65 Millionen Herausforderungen

Wie die UN sich mühen, Flüchtlingen zu helfen

Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 14 (1)

Die heiße Luft flirrt. Nur eine einzelne Schirmakazie spendet ein bisschen Schatten. Der Rest des kargen, rötlich staubigen Bodens von Omugo ist mit dornigen Sträuchern bedeckt. Aus der Ferne ist das Schnaufen eines alten Dieselmotors zu hören. Nach zehn Minuten kommt ein mit einer Plane gedeckter Pritschenwagen in Sicht. Noch einmal über den letzten Hügel, ein kollektives Keuchen von der Ladefläche, als der Lkw über eine Unebenheit fährt und die aufgeladenen Flüchtlinge in die Höhe wirft. Dann erstirbt der Motor. Gemächlich steigt der Fahrer aus der Kabine, schlurft nach hinten und öffnet erst die Plane, dann die Ladeluke. Von innen werden zwei Stöcke mit Querstreben, improvisierte Leitern, herausgereicht. Während die älteren Männer darauf herabsteigen, springt Superman von der Ladefläche. Vielleicht fliegt er auch ganz elegant herab, schließlich trägt der junge, muskulöse Südsudanese voller Stolz das blaue T-Shirt mit dem rot-gelben S-Logo. Nach der Landung schaut er sich um, wie die anderen auch, und geht – ebenfalls gemächlichen Schrittes – in den Schatten der Akazie, wo ihn Helfer in Neonwesten in die richtige Reihe lotsen. »Einzelpersonen hier, Paare dort, Familien mit einem Kind hier hinten, allein reisende Kinder da …« Es dauert nur Minuten, dann stehen die mehr als 200 Neuankömmlinge ganz ruhig aufgereiht da; wer zu spät kommt, muss in den hinteren Reihen in der prallen Sonne warten. Das Thermometer zeigt 32 Grad. Der Vizekommandeur der Siedlung, Godfrey Moyengo, hebt das Megafon und beginnt die Rede, die er in den vergangenen Monaten mehrmals täglich gehalten hat. Sie beginnt mit den Worten: »Willkommen in Uganda! Das hier ist eure neue Heimat.«

16 000 Menschen leben in Omugo, dem jüngsten Abschnitt der riesigen Flüchtlingssiedlung im Norden des Landes, die Rhino Camp genannt wird – nach dem nächstliegenden Ort, in dem vor mehr als 100 Jahren tatsächlich noch weiße Jäger Nashörner jagten. Die Nashörner sind längst ausgerottet, der Name ist geblieben. Die Flüchtlinge von Omugo sind nur ein Bruchteil der Flüchtlingsbevölkerung, die in Rhino Camp lebt. Eine viertel Million Menschen sind es Ende 2017, sie verteilen sich in Zonen, die Ofua heißen, Siripi, Tika oder Eden. Vom einen Ende Rhino Camps zum anderen braucht man selbst mit dem Geländewagen ein paar Stunden, nur um dann in der nächsten Flüchtlingssiedlung zu landen. Insgesamt beherbergt Uganda 1,4 Millionen Flüchtlinge, über eine Million sind seit Beginn des jüngsten Bürgerkriegs im Südsudan Ende 2013 (vgl. Kapitel 2) hier gelandet und vor allem im Norden geblieben. Jeden Tag kommen ein paar Hundert dazu, die an den 13 offiziellen und inoffiziellen Grenzübergängen zum Südsudan eingeladen und zu Sammelzentren gefahren werden, wo sie medizinisch versorgt und mit ihren biometrischen Daten registriert werden. Das klappt problemlos, obwohl die Beamten die Fingerabdrücke mit ihren Scannern mitten im Busch abnehmen. Nicht einmal 100 000 Flüchtlinge, vor allem die, die schon lange in Uganda leben, sind nicht erfasst.

»In unserer näheren Umgebung wurde schon lange gekämpft, aber dann kamen sie eines Tages in unser Dorf, plünderten die Hütten und steckten sie in Brand«, berichtet Leyla Mandera, die in ihrem strahlend gelben Kleid in der Schlange für Einzelpersonen steht, nicht weit von deren Anfang entfernt. Es ist die mit Abstand längste Schlange. »Als sie meinen Onkel töteten, bin ich geflohen. Mein Mann ist mit den Kindern in eine andere Richtung, ich weiß nicht, wo genau sie jetzt sind. Aber ich bete, dass es ihnen gut geht.« Als sie das letzte Mal von ihm hörte, hatte er es schon über die Grenze nach Uganda geschafft. Zwei Tage harrte Leyla Mandera an der Grenze aus, bevor es ins Sammelzentrum ging. Von dort brachte man sie ein paar Tage später in das Begrüßungszentrum nach Invepi. Danach wurde sie wie die anderen Flüchtlinge an ihren endgültigen Bestimmungsort gefahren. Die ugandische Regierung, die die Aufnahme leitet, will damit sicherstellen, dass die Südsudanesen gleichmäßig über den Norden verteilt werden. Für Leyla Mandera ging es, eine Woche nach der Ankunft in Invepi, nach Omugo.

Im »Willkommenszentrum« von Omugo leben die Flüchtlinge zum letzten Mal in einem lagerähnlichen Umfeld, mit Klappbetten in großen Zelten und langen Schlangen an der Essensausgabe, wo Bohnen und Maisbrei auf metallene Teller gefüllt werden. Alle hier warten auf die Abfahrt ihres Lastwagens oder Busses an den endgültigen Bestimmungsort innerhalb von Omugo, wo ihnen dann ein Stück Land zugewiesen wird. 50 mal 50 Meter pro Familie, wo es zu eng wird, nur 30 mal 30 Meter. Leyla Manderas Lastwagen hat sie zu der Akazie gebracht, unter der sie jetzt wartet. Ein Plastiktank mit Trinkwasser steht nicht weit entfernt, mit weißer Farbe ist eine »11« darauf gemalt. Damit steht fest, wo Leyla Mandera und die gut 200 anderen bleiben werden: Omugo, Village 1, Tank 11. Nicht einmal einen Monat hat Mandera dank der eingespielten Abläufe gebraucht, um aus dem Bürgerkrieg zu ihrer neuen Heimat zu kommen.

»Wenn ihr euch umseht, dann könntet ihr denken, ihr könnt mehr als euer Stück Land bebauen, aber hier drüben und dort hinten und da, überall werden schon die nächsten Grundstücke angelegt«, ruft Godfrey Moyengo durch sein Megafon. In Omugo sind bereits sechs Dörfer ausgewiesen. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, weil selbst in der Regenzeit im Schnitt 280 Flüchtlinge täglich angekommen sind. In der Trockenzeit, wenn das Reisen durch den Südsudan einfacher ist, steigt die Zahl leicht auf mehr als das Doppelte. »Ihr bekommt vorläufig noch Nahrungsmittel zugeteilt, aber nutzt die Schaufeln, Macheten und das Saatgut, das ihr in den kommenden Tagen bekommt – spätestens in zwei Jahren müsst ihr eure Nahrung selber produzieren.« Die Rede des Vizekommandeurs zieht sich, jeder Satz muss von einem Helfer übersetzt werden. Doch es kommt keine Unruhe auf, alle hören still zu. »In Kenia zum Beispiel, da lebt ihr in Lagern, da gibt es bis zum letzten Tag Lebensmittelhilfen. In Uganda ist das anders, da erwarten wir, dass ihr euer Leben selbst gestaltet, dafür haben wir mehr als zwanzig Partner hier, die euch helfen.« Moyengo ruft die Flüchtlinge auf, in Harmonie mit den ugandischen Nachbarn zu leben. »Ihr teilt euch die vorhandenen Ressourcen: Wir haben keine Wassertanks nur für Flüchtlinge, sondern alle teilen sich das Wasser. Das Gleiche gilt für die Schulen, für die Krankenhäuser.« Noch bevor Moyengo seine abschließenden Worte spricht, brummt in der Ferne ein Dieselmotor – die nächsten Flüchtlinge kommen.

»Wir setzen auf Nachhaltigkeit«, sagt Moyengo später, als Helfer die Flüchtlinge grüppchenweise zu ihren abgesteckten Grundstücken bringen. »Wir werden so lange Nahrungshilfe leisten wie möglich, dann wird sie reduziert und schließlich sorgen die Flüchtlinge für sich selbst. Flüchtlingslager haben wir keine.« Damit das klappen kann, werden die Flüchtlinge praktisch so behandelt wie Einheimische. »Sie sind frei in dem, was sie tun. Sie dürfen arbeiten, sie dürfen wegziehen in die Städte, das ist alles ihre Entscheidung. Sie sehen, wir haben hier keine Zäune, keine Wachen.« Wenn man Moyengo glauben darf, dann nehmen die Ugander ihre neuen Nachbarn mit offenen Armen auf. »Für sie ist es tatsächlich ein Segen. Hier war vorher praktisch nichts, es gab kaum Wasser, keine Schulen, die Straßen zerfielen und die Krankenhäuser waren weit entfernt.« Das alles ändere sich gerade, dank der internationalen Flüchtlingshilfe. »70 Prozent von dem, was wir hier investieren, kommt den Flüchtlingen zugute, 30 Prozent der lokalen Bevölkerung – deshalb ist die lokale Bevölkerung glücklich, und das sieht man ja auch daran, dass sie es ist, die dieses Land bereitgestellt hat. Das Land, auf dem Omugo steht, gehört ihnen, nicht dem Staat.«

Wie lange die Flüchtlinge bleiben werden? Das weiß Moyengo nicht. Und eigentlich ist es dem Vertreter der ugandischen Regierung in Omugo auch egal. »Die Rückkehr in den Südsudan ist freiwillig – wenn der Frieden dort Einzug hält, dann können die zurückgehen, die wollen. Die, die bleiben wollen, sollen bleiben.« Wenn Moyengo die ugandische Willkommenskultur erklärt, dann klingt das so einfach. Eine Mischung aus »man muss den Menschen doch helfen« und Win-Win. Was glaubt er, warum sich viele Deutschen so schwertun mit weit weniger Flüchtlingen? Moyengo lacht. »Uganda ist ein armes Land, ganz anders als Deutschland, aber im Herzen, da sind wir reich. Wir kennen keine Obergrenze, wir nehmen schon lange Südsudanesen auf, aber auch Ruander, Burunder oder Kongolesen. Und es ist kein Ende in Sicht, die Leute kommen und kommen.« Die eineinhalb Millionen Flüchtlinge in Uganda sind erst der Anfang, die Regierung kalkuliert in ihren Planungen bis Ende 2018 mit drei Millionen. Einer von 15 Bewohnern Ugandas wäre dann ein Flüchtling.

Für Jens Hesemann sind die Flüchtlingssiedlungen in Nord-Uganda ein Pilotprojekt, das nicht nur er aufmerksam beobachtet. Als Senior Field Coordinator des UNHCR ist der Deutsche für die Abstimmung der Flüchtlingshilfe in Uganda zuständig. Als er in die Hauptstadt Kampala kam, lebten nicht einmal ein Drittel so viel Flüchtlinge im Land. »Der Druck auf die Bezirke ist enorm«, sagt er. »Das müssen Sie sich so vorstellen, dass eine Kleinstadt von vielleicht 20 000 Einwohnern in kürzester Zeit 200 000 Bewohner hat – das würde selbst eine deutsche Kleinstadt überfordern, die ja schon gute Infrastruktur, gute Verwaltung und entsprechendes Potenzial hat.« Die ugandischen Kleinstädte dagegen, zumal im strukturschwachen Norden, haben selber Entwicklungsprobleme: Sie sind arm, Infrastruktur ist rar, die Arbeitslosigkeit hoch. »Wenn dann noch 200 000 Flüchtlinge dazukommen, geht das nur mit internationaler Hilfe.« Formal ist die Flüchtlingsversorgung beim ugandischen Premierminister angesiedelt, dessen Beamte bis in Dörfer wie Omugo verteilt werden. Auch Godfrey Moyengo zählt dazu. Leute wie er stimmen sich mit den gewählten Vertretern der ugandischen Regierungsebenen ab. Das UNHCR schließlich koordiniert die unterschiedlichen Hilfsorganisationen; mehr als 80 sind es, Tendenz steigend. Was sie leisten, ist über das UNHCR zudem mit dem Premierminister abgestimmt. »Auf diese Weise wird die Flüchtlingshilfe in die regulären Versorgungssysteme integriert.«

Das ist neu und im Sinne der »Deklaration von New York«, die die UN-Vollversammlung bei einem Sondergipfel zur Flüchtlingsfrage im September 2016 beschlossen hat. »Uganda ist das erste Land, in dem ein sogenanntes ›Umfassendes Rahmenkonzept zum Umgang mit Flüchtlingen‹ umgesetzt wird«, erklärt Hesemann. Das Ziel: Humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge soll mit Entwicklungshilfe für die lokale Bevölkerung verbunden werden, sodass Probleme auf Dauer gelöst werden. »Das ist eine strukturelle Antwort, die auch Entwicklungssysteme und die allgemeine Versorgung umfasst, und das kann nur geleistet werden, wenn alle gemeinsam in eine Richtung gehen.«

Für das UNHCR hat das neue Vorgehen ganz handfeste Vorteile: Wenn die Kreditanstalt für Wiederaufbau oder die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit großflächig die Wasserversorgung im Norden Ugandas ausbauen, wie derzeit geplant, dann kostet das das UNHCR nichts, sondern entlastet dessen Budget sogar. Allerdings dauert Entwicklungshilfe – bis Wasserleitungen vom Nil bis in Siedlungsgebiete verlegt sind, werden Jahre vergehen. So lange muss die humanitäre Hilfe alle Kosten tragen. »Die längerfristige Nachhaltigkeit wird dann von der ugandischen Verwaltung sichergestellt«, so Hesemann. »Die Bezirksverwaltung in den Gebieten, die Flüchtlinge aufgenommen haben, hat ja jetzt schon Systeme für die ugandische Bevölkerung. Idealerweise integrieren wir die Sozialversorgung für Ugander und Flüchtlinge in einem System, mit dem Beitrag der humanitären Hilfe und dem der Entwicklungshilfe. Das wäre das ideale Endstadium dieses Ansatzes.«

Was in Uganda bereits geschieht, soll sukzessive in der ganzen Welt eingeführt werden. UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming gibt sich hoffnungsvoll: »Das UNHCR braucht mehr Geld und gleichzeitig müssen diejenigen gestärkt werden, die vor Ort so viele Flüchtlinge aufnehmen. Die neue Deklaration von New York nimmt sich dieser Fragen an und wird hoffentlich dazu beitragen, die Lebensbedingungen der Flüchtlinge deutlich zu verbessern.«

Die Deklaration hat noch einen weiteren Bestandteil, der die legale Umsiedlung von Flüchtlingen in Drittländer fördern soll. Der mit Abstand größte Teil der Flüchtlinge schafft es gerade einmal in die Nachbarländer, wie nicht nur die Lage in Uganda, sondern auch das Beispiel Syrien im vorangegangenen Kapitel zeigt. Staaten wie der Libanon, wo auf sechs Millionen Libanesen mehr als eine Million syrischer Flüchtlinge kommen, könnten durch Umsiedlungsprogramme entlastet werden. Doch diesem Teil der Deklaration sind bis heute keine Taten gefolgt, ein Global Compact für Flüchtlinge soll erst Ende 2018 diskutiert werden. Die Trump-Regierung hat bereits vorbeugend erklärt, den Compact keinesfalls mitzutragen. Dass die internationale Gemeinschaft Antworten auf die entscheidende Frage der Umsiedlung aufschob, ist ein Grund, warum die New Yorker Deklaration schon zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung hoch umstritten war. Zu den Kritikern gehörte etwa Alexander Betts, der das Studienzentrum für Flüchtlingsfragen an der englischen Universität von Oxford leitet. »Gebraucht hätten wir eine Konferenz über die wirklichen Herausforderungen der Flüchtlingskrise in Syrien und Europa, stattdessen sprechen wir über wolkige Prinzipienfragen«, sagte er unmittelbar vor der Verabschiedung im September 2016.

Über eine Grundsatzfrage hätten Betts und andere im Herbst 2016 allerdings sehr wohl diskutieren wollen, und zwar dringend, nämlich: Wird das 1950 gegründete UNHCR heute noch seiner Aufgabe gerecht? Der Schweizer Alexander Casella hat zwanzig Jahre lang für das UN-Flüchtlingshilfswerk gearbeitet. Und ist ernüchtert, was Krisengipfel oder ähnliche Veranstaltungen angeht. »Es gibt ein paar vorbereitete Statements, die Hoffnung verbreiten sollen, aber solche Gipfel können die enorme Herausforderung der weltweiten Migration und Flucht nicht bewältigen. Was es wirklich braucht, das wäre eine Handvoll talentierter Einzelpersonen.« Die allerdings vermisst Casella schon lange. Und das hat für ihn mit dem enormen Wachstum des UNHCR zu tun: Fast 10 000 Angestellte hat es heute; der Jahresetat ist von 300 000 Dollar im ersten Jahr auf zuletzt sieben Milliarden gestiegen.

Die Folge: »Innerhalb des Systems wurde alles nivelliert. Gleichzeitig wurden riesige Beförderungsprogramme aufgelegt. Als ich beim UNHCR war, gab es zwei hochrangige Direktorenposten, heute müssen es gut dreißig sein«, klagt Casella. »Es gibt mehr Beförderungen, mehr Gehälter, höhere Dienstgrade – aber Leute, die eher wie Maschinen arbeiten, anstatt nachzudenken oder neue Lösungen zu erfinden.« Bei der Vorbereitung des New Yorker Gipfels war das deutlich zu sehen. Die Bürokratie innerhalb der Genfer UNHCR-Zentrale war vor allem damit beschäftigt, ihr Mandat zu verteidigen. Der Gegner: die Internationale Organisation für Migration, die im gleichen Herbst 2016 zum Teil des Systems der Vereinten Nationen gemacht wurde.

Der erste Vorläufer des IOM wurde 1951 gegründet, nur ein Jahr nach dem UNHCR. Rechtsgrundlage des Letzteren ist die ebenfalls 1951 verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention, die 1967 ergänzt wurde und seitdem global gültig ist. Anerkannte Flüchtlinge in ihrem Sinn sind die jenigen, die individuell wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt werden. Das IOM dagegen ist generell für die Steuerung und Kontrolle von Migrationsbewegungen zuständig, inklusive Rückführungen. Wie das UNHCR, so ist auch die IOM deutlich gewachsen. Mit gut 9000 Mitarbeitern beschäftigt die IOM ähnlich viele Angestellte wie das UNHCR, allerdings bei einem deutlich geringeren Etat (zuletzt über 1,5 Milliarden US-Dollar).

Ob die UN sich auf Dauer zwei Agenturen mit einer so ähnlichen Aufgabenstellung leisten können und wollen, ist unklar. Politisch steht das UNHCR unter Druck, weil viele Aufnahmestaaten das von ihm garantierte individuelle Asylrecht gerne aufweichen würden. Doch das ist nicht der einzige Kritikpunkt. Alexander Casella etwa moniert, dass das UNHCR spätestens im Chaos auf der Balkanroute hätte eingreifen müssen – auch um die Einhaltung der Flüchtlingskonvention zu garantieren, die alle europäischen Staaten unterzeichnet haben. Dass das UNHCR im Herbst 2015 zunächst zu wenig bei der Versorgung der Mittelmeerflüchtlinge geholfen hat, bestreitet nicht einmal UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming: »Als die Flüchtlinge nach Europa strömten, haben wir zunächst sehr gezögert, uns zu engagieren. Unsere Leute sind schon absolut überlastet in Entwicklungsländern, wo wir zu wenig Geld und zu viel Not haben. Dass wir im reichen Europa helfen müssten, haben wir nicht erwartet. Wir hielten das für Europas Verantwortung.« Doch Regierungen hätten selten viel Fantasie, klagt Casella. Irgendjemand müsse die Führung übernehmen. Und Casella lässt keinen Zweifel daran, wen er gerne als Anführer der Debatte sähe: das Flüchtlingshilfswerk nämlich. »Aber heute wird gar nichts mehr vorgeschlagen, es werden keine Lösungen präsentiert. Wenn Sie mich fragen, dann ist die Führungsrolle des UNHCR vorbei.«

Wenn Casella an früher denkt, dann an die Flüchtlingswelle in Indochina, die ebenso wie die heute im Mittelmeer lange als unlösbar galt. Zwischen 1975 und 1995 flohen mehr als drei Millionen Menschen aus Laos, Vietnam und Kambodscha, oft in kaum seetüchtigen und überfüllten Booten. Sie wollten weg aus einer Region, die gerade erst schwere Kriege hinter sich hatte, darunter den in Vietnam. Kambodschaner versuchten, dem blutigen Terror der Roten Khmer zu entgehen, dazu kamen Missernten, Hunger und die Folgen wirtschaftlicher Sanktionen. Die Menschen zog es in die nächsten stabilen (und oft auch deutlich reicheren) Länder in der Region: Hongkong, Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand. Dort waren die Armutsflüchtlinge, von denen täglich Hunderte an den Stränden landeten, unerwünscht. Viele starben auf dem langen Weg über das Meer, andere wurden Opfer von Piraten. Die Geschichte und die Bilder erinnern in vielerlei Hinsicht an die Lage im Mittelmeer im Sommer 2015. Mit einem entscheidenden Unterschied: In Asien schaffte es das UN-Flüchtlingshilfswerk, eine Lösung zu finden.

Alexander Casella war damals dort. Ihm zufolge wollte keine Regierung, dass das UNHCR in der Sache aktiv wurde. »Das haben wir selbst entschieden. Natürlich musste das UNHCR etwas Vernünftiges tun, sonst hätte ja keiner mitgemacht.« Diese »vernünftige« Lösung war der Comprehensive Plan of Action, kurz CPA, ein riesiges Umsiedlungsabkommen. Fast eine Million Flüchtlinge konnten fortan über mehrere Jahre verteilt per Flugzeug in vorher festgelegte Bestimmungsstaaten ausreisen. »Das war planbar und es gab keine Schleuserkriminalität mehr. Das zeigt: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.« Das Beispiel zeigt auch, dass das UNHCR die Erfahrung und die Lösungsansätze hätte, die Lage der Flüchtlinge im Mittelmeerraum zu verbessern und zu verhindern, dass sie auf dem Weg nach Europa sterben.

Dass sich der Erfolg von damals wiederholen lässt, glaubt Casella trotzdem nicht. »Das damals beschlossene CPA-Abkommen hat tatsächlich die Krise der vietnamesischen Bootsflüchtlinge gelöst. Aber wie kam es zustande? Da saßen in Bangkok vier Leute zusammen, ein Amerikaner, ein Australier, ein Thai und ein UNHCR-Vertreter, die entweder ohne Auftrag oder gegen ihren Auftrag eine Lösung entworfen haben.« Ein US-Botschafter mochte die Idee und übte Druck auf den Hochkommissar für Flüchtlinge aus, der den Plan zunächst abgelehnt hatte. »So kam das CPA zustande. Es war kein Ergebnis des Systems, sondern von ein paar Einzelkämpfern, die das System herausgefordert haben.« Für das UNHCR, so glaubt Casella, sei es mittlerweile wichtiger, Dinge regelkonform zu erledigen anstatt das Richtige zu tun. Eine erschreckende Bilanz von einem, der beim UNHCR als Asien-Direktor in Pension ging.

Dabei kann man dem aktuellen Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi kaum vorwerfen, es nicht zu versuchen. Der Italiener übernahm 2016 das Ruder von seinem Vorgänger António Guterres, dem heutigen UN-Generalsekretär, einem mediengewandten Politiker, der omnipräsent schien und immer wieder sein Netzwerk in der europäischen Politik nutzen konnte. Dagegen muss Grandi fast zwangsläufig farblos wirken. Seit drei Jahrzehnten arbeitet er bei den UN, ein Hausgewächs. Doch er weiß auch, wie Flucht vor Ort aussieht. Gleich nach seinem Philosophie- und Geschichtsstudium in Mailand ging er für einen katholischen Freiwilligendienst nach Thailand, um dort Kambodschanern in einem Flüchtlingslager zu helfen. Vielleicht sind sich Casella und Grandi damals begegnet, ohne davon zu wissen. Kalt ließen die Erlebnisse jedenfalls auch Grandi nicht. An einem seiner ersten Tage, so hat er einmal erzählt, habe er im Flüchtlingscamp eine Frau gesehen, die schreiend ihr an Malaria gestorbenes Baby in den Armen hielt. Damals habe er gelernt, dass angesichts des Leids nur eines zähle: »Solidarität, pure Solidarität.«

Es blieb nicht bei Thailand. Grandi war im Sudan, in Syrien, in der Türkei, dem Kongo und dem Irak. Er hat Lager errichtet, Essensausgaben organisiert, Logistikketten geplant. In Afghanistan war er für die größte freiwillige Rückführung von Flüchtlingen zuständig, die es jemals gegeben hat. Bis 2014 kümmerte er sich um die vielleicht verzweifeltsten Flüchtlinge überhaupt, jene Palästinenser, die nach der Gründung Israels in den Nachbarländern unterkamen und seitdem vom UN-Hilfswerk für die Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten versorgt werden. Als Chef der Organisation bekam Grandi hautnah mit, wie Hunderttausende von ihnen im Syrienkrieg zum zweiten Mal vertrieben wurden. »1948 wurden die Palästinenser in den Nachbarstaaten wohlwollend aufgenommen – heute weisen die Länder in der Region und der ganzen Welt die vertriebenen Flüchtlinge ab; die Palästinenser wissen schlicht nicht, wohin sie gehen sollen.«

Grandi kann kämpferisch sein, aber er ist vor allem ein erfahrener Macher. So fordert er – wie Casella – Umsiedlungsprogramme und Familienzusammenführungen im großen Stil, um Schleusern ihr Geschäft zu verderben und Flucht für alle Seiten planbar zu machen. Die europäischen Staaten flehte er an: »Wir müssen es schaffen, legale Auswanderung aus den Nachbarstaaten Syriens zu ermöglichen, denn sie sind hoffnungslos überlastet.« Allerdings hatte er keinen Erfolg. Ein Gipfeltreffen drei Monate nach Beginn seiner Amtszeit, in dem statt Geld Aufnahmequoten zugesagt werden sollten, blieb praktisch folgenlos.

Ein Grund dafür, dass sich das in Südostasien bewährte Konzept bisher nicht wiederholen lässt, ist sicher die politische Weltlage. Im Kalten Krieg waren vor allem die USA, aber auch Australien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Kanada bereit, Flüchtlinge aus den kommunistischen Ländern Indochinas – verteilt über mehrere Jahre – aufzunehmen. Mit dieser Ausreiseperspektive wuchs die Bereitschaft der südostasiatischen Aufnahmestaaten, die Flüchtlinge einige Jahre länger zu versorgen – mit Unterstützung des UNHCR, versteht sich. Fernsehbilder von ertrinkenden Flüchtlingen in lecken Nussschalen entsetzten damals mehr Menschen als heute. Ein weiterer Grund dafür, dass sich etwa in Syrien nichts Vergleichbares bewerkstelligen lässt, ist die vor allem auf der Nordhalbkugel sinkende Solidarität, die selbst UNHCR-Chef Grandi offen beklagt: »Ich habe mein Leben lang mit Flüchtlingen gearbeitet und in den letzten Jahren hat sich die Welt grundlegend verändert«, sagt er. Krisen ziehen sich über Jahre und – wie etwa im Fall des Kongo, Somalias oder Südsudans – Jahrzehnte, ein Ausstiegsszenario ist nicht in Sicht. Die Geber werden müde, es mehren sich die Stimmen, die fordern, die hoffnungslosen Fälle sollten sich gefälligst selbst helfen.

Grandi setzt dagegen die Notwendigkeit von mehr und weiter gefasster Hilfe: »Wir müssen Flüchtlinge schützen und dafür sorgen, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können – dazu gehören auch Schulen und Arbeitsplätze, zumal Krisen sich viel länger hinziehen als früher.« Wenn es nach Grandi geht, dann ist das, was derzeit im Norden Ugandas geschieht, die Antwort auf die Herausforderungen oder kurz: die Zukunft des Flüchtlingsschutzes. Während der Norden Mauern errichtet, tut sich im Süden eine Win-win-Situation für Flüchtlinge und Bewohner auf. Natürlich bräuchte es zusätzlich die Möglichkeit der Umsiedlung in reiche Länder, doch ein Flüchtlingshelfer wie Grandi nimmt, was er kriegen kann.

Von einem Hügel, auf dem die Malteser einen Wassertank errichtet haben, hat man den weitesten Blick über die Flüchtlingssiedlung Afua 3. Stolz deutet Steven Lumumba mit ausgestrecktem Arm über die grüne Landschaft mit den verstreuten Hütten hinweg, als wolle er sagen: Seht her, das haben wir geschafft. »Vor einem Jahr sah das hier noch vollkommen anders aus, überall Plastikplanen vom UNHCR auf den notdürftigen Unterkünften und Zelte, überall Zelte.« Inzwischen tragen die ersten Felder, zwischen den Hütten laufen Hühner und einzelne Ziegen umher. »Die Hütten und Höfe der Flüchtlinge lassen sich heute kaum noch von denen der Einheimischen unterscheiden«, freut sich Lumumba.

Einer von denen, die nicht weit vom Fuß des Hügels entfernt gesiedelt haben, ist Gassim Kenneth. Er ist mit seinen zwei Kindern, den Eltern und entfernten Verwandten aus dem Südsudan geflohen. »Als wir hier ankamen, war die Lage wirklich schlimm, es gab zum Beispiel nur einen einzigen Brunnen für 15 000 Flüchtlinge und die Bewohner der Gegend, das reichte gar nicht.« Doch schon wenige Wochen später begannen Lumumbas Leute, zwei neue Brunnen zu bohren. Heute teilen sich die alten und die neuen Bewohner zwölf Wasserverteilstellen. »Genug, um zur Not auch einmal das Gemüse im Garten zu gießen, wenn es nötig ist.« Im Südsudan hat Kenneth als Mechaniker gearbeitet, hatte ein geregeltes Einkommen. In Nord-Uganda ist er Farmer und irgendwie auch Manager des Familienanwesens, zu dem außer den 30 x 30 Metern für Haus und Gemüsegarten auch ein Feld von 50 x 50 Metern gehört. Damit muss die zwölfköpfige Familie irgendwie durchkommen. Kenneth nutzt dafür alle Chancen, die sich bieten. »Eine Hilfsorganisation hat uns zehn Küken gegeben, die habe ich großgezogen, und jetzt legen sie Eier. Die Hälfte davon verkaufe ich, die andere Hälfte sind für die Kinder. Proteine sind sehr wichtig für sie.« Kenneth schickt seine Kinder zur Schule, und damit sie ordentlich lernen, sollen sie auch ordentlich essen.

Auch Ziegen hält er. »Wir kümmern uns sehr gut um sie, denn ich glaube, eines Tages werde ich eine davon verkaufen müssen, um die Schulgebühren zahlen zu können.« Bis dahin trinkt die Familie die Ziegenmilch und lebt vor allem vom Gemüse, das reichlich wächst. »Wir haben Tomaten, Okra, die wächst sehr schnell, Auberginen und auf dem Feld habe ich Reis gepflanzt, Reis ist sehr gut für Kinder.« Kenneth ist in der Stadt geboren und hatte vor der Flucht noch nie ein Feld bestellt. »Ich habe mich umgehört, und da waren dann Organisationen wie die FAO, die haben Trainingskurse angeboten und mir beigebracht, wie man auf diesem trockenen Land pflanzt und wirtschaftet.« Einmal im Monat bringt das Welternährungsprogramm den Flüchtlingen noch Pflanzenöl und ein paar andere Güter, doch es ist schon viel weniger als früher. Und wenn die Lieferungen einmal ganz aufhören, dann werden Kenneth und seine Familie wohl durchkommen, daran hat selbst er keine Zweifel. »Im Leben ist der Weg das Ziel und man muss immer wieder kämpfen. Aber ja, das Leben hier ist gut. Wirklich gut.«

Möglichst allen Flüchtlingen solche Chancen zu bieten wie Kenneth, ist ein hartes Stück Arbeit. Es geht nicht mehr, wie in der klassischen Flüchtlingsnothilfe, nur darum, regelmäßig Zelte und Essen auszugeben und auf die Sicherheit im Camp zu achten – alles Aufgaben, die an sich schon schwer genug sind. Vielmehr funktionieren die Flüchtlingssiedlungen im Norden Ugandas im Kern wie Städte und die »kommunalen« Aufgaben übernehmen anstelle von Dezernaten die Hilfsorganisationen. Wasser wird gebraucht? Ein Fall für Steven Lumumba und sein Team von Malteser International. Alten, gebrechlichen Menschen wie Margrit Yabo, die wir im zweiten Kapitel kennengelernt haben, hilft das »Sozialdezernat«: Organisationen wie Handicap International, die Essen auf Rädern, Transport zum Arzt oder auch psychosoziale Betreuung zur Traumabewältigung anbieten. Um die Tausende von Kindern, die unbegleitet im Norden Ugandas ankommen, kümmert sich Worldvision: Die Organisation sucht Paten, betreibt Kindergärten, Spielplätze und Jugendklubs. In Abstimmung mit Ugandas Regierungsbehörden koordiniert das UNHCR die mehr als 80 Organisationen in einem Masterplan, der so verbindlich sein muss wie möglich und zugleich so flexibel wie nötig.

Wären die Flüchtlingssiedlungen wirklich eine Stadt, dann wäre Robert Baryamwesiga der Oberbürgermeister. Der Ugander arbeitet seit elf Jahren für das Büro des ugandischen Premierministers. Er hat Jura studiert, außerdem Master-Abschlüsse in Internationalen Beziehungen und Diplomatie. Auch eine Lizenz als Privatdetektiv hat er erworben. Vielleicht hilft ihm all das, um das Chaos der sich ständig verändernden Flüchtlingsstadt zu bewältigen. »Es ist die Hölle, wirklich, es bereitet einem viele schlaflose Nächte. Man muss die ganzen Partner koordinieren, für Sicherheit sorgen, sich dann auch mit der Regierung in Kampala abstimmen und vor allem dafür sorgen, dass ständig alles läuft. Sie haben nicht eine Minute, um mal in Ruhe nachzudenken.« Koordination ist das Stichwort: Täglich kommen die Chefs aller Hilfsorganisationen in der Siedlung zusammen, besprechen die Lage, verteilen Aufgaben. Es wird viel diskutiert, aber das letzte Wort hat »Bürgermeister« Baryamwesiga. Dazu kommt die technische Koordination: Wer eine permanente Wasserversorgung bauen will, der muss viel über Rohre und Druckgefälle und Ähnliches wissen. »Am Ende geht es mir darum, dass die Menschen Wasser haben – welche Kalkulationen nötig sind, wie dick die Rohre sein müssen, das überlasse ich den Experten. Hauptsache, wir haben Wasser – und eine nachhaltige Lösung.«

Noch etwas überlässt Uganda anderen: die Finanzierung. Zwar verteidigt Baryamwesiga den Beitrag seiner Regierung, die 35 Millionen Dollar jährlich bezahle und darüber hinaus Land, Schulen, Straßen und Ressourcen bereitstelle. Und er hat recht, dass das ein bedeutender Beitrag ist. Ohne ihn gäbe es in Uganda keine Flüchtlingssiedlungen, sondern eine Krise. Doch gerade, dass alles gut läuft und die Krise vermieden wird, könnte schwere Folgen haben, befürchtet UNHCR-Koordinator Jens Hesemann. Schon 2017 ist nur knapp ein Drittel der benötigten Hilfen zugesagt worden. »Die große Gefahr ist, dass Uganda Opfer seines eigenen Erfolgs wird. Wenn man die Krise nicht mehr sieht, droht das Geld ganz zu versiegen.« Das aber, da ist Hesemann sicher, hätte schlimme Folgen. »Es wäre eine Katastrophe und ein falsches Signal für den Flüchtlingsschutz weltweit, wenn diejenigen, die Flüchtlinge aufnehmen, später schlechter dastünden.« Gerade die Gegner eines Flüchtlingszuzugs nach Europa müssten ein großes Interesse daran haben, dass das Experiment im Norden Ugandas gelingt. Denn der Flüchtlingsstrom im Südsudan geht nicht nach Norden in Richtung Mittelmeer, sondern nach Süden. Anstatt ihr Leben auf einem Schiff im Mittelmeer aufs Spiel zu setzen, bauen sich Menschen wie Gassim Kenneth in Uganda ein neues Leben auf. Mit Bleibeperspektive.

Nicht nur in Uganda verlässt sich das UNHCR bei der konkreten Umsetzung seiner Programme immer häufiger auf lokale Partner. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gibt es in der Genfer Zentrale immer weniger Mitarbeiter, die noch wie Hochkommissar Grandi die Kärrnerarbeit der Flüchtlingshilfe erledigt haben. Zudem müssen Entscheidungen, die in der Zentrale getroffen werden, erst einmal durch zahlreiche verschiedene Strukturen hindurch nach unten sickern. Das dauert, macht die Hilfe langsam und weniger flexibel. Dabei ist genau das ein Ziel: schnellere, unkomplizierte Hilfe. Und noch ein Problem sieht Norah Niland, die für die UN unter anderem in Afghanistan gearbeitet hat und inzwischen am Genfer Graduate Institute über humanitäre Hilfe im 21. Jahrhundert forscht. »Im Moment wird das Geld von den ganz großen Organisationen immer weiter gereicht zu den kleinen Initiativen vor Ort, das ist wie ein Schneeball: Am Anfang ist er noch groß und hart, aber wenn er durch x Hände gereicht worden ist, ist kaum noch etwas übrig, weil so viel in Verwaltungskosten geflossen ist.«

Der Einsatz lokaler Partner soll langfristig die Strukturen in den Einsatzländern stärken. Doch UN-Organisationen zahlen für die ihnen verbliebenen Posten Gehälter, die Nichtregierungsorganisationen und erst recht lokale Partner nicht bieten können. »Das UNHCR oder auch die großen Hilfsorganisationen wie Oxfam schöpfen die talentiertesten Leute ab.« Ein Problem, das weit über die Flüchtlingshilfe hinaus Auswirkungen hat. Wenn UN-Organisationen höhere Gehälter zahlen als die Regierung vor Ort, ist es müßig, auf einen besseren Beamtenapparat zu hoffen, der Dinge selbst in die Hand nimmt. Der Markt an qualifizierten Kräften ist in den meisten notleidenden Ländern dafür viel zu klein.

Ein weiteres Problem: der Missbrauch von Hilfe, um politische Ziele zu erreichen. Dadurch wird es für die Helfer immer schwieriger, ihren humanitären Auftrag zu erfüllen; die nötige Unterstützung vor Ort, der politische Handlungsspielraum und letztlich das Vertrauen gehen verloren. Deutlich wird das in einer Studie des Nahost-Experten Reinoud Leenders vom Londoner King’s College: Ihr zufolge sind alleine 2015 900 Millionen der 1,1 Milliarden Dollar, die für Flüchtlinge und Notleidende in Syrien gedacht waren, indirekt vom Regime von Baschar al-Assad verteilt worden – dem Regime, das hinter dem Krieg steckt und für Kriegsverbrechen bis hin zum Chemiewaffeneinsatz verantwortlich gemacht wird. So soll das UNHCR über vier Jahre hinweg 7,7 Millionen Dollar an eine Stiftung von Assads Ehefrau überwiesen haben. 73 Organisationen kündigten nach Leenders’ Veröffentlichung ihre Zusammenarbeit mit den UN in Syrien auf. Treffen die Ergebnisse der Studie zu? Nach der Veröffentlichung im September 2016 widersprach UNHCR-Sprecherin Fleming nicht. »Wir müssen in jedem Land mit der Regierung arbeiten, schlicht um Zugang zu bekommen, Visa, Arbeitsgenehmigungen. Wir verhandeln auch mit anderen Konfliktparteien. Es geht nicht darum, dass wir uns bei irgendjemandem anwanzen würden. Unser entscheidendes Ziel ist es, diejenigen zu erreichen, die Hilfe brauchen. Wenn wir das nicht mehr täten, dann würde das Leid in einem Maße zunehmen, wie wir es uns gar nicht vorstellen können.«

Viele Baustellen also, die bei einer Reform der UN-Flüchtlingshilfe angegangen werden müssten. Alexander Betts aus Oxford hält es dennoch für unumgänglich, mit den ersten Schritten zu beginnen. Den Anstoß dafür, so glaubt er, werden allerdings kaum die Vereinten Nationen selbst geben. »Die wenigsten Organisationen sind bereit, sich von innen heraus selbst zu reformieren. Wandel wird es nur geben, wenn die großen Geberländer Druck ausüben. Sie sind die Einzigen, die Reformen erzwingen können. Andernfalls wird alles so bleiben, wie es ist.« Und doch ist deren Ziel zu oft die schlichte Senkung ihrer Beiträge, wie die USA es vormachen. Und das, obwohl die nötigen Hilfsgelder schon lange nicht erreicht werden. Das macht die Geber gleichermaßen zum Teil der Lösung wie zum Teil des Problems und bringt die Vereinten Nationen in eine »extrem schwierige Situation«, wie Thomas Nierle sagt, der Präsident von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, kurz MSF) in der Schweiz: » Einerseits sollen sie Druck ausüben, andererseits sind sie extrem abhängig von den Geberländern. Wenn sie etwas Unschönes sagen, dann wird der Hahn eben noch weiter zugedreht.« Auch Norah Niland glaubt, dass Organisationen wie das UNHCR den Mitgliedsstaaten aus finanziellen Gründen zu sehr gefallen müssen. »Umso wichtiger ist es, zu betonen, dass es nicht die Aufgabe des UNHCR ist, Staaten zufriedenzustellen, sondern die Rechte von Flüchtlingen zu verteidigen, die Sicherheit und Unterschlupf brauchen.« Doch wie prinzipientreu kann das UNHCR angesichts leerer Kassen sein? Und kann die Welt es sich leisten, dass sich die obersten Flüchtlingshelfer jedes Jahr aufs Neue ihre Finanzierung zusammenbetteln müssen? »Ich bin kein Spezialist der UN-Finanzierung, andererseits ist es klar, dass es so nicht weitergehen kann«, sagt MSF-Mann Nierle. »Ob das das WFP ist oder auch das Flüchtlingshilfswerk, das sind heute unbedingt nötige Hilfsakteure, die man nicht an der kurzen Leine führen kann.«