Einleitung

Trotz des rückwärtsgewandten Kurses, den Russland in der dritten Amtszeit Putins offenbar eingeschlagen hat, spricht ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang der Sowjetunion zum Jahresende 1991 nichts dafür, dass sie zu neuem Leben erwachen kann. Fast alle der ehemaligen Republiken haben sich in ihrer Eigenstaatlichkeit eingerichtet. Vor allem will niemand zum sozialistischen System zurück, ungeachtet mancher Nostalgie auch Russland selber nicht. Soweit es Konflikte gab oder gibt (wie in Georgien und der Ukraine), sind sie ethnisch-kultureller oder geostrategischer Natur (wobei beide Dimensionen ineinandergreifen). Die alte Ordnung hat ausgedient. Sie hat sich – im weltgeschichtlichen Vergleich – zwar als durchaus langlebig erwiesen, aber auch als unfähig, in der internationalen Systemkonkurrenz zu bestehen. Ihr Ende war in vieler Hinsicht bemerkenswert, fast singulär: Sie ist ohne manifesten äußeren Zwang zugrunde gegangen. Kein verlorener Krieg hat ihr – wie 1917 dem späten, von sozialen und politischen Spannungen zerrissenen Zarenreich – den Gnadenstoß gegeben. Auch wenn der verlustreiche Afghanistan-Krieg ihre Agonie beschleunigt hat: Der «entwickelte Sozialismus» wurde in erster Linie von innen zerfressen, versagte gegenüber den selbstgesetzten inneren und äußeren Zielen. Weder vermochte er der Bevölkerung eine der westlichen annähernd vergleichbare Lebensqualität zu sichern, noch der Weltmachtrolle der Sowjetunion ein solides Fundament zu geben, noch gar beides zugleich zu leisten. Kein Zweifel: Was im Oktober 1917 mit großer Geste als Auftakt zur Vollendung der Menschheitsgeschichte und Fortsetzung der großen Französischen Revolution ausgerufen worden war, verfiel 1985 in seine letzte, existentielle Krise und brach im Putsch vom August 1991 für alle Welt sichtbar zusammen.

Diese rückblickende Erkenntnis gibt den vorangegangenen sieben Jahrzehnten sowjetischer Geschichte eine neue Kontur. Auch in der Sowjetunion ging mit dem Beginn der Perestrojka eine Epoche zu Ende. Nicht nur die Nachkriegszeit lief ab; vor allem löste sich der innere Belagerungszustand in Gestalt der überkommenen, auf dem Entscheidungs- und Gewaltmonopol der Zentrale beruhenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ordnung auf. Der Stalinismus im engeren Sinne mag schon bald nach dem Tode seines Schöpfers abgedankt haben: In Kenntnis der glasnost’ und der Denk- und Handlungsfreiheit, die sie brachte, wird man aber nicht nur die Ära Brežnevs, sondern auch die Chruščevs mehr denn je zum alten System rechnen müssen. Angesichts einer personellen Erneuerung der sowjetischen Politik, die seit dem Terror der dreißiger Jahre ihresgleichen suchte, erscheint die bekannte Tatsache in neuem Licht, dass die Zöglinge Stalins das Ruder bis zur Perestrojka nicht aus der Hand gaben. Und auch Lenin und Stalin verbindet in dieser Perspektive erheblich mehr als nur die formale Zugehörigkeit zu ein und derselben Partei.

Wenn nun das Scheitern vor aller Augen liegt und es mit dem Untergang der kommunistischen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas im schicksalhaften Herbst 1989 das Ende nicht nur der Nachkriegszeit, sondern des gesamten ‹kurzen 20. Jahrhunderts› (E. Hobsbawm) herbeiführte, stellt sich die Frage nach den Ursachen. Dabei liegt auf der Hand, dass sie auf die Triebkräfte der Revolution und den Charakter der Gesellschaft, die sie begründete, insgesamt zielt. Vernehmlicher und einseitiger als alle anderen seit 1789 verkündete das russische revolutionäre Regime Aufgaben für die nahe und ferne Zukunft. Es definierte sich durch Leistungen, die erst noch zu erbringen waren. Die nachrevolutionäre Gesellschaft, die sich «sozialistisch» nannte (und im Folgenden nur in diesem Sinne ohne Anführungszeichen so bezeichnet wird), lebte gleichsam auf Borg; Unzulänglichkeiten der Gegenwart rechtfertigten sich durch das Versprechen einer bevorstehenden goldenen Zeit. Darin lag ein entscheidendes Motiv ihrer Möglichkeit; daraus bezog sie ihre anfängliche Dynamik; darin wurzelten aber auch gravierende Legitimationsprobleme von dem Augenblick an, in dem die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer offenkundiger wurde.

Weil die Aufgabe bis an die Schwelle der Gegenwart nicht bewältigt werden konnte, hat sich die Ordnung in geringerem Maße von ihrem Ursprung gelöst, als das unter anderen Bedingungen meist der Fall war. Nicht nur in seinem Selbstverständnis ist der nachrevolutionäre Staat eng mit der Revolution verbunden geblieben. Die Frage nach dem Kern der Gemeinsamkeit von siebzig Jahren Sowjetgeschichte erweitert sich dadurch auch in die Vergangenheit: Wenn die gesamte Umwälzung von 1917 als Folge eines nicht mehr beherrschbaren Problemdrucks zu verstehen ist, verlängert die Zusammengehörigkeit von Revolution, nachrevolutionärer Gesellschaft und Zukunftsperspektiven einen erheblichen Teil dieser Altlasten bis zum Untergang des neuen Regimes (wenn nicht sogar, wie es angesichts der offenkundigen Probleme Russlands mit Demokratie und Liberalismus den Anschein hat, darüber hinaus). Eine Kontinuität wird sichtbar, die bei allen unleugbaren Veränderungen und Zäsuren nicht aus dem Blick geraten darf. Vieles spricht deshalb dafür, die Essenz der inneren Geschichte der Sowjetunion im Überhang vor allem eines Kardinalproblems der ausgehenden Zarenzeit zu sehen: in der fortdauernden Aktualität der Aufgabe, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bzw. – aus der Perspektive der Massen gesehen – das materielle Lebensniveau des «Westens» zu erreichen und dies mit einer freiheitlichen politischen Ordnung zu verbinden.

Seit Peter der Große unter dem nachhaltigen Eindruck seiner großen Reise nach Deutschland, Holland und England (1697/98) das oft beschworene ‹Fenster zu Europa› aufstieß, hat er sein Land einem Vergleich und einer Konkurrenz ausgesetzt, denen es im Grunde nicht gewachsen war. Fortan sah sich die russische Monarchie immer wieder genötigt, westliche Errungenschaften – technisch-industrielle, administrativ-politische ebenso wie sozialorganistorische – zu übernehmen, um die Großmachtrolle, in die sie parallel hineinwuchs, zu wahren. Zugleich bemühte sie sich, den politischen Wandel zu begrenzen. Wirtschaftliche und soziale Modernisierung sollten einhergehen mit der Konservierung der russischen Spielart des Absolutismus, der Autokratie. Erst spät und zögerlich hat sie sich auch zu politischen Konzessionen an eine Gesellschaft herbeigelassen, die sich mit der alten Machtlosigkeit nicht länger abfinden wollte. Wie immer man das Gewicht dieser Faktoren im Einzelnen veranschlagen mag, außer Zweifel steht, dass die große Umwälzung des Jahres 1917 nicht zuletzt aus der Unfähigkeit des alten Regimes zu erklären ist, den Wandel unter der zusätzlichen Belastung des Krieges unter Kontrolle zu halten. Die Februar- und die Oktoberrevolution versuchten, eine Antwort auf die politischen Partizipationsansprüche zu geben: die eine in Gestalt eines demokratischen Experiments, die andere in Form der Räteverfassung, die schnell dem bolschewistischen Parteimonopol wich. Unberührt blieb das wirtschaftliche und soziale Entwicklungsdefizit. Die neue Herrschaft übernahm dieses Defizit nicht nur als Erbe der Vergangenheit, sondern erhob es nachgerade zu ihrer raison d’être. Denn der Aufbau des Sozialismus, ihr erklärtes Ziel und ihre Legitimationsgrundlage zugleich, enthüllte schon bald seinen eigentlichen Kern: die Industrialisierung Russlands und den korrespondierenden sozialen Wandel fortzusetzen.

Allerdings sollten die Mittel und Wege dahin völlig andere sein. Anders als die liberale empfahl die bolschewistische Revolution – und darin lag eine fundamentale Diskontinuität, die ihren Namen rechtfertigt – der russischen Bevölkerung nicht, dem Westen zu folgen; vielmehr versprach sie im Gegenteil, die Leiden der kapitalistischen Modernisierung zu vermeiden und ohne Privatbesitz an Produktionsmitteln, ohne Ausbeutung und Kapitalistenherrschaft, ans Ziel zu gelangen. Mit gutem Grund nahm der Marxismus im Zuge seiner Anpassung an russische Verhältnisse eine ambivalente Färbung an. Anders als in seiner ursprünglichen Gestalt sollte er den Kapitalismus nicht nur überwinden, sondern dessen wichtigste Errungenschaften zuvor auch nachholen. Das neue Regime sollte beides tun: Russlands Umwandlung in eine Industriegesellschaft beschleunigen und zugleich die Mittel zu ihrer Aufhebung bereitstellen. Die Idee des Kommunismus verengte sich gemäß der bekannten Äußerung Lenins auf die Gleichung «Rätemacht plus Elektrifizierung».[1] In diesem Sinne erwies sich die Sowjetunion als ein Modernisierungsregime neuer monokratischer und temporär totalitärer Art, dessen Hauptzweck in der zentral gelenkten, vom Monopol der bolschewistischen Partei politisch abgesicherten Mobilisierung der Gesellschaft zu größtmöglicher ökonomischer Leistung bestand. Dem widerspricht der Umstand nicht, dass nach dem Zweiten Weltkrieg weitere Antriebe hinzukamen. Im Gegenteil, sowohl die enormen materiellen Schäden, die zu beheben waren, als auch die neue Rolle einer Weltmacht verlangten auf Dauer eine Wirtschaftskraft, die der ‹kapitalistischen› ebenbürtig war. Nicht zuletzt die Unfähigkeit, diese imperiale Bürde in der gewählten Form militärischer Präsenz und Hochrüstung zu tragen, belegt die andauernde Bedeutung der wirtschaftlichen Aufholjagd. Die Sowjetunion ging letztlich an dem durchaus russischen Unvermögen zugrunde, die riesigen demographischen und natürlichen Ressourcen effizient zu nutzen.

Bei alledem versteht es sich von selbst, dass auch die Sowjetunion in sieben Jahrzehnten tiefgreifenden Veränderungen unterlag. Der Sprung ins Industriezeitalter wurde vollzogen. Die Urbanisierung machte rasche Fortschritte. Die berufliche Struktur der Bevölkerung wandelte sich grundlegend. Aufstiegs- und Bildungschancen nahmen ein Ausmaß an, das auf russischem Boden zuvor noch nicht erreicht worden war. Dieser Fortschritt war zum Teil von heftigen Schwankungen der inneren Politik begleitet. Zeiten relativer Bewegungsfreiheit, vor allem ökonomischer, wechselten mit Repression und allgegenwärtiger Androhung von Gewalt, Zentralismus mit einer gewissen Dezentralisierung, partielle Toleranz mit strikter Kontrolle, rasche Fluktuation an den Hebeln der Macht mit der Herausbildung einer neuen administrativ-politischen Elite, die sich weitgehend aus sich selbst rekrutierte. Zu den umstrittenen Fragen der Gesamtdeutung gehört, ob das sowjetische Herrschaftssystem (nicht die Wirtschaftsordnung) durch diesen Wandel eine andere typologische Qualität annahm. Viele Kritiker der Totalitarismustheorie neigten zu einem solchen klaren Trennungsstrich zwischen stalinistischer und poststalinistischer Ordnung. Sie mussten sich freilich durch die Ereignisse nach 1985 darüber belehren lassen, dass ihre eigene Interpretation neue Züge des Systems zum Teil zu hoch gewichtete und dadurch in die Irre ging. Im Licht der Perestrojka und des Fiaskos der Sowjetunion tut man sicher besser daran, im skizzierten Sinn von einem Kernbestand unveränderter Merkmale auszugehen, die dem Regime eine gewisse Einheitlichkeit gaben, dessen ungeachtet aber in seiner Geschichte Phasen von überwiegend deutlichem Eigencharakter zu unterscheiden. Der unbezweifelbare Wandel zerstörte seine Identität als historische Erscheinung nicht, verlieh ihm aber unterschiedliche Gesichter.

Im Anschluss an diese Überlegungen gliedert sich der Hauptteil der folgenden Darstellung nach der Vorgeschichte der Revolution (Kap. I u. II) in vier größere Zeitabschnitte.

(1) Ein erster reicht von den Oktoberereignissen 1917 bis zur Wende von 1929/30. Er umfasst den Umbau der politischen und ökonomischen Verfassung im halben Jahr nach dem Coup d’Etat, die Verteidigung dieser «Errungenschaften» auf Leben und Tod im Bürgerkrieg und deren partielle Aufhebung nicht nur im wirtschaftlichen Leben während der sogenannten Neuen Ökonomischen Politik (NĖP). Nach seiner Rückkehr aus dem schweizerischen Exil im April 1917 hatte Lenin das Ende jener Revolutionsetappe ausgerufen, die in sozialdemokratischer Begrifflichkeit die bürgerlich-kapitalistische hieß. Stattdessen setzte er den Übergang zur sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung. Viele mochten den heftigen Streit, der darüber auch in der bolschewistischen Partei ausbrach, für Haarspaltereien überdrehter Intellektueller halten. Die Maßnahmen der Räteregierung belehrten sie jedoch eines Besseren (Kap. III). Schon das erste halbe Jahr nach dem Staatsstreich vom Oktober brachte eine fundamentale Veränderung der Herrschafts-, Wirtschafts- und Sozialstruktur Russlands. Die fraglos schwache Demokratie, die faktisch oft in bloßer Herrschaftslosigkeit bestand, verschwand ebenso wie der Parteienpluralismus. Banken und größere Unternehmen wurden enteignet, Adel und Bürgertum verjagt und durch die Legalisierung der bäuerlichen Landnahme sowie die Nationalisierung der Industrie ihrer materiellen Basis beraubt. Der Bürgerkrieg zementierte diese wohl heftigste soziale und politische Umwälzung der neueren Geschichte und dehnte sie auf die eroberten Gebiete aus. Wenn die alte Elite noch eine Chance besaß, ihren Einfluss zurückzugewinnen, dann machte sie der nachgeholte, erbitterte Kampf um den Oktober unwiderruflich zunichte. Er zerstörte, was von der überkommenen Ordnung übrig geblieben war. Er zwang zur Mobilisierung aller Ressourcen, löste eine gewaltige Bevölkerungsbewegung aus und schuf in Gestalt neuer Staatsorgane und der Roten Armee mächtige, in dieser Form völlig neue Katalysatoren des sozialen Aufstiegs. Am Ende des Bürgerkriegs waren in der Tat ein neuer Staat, eine neue Wirtschaftsordnung und eine neue Gesellschaft entstanden, die auch einer tiefgreifenden Veränderung des Denkens und der gesamten geistigen Welt den Boden bereiteten. Revolution und Bürgerkrieg schufen die Grundstrukturen dessen, was von der Partei mehr und mehr als Sozialismus bezeichnet wurde.

Nach wie vor hält die Diskussion darüber an, in welchem Maße die NĖP (Kap. IV) dieses Erbe beseitigte und einen Neuanfang brachte. Dass sie der Landwirtschaft Luft verschaffte, den Kleinhandel und das kleine Gewerbe in Stadt und Dorf anregte, ist unbestritten. Man muss jedoch auch sehen, dass die politische Verfassung in dieser Zeit unverändert blieb. Die Räte, einst als Garanten und Organisationsform tatsächlicher politischer Partizipation der Bevölkerungsmehrheit gedacht, wuchsen in diese Rolle nicht hinein; sie blieben, wie im Bürgerkrieg, von der wirklichen Macht ausgesperrt. Das Monopol der bolschewistischen Partei wurde nicht im Mindesten tangiert. Zwar brachen nach Lenins Tod in ihren eigenen Reihen heftige Fehden aus, die unterschiedliche Meinungen über den Charakter der Sowjetherrschaft und die künftige sozioökonomische Entwicklung des Landes offenbarten. Aber die Opposition wurde unterdrückt und die Meinungsfreiheit endgültig liquidiert. Die NĖP war auch die Zeit des Aufstiegs Stalins und eines tiefgreifenden Strukturwandels in der Partei, der ihn erst ermöglichte. Diese Synchronie kam nicht von ungefähr. Eben der zehnte Parteitag, der im Frühjahr 1921 das Ende des Kriegskommunismus und den Beginn der NĖP einleitete, beschloss auch das berüchtigte Fraktionsverbot. Lenin und die Delegierten wollten sich dem freien Spiel der Wirtschaftskräfte, das ihnen nicht geheuer war, nicht ohne Gegenwehr aussetzen. Ihre Überzeugung von der grundsätzlichen Überlegenheit des Sozialismus blieb von der neuen Wirtschaftspolitik völlig unberührt. Sie bestimmte nach wie vor die Struktur des neuen und neuartigen Staates.

(2) Dessen ungeachtet bedeuteten die Kampagnen der Dekadenwende eine tiefe Zäsur. Sie leiteten einen zweiten Abschnitt der sowjetischen Zwischenkriegsgeschichte ein, der bis zum deutschen Überfall dauerte (1929/30–22. Juni 1941) und durch die Etablierung der Stalinschen Herrschaftsordnung gekennzeichnet war. Die Redeweise von der «Revolution von oben» ist sicher insoweit gerechtfertigt, als sie auf das Ausmaß und die Gewaltsamkeit der Veränderungen verweist. Der schon dominante Parteiführer und seine Paladine versuchten, der ökonomischen Rückständigkeit des Landes mit anderen, rigoroseren Mitteln Herr zu werden. Zentrale Steuerung einer restlos verstaatlichen Wirtschaft durch die Planbürokratie und Zwang mittels willkürlicher staatlicher Gewalt lösten die marktvermittelte Regulation des Tausches zwischen Stadt und Land durch Preise und Steuern im Rahmen einer politischen Verfassung ab, die sich gewiss nicht durch demokratische Willensbildung oder Sorge um individuelle Freiheitsrechte ausgezeichnet, aber auf systematische Gewaltanwendung in großem Maßstab verzichtet hatte. Wie immer man den Stalinismus im Einzelnen definieren mag, er dürfte von der Konzentration aller Ressourcen auf den «großen Sprung nach vorn» einschließlich der uneingeschränkten Anwendung «außerökonomischer» Zwangsmittel nicht zu trennen sein. Insofern war Stalins vielzitierte Äußerung, die Sowjetunion müsse in zehn Jahren nachholen, was «der Westen» in hundert Jahren erreicht habe[2], in der Tat programmatisch: Sie formulierte in nuce die Richtschnur seiner inneren Vorkriegspolitik. Offen bleibt dabei, wie der Massenterror der Jahre 1937–38 hier hineinpasst. Man wird ihm weder mit pervertiert kalkulierender Rationalität noch mit psychopathologischen Erklärungen beikommen. Diffuse Angst vor «Diversanten» in einer zunehmend konfliktgeladenen, kriegsgefährlichen internationalen Situation in Verbindung mit ideologischem ‹Reinheits›-Wahn und totalitärer Kontrollsucht überzeugen gegenwärtig als denkbare Motive am ehesten. Sie lassen sich auch problemlos mit dem übergeordneten Imperativ vereinbaren, die ökonomischen Grundlagen eines wehrhaften «Sozialismus» zu schaffen.

(3) Kriegs- und Nachkriegszeit (1941–1953) bildeten getrennte Perioden und eine Einheit zugleich. Auf der einen Seite rief der deutsche Überfall sofortige Gegenmaßnahmen hervor. Menschen, Vieh und Produktionsanlagen wurden evakuiert und alle Aktivitäten von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in den Dienst der ‹Vaterlandsverteidigung› gestellt. Ein Ausnahmezustand wurde begründet, der auch und gerade der inneren Verfassung des Staates einen eigenen Charakter gab (Kap. VII). Auf der anderen Seite zeitigten die Verteidigungsanstrengungen bleibende Folgen, die als Verzahnung zumindest mit der restlichen Regentschaft Stalins wirkten (Kap. VIII). Sie förderten die administrative Zentralisierung und festigten die Herrschaft einer kleinen Clique hoher Parteifunktionäre um den «Führer». Sie gaben den Anstoß zur Auslagerung wesentlicher Teile der Schwerindustrie hinter die Frontlinie nach Westsibirien und beschleunigten dadurch die Ausdehnung der Industrialisierung über das europäische Russland hinaus. Sie begünstigten die Verschmelzung von Sozialismus und Patriotismus zu einer Ideologie, deren systemstützende Funktion nicht allein auf Zwang und Indoktrination beruhte. Ihr Resultat, der Sieg über Hitlerdeutschland, hob Stalin auf ein Podest hoch über allen anderen und machte seine persönliche Diktatur vollends unangreifbar. Und es bescherte der Sowjetunion eine Weltgeltung und Hegemonialstellung, die stabilisierend nach innen ausstrahlten. Zugleich wiesen die Nachkriegsjahre deutliche Symptome einer Sklerose der überkommenen Ordnung auf. Das krankhafte Misstrauen des allgewaltigen Diktators verbreitete nicht nur Angst und Schrecken, sondern auch Lähmung und Leerlauf über das ganze Land. Von der Dynamik der dreißiger Jahre blieben nur Phrasen. Weniger die Zerstörungen als die Verwandlung des ganzen Landes in eine Kolonie virtueller oder tatsächlicher Zwangsarbeiter hinderten daran, an die Begeisterung der dreißiger Jahre, die bei aller Furcht fraglos auch vorhanden war, anzuknüpfen. Die letzten Stalinjahre bildeten eine Phase des «Stillstandes», der Friedhofsruhe im Innern bei nie da gewesener äußerer Machtentfaltung.

(4) Auch der letzte Zeitabschnitt (1953–1985) enthält eine deutliche Zäsur. Der Sturz Chruščevs trennt den ersten Versuch zur «Entstalinisierung» von einer Phase, die als Konsolidierung nach überstürzten Reformen begann, in der Folgezeit aber mehr und mehr in die Bewegungsarmut einer vorrangig um den eigenen Machterhalt und die Wahrung des inneren Interessenausgleichs besorgten Elite umschlug. Zugleich zeigen sich im Rückblick ebenfalls manche Verbindungslinien. Die Aufarbeitung der Vergangenheit unter Chruščev (Kap. IX) war sicher ein hoffnungsvoller Beginn. Aber sie kam nicht weit voran. Das «Tauwetter» beschränkte sich auf die Geißelung der persönlichen Diktatur, die ohnehin in dieser Form nicht fortzusetzen war, und auf die Kultur. Zwar gab sich der neue starke Mann in zutreffender Ortung der Wurzeln des ökonomischen Übels darüber hinaus erhebliche Mühe, die landwirtschaftliche Produktion anzukurbeln und die industriellen Entscheidungsmechanismen zu dezentralisieren. Er stiftete damit aber mehr Konfusion als ökonomischen Gewinn. Desgleichen sammelte Chruščev neue Leute in der Absicht um sich, eine Verjüngung und Selbstreinigung der Partei auf den Weg zu bringen. Auch dabei verfuhr er aber vorsichtig. Ein deutlicher Austausch der politischen Elite fand erst spät (auf dem 22. Parteitag) statt. Diese Zurückhaltung hatte ihre Gründe: Waren es doch ausnahmslos Zöglinge oder sogar Schützlinge Stalins – wie Chruščev selber –, die in den entscheidenden Gremien den Ton angaben. Sie trauerten der Diktatur eines Mannes, der viele ihresgleichen hatte erschießen lassen, nicht nach. Aber ihre Reformbereitschaft machte weit vor jeder strukturellen Korrektur der vom einstigen «Führer» maßgeblich geprägten Ordnung Halt.

So bewirkte die Ablösung Chruščevs zwar mehr als ein Stühlerücken im Politbüro (Kap. X). Aber sie zog weit weniger Veränderungen nach sich als das Ausscheiden Lenins aus der Politik 1923 oder die endgültige Machtergreifung Stalins 1929. Stattdessen zeigte sie, dass der «entwickelte Sozialismus» eine eigentümliche Elite hervorgebracht hatte, in deren Hände die Herrschaft nach dem Ende des persönlichen Terrorregiments überging. Das war um so eher der Fall, als diese nomenklatura politisch-administrative, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Führungspositionen gleichermaßen besetzte. Der Anspruch des sozialistischen Staates, alle im ‹bürgerlichen› Staat angeblich getrennten Bereiche der Gesamtordnung unter Führung der Partei wieder zu vereinen, wurde in dieser Vernetzung der Elite durchaus Wirklichkeit. Damit trat aber auch zutage, dass sich der Charakter des Regimes verändert hatte. Herrschaft wurde anders ausgeübt und der Staat anders organisiert als in den zwanziger Jahren oder unter Stalin. Unbeschadet der letzten Entscheidungsbefugnis des Generalsekretärs (die noch Gorbačevs ‹Auskehr› eindrucksvoll vor Augen führte) war das Gewicht der Apparate gewachsen. In diesem Sinne verwandelte sich personale Herrschaft in administrativ-bürokratische. Gerade dieser Vorgang stärkte aber die Säulen der überkommenen Ordnung: das Parteimonopol, die Planwirtschaft und die Knebelung der Gesellschaft. Fraglos vermochte dieses System ein breiteres Interessenspektrum zu integrieren als das alte. Bis zu einem gewissen Grade rechnete es mit unterschiedlichen Prioritäten seiner Segmente und traf Vorsorge für ihren geregelten Ausgleich in Gestalt von Anwartschaften auf bestimmte Funktionen und ähnlichen Mechanismen mehr. Insofern hatte es den totalitären ‹Notstandscharakter› verloren und sich auf Dauer eingerichtet. Ein zunehmend sichtbarer Funktionsmangel bestand aber darin, dass diese Interessendifferenzen immer weniger durch produktive Konkurrenz und immer häufiger durch informelle Arrangements beigelegt wurden. Protektion und Korruption erstickten innovativen Wettbewerb. Das «neue Denken» nach 1985 hat nicht zuletzt diesem Mangel der alten Ordnung den Kampf angesagt. Die Diagnose war richtig. Nur zeigte sich bei der Therapie, dass die Krankheit im System selbst lag.

In diesen Zeitschritten versucht der Autor im Folgenden, die innersowjetische Geschichte in allen wesentlichen Aspekten zu beschreiben. Die Richtungskämpfe in der Partei und die Politik im engeren Sinne sollen dabei nicht zu kurz kommen, da die Gesamtentwicklung ohne sie unverständlich bleibt. Die besondere Anstrengung gilt jedoch dem Bemühen, sie enger mit den anderen Bereichen der historischen Wirklichkeit zu verzahnen. In diesem Sinne sollen die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, Vorgänge und Probleme angemessene Berücksichtigung finden. In gleichem Maße richtet sich die Aufmerksamkeit aber auch auf die dritte «Potenz» (J. Burckhardt) des historischen Geschehens, die Welt der Vorstellungen, Normen und mentalen Prägungen in ihrer Verbindung mit den materiellen Grundlagen und der sozialen Organisation des Lebens.[3] Demgegenüber müssen die außenpolitischen Ereignisse zurücktreten. Sie können nur in groben Zügen und insoweit Berücksichtigung finden, wie sie zum Verständnis der inneren Vorgänge nötig sind. Diesem Verfahren liegt keine Geringschätzung der Außenpolitik zugrunde, sondern nur die Überzeugung, dass alle darüber hinausgehenden Aspekte im internationalen Kontext anzusiedeln sind, der hier schon aus Platzgründen ausgespart bleiben muss.

Eine ähnliche Einschränkung ist in Bezug auf den regionalen Gegenstandsbereich der Darstellung angezeigt. Die Geschichte der nichtrussischen Peripherie soll, wie schon in der ersten Auflage, weitgehend ausgeklammert bleiben. Zum einen zwingt mich der Mangel an nicht zuletzt linguistischer Kompetenz dazu, weil die postsowjetischen Darstellungen, die sie gründlich revidiert haben, großenteils in den jeweiligen Nationalsprachen abgefasst sind. Hinzu kommt eine vorgängige konzeptionelle Überlegung: So wichtig die Nationalitätenfrage in der Sowjetunion von Anfang an war und so sehr man den föderalen Charakter des Staates selbst unter Stalin betonte, so sehr gilt auch, dass sämtliche Grundentscheidungen im Zentrum getroffen und von hier aus in die Randgebiete exportiert wurden. Es ist daher nicht unkritisch ‹imperialistisch› gemeint, sondern trägt nur der – im Übrigen durch die Geschichtsschreibung der neuen souveränen Staaten vielfach bestätigten – realen Machtverteilung im diktatorischen Staat Rechnung, wenn die Sowjetunion im Wesentlichen auf den Kern schrumpft, aus dem sie hervorgegangen ist – auf Sowjetrussland.

Doch auch in dieser Beschränkung mag die Absicht einer Gesamtdarstellung vermessen erscheinen. Sie rechtfertigt sich im Wesentlichen aus dem Befund, dass die Revolutionäre im vorgeblichen Besitz der einzig wahren Weltanschauung alles besser machen wollten und in der Tat ein Gemeinwesen schufen, das vor allem nach der ‹zweiten›, Stalinschen Revolution in allen wesentlichen Bereichen zumindest anders organisiert war (dabei aber in fundamentaler Hinsicht ein durchaus gleichbleibendes Ziel verfolgte). Im Bemühen, diese verbindende ‹Signatur› der einzelnen Sektoren zu verdeutlichen, versteht sich die vorliegende Darstellung nicht nur als Präsentation der wesentlichen Tatbestände, sondern in gleichem Maße als problemorientierte Zusammenschau. Chronologische und systematische Gesichtspunkte sollen daher – sichtbar am Wechsel zwischen eher synchron arrangierten Großkapiteln und kürzeren, eher diachron verfahrenden Abschnitten über Zeiten beschleunigter Umbrüche – ebenso ineinandergreifen wie referierende und erörternde Passagen. In besonderem Maße liegt dem Verfasser daran, die leitenden Vorstellungen und Richtungsentscheidungen, die prägenden Ereignisse und dauerhaften Gestalten, die verändernden Kräfte und Traditionsüberhänge unter der Frage nach ihren gemeinsamen Merkmalen, Interdependenzen und ‹Tiefenstrukturen› zu beschreiben. So gesehen schwebt ihm, auch wenn dieses Ideal gewiss nicht erreicht wird, primär eine integrierende Binnenansicht von Staat (Politik), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur vor.