Wir, die Völker der Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat … haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.
Aus der Präambel der UN-Charta
In seiner Neujahrsansprache für 2018 erinnerte António Guterres an seine erste Rede als UN-Generalsekretär, die er genau ein Jahr zuvor gehalten hatte. Damals habe er dazu aufgerufen, 2017 zu einem Jahr des Friedens zu machen. Vergeblich. »Dieses Jahr veröffentliche ich keinen Aufruf, sondern eine Warnung: Auf unserer Welt herrscht Alarmstufe Rot.« Seit 2011: Bürgerkrieg in Syrien, seit 2013: Bürgerkrieg im Südsudan, seit 2015: ein Stellvertreterkrieg der Erzfeinde Saudi-Arabien und Iran im Jemen, 2017: ein drohender Atomkrieg mit Nordkorea. Unter anderem. Populisten drängen an die Macht oder sind es bereits: Die USA werden seit 2017 von Donald Trump regiert, einem Egomanen, dessen primitive Drohungen nur von seiner Unberechenbarkeit übertroffen werden. In Polen wickelt die nationalistische Partei die unabhängige Justiz ab, auf den Philippinen prahlt der Präsident damit, mit mutmaßlichen Drogendealern kurzen Prozess gemacht zu haben, und in Ungarn schottet Regierungschef Viktor Orbán sein Land vor allem ab, was ihm fremd erscheint. Mehr als 65 Millionen Menschen sind unterdessen auf der Flucht, mehr als 5300 sind 2017 dabei ums Leben gekommen. Fast 138 Millionen Menschen sind auf Nothilfe angewiesen, um trotz Bürgerkrieg, Hungersnot oder Naturkatastrophe zu überleben. Zeitgleich erreicht die ökonomische Ungerechtigkeit auf der Welt einen neuen Höchststand. 1542 Dollar-Milliardäre wurden zuletzt gezählt, so viele wie noch nie. 815 Millionen Menschen haben dagegen zu wenig Geld, um genug zu essen. 2017 stieg ihre Zahl erstmals wieder an.
»Wir sind eine kaputte Welt«, bilanzierte Guterres schon bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung im Herbst 2017. »Dabei müssten wir gemeinsam als eine Welt für den Frieden streiten.« Guterres ist der oberste Repräsentant einer Organisation, deren erklärtes Ziel es ist, den Frieden in der Welt zu sichern, Hunger und Armut zu lindern, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen und wirtschaftliche Ungleichheiten durch Entwicklung auszugleichen. Vergleicht man Ist- und Soll-Zustand, dann sind die Vereinten Nationen (englisch United Nations oder kurz UN) gescheitert. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob wir die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Organisation überhaupt noch brauchen. Seit der Kalte Krieg vorbei ist, auf den der UN-Sicherheitsrat und andere Gremien zugeschnitten sind, erscheinen die diplomatischen Rituale und zeitraubenden Verhandlungen anachronistisch. Dennoch vertrete ich in diesem Buch entschieden die These: Wir brauchen die Vereinten Nationen so dringend wie nie zuvor.
Die Vereinten Nationen sind die einzige Institution, die der schier unglaublichen Ungleichheit, dem wachsenden Militarismus, Populismus und Nationalismus, der Umweltzerstörung und den immer selbstverständlicher anmutenden Menschenrechtsverletzungen entschieden entgegentreten kann. In ihren Gründungsdokumenten, allen voran der Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sind die Grundlagen einer freiheitlichen Welt verfasst, wie wir sie jahrzehntelang als selbstverständlich hingenommen haben. Als westdeutsches Kind der 1970er-Jahre, das kurz vor seinem Abitur die Mauer fallen sah, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass die Welt jemals wieder an den Rand des Abgrunds taumeln würde, den ich nur aus dem Geschichtsunterricht kannte. Die Werte der UN sind meine Werte, die Werte ganzer Generationen. Sie sind die beste Waffe, die wir gegen die heutige Freiheitsdämmerung haben.
Gerade weil die Vereinten Nationen so unentbehrlich sind, ist es besonders tragisch, dass sie ihrer Aufgabe so unzureichend gerecht werden. Die UN befinden sich in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Seit den 1990er-Jahren sind sie im Rahmen eines neoliberalen Spardiktats so sehr zusammengeschrumpft worden, dass sie ihre Aufgaben kaum noch erfüllen können. Despoten und Populisten versuchen jetzt, ihnen den Rest zu geben. Dazu kommen Bürokraten in den eigenen Reihen, Dilettanten oder auch Kriminelle, die ihre Uniform ausnutzen und ihr Amt missbrauchen. Über Gremien und Büros, die Überbleibsel obsolet gewordener Aufgaben sind, scheint eine bleierne Reformunfähigkeit zu liegen. Doch es gibt auch die Reformer, denen die Idee der Vereinten Nationen am Herzen liegt. Unterstützt werden sie von ungezählten Aktivisten außerhalb der Vereinten Nationen, die sich um die Zukunftsfähigkeit der Organisation bemühen. Sie alle wissen: Sollten die UN scheitern, wären globales Chaos und Krieg die Folge.
Über all diese Aspekte der Vereinten Nationen wird in den kommenden Kapiteln die Rede sein. Seit mehr als 14 Jahren berichte ich als Korrespondent für deutsche Medien, zunächst aus Afrika und seit 2011 von den UN in Genf und New York. Nach wie vor bin ich viel in Afrika unterwegs. In diesem Buch versuche ich, die UN und ihre Herausforderungen auf all ihren Ebenen darzustellen, in den Büros und im Einsatz. Welche Auswirkungen haben Entscheidungen in den Zentralen auf die Arbeit im Feld? Welchen Herausforderungen stehen Nothelfer in zerfallenden Staaten gegenüber und was hat das mit dem ständigen Geldmangel zu tun? Und was bedeuten Menschenrechte ganz konkret für die, die sich auf den Schutz der UN verlassen, in Ländern wie etwa der Zentralafrikanischen Republik? Die UN, das ist zudem nicht nur das UNO-Sekretariat mit seinen vier Weltzentralen in New York, Genf, Wien und Nairobi. Zur UN-Familie gehören auch die zahlreichen Friedensmissionen und Organisationen wie das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), das Welternährungsprogramm (WFP), die UN-Nothilfekoordination (OCHA), das UN-Umweltprogramm (UNEP) und – etwas weitläufiger verwandt – die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Gemeinsam sind sie die Vereinten Nationen.
Dieses Buch ist kein trockenes Fachbuch. Es erzählt weder detailliert die Geschichte der Vereinten Nationen noch ersetzt es ein Studium der Organigramme oder völkerrechtlichen Details. Die Vereinten Nationen werden Sie beim Lesen so kennenlernen, wie ich sie kennengelernt habe: anhand ihrer konkreten Arbeit, am Beispiel einschneidender Erlebnisse und bewegender Geschichten, von denen viele spannend sind wie ein Krimi oder traurig wie eine Tragödie. Sie werden lesen, wie die UN wirklich funktionieren, welche Menschen hinter kryptischen Titeln stecken und was für großartige Ideen – alt und neu – mit den UN verbunden werden. Schließlich werden Sie viele verschiedene Stimmen aus aller Welt zu hören kriegen und eine Agenda kennenlernen, die alle Probleme der Welt lösen könnte, würde sie nur umgesetzt. Und zwischendrin hoffentlich auch immer wieder einmal lachen, wenn eine Rede oder ein Ausspruch besonders pointiert sind. Mein Dank gilt allen, die durch Interviews, Gespräche oder ihr Vorbild zu diesem Buch beigetragen haben.
1918, vor einem Jahrhundert, hielt der damalige US-Präsident Woodrow Wilson eine Rede, die als 14-Punkte-Programm in die Geschichte einging. Darin skizzierte er, welche Friedensordnung er sich nach dem Ersten Weltkrieg wünschte, und endete mit der Forderung: »Ein allgemeiner Verband der Nationen muss gegründet werden mit besonderen Verträgen zum Zweck gegenseitiger Bürgschaften für die politische Unabhängigkeit und die territoriale Unverletzbarkeit der kleinen sowohl wie der großen Staaten.« Es war der Ausgangspunkt für den Völkerbund, der seinen deutschen Namen nach einer Idee des Philosophen Immanuel Kant aus dem Jahr 1795 erhielt. Er hatte solch eine Einrichtung gefordert, um den »ewigen Frieden« zu sichern. Der von Wilson inspirierte Völkerbund scheiterte, aber er war das Fundament, auf dem nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Vereinten Nationen erwuchsen. Und noch ein Dokument feiert dieser Tage sein Jubiläum: die schon erwähnte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen in Paris genehmigt und verkündet wurde. Sie beginnt mit dem Satz: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Ein Satz, der auf einmal vielerorts wieder infrage steht.
Die Idee einer im Frieden geeinten Welt reicht weit zurück. Sie hat viele Urheber, nicht nur in Europa. Heute steht sie so massiv unter Druck wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im September 2017 das diplomatische Korps in der Orangerie des Schlosses Oranienbaum empfing, nannte er den Ort mitten im Gartenreich von Dessau – das Versailles gleicht – ein Symbol für die historische Wasserscheide, an der die Werte der westlichen Aufklärung die Köpfe weltlicher Herrscher erreicht hätten. Heute aber, so mahnte Steinmeier, drohten diese Werte wieder verloren zu gehen, würden die Grundpfeiler von Menschenrechten, Toleranz und Demokratie, von höchster politischer Stelle infrage gestellt. Eine düstere Botschaft, wie Steinmeier selbst einräumte. Doch es gebe einen Hoffnungsschimmer: Es liege nicht zuletzt an den anwesenden Diplomaten, ob die Werte der Aufklärung noch eine Zukunft hätten.
Mit den Werten der Aufklärung ist auch die Zukunft der UN als Abbild der Weltgemeinschaft, die Kant, Wilson und die Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Sinn hatten, ungewiss. Die Weltgemeinschaft steht am Abgrund. Die UN sind keine Superbehörde, die für den Sieg des Guten sorgen wird. Die Weltgemeinschaft, das sind wir alle. Ob sie abstürzt, liegt in unserer Hand.