Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen gewährleistet sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 25 (1)
Selbst für New Yorker Verhältnisse war es eine riesige Party. Die Vereinten Nationen wurden 70 und feierten sich selbst, mit mehr als 150 Staats- und Regierungschefs. Barack Obama, Xi Jinping, Wladimir Putin, Angela Merkel, sogar Papst Franziskus waren gekommen, um zur Eröffnung der 70. UN-Vollversammlung zu sprechen. Doch der wirkliche Star waren die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, kurz SDG), die zur Feier des Tages als farbenfrohe Logos an die Außenwand des UN-Hauptgebäudes projiziert wurden, zeitgleich mit den Flaggen der 193 UN-Mitgliedsstaaten. Es war der 25. September 2015, am Morgen hatte die Vollversammlung per Akklamation diese Ziele beschlossen, die mit ihren 169 Unterzielen die Agenda 2030 bilden – bis dahin sollen möglichst alle SDG verwirklicht werden. Dass das unwahrscheinlich ist, wissen auch die Macher. Und trotzdem ließ der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Agenda 2030 nicht einfach um »noch ein« Programm handelt, sondern um eine Art UN-Charta 2.0. »Die UN sind aus der Asche des Zweiten Weltkriegs entstanden. Die Regierungen haben sich damals auf eine visionäre Charta geeinigt, die den Völkern der Welt gewidmet ist. Die heute hier beschlossene Agenda entwickelt diese Charta weiter.«
Tatsächlich ist die von allen 193 UN-Mitgliedsstaaten einstimmig verabschiedete Agenda 2030 das fortschrittlichste Programm, das die Weltgemeinschaft je hatte. Anders als die im Jahr 2000 beschlossenen Millenniumsziele (MDG) konzentrieren sich die SDG nicht nur auf Entwicklungsfragen. Sie gelten auch nicht nur für die ärmsten Staaten, sondern für alle: Armut beenden, Ernährung sichern, die Geschlechter gleichstellen, allen ein gesundes Leben, Bildung und menschenwürdige Arbeit ermöglichen und Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung sowie nachhaltiger und moderner Energie schaffen. Weitere Ziele: widerstandsfähige Infrastruktur, nachhaltige Industrialisierung und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, verringerte Ungleichheit, nachhaltige Städte und Siedlungen, nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen, Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen, Erhalt der Ozeane, Schutz der Landökosysteme, Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen und schließlich die Stärkung von Mitteln zur Umsetzung der Agenda und globaler Partnerschaft. Was in unseren Ohren teilweise selbstverständlich klingen mag, ist in manchen Teilen der Welt geradezu revolutionär. Man muss sich vor Augen halten: Saudi-Arabien hat 2015 dem Ziel zugestimmt, Frauen bis 2030 gleichberechtigt zu behandeln und sie gezielt zu fördern. Die USA (und Deutschland) haben sich bereit erklärt, die Einkommen der ärmsten 40 Prozent stärker wachsen zu lassen als die der anderen – ohne Vermögenssteuer kaum vorstellbar. Und das Ende absoluter Armut und jeder Art von Hunger bis 2030 macht in vielen Entwicklungsländern eine staatliche Umverteilung nötig, die bisher an der Gier mächtiger Eliten gescheitert ist.
Dass die Ziele so weitreichend sind, hat einen Grund: Noch nie ist bei den UN ein Abkommen unter so breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft entstanden. Drei Jahre lang konnten sich Nichtregierungsgruppen und Einzelpersonen an der Formulierung der Ziele beteiligen. In die Arbeit der »offenen Arbeitsgruppe« flossen sogar mehr als acht Millionen Stimmen ein, die über das Internet eingesammelt wurden. Die meisten, so freute sich nach der Verabschiedung Thomas Gass, der für politische Koordination zuständige Untergeneralsekretär der UN, seien jung, weiblich und aus Entwicklungsländern gewesen – und damit das krasse Gegenstück zum Durchschnitt der bei den UN akkreditierten Diplomaten, die in ihrer Mehrzahl weiß, alt und männlich sind.
Dass nicht die diplomatisch versierten Anzugträger die Agenda schrieben, sondern eine unkontrollierte Masse von Internautinnen, gefällt bei Weitem nicht allen. War man es doch bei den Vereinten Nationen gewohnt, in geschlossenen Verhandlungen kleinste gemeinsame Nenner zu definieren. »Wenn man diese Ziele ernst nimmt, dann könnten sie eine große sozial-ökologische Transformation einleiten«, hofft der entwicklungspolitische Beauftragte von Brot für die Welt, Thilo Hoppe, der in New York als Mitglied der deutschen Delegation am Gipfel teilgenommen hat. Allerdings warnt er auch: »Derzeit gibt es leider keine Anzeichen, dass die Staatsoberhäupter auch nur annähernd gewillt sind, das zu tun.« Für UN-Mann Gass muss die Zivilgesellschaft die Agenda 2030 als Instrument nutzen, um Druck auf die Regierungen auszuüben. Und auch Hoppe fordert: »Man muss die Regierungen mit dem, was sie beschlossen haben, jetzt quälen.«
Schon bei der Erstellung der SDG zwischen 2013 und 2015 hatten vor allem reiche Nationen immer wieder versucht, weitreichende Ziele zu verhindern. Beispiel: Ein von Experten dringend geforderter Umschuldungsmechanismus wurde von Frankreich, Großbritannien, Australien und Japan frühzeitig gestoppt. Übrig blieb das Ziel, Entwicklungsländern mehr Repräsentanz in globalen Finanzinstitutionen zuzugestehen, die den Schuldendienst verwalten. Homosexuellenrechte blieben bei den SDG vor allem auf Druck Russlands und Chinas außen vor. Meist allerdings setzten sich in der offenen Arbeitsgruppe die progressiven Stimmen durch.
Viele Staaten wurden davon kalt erwischt. Als die Agenda vorlag, rieben sich vor allem reiche Industrie- und Ölstaaten die Augen. Saudi-Arabien bemühte sich noch wenige Monate vor dem UN-Gipfel, das Thema Klimawandel aus der Agenda zu streichen. Doch die in der G77 zusammengeschlossenen Entwicklungsländer, die die Nachhaltigkeitsziele bei der Rio + 20-Konferenz 2012 überhaupt erst auf die Tagesordnung gesetzt hatten, verhinderten, dass das Gesamtpaket noch einmal aufgeschnürt wurde. Hinter den Kulissen wiesen sie geschickt darauf hin, dass andernfalls auch von ihnen noch potenziell kostspielige Nachforderungen kommen könnten. Im Frühsommer einigten sich die Diplomaten darauf, den Springteufel lieber in der Box zu lassen. Die Nachhaltigkeitsagenda war beschlussreif.
Die gescheiterten Blockiererstaaten dürften bis 2030 versuchen, die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zu torpedieren. Das geht am ehesten über die Messmethoden. Denn in den Unterzielen sind durchaus konkrete Vorgaben formuliert, die messbar sind. Man muss sich nur darauf einigen, wie man sie misst. Ein schwieriger Prozess. »Wenn man sich auf Datensätze einigt, die schwammig, aber leicht zu erheben sind, dann ist das gut für all diejenigen, die nichts erreichen wollen«, warnt etwa Marwin Meier, der für die Entwicklungsorganisation Worldvision an der Erarbeitung der Gesundheitsziele in der Nachhaltigkeitsagenda mitgearbeitet hat. Gerade weil es sich um eine technische Debatte handelt, ist die öffentliche Aufmerksamkeit gering. So ist eine Frage, wie viele Indikatoren nötig sind, um das Erreichen eines Unterzieles messen zu können. »Das Thema Kinder- und Müttersterblichkeit etwa muss diesmal ganz vorne stehen, weil es schon bei den Millenniumszielen nicht erreicht wurde«, fordert Meier. »Dafür brauchen wir mehr Indikatoren als die zwei pro Unterziel, die bislang vorgesehen sind.« Mindestens vier seien nötig, glaubt er. Das Problem: In den meisten Teilen der Welt liegen die für die Indikatorenüberprüfung nötigen Daten gar nicht vor.
Manchmal hat das politische Gründe: In Indien etwa war die HIV-Rate jahrelang erstaunlich niedrig, was daran lag, dass die Regierung HIV-Erkrankungen nicht registrierte. Nur über Zahlen zu Tuberkulose und anderen Folgeerkrankungen konnten Statistiker schließlich auf die tatsächlich viel höhere HIV-Rate rückschließen. Meistens ist das Problem aber finanzieller Natur. »Daten müssen so leicht zu erheben sein, dass ein Land wie Venezuela nicht 50 neue Statistiker ausbilden und anstellen muss«, erklärt Marwin Meier. Klar sei aber auch: »Wenn man Änderungen erreichen möchte, dann muss man Geld in die Erhebung verlässlicher Daten investieren.« Umstritten ist der Beschluss der UN-Statistikkommission vom März 2016, der vorsieht, nur auf vorhandene Daten bei den jeweiligen Statistikämtern zurückzugreifen. Das klingt zwar pragmatisch, könnte aber die Folge haben, dass Gewinner und Verlierer bereits feststehen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit jedenfalls kritisiert, nach diesem Verfahren sei fast ausschließlich das Bruttosozialprodukt entscheidend. Denn die meisten der bisher erhobenen Daten hingen damit zusammen. Andere Länder sehen darin allerdings den Hinweis, dass genau die wirtschaftliche Ungleichheit das Kernproblem ist, an dem die Erreichung der SDG hängt. Vielleicht sind das die nötigen Debatten, die die Agenda 2030 erfolgreich anstößt – und damit bereits ihren ersten Erfolg feiern kann.
Eigentlich sollen die 17 Ziele der Agenda gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Trotzdem wird darüber diskutiert, ob nicht doch manche gleicher als andere sein sollten. UN-Generalsekretär António Guterres erklärte in seiner Antrittsrede an Neujahr 2017: »Einigen wir uns darauf, dass Frieden die höchste Priorität genießt.« Doch erstaunlicherweise gibt es dagegen Widerstand, aus den Reihen von USA, EU und OECD-Ländern. Man befürchtet, damit einer Initiative von China, Indien und vielen Entwicklungsländern Rückenwind zu verschaffen, die Frieden als Menschenrecht verankern will. Das lehnt der Westen aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen ab. Denn wäre Frieden ein Menschenrecht, es wäre praktisch unmöglich, noch einen Krieg zu beginnen. Genau dieses Recht aber wollen viele nicht aufgeben. In einer 1984 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten UN-Resolution heißt es deshalb nur, dass die »Völker unseres Planeten ein heiliges Recht auf Frieden haben« und dass die Wahrung des Friedens eine fundamentale Pflicht jedes Staates sei. Von Menschenrecht kein Wort. In der Agenda 2030 lautet das Ziel 16: »Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern […].« Es sollen »alle Formen von Gewalt« bekämpft, illegaler Waffenhandel »deutlich verringert«… werden. Von Krieg ist nirgendwo die Rede. Einzig der Hinweis, dass »konfliktbetroffene Staaten« die bisherigen Entwicklungsziele am schlechtesten erreicht haben, weist auf die Gefahren des Krieges hin.
Doch vielleicht ist die Frage nach Prioritäten schlicht eine um des Kaisers Bart. Der damalige Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms UNEP, Achim Steiner, meint: »Darüber verliert nur jemand Schlaf, der sich der Illusion hingegeben hat, dass wir in New York ein rechtlich verpflichtendes Rahmenabkommen verabschiedet haben. Das haben wir nicht«. Unser Gespräch fand im März 2016 am Frankfurter Flughafen statt. Da stand das Ende von Steiners Amtszeit kurz bevor. Steiner ist einer der wenigen Deutschen, die eine entscheidende Rolle an der Spitze der UN einnehmen. Er tut das mit viel Engagement und frischen Ideen. Mit stiller Diplomatie versucht er, alle Lager zu versöhnen. Das bei den UN so verbreitete Sektordenken ist ihm fremd, vielleicht, weil er als Seiteneinsteiger von der Weltnaturschutzunion kam, wo er seinerseits Umweltschutzverbände und staatliche Naturschutzämter miteinander aussöhnen musste. Als der 1961 in Brasilien geborene Steiner im März 2006 zum Nachfolger von Klaus Töpfer als UNEP-Chef gewählt wurde, jubelten ihm die Diplomaten ebenso zu wie die Vertreter von Umweltschutzorganisationen und der Wirtschaft. Sie alle betrachteten ihn als ihren Kandidaten. Und sie alle hatten recht, irgendwie. Unter Steiners Leitung wuchs UNEP, das Budget verfünffachte sich innerhalb der zehn Jahre seiner Amtszeit. Vor allem aber etablierte Steiner die UN-Umweltversammlung, eine jährliche Spitzenkonferenz aller Umweltminister, was die Organisation weiter aufwertete. Seit Mitte 2017 ist Steiner Chef des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) und damit für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zuständig.
Eine Entwicklung, die bei unserer Begegnung am Frankfurter Flughafen noch nicht absehbar war. Trotzdem hatte er eine klare Meinung: »Wir haben eine Agenda für nachhaltige Entwicklung verabschiedet mit Zielen, die uns bis 2030 eine Reihe von Veränderungen ermöglichen sollen, die aber keiner erzwingen kann. Es handelt sich um eine freiwillige Verpflichtung, und daran sollten wir festhalten.« Steiner betonte, dass die Regierungen jetzt am Zuge seien, die Ziele in eine politische Agenda zu übersetzen, die »von der Bevölkerung getragen und von der Regierung als politische Verpflichtung angesehen wird«. Danach sieht es bisher nicht aus. Vielmehr scheinen die SDG, ähnlich wie die Agenda 21 nach dem Gipfel von Rio 1992, in politische Vergessenheit zu geraten. Der Öffentlichkeit sind sie kaum bekannt. Dabei gab sich Steiner im Frühjahr 2016 erstaunt darüber, wie schnell die SDG sich innerhalb der Institutionen verankerten, im UN-System ebenso wie in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Und tatsächlich sind das die Bereiche, in denen die SDG am ehesten eine Rolle spielen. Welche, das wird sich noch zeigen müssen.
Damals mahnte Steiner bereits zur Geduld: »Wir müssen uns immer klar darüber sein, dass es in einer Welt mit sieben Milliarden Menschen und über 200 Volkswirtschaften von absoluter Armut bis zu absolutem Reichtum nicht einfach sein wird, die Konkretisierung der Nachhaltigkeitsziele über einen Kamm zu scheren.« Er glaube aber, dass die Vorgaben der 17 SDG in die nationale Politik einfließen werden. »Und natürlich werden Länder Zielen unterschiedliche Prioritäten beimessen. Ein Land, in dem drei Viertel der Bevölkerung keinen Zugang zu Strom haben, wird dieses Ziel erst einmal vorrangig behandeln. Das heißt aber nicht, dass andere Ziele gar keine Rolle spielen.«
Welche Probleme bei der Diskussion über die Umsetzung noch auftauchen könnten, zeigt eine Studie des Potsdamer Nachhaltigkeitsinstituts IASS, das Steiners Vorgänger im UNEP-Amt, der ehemalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer, gegründet hat. Demnach würden die verfügbaren Flächen weltweit gar nicht ausreichen, um die UN-Nachhaltigkeitsziele zu Armut, Energie- und Ernährungssicherheit in Gänze umzusetzen. In Deutschland mit seinem Wohlstandsniveau etwa sei es deshalb notwendig, über eine Begrenzung des wirtschaftlichen Wachstums zu reden. Doch auf Fragen über den Verzicht wollte der damalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) am Rande des Nachhaltigkeitsgipfels gar nicht erst antworten. Dabei ist die Frage des Verzichts eine entscheidende, wie Papst Franziskus betonte. Bei seiner Rede unmittelbar nach Verabschiedung der Nachhaltigkeitsziele forderte er ein Ende von sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit auf der Welt: »Die wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung ist eine völlige Verweigerung der menschlichen Brüderlichkeit und ein äußerst schwerer Angriff auf die Menschenrechte und auf die Umwelt.« Der Saal jubelte. Vor allem die Vertreter der Entwicklungsländer sehen im Ende der Ungleichheit das wichtigste Ziel der Agenda 2030. Allerdings nutzen viele von ihnen die Ungleichheit im eigenen Land aus, wenn sie ihrem eigenen Vorteil dient. Auch das müsste sich ändern, wenn die Agenda 2030 umgesetzt werden soll.
Ein Jahr nach ihrer Verabschiedung treffe ich im Hochland von Madagaskar den 80-jährigen Bauern Ravaivoson. Etwas hölzern steht er an einer lehmigen Straße, die einen sanften Abhang hinunter auf grüne Felder führt. Sein Heimatdorf Tsinjoarivo hat er nie verlassen, vielleicht 100 Familien leben dort mit ihm. Das Land sei fruchtbar, sagt Ravaivoson, zupft dabei an seinem zerschlissenen karierten Sakko und rückt die beige Strickmütze zurecht. Seit Generationen habe es seiner Familie gehört. »Früher bin ich morgens auf die Felder gegangen, habe Reis, Bohnen oder Kartoffeln angepflanzt und abends so viel mit nach Hause gebracht, dass es gerade für alle reichte.« Aber dann kam die Firma, die Ravaivoson und die anderen Bewohner von Tsinjoarivo »entwickeln« sollte. »Diese Firma sagt, dass das Land ihr gehört, und sie will, dass wir für den Anbau bezahlen – sonst vertreibt sie uns.« Das französische Unternehmen, um das es geht, baut in Tsinjoarivo und auf Dutzenden anderen Feldern in Madagaskar Artemisia annua an. Die Pflanze galt lange Zeit als Wunderwaffe in der Armutsbekämpfung. Tatsächlich ist die Geschichte von Artemisia annua – nicht nur auf Madagaskar – ein Beispiel für gestrige Entwicklungshilfe. Eine Entwicklungshilfe, in der irgendwo auf der Nordhalbkugel ein neues, scheinbar todsicheres Konzept gegen Armut entwickelt und dann in den Süden exportiert wird. Der muss schlucken, was angeboten wird, oder er bekommt kein Geld.
Artemisinin ist so ein Fall. Als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2001 das von Novartis produzierte Malariamedikament Coartem zur Ersttherapie gegen Malaria empfahl, stieg der Bedarf dramatisch an. So dramatisch, dass Artemisinin – einer der beiden Wirkstoffe – knapp wurde. Der Preis auf dem Weltmarkt stieg weit über 1000 US-Dollar pro Kilo. Vom Anbau der derart attraktiven cash crop Artemisia annua, die im subtropischen Afrika hervorragend wächst, versprachen sich Investoren wie Entwicklungshelfer einen großen Erfolg. Ende der 2000er-Jahre besuchte ich eines der überall sprießenden »Leuchtturm-Projekte«, ein Dorf in Kenia, in dem Artemisia annua als das neue Gold galt. Die Hoffnungen waren riesig – und wurden später bitter enttäuscht. Die erhofften Riesengewinne blieben aus, weil der Reinheitsgrad aus technischen Gründen zu niedrig war. Zugleich brach mit dem wachsenden Angebot der Weltmarktpreis ein. Vom schmalen Gewinn schöpften Landbesitzer, Staatsbeamte, Kreditgeber und andere Geld ab. Den Bauern blieb nicht einmal der Mais, den sie früher angebaut hatten, der aber der Artemisia annua gewichen war. Zeitgleich finanzierte die Bill & Melinda Gates Foundation die Entwicklung eines Verfahrens zur synthetischen Herstellung von Artemisinin. Seit 2011 wird Artemisia annua deshalb nur noch für einen Nischenmarkt gebraucht.
Auf Madagaskar stellte UNDP, das das Unternehmen unterstützte, im Zusammenhang mit dem Artemisia-annua-Anbau dennoch Gewinne und Arbeitsplätze in Aussicht. Frankreichs staatliche Entwicklungshilfe steuerte zusätzlich eine viertel Million Euro an Sicherheiten bei. Dafür versprach die Firma »innovative Anbaumethoden unter Beteiligung lokaler Bauern«. Doch an Ort und Stelle habe sich die Lage nur verschlechtert, kritisiert der Bürgerrechtsanwalt Clément Razafidrison. »Entwicklung ist ein großes Wort, man hat uns soziale und wirtschaftliche Entwicklung versprochen«, sagt er. Doch das Einzige, das sich entwickle, sei die Firma. »Wir baden nur die Folgen aus. In Wirklichkeit wird die Entwicklung sogar behindert. Wir dürfen etwa die Straßen nicht mehr benutzen, die über die Felder führen. Unsere Kinder müssen deshalb Umwege von einer Stunde und mehr bis zu ihrer Schule in Kauf nehmen, zu Fuß!« Irgendwann kam das Militär und half dem neuen Besitzer, die Bauern zu verjagen. Auch Sand dürfen sie Razafidrison zufolge nicht mehr aus dem Fluss holen, dabei brauchen sie den, um ihre Häuser zu bauen. »Das sind nur einige Beispiele dafür, dass es hier wirklich gar keine Entwicklung für die Bauern gibt.«
UNDP spricht dagegen von einem messbaren Erfolg: 130 dauerhafte und 400 saisonale Jobs habe die Firma geschaffen, 3000 Bauern verfügten über zusätzliche Einkommen. Doch Kritiker heben hervor, dass gleichzeitig Tausenden Kleinbauern die Felder genommen worden seien. Beide Seiten fühlen sich im Recht, und die Gerichte haben Razafidrisons Klage wegen der faktischen Enteignungen über vier Instanzen hinweg abgelehnt. Die Firma aus dem Ausland hatte das Land schließlich von einem libysch-französischen Konsortium gepachtet, und das wiederum hatte die Landrechte ganz legal von der madagassischen Regierung erworben. Juristisch ist der Investor im Recht und Gerichte in Madagaskar sind zudem alles andere als unabhängig. Richterstellen werden von der gleichen kleinen Politelite besetzt, die mit den Landverkäufen an ausländische Investoren Geld macht – für die Staatskasse und oft auch für sich selbst. Käufer gibt es genug: Unter Madagaskars Boden liegen jede Menge Rohstoffe, und trotz Erosion gibt es noch viele fruchtbare Äcker. Geschützt vor dem großen Landverkauf ist nur, wer einen Grundbucheintrag vorweisen kann. Doch der ist teuer, für einfache Leute wie Ravaivoson zu teuer. Die Bauern in der Provinz, die das Land seit Generationen bewirtschaften, wurden von ihrer eigenen Regierung ausgebootet.
Würde die Agenda 2030 Wirklichkeit, ließen sich Fehlschläge wie der auf Madagaskar zwar sicher nicht völlig verhindern. Aber die Struktur der Entwicklungsprojekte wäre vollkommen anders, etwa weil die Bauern von Tsinjoarivo an der Planung des Projekts schon frühzeitig in einem »bedarfsorientierten, inklusiven, partizipatorischen und repräsentativen« System beteiligt gewesen wären, wie es in SDG 16. 7 heißt. Ziel 16. 10 gewährleistet den »öffentlichen Zugang zu Informationen« und 16. 3 den gleichberechtigten Zugang zur Justiz. Die Liste lässt sich fortführen. Die meisten SDG hängen unmittelbar mit Entwicklungsfragen zusammen. Und so reformiert die Agenda 2030 zuallererst die Entwicklungshilfe, vor allem die innerhalb der UN. Auch deshalb ist nur folgerichtig, dass UNDP innerhalb der Vereinten Nationen die Führungsrolle bei ihrer Umsetzung übernimmt.
In fast 180 Ländern hat UNDP ein Büro, das jeweils von einem Landesdirektor geleitet wird, dem Resident Representative. Er hat meist auch den Job des UN Resident Coordinator inne, der das jeweilige Team der UN-Agenturen im Land führt, und damit den Rang eines Botschafters. Anders als humanitäre Hilfe, zu der auch die Flüchtlingshilfe gehört, ist Entwicklungshilfe langfristig angelegt. Ihr Ziel: Länder nachhaltig aus der Armut zu führen, die Lebensverhältnisse zu verbessern. Zudem ist die Organisation die finanziell potenteste im UN-Gefüge: nicht wegen des Jahreshaushalts von 4,86 Milliarden US-Dollar (2016), sondern wegen der riesigen Summen, die in der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA) stecken: 2016 beliefen sich die Entwicklungshilfebeträge aus OECD-Ländern auf 142,6 Milliarden US-Dollar. Ein weiteres Pfund, mit dem das Programm wuchert, ist gerade seine globale Präsenz. Selbst Deutschland hat weniger Botschaften, 153, als die UNDP Länderbüros.
Und doch steckt der 1965 in New York gegründete UN-Gigant in der Krise. Eine Krise, die parallel zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenda überwunden werden soll, wie UNDP-Chef Steiner Ende 2017 bei einem Treffen mit Botschaftern in Kopenhagen ankündigte. »Unsere fast universelle Präsenz bedeutet, dass UNDP vor, während und nach der Krise vor Ort ist, wir haben Leute, Verbindungen und Zugang überall auf der Welt, was uns zu einer der kosteneffizientesten und strategischen Ergänzung zu bilateraler Hilfe macht.«
Steiners Plan, der vielleicht ambitionierteste Teil der umfassenden UN-Reform von Generalsekretär Guterres, sieht einen Umbau der Länderbüros vor, eine Stärkung der Koordinatorenrolle im Feld vor allem im Hinblick auf die SDG. Wenn es nach Steiners Willen geht, dann soll UNDP in den Einsatzländern dafür sorgen, dass alle UN-Agenturen abgestimmt an der Umsetzung der Agenda 2030 arbeiten. Für die Umsetzung der Agenda aber, das weiß Steiner, wird mehr Geld gebraucht. Viel mehr Geld. »Das sind geschätzte fünf bis sieben Billionen Dollar, die wir jährlich an Investitionen brauchen«, so Steiner. Der Vergleich mit den 142,6 Milliarden US-Dollar weltweiter Entwicklungshilfe zeigt, wie unvorstellbar hoch diese Summe ist. Sie liegt über dem Bruttoinlandsprodukt Deutschlands, das 2016 mit 3,14 Billionen Euro berechnet wurde. »Kein Land, nicht mal die reichen Industriestaaten, können das aus der öffentlichen Hand machen«, weiß Steiner. »Zwei Drittel bis drei Viertel dieser Investitionen müssen aus der Privatwirtschaft kommen, ob das unsere Ersparnisse in den Pensionsfonds sind oder das Kapital von Unternehmen oder Banken.« Tatsächlich geht es um lukrative Märkte mit potenziell hohen Renditen. Die Frage ist, ob UNDP in der Lage ist, die Investoren ausreichend zu begeistern.
Leitidee für die UNDP-Reform, die António Guterres vorgegeben hat, ist die Agenda 2030. UNDP soll Regierungen bei ihrer Umsetzung helfen und Zugänge zu dafür nötigen Finanzen schaffen. Der Resident Coordinator soll dafür der zentrale Ansprechpartner für Regierungen sein. Dafür bekommt er mehr Ressourcen und mehr Verantwortung, wird dafür aber auch stärker als bisher rechenschaftspflichtig. So sollen die Geberländer dazu gebracht werden, die UNDP-Arbeit verlässlicher als bisher zu finanzieren. In diesem Zusammenhang sollen auch die Landesbüros neu aufgestellt werden: Anstatt wie heute bis zu 18 UN-Agenturen mit ihren eigenen Zielen und Projekten zu versammeln, sollen die Strukturen flexibler, effizienter und schlanker werden. Wie genau das geschehen soll, ist eine der Herausforderungen.
Der Österreicher Patrick Tiefenbacher ist seit zwanzig Jahren in der Entwicklungspolitik tätig, war für UNDP in Südafrika stationiert und berät heute mit seiner Firma Global Goals Consulting Regierungen, Firmen und multilaterale Organisationen bei Entwicklungshilfeprojekten. Für UNDP und die anderen Entwicklungsagenturen sieht er einen »Amazon-Moment« gekommen: die Chance zu einer grundlegenden Veränderung, wie Amazon sie auf dem Buchmarkt bewirkt hat. Im Fokus stehen auch für Tiefenbacher die Landesbüros. Doch er will sie nicht stärken, sondern abschaffen – jedenfalls überall dort, wo sie keinen beweisbaren Vorteil bringen. Er plädiert für weniger, dafür höher qualifizierte und spezialisierte UN-Beamte; überhaupt solle UNDP nur noch dann Projekte umsetzen, wenn niemand anderes dazu in der Lage sei. Die Vergabe von Projekten an private Auftragnehmer, gekoppelt an eine erfolgsabhängige Honorierung, könnte dabei helfen. Auf diese Weise, so glaubt der Berater, könnten die UN tatsächlich mehr privates Kapital mobilisieren, das für die Umsetzung der SDG benötigt wird.
Doch es gibt auch Stimmen, die die Entwicklungshilfe als solche infrage stellen. Der Journalist Kurt Gerhardt zog 1982 für ein paar Jahre als Landesbeauftragter des Deutschen Entwicklungsdienstes nach Niger. Nach eigener Aussage merkte er schnell, dass da »etwas nicht gestimmt habe« mit der Entwicklungshilfe. Der von ihm 2008 mitverfasste »Bonner Aufruf«, ein auch von zahlreichen ehemaligen Entwicklungspolitikern unterzeichnetes Papier zur Neuorientierung der Entwicklungshilfe, warnt, dass mehr Entwicklungshilfe die Eigeninitiative in den armen Ländern Afrikas sogar lähme. Von einer Bekämpfung von Fluchtursachen mit Mitteln der Entwicklungshilfe will Gerhardt deshalb nichts wissen. Er spricht sich dafür aus, ausschließlich Bildungsprogramme zu finanzieren, mehr nicht. »Dann kann man die Leute nicht mehr entwürdigen dadurch, dass man sie an die Hand nimmt und durchs Leben führt. Das müssen sie schon selbst machen.« Gebildeten Leuten müsse man sagen, dass sie die geistige und körperliche Voraussetzung besäßen, sich selbst zu entwickeln. »Wenn ihr es nicht wollt, müsst ihr es bleiben lassen. Aber wir können und werden es nicht für euch tun.«
Auch aus Afrika gibt es vereinzelt ähnliche Stimmen, die der sambischen Ökonomin Dambisa Moyo etwa, die mit ihrem Buch »Dead Aid« forderte, Entwicklungsländer müssten ihren Aufstieg selber finanzieren. Oder der Kenianer James Shikwati, der kritisiert, dass Entwicklungshilfe vor allem in riesige Bürokratien fließe, die alles brächten, nur keinen Wandel. So radikal und öffentlichkeitswirksam solche Forderungen sind, so verkennen sie doch die Realität. Nämlich die, dass eine Angleichung der Lebensverhältnisse Investitionen in einem Maße benötigt, wie sie die wenigsten Länder leisten können.
Wohin diese Investitionen fließen, ist indes genauso wichtig wie die Frage, woher sie kommen. Der Mainzer Afrikaforscher Helmut Asche, der selbst als Regierungsberater in Burkina Faso, Ruanda und Kenia gearbeitet hat, sieht auf der Empfängerseite nicht zu viel Bürokratie, sondern die falsche. »Die Institutionen und auch die politischen Eliten, die erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit in Afrika tragen müssten, sind oft nicht da. Es gibt ein paar Länder, wo sie existieren, aber das ist eher die Ausnahme von der Regel. Und wir haben uns in diesem System, zu dem dann oft auch ausgesprochene Korruption dazukommt, einigermaßen eingerichtet, so eingerichtet, dass wir immer noch sagen können, wir versuchen es ja ernsthaft.«
Eine von Kurt Gerhardts Lieblingsfragen lautet: Haben Sie schon einmal einen Tauchsieder aus Togo gekauft? Oder einen Kuli aus dem Kongo, eine Luftpumpe aus Lusaka? Selbst einfachste Produkte würden in Afrika nicht hergestellt. Grund sei ein durch die Entwicklungshilfe verdorbenes System, das die Industrialisierung Afrikas regelrecht verhindert habe. Das Label »Made in China« habe den Aufstieg Chinas begründet, »Made in Africa« gebe es dagegen nicht. Helmut Asche ruft deshalb dazu auf, Unternehmen für ein nachgewiesenes Afrika-Engagement zu belohnen. Und bekommt dafür Unterstützung aus der deutschen Wirtschaft, die Asche zufolge zu Recht fragt, warum eine direkte Förderung von Firmen, die zusammen mit einem afrikanischen Partner Arbeitsplätze in Afrika schaffen will, nicht die gleiche Förderung wert ist wie das traditionelle Entwicklungsprojekt.
Gerhardt und Asche beziehen sich auf bilaterale Entwicklungshilfe. Doch für die multilaterale UN-Entwicklungshilfe gilt im Grundsatz eine ähnliche Analyse. Die SDG versprechen die systematische Bekämpfung von Unterentwicklung anstatt punktueller Lösungen. Maria Luisa Silva, Direktorin des Genfer UNDP-Büros, nennt die Agenda 2030 deshalb ein »Gerüst moderner Entwicklungshilfe« mit dem übergreifenden Ziel, Armut abzubauen. »Dabei ist es aber unabdingbar, dass wir nicht mehr nur soziale Fragen, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung und ökologische Nachhaltigkeit berücksichtigen. Unser Planet ist so angegriffen wie nie zuvor, deshalb können wir nicht mehr auf traditionelle Entwicklungsmodelle der 1940er- oder 1950er-Jahre zurückgreifen. Unsere Aufgabe ist einfach komplizierter geworden.« Hier ein Staudamm, dort eine neue Straße oder Plantagen von Artemesia annua – das reicht nicht mehr. Kein Zweifel besteht daran, dass die Armen dieser Welt tatsächlich arm dran sind. Ein Fünftel der Weltbevölkerung, 1,3 Milliarden Menschen, muss mit einem Euro am Tag auskommen. In Afrika ist es jeder Zweite. Ein Ausmaß an Armut, so das Welternährungsprogramm, das Menschen in einer Falle gefangen hält: Der bloße Hunger halte die Ärmsten davon ab, sich zu entwickeln. Entwicklungshilfe soll das ändern – wenn sie funktioniert. Doch das ist eben bei Weitem nicht immer der Fall.
Das Beispiel Madagaskar zeigt auch, wie die Stärkung der Betroffenen zu besseren Ergebnissen führen kann. Dort haben die Bauern inzwischen zur Selbsthilfe gegriffen. Denn der vermeintliche Landraub in Tsinjoarivo ist kein Einzelfall. Da die Regierung von den Verkäufen profitiert, macht sie es den einfachen Bauern auf dem Land schwer, ihre Ländereien im Grundbuch einzutragen. Also legen Bürgerinitiativen einfach ihre eigenen Grundbücher an. Es sind junge Männer wie Taky Razafindrasata, die mit GPS-Geräten Ländereien vermessen. Er balanciert gerade über den Lehmdeich am Rand eines Reisfelds und liest Messdaten ab, als ich ihn anspreche. Die Koordinaten sind die Basis für ein »Landzertifikat«, eine Art Grundbuch von unten. »Wir haben alleine hier im Dorf bereits mehr als 700 Landflächen vermessen. Alle wollen ihr Land vor Investoren aus dem Ausland schützen. Sie kennen die Geschichte der Artemisia-Plantagen in Tsinjoarivo, und hier wollen sie sich ihr Land nicht wegnehmen lassen.«
Bezahlt wird der Kampf gegen die aus Entwicklungshilfe finanzierten Großplantagen ebenfalls aus der Entwicklungshilfe: von der deutschen Hilfsorganisation Misereor. Ohne das Geld aus Deutschland, so versichert Razafindrasata, hätte man die Kleinbauern-Felder nicht vermessen können.
Entwicklungshilfe möchte erreichen, dass sich die Lebensverhältnisse armer oder benachteiligter Menschen verbessern. Ihr Ziel ist mehr globale Gerechtigkeit. Tatsächlich erleben wir derzeit weltweit das genaue Gegenteil. Die Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern wächst in einem Maße, das viele zu Recht als bedrohlich empfinden. Nicht nur Unicef warnt, dass die wachsende Ungleichheit Kinder bedroht, die ohnehin schon am meisten benachteiligt sind. Einer Studie vom Juni 2016 zufolge drohen bis 2030 in Entwicklungsländern 69 Millionen Kinder unter fünf Jahren infolge von ungleichen Lebensverhältnissen zu sterben, 167 Millionen Kinder in die Armut abzurutschen und 750 Millionen armer Mädchen noch als Kinder verheiratet zu werden, wenn es im SDG 10 (Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten verringern) keine deutlichen Fortschritte gibt. Konkrete Ziele unter dem SDG 10 lauten etwa: Öffentliche Entwicklungshilfe und Finanzströme inklusive ausländischer Direktinvestitionen sollen in die Staaten fließen, in denen der Bedarf am größten ist. Auch soll das Einkommen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung in jedem Land in einem Maße erhöht werden, das über dem nationalen Durchschnitt liegt. Das letzte Unterziel zeigt: Ungleichheit ist kein Problem, das es nur zwischen Nord- und Südhalbkugel oder in Entwicklungsländern gibt. Es geht quer durch alle Gesellschaften.
Und so warnte die für Bildung, Wissenschaft und Kultur zuständige UNESCO im Frühjahr 2017 davor, dass wachsende Ungleichheit die ganze Menschheit sorgen müsse: »Extreme Ungleichheit korrumpiert die Politik, behindert wirtschaftliches Wachstum und verhindert soziale Mobilität.« Einer Berechnung der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam zufolge besitzt das reichste Prozent der Weltbevölkerung heute so viel wie der Rest der Weltbevölkerung. Die jährlich aufs Neue unternommene Berechnung wird gerne dafür kritisiert, dass die Zahl der absolut Armen so groß sei, dass das Ergebnis zwangsläufig so lauten müsste, auch wenn die Reichsten deutlich ärmer wären. Aber womöglich ist gerade das der Punkt. Davor, dass die wachsende Ungleichheit der Gesellschaften die Weltwirtschaft bedroht, warnt inzwischen sogar das Weltwirtschaftsforum (WEF), das nicht für seine Aversion gegen Reichtum bekannt ist. Kurz vor dem jährlichen Treffen der Wirtschafts- und Politikelite in Davos 2017 teilte das WEF in seinem jährlichen Risikobericht nicht nur mit, die wachsende Ungleichheit sei die Ursache für die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und für den Brexit. Die 700 Experten, die den Bericht verfasst haben, halten die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Wohlstand außerdem für den Trend, der die Entwicklungen des kommenden Jahrzehnts entscheidend beeinflussen wird. Deshalb, so das WEF, sei eine fundamentale Reform des Kapitalismus nötig, um der wachsenden Wut der Öffentlichkeit zu begegnen.
Von einem »Zeitalter des Zorns« spricht der indische Intellektuelle Pankaj Mishra und begründet diese Wut mit einem Paradoxon: der »Tatsache, dass es, obwohl die Ideale der modernen Demokratie niemals so populär waren wie heute, immer schwieriger oder sogar unmöglich geworden ist, sie unter den Bedingungen der neoliberalen Globalisierung zu verwirklichen«. Mit dem Niedergang des Kommunismus habe sich weltweit das Versprechen verbreitet, dass Talent, Bildung und harte Arbeit durch sozialen Aufstieg belohnt würden. Doch dieses Versprechen erfüllte sich nicht und in zahlreichen Staaten etwa Afrikas gehen gerade die gut ausgebildeten Jugendlichen auf die Straße, um für Veränderung zu demonstrieren. Ihre Eltern haben sich das Geld für die Ausbildung oftmals wortwörtlich vom Munde abgespart, doch selbst Absolventen mit Traumabschlüssen stehen später auf der Straße, weil es keine Stellen für sie gibt – oder die vorhandenen Stellen an die Kinder der gut vernetzten Elite vergeben werden.
Selbst die Superreichen fürchten die wachsende Ungleichheit. Im Oktober 2017 legten die Schweizer Bank UBS und die Wirtschaftsprüfungs- und -beratungsgesellschaft Pricewaterhouse-Coopers ihren »Milliardärsbericht« vor. Ihm zufolge stieg das Vermögen der Milliardäre innerhalb eines einzigen Jahres um fast ein Fünftel auf sechs Billionen US-Dollar – fast doppelt so viel wie das deutsche Bruttoinlandsprodukt. Weltweit gibt es demnach mehr als 1500 Milliardäre. »Die Konzentration des Reichtums ist jetzt so hoch wie 1905, und das macht den Milliardären Sorgen«, sagte der Autor des Berichts dem britischen Guardian. »Sie fürchten, dass die wachsende Schere zwischen Arm und Reich zu Gegenwehr führen wird.« Der Bezug auf 1905 kommt nicht von ungefähr: Damals befand sich die US-Wirtschaft auf einem vermeintlichen Höhepunkt. Mark Twain schrieb vom »vergoldeten Zeitalter«. Während Cornelius Vanderbilt durch den Eisenbahnbau seit den 1870ern zu sagenhaftem Reichtum gelangte oder John Jacob Astor mit Immobilien, nagte der Großteil der Bevölkerung am Hungertuch – und wütete bald gegen die »Räuberbarone«. Bis US-Präsident Theodore Roosevelt handelte, Reformen umsetzte und vor allem die Monopole aufbrach. Aus John Rockefellers Standard Oil wurden 34 Ölfirmen. Könnte mit Apple, Microsoft oder Facebook bald das Gleiche geschehen, womöglich infolge von Armutsaufständen? Der Verfasser des Milliardärsberichts will so weit nicht gehen, verweist auf das philanthropische Engagement der Superreichen. Doch die Angst vor Aufständen und einer Revolution wie im Oktober 1917, diesmal vielleicht zugunsten rechter Populisten, ist berechtigt.
Von allen SDG ist also vielleicht das zur Ungleichheit das entscheidende. Seine Umsetzung könnte nicht nur über Entwicklungsfragen, sondern über die Zukunft der Demokratie, wie wir sie kennen, und damit letztlich auch die der Weltgemeinschaft entscheiden. Dessen ungeachtet wurde Ende 2017 in den USA eine Steuerreform verabschiedet, von der sich Experten einig sind, dass sie die Superreichen noch reicher machen und die Ungleichheit erhöhen wird. Auch in Deutschland gibt es Widerstand gegen eine Vermögenssteuer, die selbst der Internationale Währungsfonds im Kampf gegen die Ungleichheit fordert. Ist die Nachhaltigkeitsagenda also das Papier nicht wert, auf dem sie steht? Oder ist sie doch das historische Dokument, von dem ihre Urheber sprechen?
Eher Letzteres. Saudi-Arabien wird vermutlich nicht bis 2030 die volle Gleichberechtigung von Frauen einführen. Die Chancen, dass die USA die Reichen stärker besteuern, um den Ärmsten mehr Lohn zu verschaffen, stehen schlecht. Und Deutschland wird seine Entwicklungshilfe vermutlich auch nicht nahezu verdoppeln, wie es nötig wäre. Trotzdem sind die Nachhaltigkeitsziele historisch. Denn sie transformieren die Vereinten Nationen. Das hoch ambitionierte Programm der Agenda 2030 hat ihnen ein Selbstbewusstsein verschafft, das sie lange nicht gehabt, in Zeiten zunehmend nationalistischer Regierungen aber immer nötiger haben.
Die UN scheinen zudem bereit, sich zuerst selbst zu verändern. Schon in New York 2015 forderten Chefs von UN-Organisationen ein Ende des bislang fast geheiligten Sektordenkens. In Foren wurde über eine offene Wahl des UN-Generalsekretärs und einen neuen Sicherheitsrat diskutiert. Und vor allem wurden die Türen für die Zivilgesellschaft, für Bürgermeister oder Parlamente weit aufgestoßen. Die Nachhaltigkeitsagenda ist dabei, die UN vom Klub der Regierenden zu einem Forum der Bürger zu transformieren. Mögen einige Regierungen auch noch zögern: Die Vereinten Nationen zeigen sich bereit, voranzugehen. Sie wissen, dass die große Mehrheit der Menschen in Frieden und Gerechtigkeit leben und Menschenrechte, Umwelt und Klima gesichert sehen will.
Zwar sind die UN immer noch auf das Geld ihrer Mitgliedsstaaten angewiesen. Doch erstaunlich ist, wie kompromissbereit sich auch die Regierenden zeigen, wenn der Druck hoch genug ist. Immer mehr Milliarden bekommen die UN zudem von Kapitalgebern, von potenten Stiftungen oder Philanthropen wie Bill Gates. Auch das kann problematisch sein, wie das übernächste Kapitel zeigt. Aber je größer die Zahl der Geber wird, desto unabhängiger werden die UN von jedem einzelnen. Dass im Dezember 2015, zwei Monate nach dem UN-Geburtstag, in Paris das lange erhoffte Klimaabkommen beschlossen wurde, dürfte auch am Rückenwind der SDG gelegen haben. Die Nachhaltigkeitsziele sind kein Allheilmittel, aber sie schenken der Welt eine frische, gestärkte, zukunftsgewandte Völkervertretung in Form der UN. Und das ist tatsächlich historisch.