Seite die marodierenden Gruppen angehören, die über das Land hinwegziehen wie Heuschreckenschwärme. Mehr als eine halbe Million Menschen ist über die Grenzen in die Nachbarländer Kamerun, Tschad und die beiden Kongos geflohen – Länder, die kaum sicherer sind als die Heimat. Noch mehr, nämlich 600 000 Menschen, sind innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht. Wie im Südsudan, so versammeln sie sich auch hier in den Städten, nahe der Basen der UN-Mission MINUSCA mit ihren 10 000 Soldaten und 2000 Polizisten. Sie hoffen auf Schutz – und oft enttäuscht. Wie kann es sein, dass Männer, von denen viele den UN-Schriftzug auf ihren Blauhelmen tragen, ihrer Aufgabe so wenig gerecht werden?

Einen Einblick gewährt ein geheimes Fax, das der Kommandeur der MINUSCA-Truppen, Balla Keita, am 12. Mai 2017 an die Hauptabteilung Friedenssicherungseinsätze bei den Vereinten Nationen in New York geschickt hat. Schon die Betreffzeile hat es in sich: »Fehlende Professionalität des kongolesischen Kontingents«. Dieser Vorwurf wiegt besonders schwer, weil bereits ein Jahr zuvor 120 der ursprünglich 750 kongolesischen Soldaten unter MINUSCA-Mandat zurück nach Brazzaville geschickt worden sind. Ihnen war sexueller Missbrauch in mindestens sieben Fällen zur Last gelegt worden. In sechs davon sollen die Soldaten sich an Kindern vergangen haben. Dennoch, so heißt es in dem Fax, gebe es »keine Verbesserung im Verhalten des kongolesischen Bataillons. Die Situation hat sich derart verschlechtert, dass das Bataillon wegen schlechter Führung, fehlender Disziplin und Defiziten im Einsatz nicht mehr als vertrauenswürdig angesehen werden kann.« Es sei »berüchtigt für sexuelle Übergriffe, den Schmuggel mit Treibstoff und seine Disziplinlosigkeit«. Auch sechs Beschwerdebriefe an den zuständigen kongolesischen Kommandeur hätten am Zustand nichts geändert, beklagt Keita.

Womöglich kamen die Briefe gar nicht an. Denn der ebenfalls interne Bericht von der Reise einer Überprüfungskommission auf die kongolesische Basis in der Stadt Berberati zeichnet ein kaum fassbares Bild: Von 114 Fahrzeugen sind nur 18 einsatzbereit. 44 weitere müssten repariert werden, doch es fehlen die nötigen Ersatzteile. Die restlichen 52 Fahrzeuge sind »nicht vorhanden«. Wer trotzdem auf Patrouille geht, ist bei der Kommunikation mit der Basis auf das private Smartphone angewiesen: In der Basis gibt es kein Internet, in den Autos keine Funkgeräte, die Telefonzentrale im Militärcamp wurde nie installiert und auch die nötigen Funkgeräte zur Kommunikation mit Hubschraubern oder Flugzeugen sind nicht vorhanden. Das Camp selbst ist nicht umzäunt und erinnert an ein notdürftiges Flüchtlingslager. Es gibt keine Waschmöglichkeiten, nur wenige einfache Plumpsklos und keine Messe. Gegessen wird irgendwo auf dem offenen Gelände, wovon überall herumliegende Essensreste zeugen. Die Soldaten selbst seien weder fit noch motiviert, heißt es weiter. Nicht alle tragen Uniform. Offenbar misstrauen sich der Kommandeur und seine Stellvertreter, sodass Befehle gar nicht erst weitergegeben werden. Die Soldaten verbrächten den Tag deshalb mit »herumlungern« – mitten in einem Bürgerkriegsgebiet, wo die UN-Truppen Zivilisten schützen, Hilfskonvois bewachen und Flüchtlinge begleiten sollen. Die Gefahr bestehe, so warnen Keita und die Untersuchungskommission unisono, dass das schlechte Verhalten der kongolesischen Truppen auf die UN-Mission als Ganzes abfärben könnte. Diese Warnung scheint zu wirken.

Zwei Monate, nachdem das Fax in New York eingegangen ist, zieht die kongolesische Regierung auch ihre restlichen Einheiten zurück. Vermutlich ist Brazzaville diese Entscheidung nicht leichtgefallen, denn trotz der Einnahmen aus dem Ölgeschäft, die größtenteils versickern, ist das Land auf die Finanzspritze aus New York angewiesen. Den reichen Nationen wiederum ist es recht, dass Soldaten aus armen Ländern den Kopf hinhalten. Der zuletzt nahezu handlungsunfähige Sicherheitsrat kann sich im Fall von Krisen und Konflikten gerade in afrikanischen Ländern auf die Entsendung von Friedenstruppen gerade noch einigen. Die Trump-Regierung beklagt zwar die hohen finanziellen Kosten, doch die menschlichen Kosten tragen andere. Seit Etablierung der ersten Friedensmission 1948 sind 75 Amerikaner im Einsatz ums Leben gekommen, 30 davon in Somalia. Selbst Sambia hat mehr Tote zu beklagen, nämlich 78; aus Bangladesch kamen 132, aus Ghana 137, aus Pakistan 147, aus Nigeria 152 und aus Indien 163 der insgesamt 3654 Toten bis Oktober 2017. Aus Deutschland stammten 17.

Ohne die Bereitschaft armer Nationen, das Leben ihrer Soldaten aufs Spiel zu setzen, könnte der Sicherheitsrat keine Friedensmissionen beschließen. Das ist womöglich ein Grund dafür, dass die UN sich schwer damit tun, Vergehen von Blauhelmen und anderen UN-Angestellten offensiver und vor allem schneller zu verfolgen. Doch es gibt noch weitere Gründe, wie ein besonders dramatischer Fall zeigt. An dessen Ende warf eine unabhängige Untersuchungskommission unter anderem der Kabinettschefin des damaligen UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon Verfehlungen vor und sah die »Glaubwürdigkeit der ganzen UN und die Zukunft der Friedenseinsätze in Gefahr«. Ausgangsort ist erneut die Zentralafrikanische Republik.