27
Das flache Gebiet auf der anderen Seite der Berge war gut geschützt und zeigte mehr als nur ein paar deutliche Spuren menschlichen Lebens. Ein breiter Fluss glitzerte in der Ferne, während die Blicke der Griechen über Dörfer und steinerne Bauernhäuser hinwegwanderten. Sie konnten Holzrauch und eine Ziegenherde erkennen. Vielen von ihnen trieb das Bild einer Landschaft, die Nahrung und Wasser sowie die – zumindest vorläufige – völlige Abwesenheit des Feindes versprach, Tränen der Erleichterung in die Augen.
Xenophon rief Hephaistos zu sich, um die Späher zu koordinieren. Der junge Athener kam ihm schmallippig und schweigsam vor, ritt jedoch blitzschnell los, nachdem er seine Befehle erhalten hatte. Xenophon sah ihm mit einem Anflug von Ärgerlichkeit nach, aber wenn es nun einmal so war, würde er sich dem fügen. Sie waren schon in Athen keine Freunde gewesen, und er hatte größere Sorgen. Kaum war Hephaistos außer Sicht, als Chrisophos mit Philesios, dem neuen General, zu ihm kam.
»Danke, dass Ihr gekommen seid, meine Herren«, sagte Xenophon. »Ich habe überlegt, aus unseren fähigeren Kriegern eine kleine Sondereinheit zu bilden. Sollten wir durch enge Pässe und über Brücken gehetzt werden, brauchen wir eine starke Nachhut, bewaffnet mit den längsten Speeren und begleitet von unseren besten Schleuderern sowie einigen kretischen Bogenschützen.«
»Das ist eine sehr gute Idee«, meinte Chrisophos. »Ich werde sechs Kompanien zu jeweils hundert Mann auswählen und Hauptmänner ernennen, die sie anführen. Das müsste größtenteils ohne Belohnung funktionieren. Wenngleich ich bezweifle, dass es für eine so undankbare Aufgabe viele Freiwillige geben wird. Darf ich vorschlagen …«
»Die Spartaner dürft Ihr nicht vorschlagen, falls Ihr das sagen wolltet«, unterbrach ihn Xenophon. »So eindrucksvoll sie auch sind, sind sie doch besser in den Frontlinien aufgehoben, wie Ihr mir ja auch schon unzählige Male gesagt habt.«
»Also schön, General«, sagte Chrisophos und verbeugte sich. »Der eigentliche Grund meines Kommens liegt darin, dass General Philesios Euch zu sprechen wünscht.«
Xenophon sah den anderen Mann an und nickte widerwillig. Er hatte Philesios ein einziges Mal sprechen hören, als er das Wort zu seinen Gunsten an die Lagerangehörigen gerichtet hatte. Dennoch machte Xenophon sein plötzliches Wiederauftauchen misstrauisch.
»Ich verstehe. Während wir uns unterhalten, habt Ihr die Aufgabe, diese Dörfer zu erkunden, Chrisophos. Nehmt alles an Lebensmitteln, was Ihr findet, außerdem sämtliche Lasttiere, Schafherden und für unsere Zwecke brauchbare Karren. Wir benötigen auch Kochkessel und neue Trinkschläuche, um die kaputtgegangenen zu ersetzen. Darüber hinaus brauchen wir Schuhwerk – sollen diese Leute ruhig eine Saison lang barfuß laufen. Sie müssen schließlich kein Großreich durchqueren, mit einer persischen Armee im Rücken, deren Atemluft ihnen heiß in den Nacken fährt. Verstanden? «
Chrisophos sank auf ein Knie, und Xenophon ließ sein Pferd antraben. Er warf einen Blick zurück auf den Spartaner, doch Chrisophos war schon losgelaufen, um die benötigten Hauptmänner und Pentekostien-Offiziere zu berufen.
Auch Philesios sah dem Spartaner einen Moment lang nach, bevor er sich räusperte. Er war nicht glücklich darüber, Xenophon auf der Höhe von dessen Waden stehend ansprechen zu müssen, der Athener machte jedoch keinerlei Anstalten, vom Pferd zu steigen.
»Ihr wolltet mich sprechen?«, ermunterte ihn Xenophon.
»Ja … allerdings. Ich wollte darauf hinweisen, dass wir eine ganze Reihe von Hügeln und Bergen überquert haben, ohne eine Spur von Tissaphernes und den Persern zu sehen, vom König selbst ganz zu schweigen. Mir kam der Gedanke, dass, obwohl ich bislang kein Recht darauf hatte, mich einzumischen, nun der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um zu besprechen, wie der freie Abzug der Soldaten am besten zu gewährleisten ist.«
»Das Lagergefolge nicht zu vergessen«, ergänzte Xenophon beiläufig.
»Jawohl, selbstverständlich, auch das Lagergefolge. Ich wollte sagen, dass keine große unmittelbare Gefahr mehr besteht, jedenfalls für den Augenblick. Ihr wisst, dass Menon mein Onkel war. Ich habe vierzehn Jahre lang in seinem Schatten gedient, während Ihr, soweit ich es richtig verstehe …« Er pausierte kurz, und seine Kaumuskulatur zeichnete sich unter der Haut ab. »Während Ihr weniger Erfahrung mitbringt.«
»Oh, beträchtlich weniger«, erwiderte Xenophon. »Obwohl ich feststelle, dass Euer Onkel Euch nicht zu seinem Stellvertreter ernannte. Nichtsdestotrotz habt Ihr die Gelegenheit ergriffen, als sie kam, und seine Männer haben Euch akzeptiert. Das war ein mutiger Schritt – und ich hatte noch gar nicht die Möglichkeit, Euch für Eure Unterstützung zu danken. Ich bin dankbar, Philesios. Ohne Männer wie Euch hätten wir es nicht bis zu dieser Ebene geschafft. Ohne Euren Mut und Eure Disziplin werden wir die Heimat nicht wiedersehen. Dessen bin ich sicher. Ohne den ausnahmslos absoluten Gehorsam sowohl der Männer, die Ihr befehligt, als auch aller Befehlshaber selbst, jederzeit , werden wir im Großreich Persien krepieren und niemals wieder den Wein und die Oliven Griechenlands schmecken. Wir werden nie wieder in den Genuss der Stücke des Euripides kommen oder auf der Agora von Athen Debatten verfolgen können. Schlimmer noch: Sollten wir hier scheitern, wird unser Volk uns vergessen.«
Er sprach beinahe wie in Trance und spann Worte zu einem Traum, der sie beide damit überraschte, welch starke Gefühle er weckte. Philesios schloss die Augen, während er sinnierte.
»Ich habe in Athen seine Medea gesehen. Euripides war persönlich anwesend, und das gesamte Publikum erhob sich, um ihm die Ehre zu erweisen. Es war … überwältigend. Als ich ging, war mir zumute, als wäre mir ein Gewicht von den Schultern genommen worden, das erste Mal seit Jahren.«
Philesios überlegte, das Gespräch wieder auf praktische Angelegenheiten zu lenken, entschied sich jedoch dagegen. Er hatte nie führen wollen, jedenfalls nicht wirklich. Sein Onkel hatte das verstanden, doch seine Hauptmänner hatten ihn dazu gedrängt. Mit einem schmalen Lächeln neigte er den Kopf.
»Nun denn, Strategos. Ich bete, dass Ihr uns alle wohlbehütet nach Hause bringt. «
»Nach nichts anderem steht mir der Sinn«, erwiderte Xenophon.
Er stieß sein Pferd an, das daraufhin in einen leichten Trab verfiel, und ritt davon. Hinter den Hügeln ging die Sonne unter und warf Schatten über die Felder. Xenophon merkte, dass er fröstelte. Die Ernte war bereits eingefahren, wie er bemerkte. Umso besser für die Männer, da sie kostbares Getreide aus den Vorratskammern holen konnten. Allerdings bedeutete es auch, dass die Zeit voranschritt und die Jahreszeit wechselte. Ein kalter Wind schien auf seine Gedanken zu antworten, und er schüttelte den Kopf. Was auch immer geschah, was auch immer auf sie zukam, sie durften nicht aufgeben. Das war er Klearchos schuldig.
»Wenn wir uns wiederbegegnen, Spartaner«, murmelte er wie in ein Gebet vertieft, »und Ihr mich fragt, was wir nach Eurem Tod taten, werde ich mich nicht schämen müssen. Das verspreche ich Euch. Ich werde sie zurückbringen.«
Er wusste, dass Philesios auf mehr Macht oder Mitspracherecht aus gewesen war. Xenophon schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie waren sein Volk. Er war ein Edelmann aus Athen, der seine wahre Bestimmung gefunden hatte. Er würde sie niemals aufgeben, mochte da kommen, wer wollte.
Am Morgen schickte Chrisophos Hamstertrupps los, um Obst zu pflücken und die abseits der Dörfer gelegenen Bauernhöfe zu inspizieren. Sie waren nicht auf die Tausenden von Persern vorbereitet, die sich über einen weiteren Pfad durch die Berge ergossen, zu Fuß und Pferd, allesamt in rasendem Tempo darauf bedacht, die Hamsterer vom Rest des griechischen Heeres abzuschneiden. Männer und Frauen warfen mit Früchten gefüllte Tücher zu Boden und traten schnellstmöglich den Rückzug an, während Chrisophos die nächsten greifbaren sechzig Spartaner in die entgegengesetzte Richtung sprinten ließ.
Man hatte sie zur falschen Zeit am falschen Ort erwischt, und es entwickelte sich ein Laufkrieg, der einer Athener Straßenschlacht ähnelte, wobei beide Seiten versuchten, jeden Gegner zu erwischen, der ihnen schwächer vorkam als sie selbst. Die verzückten Perser hieben nach allem, was in ihrer Reichweite lag, bewaffnet oder unbewaffnet, und rasten dann weiter, statt sich Kämpfen zu stellen. Es war ein einziges Chaos, und Dutzende von Griechen fanden den Tod, bevor Xenophon mit der Haupttruppe zur Verstärkung aufzog. Der Anblick der vorstoßenden Linien verlieh den vor dem Feind Flüchtenden neuen Mut, und sie kehrten in die eigenen Reihen zurück. Hinter ihnen lagen Leichen auf den Feldern und dazwischen Matschhaufen aus zertrampelten Pflaumen und Feigen.
Angesichts der griechischen Haupttruppe zogen die Perser sich abermals zurück, in einem Manöver unter Einsatz einer gigantischen Anzahl an Pferden. Xenophons Blick wurde von einer Gestalt in Weiß angezogen, die all dem zusah, konnte jedoch nichts anderes tun, als Tissaphernes zu verfluchen. Xenophons Rache – so er sie denn je würde genießen können – bestünde darin, dass er als freier Mann davonging und den fetten persischen Lord hinter sich ließ, damit dieser sich mit der Frage martern konnte, was hätte sein können.
Das Ausplündern der Dörfer ging jetzt, da sie wussten, dass sie nicht mehr unbeobachtet waren, bedeutend zügiger vonstatten. Xenophon machte sich Vorwürfe, keine besseren Wachposten aufgestellt zu haben, doch damit war er nicht allein. Stundenlang lief Chrisophos im Lager herum und fauchte jeden an, der es wagte, sich ihm zu nähern. Sie hatten ihre Wache an einem feindseligen Ort im Stich gelassen, an dem der sich immer noch dort herumtreibende Gegner auf das leiseste Anzeichen von Schwäche lauerte.
Die nächste schlechte Nachricht war, dass ein großer Fluss ihren Weg blockierte. Der Pass durch die Berge hatte sie nach Osten und Norden geführt, doch nun konnten sie nicht weiter, ohne einen Gebirgsstrom zu überqueren, der tiefer war als die Speere, die man zur Probe hineinstieß. Xenophon verhörte Gefangene aus den Dörfern, und was er in Erfahrung brachte, war nicht so gut wie erhofft. Eine gewisse Nervosität machte sich in den griechischen Truppen breit, als ihnen klar wurde, dass auf einer Seite Berge sie begrenzten und ihnen auf der anderen ein unüberwindbarer Fluss den Weg versperrte. Einer der Griechen schlug vor, sich mithilfe von Schafsblasen ans andere Ufer treiben zu lassen, doch ein solches Unternehmen war ausgeschlossen, solange Tissaphernes und seine Kavallerie zuschauten.
Im Süden lagen Babylon und die Rückkehr ins Herz von Persien, in westlicher Richtung gelangten sie wieder durch die Berge. Der Fluss blockierte den Osten, und die Dorfbewohner erzählten Xenophon, dass in dieser Richtung Ekbatana lag, die Sommerresidenz persischer Herrscher und ein Ort so gut geschützt wie kaum ein anderer auf der Welt.
Xenophon rief all seine Offiziere auf einem Dorfplatz zusammen, während sich um das Lager herum Reihen von Hopliten formierten.
»Den Dörflern zufolge liegt nördlich von uns eine Bergkette, die sich so weit erstreckt, dass der Weg über Monate nach Osten und Westen führt. Sollten wir durchkommen, kommen wir nach Armenien. Von dort können wir dann weiter nach Norden und Westen, bis wir auf die griechischen Siedlungen am Schwarzen Meer stoßen. Ich weiß nicht, wie weit sie von den Bergen entfernt liegen, aber wir können sie nicht umgehen. Sie müssen durchquert werden.« Er machte eine Pause und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Die Stämme, die in diesem Gebirge hausen, sollen unsagbar grausam, wild und zahlreich sein. Das Oberhaupt dieses Dorfes spricht von ihnen wie von Rachegeistern. Er meint, wir würden einen Versuch nicht überleben.«
»Eure Ansprache ist nicht ganz so erbaulich, wie Ihr denkt, General«, sagte Chrisophos, woraufhin die Männer kicherten. »Dieser Bursche wollte uns Angst einjagen, aber welche Wahl bleibt uns, als uns diesen Karduchoi-Stämmen in den Bergen zu stellen? Wir sind schon enorm weit gekommen, aber vielleicht … können wir nicht ewig durchhalten.«
Xenophon hob die Hand, und Chrisophos verstummte augenblicklich. Eine Sache, die der Spartaner extrem gut beherrschte, war das Entgegennehmen und Befolgen von Befehlen.
»Der Fluss ist zu tief und zu breit. Mit der persischen Kavallerie am Rockzipfel riskieren wir, bei einem Überquerungsversuch abgeschlachtet zu werden. Nein, ich denke, die besten Aussichten haben wir noch immer im Norden – raus aus Persien auf dem schnellstmöglichen Weg.«
Er schaute sie der Reihe nach an, und ein Teil von ihm frohlockte innerlich. Trotz all der Bärte und sehnigen Muskeln, obwohl einige älter waren als er, waren sie nicht bloß seine Schäfchen, sondern seine Brüder und Schwestern, seine Söhne und Töchter.
»Man sagt von den Persern, sie hätten Angst vor diesen Karduchoi. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie es nicht wagen werden, uns über die Pässe hinweg hinterherzuhecheln. Wir könnten ihnen endgültig entkommen.«
Xenophon schwieg kurz. Ihm war bewusst, dass ein Feind, den die Perser fürchteten, keine besonders willkommene Alternative darstellte.
»Wenn irgendjemand einen besseren Vorschlag hat, dann möge er jetzt sprechen. Anderenfalls werde ich uns nach Norden durch die Ebene und dann über die höchsten Gipfel führen. Sammelt alles zusammen, was Ihr an Decken und Mänteln auftreiben könnt. Wir können gar nicht genug davon haben.«
Er nahm schweigend Platz, während sie die Angelegenheit besprachen, wenngleich sie von vornherein wussten, dass sie zum selben Ergebnis kommen würden wie er. Die Geschichte des Dorfoberhaupts über ein persisches Heer, das acht Jahre zuvor diesen Pass überquert hatte, ließ Xenophon unerwähnt. Einhundertzwanzigtausend Soldaten hatten sich angeblich in die Festen der Karduchoi gewagt, und kein einziger hatte es lebend zurückgeschafft. Xenophon hoffte, der knittrige greise Dorfvorsteher würde sich derlei Horrormärchen nur ausdenken, um fremde Eindringlinge abzuschrecken. Im Gesicht des Burschen, runzlig wie eine Walnussschale, hatten ein milchig weißes Auge und lange braune Rattenzähne geprangt. Falls er die Wahrheit sagte – oder auch nur ein Fünkchen Wahres an seiner Geschichte war –, bestand durchaus die Möglichkeit, dass Xenophon den schwersten Fehler seines Lebens beging. Und dennoch hatte er keine andere Wahl.
Abseits des Dorfplatzes formierten sich die restlichen Griechen. Zwanzigtausend dicht gedrängte Männer, Frauen und Kinder schienen eine gewaltige Anzahl zu sein, doch innerhalb des Karrees wirkten ihre Reihen angesichts der Strecken, die sie zurücklegen mussten, geradezu zwergenhaft klein. Xenophon hatte auf drei Seiten vierzig Mann starke Kolonnen aufgestellt, mit achthundert Spartanern an der Spitze. Im Inneren dieser Anordnung fanden sich jeweils fast noch einmal so viele, obgleich das zivile Lagergefolge zunehmend zerlumpten Pilgern glich, die ein Orakel oder eine Kultstätte aufsuchen wollten, um sich heilen zu lassen.
Immerhin hatten zwei Tage ausreichend zu essen ihre Stimmung gehoben und ihr Befinden verbessert. Chrisophos hatte die Plünderungen der Dörfer geleitet und war dabei äußerst gründlich vorgegangen. Deren Bewohner würden in diesem Winter Hunger leiden müssen, doch Xenophon fand, dies sei eher Tissaphernes’ Problem als seines. Hätte man es seinen Leuten gestattet, nach der Schlacht von Kunaxa in Frieden abzuziehen, wäre er nicht so brutal und erbarmungslos gegenüber den auf ihrem Weg liegenden Dörfern gewesen. Xenophons Gedankengang geriet ins Stocken, als ihm dämmerte, dass er die Zwanzigtausend als seine Leute bezeichnet hatte. Sie setzten all ihr Vertrauen in ihn, dass er sie am Leben erhielt, und in jenem Augenblick wusste er, dass er für die Erfüllung dieser Aufgabe sein eigenes geben würde. In Athen hatte er nach einer Bestimmung gesucht und keine gefunden. Kichernd schüttelte er den Kopf und überlegte, ob er je die Gelegenheit hätte, Sokrates von seiner Offenbarung zu berichten.
Bis die Offiziere ihre Diskussion über die künftig einzuschlagende Wegrichtung beendet hatten, stand die Sonne bereits hoch am mittäglichen Himmel, und in der Mitte der Quadratformation herrschte eine gewisse Ungeduld bei den dort Wartenden. Als die Hörner erklangen, nahmen alle ihren gewohnten Standort innerhalb der Formation ein, wobei sie sich an ihnen bekannten Gesichtern in der Nähe orientierten. Die Kräftigsten trugen in Tuch gewickeltes Fleisch oder Netze mit Hühnern und Wasserschläuche auf den Schultern. Viele andere schleppten dicke Bündel von Wintermänteln und Wolldecken. Kleine Jungen trieben zungenschnalzend und unter Zuhilfenahme langer dünner Stöckchen eine Herde Ziegen vor sich her.
Xenophon ritt an die Spitze, sobald Hephaistos und die Späher vorausgaloppiert waren. Da tauchte aus den hinter ihnen liegenden Pässen plötzlich die persische Armee auf. Sie kamen buchstäblich aus den Bergen herausgesickert wie Öl aus einem gesprungenen Krug. Ihre Blicke waren unheilvoll, doch sie machten keinerlei Anstalten anzugreifen. Die Griechen waren einigermaßen geschützt, solange sie zwischen Dörfern entlangmarschierten. Hütten und Straßen beraubten die Verfolger ihrer Überlegenheit. Xenophon wusste, dass die Ebene eine andere Geschichte sein würde. Das Dorfoberhaupt hatte gemeint, es wäre ein etliche Tage dauernder Marsch, einhundert Parasangen oder mehr. Xenophon setzte nach wie vor darauf, dass der Kerl darauf aus war, sie zu demoralisieren.
»Auf nach Norden«, rief Xenophon und fühlte sein Herz vor Stolz anschwellen. Seine Leute. Sein Volk. Seine Familie.
Die persischen Regimenter drängten nahe heran, als sie die Dörfer hinter sich ließen, doch tatsächlich wurden alle in der griechischen Truppe von Tag zu Tag durchtrainierter und leistungsfähiger. Haut und Muskeln wurden durch das ständige Marschieren fester und straffer, sodass auch diejenigen in der Mitte des Karrees allmählich das wolfsähnliche Aussehen der um sie Herummarschierenden annahmen. Schwäche konnte man den Griechen wirklich nicht nachsagen. Die war ihnen in den Wüsten ausgetrieben worden.
Immer wieder entsandte Tissaphernes kleinere Infanterieeinheiten, die bis zum Marschkarree aufschlossen und mit Widerhaken versehene Pfeile in die Menge schossen. Doch sobald sie in Wurfweite kamen, wurden sie im Gegenzug mit Steinen bedroht, deren Schleuderer von Tag zu Tag besser wurden.
Die persische Kavallerie stellte eine größere Bedrohung dar. In dichten Reihen kamen die Reiter herangaloppiert und warfen Speere, während die Nachhut sich damit abmühte, Schilde zu heben und in Bewegung zu bleiben. An diesem ersten Tag verloren die Griechen sechzig Mann, wie sie, als sie am Abend ihr Lager aufschlugen, bei der Abzählung feststellten. Sollte dieses langsame Ausbluten auf der gesamten Strecke Weg bis zu den Bergen anhalten, wären sie irgendwann zu wenige, um sich verteidigen zu können, und die verbliebenen Kämpfer gäben eine leichte Beute ab. Die Stimmung war gedrückt, als sie keuchend und mit schmerzenden Gliedern haltmachten.
Xenophon schaute zu, wie die Sonne den Horizont berührte und die Perser sich zunehmend zügelten und wieder in ihre Regimenter einreihten. Er wunderte sich noch immer darüber, dass sie bei ihrer Furcht vor nächtlichen Attacken derartig große Abstände zwischen den Lagern ließen. Hephaistos zufolge, der sich ihnen zu Fuß an die Fersen geheftet hatte, hatten sie sich etliche Meilen zurückgezogen, bevor sie sich sicher genug fühlten, ihre Pferde anzupflocken .
Xenophon sah, wie Tissaphernes fast grüßend die Hand hob und dann sein Ross wendete. Das Licht fing allmählich an zu schwinden. Er dankte den Göttern für das Glück, einen Gegner wie den persischen Lord zu haben. Ein entschlossenerer Kriegsherr hätte die Angriffe mit der doppelten Durchschlagskraft führen lassen und nicht nachgegeben, bis die Griechen auf ein Minimum reduziert worden wären.
Xenophon dachte an die sechzig Männer, die er an diesem Tag verloren hatte, und fletschte in einem Anflug von Wut die Zähne. Es waren zu viele. Er wusste, dass einige der Soldaten es für richtig hielten, anzuhalten und sich dem Kampf zu stellen. Persischer Stolz würde Tissaphernes dazu zwingen, ihn aufzunehmen und den Griechen damit die Möglichkeit zu geben, sein halbes Heer abzuschlachten und den Rest zu vertreiben.
Es war verlockend, obwohl Xenophon im Kopf behielt, dass nichts sicher war. Sollte er auch nur ein Viertel seiner Hopliten einbüßen, würden die verbliebenen die anderen nicht mehr schützen können. Sie würden alle verlieren. Seine Generäle hatten diesem Argument zugestimmt, wenn auch widerwillig. Er war der Strategos, den sie zu ihrem Kommandeur ernannt hatten. Solange er nicht versagte, waren seine Befehle in Stein gemeißelt.
Zwölf Tage lang brachen sie morgens auf, sobald die über den Himmel wandernden Sterne den Anbruch der Dämmerung anzeigten. Sie schlachteten die Tiere und verschlangen jeden letzten Fetzen Nahrung, den sie gehortet hatten. Es war nie genug, und der Hunger kehrte rasch wie ein zwischen ihnen umherstreifendes Raubtier zurück. Nach einer Weile waren ihre Vorräte erschöpft, und sie mussten sich mit nichts als kaltem Wasser in Bewegung setzen .
Sie hinterließen gewaltige Haufen ihrer eigenen Fäkalien, durch welche die Perser sich hindurchlavieren mussten, was der einzige Trost dafür war, bärtig und stinkend durch die Gegend zu laufen. Der Dreck hatte sich während jenes Marsches tief in die Haut gefressen, und während sie ihre Blasen am Morgen noch in Ruhe entleeren konnten, mussten sie dies den Rest des Tages während des Marschierens erledigen. Die Frauen litten darunter am meisten, doch auf Schamhaftigkeit konnte man keine Rücksicht nehmen. Zunächst drehten sich die Männer noch ab, um ihnen wenigstens ein wenig Intimsphäre zu gewähren. Nach kurzer Zeit wurde das Urinieren jedoch zu einem derart gewöhnlichen Vorgang, dass keiner mehr Notiz davon nahm.
Die Nächte wurden bitterkalt, als sie in die Nähe der Berge gelangten. Zu ihrem Erstaunen fiel eines Nachts Schnee, sodass sie bedeckt davon erwachten, zitternd und klamm. Manche gerieten beim geringsten Anlass aneinander, wegen eines derben Wortes oder aus puren Nichtigkeiten. Hunger brachte einen unausgesetzt unter der Oberfläche kochenden Zorn ins Lager. Jeder morgendliche Aufbruch erfolgte unter Ächzen und Stöhnen, wenn die Muskeln unter Gejammer gelockert wurden. Nur die Spartaner starteten durch, als könnten sie ewig so weitermachen. Ihnen waren lange Bärte gewachsen, und ihre geflochtenen Zöpfe hingen ihnen bis tief in den Rücken. Und doch spülten sie ihren Mund mit einem einzigen Schluck Wasser aus und verzogen die rissigen Lippen zu einem Grinsen.
Jeden Tag tauchten hinter ihnen in der Ferne die Perser auf. Sie drängten in unbarmherzigem Marschtempo voran, um jedes Stück verlorenen Boden so schnell wie möglich wieder gutzumachen. Insofern war der Vormittag eine Art Verschnaufpause, bis der Feind nahe genug heran war, um Speere und Steine abzufeuern. Die Griechen erwarteten diesen Moment, und es war beinahe eine Erleichterung, wenn er da war. Dann verfielen sie in ihren Trott quer über die Ebene, mit langsam wachsenden Bergen vor und toten Männern hinter ihnen. Am Abend losten sie ehrenhalber um die Nachhut, doch jene, die einen Tag konstanter Angriffe überlebt hatten, waren am Ende zu schwach, um zu sprechen, aufgerieben von Furcht und Zorn.
Am achtzehnten Tag marschierten sie wie Geister durch die Wildnis. Die Jäger schwärmten mit Schleuder und Speer aus, hatten überwiegend jedoch nur Wasser als Proviant bei sich. Vom ständigen Starren in die Ferne hatten sie blutunterlaufene Augen. Die Berge quälten sie, indem sie schon eine gefühlte Ewigkeit lang über dem Horizont zu schweben schienen. An jenem Morgen waren sie allerdings sichtlich näher an sie herangekommen, wenn auch die Landschaft mitnichten einladender wirkte als zuvor. Die Felswände und Abhänge waren grausam steil und stachen wie Dolche in die Höhe, statt als sanfte Schrägen aufwärtszuführen. Die höchsten Gipfel lagen unter einer Schneedecke und schienen sich endlos hintereinander aufzureihen.
Tissaphernes befahl eine Sturmattacke, während sie die Ausläufer durchquerten und ihr Ziel unverkennbar war. Von den Frontreihen konnte Xenophon tatsächlich schon in das erste Tal hineinblicken, wo Hephaistos einen Pfad erkundet hatte, ohne sich allzu weit hineingetraut zu haben. Es sah so aus, als würden die Perser sie nicht ohne neuerliches Blutvergießen aus ihrer Sichtweite entlassen. Die Regimenter hinter ihnen boten ihrerseits einen reichlich heruntergekommenen Anblick, nach vierhundert Meilen Verfolgungsmarsch in der Spur eines Feindes, den sie einfach nicht kleinkriegten.
Als die Perser sich in breiter Linie formierten, waren ihre Offiziere nahe genug, dass man ihre Rufe hören konnte. Xenophon gab Chrisophos ein Zeichen, und die Spartaner lösten sich aus dem Karree, um die Nachhut zu bilden. Einen Teil ihrer glänzenden Muskeln hatten sie wieder eingebüßt, und ihre Bärte wucherten wie Unkraut. Sie waren drahtige, wild aussehende Kerle, jedoch immer noch besser ausgebildet und trainiert als jedes persische Regiment. Ihr ungebrochenes Selbstvertrauen war unübersehbar, wenngleich die kalte Brise aus den Bergen ihre Zähne klappern ließ. Rote Umhänge rauschten, als die Perser anrückten. Mit den Bergen im Rücken hatte sich das Lagervolk in den Zugang zum Pass hinauf geflüchtet und nur die Hopliten zurückgelassen. Weiße Zähne blitzten auf, als sie ihre Schwerter zogen und ihre Speere hoben.
Chrisophos trug an diesem Tag keinen Schild. In seiner Rechten hielt er ein Kurzschwert, dessen Klinge nicht länger als sein Unterarm war. In der Linken befand sich die noch kürzere Kopis. Er wog das Gewicht beider Waffen ab und grinste dem vordringenden Feind entgegen.
»Vorwärts, Lakedaimon«, röhrte er über die Reihen hinweg. »Alles vorwärts! Dies ist eure einzige Chance, ihr Hurensöhne. Eine letzte prächtige Gelegenheit zum Spielen, bevor wir dieses Imperium für immer verlassen. Überlegt also nun, was ihr euren Kindern erzählen wollt.«
Die Perser stockten in ihrem Vormarsch, sobald sie die roten Mäntel ihres Erzfeindes erblickten. Ihre Offiziere befahlen sie weiter, und manche setzten kurze Stöcke ein, um sie vorwärtszuprügeln, wenn sie zögerten .
Vor sich sahen sie goldene Bronzescheiben und glänzende Helme und Beinschienen aus demselben Metall. Die Spartaner waren Männer ganz aus Gold und Rot, und zum ersten Mal seit langer Zeit wichen sie nicht zurück, sondern kamen angestürmt.
Die gegnerischen Reihen prallten aufeinander, und die Spartaner stürzten sich auf einen Feind, der sie gereizt hatte. Trotz der Schmerzen und ihrer Erschöpfung lachten sie dabei wie kleine Jungen, die endlich imstande waren, ein Wespennest zu zertrampeln. Geradezu vergnügt ließen sie Hiebe und Stiche über sich ergehen, um dann zurückzuschlagen, mit dem Speer, mit dem Schild, mit dem Schwert und schließlich mit der Kopis, deren schnelle Hiebe Finger abhackten und Leben nahmen.
Die Perser wichen zurück, doch Tissaphernes erkannte eine Gelegenheit und ließ seine Regimenter die spartanischen Flanken einkreisen und die Schwächeren, von denen einige kaum noch stehen konnten, von den Beinen holen. Ihre Warnschreie erreichten Chrisophos, der an der Spitze sein Werk der Vernichtung verrichtete. Er fluchte und versuchte angestrengt, etwas zu sehen. Gegen einen zehnfach überlegenen Gegner hätte er ohne zu zögern auf seine spartanischen Krieger gesetzt, doch Tissaphernes war mit achtzig- oder neunzigtausend Mann angerückt. Die Griechen konnten nicht gewinnen. Sie konnten sie lediglich bluten lassen.
»Zieht euch zurück, Spartaner. Haltet die Flanken. Nehmt unsere Toten mit. Denkt daran, wie viele ihrer Familien weinen und wehklagen werden, wenn sie an uns denken.«
Das Gelächter der Männer ließ ihn grinsen. Abermals hoben sie beim Zurückweichen ihre Schilde und Speere vom Boden auf, um sich gegen Reiter verteidigen zu können, wobei wutentbrannte Perser sie mit Flüchen überzogen und ihnen Rache schworen.
Tissaphernes fürchtete, seine Männer würden zu weit ins Gebirge gelockt. Er hatte von den Stämmen gehört, die auf jenen Gipfeln hausten. Das Großreich Persien hatte ganze Königreiche unter seine Fittiche genommen, von Babylon bis zu den Medern. Doch jene Felsregionen blieben isoliert und ungebändigt. Er betrachtete die sich zurückziehenden Griechen und die ausgestreckt daliegenden Leichen in ihrer Schneise. Das Karree schien sie regelrecht auszuspeien, während es sich in die Berge schob.
Einer plötzlichen Regung folgend, hob er seine Hand zum Abschied. Ein Tissaphernes unbekannter griechischer Offizier wandte sich zu ihm um. Der Fremde hob zur Antwort seinerseits die Hand und trabte dann in die Felsspalten davon. Tissaphernes schüttelte den Kopf. Er hatte gedacht, sie würden sich ergeben, nachdem er die Generäle beim Festmahl getötet hatte. Er hatte König Artaxerxes zugesichert, dass sie ohne Anführer hilflos wären. Stattdessen hatten sie neue ernannt und waren irgendwie durchgekommen. Ein seltsames Volk, dachte er. Er fragte sich, was die Karduchoi wohl von ihnen halten würden.
Dann wandte er sich seinem Stellvertreter Mithridates zu.
»Wollt Ihr mit ihnen gehen?«, fragte er.
Der Grieche schüttelte den Kopf.
»Nicht für eine Königskrone, Herr. Wir werden sie nicht wiedersehen.«
»Genau meine Meinung. Wenn ich zum König zurückkehre, werde ich ihm berichten, dass sie vernichtet wurden. Ist dies eine zutreffende Angabe, was meint Ihr?«
Der Grieche neigte den Kopf .
»Unbedingt, Lord Tissaphernes. Sie wissen es noch nicht, doch sie sind alle tot. Ihr habt sie in die Arme der Karduchoi getrieben. Das ist allein Euer Verdienst. Glückwunsch, Herr.«
Tissaphernes lächelte und steckte das winzige Messer wieder weg, das er in seiner Handinnenfläche versteckt hatte. Der letzte der Griechen war im Zugang zum Pass verschwunden, als hätten sie nie existiert. Die Gipfel hatten sie allesamt verschluckt.
Ganz plötzlich kamen ihm der Einfallsreichtum und das Improvisationstalent der Griechen in den Sinn. Mehr als einmal hatte er sie für hilflos gehalten, und doch hatten sie überlebt.
»Haben wir noch Tauben?«, wollte er wissen.
Mithridates nickte.
»Natürlich, mein Lord.«