Nach einer geläufigen Vorstellung war ‹die› Russische Revolution ein gedrängtes, ereignishaftes Geschehen, das die alte Ordnung gleichsam mit einem Schlag durch eine neue ersetzte. So sehr das Bild einer historischen Verdichtung zutrifft, so sehr haftet es zugleich an der Oberfläche. Vermutlich in noch höherem Maße als die große Französische Revolution, die die russischen Akteure ebenso gern zum Vergleich heranzogen wie die nachfolgenden Historiker, war auch die Umwälzung im Zarenreich ein Prozess. Bei näherem Hinsehen löst sie sich, wie alle komplexen Erscheinungen, in zahlreiche Einzelvorgänge und -aspekte von je eigener Dynamik und Tiefenwirkung auf. Dementsprechend lassen sich jeweils gute Gründe für verschiedene Definitionen, Deutungen und Datierungen finden, auch wenn diese grundsätzliche Möglichkeit nicht bedeuten kann, dass alle denkbaren Perspektiven die gleiche Erklärungs- und Überzeugungskraft besäßen.
Sozioökonomische und kulturelle Veränderungen, oft im Begriff der Modernisierung gebündelt, erfordern die Betrachtung eines längeren Zeitraums. Was sich in dieser Perspektive 1917 Bahn brach, reichte mindestens bis zur Jahrhundertwende zurück, bei genauem Hinsehen sogar bis zu den großen Reformen Alexanders II. in den 1860er Jahren. Zur Gegenwart hin kam der Wandel erst mit der forcierten Industrialisierung unter Stalin zu einem gewissen Abschluss. Gesamtdarstellungen, die sich dieser Sehweise verpflichtet fühlten, haben die Revolution selbst deshalb bewusst nicht als Enddatum gewählt, sondern sie nur als Zäsur einer übergreifenden Epoche gewertet. Damit geben sie eine gewiss begründete, aber auch sektorale Antwort auf die Tocquevillesche Frage nach der Kontinuität im Umbruch.
Wer dagegen politische Aspekte in den Vordergrund stellt, kann eine kürzere Phase in den Blick nehmen. Diese begann nicht lange vor der Einrichtung eines Parlaments als wichtigstes Ergebnis der sog. ersten russischen Revolution von 1905–06, die auch in dieser Perspektive einen tiefen Einschnitt bildete. Und sie erreichte bald nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen ersten Höhepunkt, als endgültig zutage trat, dass die Spannungen zwischen Staatsduma und autokratischem Staat im Rahmen der gegebenen Ordnung kaum noch beizulegen waren. Auf der anderen Seite zog die «Gesellschaft» (im russischen Sinne von Besitz und Bildung) vor allem im Krieg so viele Kompetenzen an sich, dass die Gedankenfigur einer Opposition zum Staat in mancher Hinsicht konstruiert erscheint. Sinnfällig an der Kooperation zwischen der provinzialen Selbstverwaltung (den 1864 eingerichteten zemstva) und der überkommenen zarischen Administration, hatte sich eine Symbiose ausgebildet, die manche Chancen für eine evolutionäre Herstellung gesellschaftlicher Teilhabe barg. Insofern hat der Vorschlag vieles für sich, einen weiteren Strukturkonflikt zu bedenken, der eine ‹einfache Lösung› in Gestalt eines Herrschaftskompromisses ausschloss. Als solcher kann die wachsende Kluft zwischen den liberal-konstitutionalistischen, teilweise demokratischen Parteien (in einem weiten Sinne) und der organisierten revolutionären Bewegung gelten, der bei unscharfen Rändern eine soziale Trennung entsprach. Es war die doppelte Konfrontation zwischen autokratischem Staat und liberaler «Gesellschaft» auf der einen Seite und liberaler «Gesellschaft» und ‹einfachem Volk› auf der anderen Seite, die eine friedliche Lösung zunehmend erschwerte oder gar ausschloss. Dabei versteht sich von selbst, dass politische und soziokulturelle Faktoren nicht zu trennen waren. Insofern greift diese Sicht auf den längerfristigen Vorgang der Industrialisierung und ihrer breitgefächerten Begleiterscheinungen zurück, in den sie sich gleichsam einbettet. Die gesamtgesellschaftliche Transformation erscheint als Voraussetzung und Triebkraft einer sozialen und politischen Polarisierung, die sich unter der zusätzlichen spannungsfördernden Bürde des Kriegs revolutionär entlud.
Politische, soziale und geistig-kulturelle Begründungsfaktoren verbindet auch eine Deutung, die der Machtgier und ideologischen Verblendung einer radikalen intelligencija (im russischen Sinn einer Gesinnungsgemeinschaft im Gegensatz zu einer Funktions- oder Statusgruppe) die letztlich entscheidende Rolle zuerkennt. Als Träger der revolutionären Bewegung erscheint hier eine relativ schmale Schicht fanatischer Ideologen, die den einzig wahren Weg in Russlands Zukunft zu kennen beanspruchten und ihre gesamte Kraft darauf verwandten, das Land zu diesem seinem ‹Glück› zu zwingen. Dazu bedurften sie zum einen günstiger Handlungsbedingungen. Man wird nicht fehlgehen, diese vor allem in der Schwächung der staatlichen Autorität und der alten Ordnung generell zu sehen. Zugleich bezogen die Vorkämpfer einer exklusiven Utopie selber weiteren, unentbehrlichen personellen Zuwachs und Gewinn an Überzeugungskraft aus den zunehmenden Turbulenzen. Deshalb bedarf auch diese Deutung des sozioökonomischen Kontextes, der allerdings bloße Folie für die politischen, ideologisch geleiteten Aktivitäten der ‹Berufsrevolutionäre› bleibt. Hier liegt eine Inkonsistenz, die in besonderem Maße – im Grundsatz gilt das sicher generell – auf außerwissenschaftliche Motive dieses Deutungsansatzes verweist.
Eher zu den grundlegenden Veränderungen vergleichsweise langsamer Wandlungsgeschwindigkeit sind ferner die meisten der kulturrevolutionären Strömungen zu rechnen, die den politischen und sozialen Umbruch begleiteten. Im Kielwasser der bekannten oppositionellen Parteien schwammen Anhänger der verschiedensten Reform- und Protestbewegungen, von den Vorkämpferinnen für die Frauenemanzipation über Gegner der bürgerlichen Lebensformen und Moral allgemein bis zu Befürwortern einer neuen Pädagogik im Dienste eines besseren Menschen und den Protagonisten der ästhetischen Avantgarde. Sie sind vor allem im letzten Jahrzehnt als Resultat der Wiederentdeckung der Kultur- und Geistesgeschichte ins Blickfeld einschlägiger Studien zurückgekehrt. Bei aller Bedeutung sowohl der sozioökonomischen als auch der politischen Vorgänge und längerfristigen Antriebe sollten die geistig-kulturellen schon deshalb nicht übersehen werden, weil erst sie die konkrete Wahl zwischen – immer gegebenen – unterschiedlichen Optionen und die genaue Art der Abläufe bestimmten. In mancher Hinsicht gilt sogar, dass erst diese alle wesentlichen Bereiche der historischen Wirklichkeit umfassende Breite den anspruchsvollen Namen eines ‹Umbruchs› rechtfertigt. Allerdings blieben die daraus gespeisten, höchst eigenwilligen und individualistisch-antiautoritären «Träume» besonders eng an die Wirren gebunden. Sie hatten in der Normalität keinen Platz und fristeten zumeist nur noch ein Nischendasein, als der Stalinsche ‹Brumaire› ihnen 1929 endgültig den Garaus machte.[1]
So rief und ruft die Russische Revolution, weil sie nicht nur Grundfragen der politischen Ordnung und der politischen Ethik aufwarf, sondern dazu noch weit über die Landesgrenzen hinauswirkte, höchst unterschiedliche Interpretationen hervor. Dies wird und muss so bleiben, solange es unterschiedliche Prägungen und Haltungen der Betrachter zu unterschiedlichen Zeiten gibt. Zugleich zeigen die vorstehenden Bemerkungen aber auch, dass die skizzierten Deutungen und manche andere auf dieselben Kernvorgänge zurückgreifen. Diese bilden das empirische Material, das die verschiedenen Sehweisen mit unterschiedlichen Akzenten ausstatten und in je spezifischer Form berücksichtigen. Bei aller – entsprechend der Eigenart geisteswissenschaftlicher Erkenntnis legitimen – Offenheit für unterschiedliche theoretische Einbettungen enthalten sie faktische Imperative, insofern sie in allen Deutungen, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, einen überzeugenden Platz finden müssen. Besonders folgende können als Kernelemente einer jeden ‹Theorie› der Russischen Revolution gelten.
Agrarkrise und Bauernprotest haben seit jeher einen prominenten Platz unter den langfristigen Ursachen für das gewaltsame Ende des Zarenreichs eingenommen. Die lange Liste einschlägiger Hypothesen begann schon mit den Werken der bekanntesten zeitgenössischen Autoren. Politisch zumeist im liberalen oder sozialrevolutionären Lager stehend, begründeten diese die alte Meinung neu, Russlands Ökonomie kranke vor allem an der mangelnden Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft. Der epochale Akt der Bauernbefreiung von 1861 habe die wirtschaftlichen Folgen jahrhundertelanger Knechtschaft nicht wirklich korrigieren können. Daher sei die Landwirtschaft auch nicht in die Lage versetzt worden, das industrielle Wachstum im erforderlichen Maße zu tragen. Was im Regelfall des westeuropäischen Industrialisierungsprozesses «Vorbedingung» gewesen sei, habe Russland nach dessen Beginn erst herstellen müssen. Unbestreitbare Erfolge, die das Zarenreich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Bereich der Industrie dennoch vorweisen konnte, wurden dieser Interpretation zufolge nicht aufgrund, sondern trotz des landwirtschaftlichen Leistungsdefizits errungen. Sie verdankten sich in erster Linie der besonderen Anstrengung des Staates, den Mangel an bäuerlicher Kaufkraft (als idealiter hauptsächlichem Träger des ‹inneren Marktes›) durch eigene Aufträge zu ersetzen, sowie dem Import ausländischen Kapitals und anderen kompensatorischen Mechanismen. Agrarkrise und Rückständigkeit gehörten in dieser Sicht ebenso zusammen wie verschiedene «Substitutionen» und ein ökonomischer Modernisierungsprozess, der zum (prinzipiell auf die ‹Dritte Welt› übertragbaren) Modellfall einer ‹nachholenden› Entwicklung typisiert wurde.
In ihrem argumentativen Kern verband diese ‹klassische› Deutung vor allem drei negative Faktoren miteinander. Der an sich lobenswerte Grundsatz der russischen Bauernbefreiung, die Beschenkten nicht nur mit einem abstrakten Rechtsstatus, sondern darüber hinaus mit Land auszustatten, wurde demnach so unzulänglich durchgeführt, dass er sein wichtigstes Ziel verfehlte. Statt den neuen Landwirten, auf welchem Niveau auch immer, ein annähernd erträgliches Auskommen zu sichern oder ihnen gar eine vermarktbare Überschussproduktion zu erlauben, von der auch die wachsende städtisch-industrielle Bevölkerung hätte profitieren können, kam die Autokratie dem grundbesitzenden Adel (als ihrer hauptsächlichen sozialen und politischen Stütze) letztlich so weit entgegen, dass die Bauern bei der Entflechtung zwischen ihrer und der ‹herrschaftlichen› Wirtschaft in aller Regel den Kürzeren zogen. Im Durchschnitt erhielten sie weniger Land, als sie zuvor für sich genutzt hatten; obendrein mussten sie dafür einen Preis zahlen, der über dem tatsächlichen Wert lag und sie – neben den Steuern – auf Jahrzehnte mit hohen ‹Ablösezahlungen› belastete. Zu dieser ‹Landknappheit› gesellte sich ein demographischer Zuwachs, der nach moderatem Beginn in den vorangegangenen Jahrzehnten bald zu den höchsten in Europa zählte. Drittens schließlich stärkte der autokratische Staat in tiefer Sorge um die politische Stabilität auf dem Lande die überkommene Dorfgemeinde (obščina oder mir), indem er ihr zusätzlich zu ihrer Funktion als steuerlicher Solidarhaftungsgemeinde und als Landumteilungsgemeinde die polizeilichen und richterlichen Aufgaben übertrug, die der Grund und ‹Seelen› besitzende Adel bis dahin wahrgenommen hatte. Alle genannten Faktoren verbanden sich in dieser Sicht (samt ihrer jeweiligen Wirkungen) zu einem vielfach verschlungenen und nicht zuletzt wegen seiner politisch-sozialen Komponenten unauflösbaren Knoten: Der demographische Zuwachs verschärfte den Landmangel, förderte die Übernutzung allzu kleiner Flächen, minderte dadurch weiter den ohnehin kargen Ertrag und verringerte die Möglichkeit, die Produktivität durch Boden- und Anbauverbesserung zu erhöhen; zugleich erschwerte die Beibehaltung der obščina die Abwanderung überschüssiger, als ‹Esser› zur Last fallender Arbeitskräfte, derer die Industrie dringend bedurft hätte. Gesamtökonomisch ergab sich daraus im Endeffekt eine Art Teufelskreis: Die Industrie kam nur langsam vom Fleck, weil sie von der Landwirtschaft nicht unterstützt wurde; diese verfing sich in einer Dauerkrise, weil ihr die Industrie nicht half.[2]
Gegen diese ‹pessimistische› Deutung sind in den letzten Jahrzehnten mit wachsendem Nachdruck Einwände erhoben worden. Sie werfen ihr den alten Fehler retrospektiver Blickverengung und die Tendenz vor, eine vielgestaltige Entwicklung zum unaufhaltsamen Absturz in die Katastrophe der Revolution verfälscht zu haben. Nicht nur in der adeligen, auch in der bäuerlichen Landwirtschaft erkennen sie im Gegenteil bemerkenswerte Anzeichen für Innovationskraft und flexible Antworten auf die Herausforderungen der neuen Zeit. Diese Korrekturen stützen sich auf eine Reihe neu entdeckter oder neu bewerteter Tatbestände. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, so ruft man zu Recht in Erinnerung, habe nur den kleineren Teil der Bauern betroffen. Um die Jahrhundertmitte stellten die (nicht dem Adel gehörenden) Staats- und Kronbauern bereits die Mehrheit der unfreien Landbevölkerung. Sie befanden sich rechtlich wie wirtschaftlich in einer deutlich besseren Position und wurden bei ihrer Freilassung großzügiger behandelt. Und auch die Bilanz von Landgewinnen und -verlusten bei den vormaligen Leibeigenen (im engeren Sinne) selbst lässt in den Augen mancher Beobachter Spielraum für eine ‹optimistischere› Deutung: Überwiegend habe den Bauern nach der Regulierung kaum weniger Land als vorher zur Verfügung gestanden.
Den Kern der Kritik aber bilden Bedenken gegen die weitgehende Ausblendung von Möglichkeiten der Bauern, den Landmangel und seine Folgen auszugleichen. Seit langem ist auf den wachsenden Umfang von Bodenpacht und -erwerb hingewiesen worden. Dies war in der Tat eine bemerkenswerte Erscheinung: dass die ökonomisch vermeintlich Ruinierten zu den größten Aufkäufern von Land wurden, wenn auch überwiegend im Kollektiv der Dorfgemeinschaft (die als Ganze kaufte) und nicht als Einzelpersonen. Auch wenn der Zins im Falle der Pacht häufig in Gestalt von Arbeitsleistung (otrabotka) erbracht wurde und damit die alte Feudalbeziehung zwischen Grundherren und Bauern faktisch fortbestand, war der massive Übergang nichtstaatlicher agrarischer Nutzflächen aus Adels- in Bauernbesitz sicher nicht nur als Indiz äußerster Not («Hungerpacht») zu erklären. Diese Neudeutung einer bekannten Erscheinung liegt umso näher, als die Bauern auch andere Wege der Kompensation ihres Landmangels offensichtlich häufiger beschritten, als das ‹Katastrophenszenario› unterstellte. Detailstudien, die allerdings nur regional möglich sind, begründen die Vermutung, dass man die Variabilität der Bauernwirtschaften unterschätzt hat. Mittelbetriebe in der Umgebung größerer Städte gingen zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse oder zur Vieh- und Milchwirtschaft über. Andere konzentrierten sich auf Spezialkulturen wie Flachs und Rüben, um die neu entstandenen einschlägigen Fabriken zu beliefern. Beide nutzten die Chancen, die in der Urbanisierung und Industrialisierung lagen. Manches verleiht der Warnung daher Glaubwürdigkeit, die russische Landwirtschaft als Getreidemonokultur zu betrachten. Und auch die Entwicklung dieses Kernbereichs der russischen Agrarproduktion nahm im Licht neuerer Forschungen einen durchaus anderen Verlauf. Statt der oft beklagten Stagnation ergibt sich besonders für die drei Vorkriegsjahrzehnte eine deutliche Erhöhung nicht nur der absoluten, sondern auch der Pro-Kopf-Erzeugung. Mithin übertraf der Produktionszuwachs sogar die Bevölkerungsexplosion, die bislang als Urquelle des Übels galt.
Schließlich hat auch die mühselige Neuberechnung und Gewichtung der verfügbaren statistischen Gesamtdaten über das Wirtschaftswachstum und Nationaleinkommen in den letzten Dekaden des Zarenreichs Überraschendes zutage gefördert: Die Landwirtschaft trug nicht nur kräftiger als bislang gemeint zum Wachstum der Volkswirtschaft bei; sie vermochte die Bevölkerung auch besser zu ernähren als zuvor und brauchte den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Die Bauern wurden von der Steuerlast nicht erdrückt und verschafften sich trotz der fortdauernden Bindung an die obščina genug Bewegungsfreiheit, um ihre Einkommensgrundlage – ob agrarisch oder nicht – so zu gestalten, wie sie es für vorteilhaft hielten. Mit guten Gründen hat man diese Befunde als endgültigen Todesstoß für das ‹pessimistische› Modell (vor allem Alexander Gerschenkrons) bezeichnet. Denn im Endeffekt entziehen sie der gesamten Interpretation alter Art den Boden: Die Landwirtschaft leistete deutlich mehr, als die Zeitgenossen unterstellten, und behinderte auch die industrielle Entwicklung nicht.[3]
Dennoch sollte man nicht übersehen, dass einige Kernannahmen des alten Szenarios von der Neubewertung nicht berührt worden sind. Sicher hat die Revision eine Schwarzmalerei korrigiert, die großenteils in der Fixierung auf das revolutionäre Ende begründet war. Zugleich besteht Anlass, vor Gesundbeterei und der Überzeichnung ins Gegenteil zu warnen. Der Blick in die Zukunft darf zwar nicht zum Maßstab der Vergangenheit werden, aber er lehrt auch, dass die Vergangenheit diese Zukunft nicht verhinderte. Bei allem Fortschritt blieb die Landwirtschaft in einem Maße rückständig, das nicht allein mit den Verwüstungen durch Krieg und Revolution zu erklären ist. Man kann und muss ihre Bilanz im internationalen Vergleich anders bewerten, sollte sich aber davor hüten, die unleugbaren späteren Probleme allein auf externe, prinzipiell zufällige Einwirkungen zurückzuführen.[4]
Vor allem aber bleibt das politische Kernproblem offen, wie der Zusammenhang zwischen der Agrarentwicklung und jenen Bauernunruhen zu deuten ist, die – bei welcher genauen Rolle auch immer – zweifellos erheblich zu den revolutionären Erschütterungen sowohl von 1905–06 als auch von 1917 beitrugen. Genau besehen schließen beide Deutungen einander in dieser Hinsicht keineswegs aus. Die bloße Herleitung der Aufstände aus wachsender Landnot und permanenter Krise nach alter Art vermochte ohnehin nicht mehr zu überzeugen. Sie kam dem seit langem verworfenen, kruden Versuch gleich, Arbeiterunruhen aus einer absoluten Verelendung zu erklären. Komparative Studien von Aufruhr und Revolution in Stadt und Land haben dagegen vielfache und widersprüchliche Vermittlungen zwischen materieller Lage und kollektiver Aktion ans Licht gebracht, die es nahelegen, das Gewicht anderer Faktoren nicht geringer zu veranschlagen. Die bäuerlichen Vorstellungen von einer gerechten Verteilung des Landes, ihre chiliastischen Hoffnungen auf Land und Freiheit sowie die Öffnung ihrer Lebenswelt nach außen durch zunehmende Mobilität, engere Kommunikation und Kriegsteilnahme gewinnen in dieser Perspektive ebenso an Bedeutung wie die Erfahrung von Regression nach einer Phase relativer Besserung oder ungeschickte Veränderungen des Steuersystems. Zu bedenken wären ferner die Wahrnehmungs- und Handlungsveränderungen, die der Wiederanstieg der Boden(pacht)preise nach einer Baisse seit der Jahrhundertwende oder die Übernahme der Gutshöfe durch eine neue, betriebswirtschaftlich geschulte und kommerziell denkende Generation adeliger Besitzer verursachte. All diesen Faktoren zusammen kam womöglich keine geringere oder sogar eine wichtigere Rolle bei der Entstehung bäuerlicher Unruhen zu als der bloßen ökonomischen Krise. In jedem Fall sollte der sprunghafte Anstieg agrarischer Unruhen nach der Jahrhundertwende im Zusammenhang mit diesen Veränderungen gesehen werden. Dies würde nicht nur zu einer überzeugenderen Deutung führen, sondern auch dazu beitragen, die neue Sicht der agrarischen Entwicklung mit dem scheinbar querstehenden Faktum der Agrarrevolution zu versöhnen.[5]
Nach dem Ende der ersten Revolution kehrte Ruhe auf dem Dorfe ein. Es gehört zu den ungeklärten Fragen der Sozialgeschichte dieser Zeit, warum sich die Bauern von den landesweiten Arbeiterstreiks am Vorabend des Weltkriegs, anders als 1905, nicht anstecken ließen. Die Vermutung erscheint nicht abwegig, dass ihre Energien durch die Flurbereinigung und die Ausgliederung von Einzelhöfen aus der obščina im Gefolge zweier Reformmaßnahmen des neuen Ministerpräsidenten Petr A. Stolypin nach 1906 absorbiert waren. Erst der Krieg, neuerliche Arbeiterunruhen und der Zusammenbruch der Staatsgewalt änderten dies wieder. Agrarischer Sozialprotest, so darf man daraus schließen, blieb im späten Zarenreich endemisch. Sein Zündstoff lag bereit: in Gestalt einer langen einschlägigen Tradition; dem Fortbestand einer Dorfgemeinschaft, die diese Aktionsform als legitimes Mittel zur Durchsetzung bäuerlicher Interessen pflegte; einer wirtschaftlichen Lage, die der Mehrheit bei allem Fortschritt keinen Anlass zur Zufriedenheit bot, sowie einer Monarchie, die ihre integrative und charismatische Kraft durch militärische Niederlagen, innere Unruhen, mangelnde Fürsorge und einen regional tiefgreifenden mentalen Wandel auf Seiten der Bauern – als Folge sowohl des otchod als auch der Verbreitung von Dorfschulen – immer stärker einbüßte. Dieses Pulver musste nicht explodieren. Neueren Revolutionstheorien zufolge kommt der staatlichen Handlungsfähigkeit eine mindestens ebenso große Bedeutung zu wie dem Angriffspotential der Aufbegehrenden. Wie immer gab es bis zuletzt mehrere Optionen. Aber das Dorf war bei weitem nicht so friedlich, wie es schien. Die Lunte konnte jederzeit in Brand geraten.[6]
Von Anfang an bestand Einvernehmen darüber, dass die industrielle Entwicklung und die Arbeiterfrage aus der Vorgeschichte der Revolution nicht wegzudenken waren. Umstritten blieb dabei bis heute die Gewichtung. Naturgemäß hat die sowjetische Forschung dem Kapitalismus und derjenigen sozialen Kraft, die sie als seine Schöpfung und seinen Totengräber zugleich betrachtete, Vorrang eingeräumt. Aber auch nichtmarxistische Autoren haben sich der Meinung in wachsender Zahl angeschlossen, dass die revolutionäre Gärung vor allem von den Arbeitern in den Städten vorangetrieben worden sei. Dagegen stehen Überlegungen, die vom unbestreitbaren Faktum ihren Ausgang nehmen, dass das Fundament der Autokratie auf dem Dorfe lag. Der Adel half ihr zu regieren und verwalten, die Bauern hatten sie zu ernähren und zu verteidigen. Menetekel des alten Staates blieb die Gehorsamsverweigerung der Bauern. In dieser Perspektive war es, unbeschadet der entscheidenden Rolle der Arbeiter, eine agrarische, keine proletarische Revolution, der die russische Monarchie zum Opfer fiel. Die kritische Prüfung und womöglich Vermittlung zwischen diesen kontroversen Positionen muss sich an folgende Vorgänge und Tatbestände erinnern.[7]
An vorderer Stelle zogen die Reformer aus der Niederlage des Regimes im Krimkrieg (1854–56) auch die Lehre, dass Russland wirtschaftlich und technologisch zu den führenden Ländern Westeuropas aufschließen müsse. Kaum zufällig wurde die Strategie für eine solche Beschleunigung der industriellen Entwicklung bereits in diesen Jahren entworfen: Man hoffte, durch die Förderung des Agrarexports bei gleichzeitiger Sparsamkeit im Innern die Zahlungsbilanz ausgleichen, das Vertrauen in die russische Wirtschaft stärken und mittels staatlicher Initiative sowie ausländischen Engagements das Fundament für eine eigene Schwerindustrie legen zu können. Im Ganzen ist dieses Programm mit bemerkenswertem Erfolg verwirklicht worden. Das Zarenreich erklomm bei allen bleibenden Defiziten in weniger als einem halben Jahrhundert den vierten Rang unter den Wirtschaftsmächten Europas. In der Südukraine wurde mit westlicher Hilfe ein neues Zentrum der Eisenverhüttung errichtet, das die veralteten Hochöfen des Ural aus der Zeit Peters des Großen ablöste. Sankt Petersburg verwandelte sich in eine Industriestadt europäischen Zuschnitts, die nicht mehr allein von Regierungsbehörden und Adelsresidenzen lebte, sondern in wachsendem Maße vom Maschinenbau. Die Industrieproduktion wuchs in einem Tempo, das den Vergleich mit den aufstrebenden Wirtschaftsnationen des Westens nicht zu scheuen brauchte (zwischen 1883 und 1913 bis zu 5 % jährlich). Besonders große Sprünge waren dabei in den neunziger Jahren zu verzeichnen, als die Transsibirische Eisenbahn, das ehrgeizigste Projekt dieser Gründerzeit, gebaut wurde, desgleichen während der Hochkonjunktur am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Hinzu kam, dass auch ältere, in die Vorreformzeit zurückreichende Industriezweige neue Dynamik entfalteten und ins Zeitalter des Dampfantriebs und der Maschinen eintraten. Vor allem die Herstellung von Baumwolltextilien im russischen Kernland um Moskau (dem sogenannten Zentralen Gewerbe- oder Industriegebiet) eroberte neue Märkte. Zu den Käufern gehörte, wie die neue Bilanz ihrer volkswirtschaftlichen Gesamtrolle nahelegt, mehr und mehr auch die Dorfbevölkerung. Staat und ausländische Unternehmer bildeten nicht die einzigen Motoren der Industrialisierung, so wie sich diese nicht auf die Herstellung von Produktionsgütern beschränkte. Kein Zweifel, dass der Aufbruch breit genug war, um dem alten, ländlichen, adeligen Russland die Zukunft abzuschneiden, auch wenn er es noch längst nicht verdrängte.[8]
Wie überall gab die Zunahme nichtlandwirtschaftlicher Tätigkeiten der regionalen Mobilität kräftige Impulse. Trotz obščina und Passzwang strömten die Dorfbewohner in größerer Zahl in die Städte, als diese verkraften konnten. Zwischen 1869 und 1914 wuchs die städtische Bevölkerung im europäischen Reichsteil von 6,2 Mio. auf 19,5 Mio.; das entsprach einem Sprung von etwa 9,5 % auf 15,3 % der Gesamtbevölkerung. Zielpunkte der Wanderung waren zudem ganz wenige große Städte, die umso schneller aus den Fugen gerieten: Die Einwohnerschaft von Sankt Petersburg vermehrte sich im gleichen Zeitraum um mehr als das Dreifache (von 0,5 Mio. 1867 auf 2,2 Mio. 1914), die von Moskau um das Vierfache (von 0,35 Mio. 1867 auf 1,77 Mio. 1914); andere Städte wie Riga, Kiev und Odessa erreichten eine halbe Million. Auch diese Dynamik hielt dem internationalen Vergleich durchaus stand. Ganz gegen die Absicht der Agrarreform von 1861/63 bescherte die Industrialisierung auch dem Zarenreich an den Brennpunkten des wirtschaftlichen Lebens eine hektische Urbanisierung.[9]
In soziale Begriffe übersetzt, verbarg sich hinter dem Städtewachstum vor allem ein Vorgang: die Entstehung der Arbeiterschaft. Damit blieb auch Russland nicht erspart, was seine Staatsmänner als große Gefahr und seine konservativen Sozialphilosophen als Inbegriff des Verfalls der westlichen Welt werteten. Seit den Zeiten Nikolaus’ I., als man die Emanzipationskämpfe der Arbeiterschaft in England beobachtete, waren die Bestrebungen deutlich geworden, einer solchen Entwicklung vorzubeugen. Indes reichte weder die Ausstattung der ehemaligen Leibeigenen mit Land noch die Beibehaltung der obščina aus, um die Eigendynamik der in Gang gesetzten Entwicklung wirksam zu bremsen. Wenn auch langsam und mit zählebigen Eigenarten entstand im letzten halben Vorkriegsjahrhundert eine neue soziale Schicht aus überwiegend nicht landwirtschaftlich tätigen Lohnabhängigen, die nicht in die überkommene agrarisch geprägte Ordnung rechtlich und fiskalisch definierter Korporationen (soslovie) passte. Einer neueren Studie zufolge stieg ihr Anteil von gut 4 Mio. 1860 auf ca. 17,8 Mio. 1913 (bei einer Gesamtbevölkerung von 159,2 Mio. im letztgenannten Jahr, s. Tab. A–1), entsprechend einem Zuwachs von knapp 335 %. Andere Schätzungen weichen nicht signifikant davon ab.[10]
Freilich gehen solche Daten fast ausnahmslos auf sowjetische Berechnungen zurück und legen – bei Unterschieden im Detail – einen sehr breiten Begriff von Arbeiterschaft zugrunde. Dies ist insofern gerechtfertigt, als sie auch in den Städten zu einem großen Teil im Kleingewerbe zu finden und ihre Bindungen an Dorf und Land eng waren. Andererseits täuschen die Zahlen kaum unbeabsichtigt eine Dimension vor, die der Differenzierung bedarf. Die größte Gruppe bildeten, 1913 immerhin noch ein Viertel, die Landarbeiter. Sie dürften sich von Bauern nur dadurch unterschieden haben, dass sie nicht einmal eine kleine Parzelle besaßen oder pachten konnten. Auch die 3,8 Mio. Angehörigen des «Bau- und Transportwesens» wird man zu einem erheblichen Teil im bäuerlichen Milieu ansiedeln können, da hierzu die meisten Wanderberufe wie Maurer, Zimmerleute und Stukkateure gerechnet wurden. Und selbst zu den 6,1 Mio. «Industriearbeitern» (1913) zählten überaus viele, die auf dem Dorfe einen kleinen Acker bestellten. In weiten Regionen Russlands, besonders im Großraum um Moskau, hatten die langen Winter und der karge Boden stets Anlass zu gewerblicher Nebentätigkeit gegeben. Besondere Verbreitung erlangten die Leinen- und (seit Beginn des 19. Jahrhunderts) Baumwollverarbeitung, die Anfertigung von Schuhwerk, die Herstellung einfacher Metallwaren (Scheren, Schlösser), die Nagelschmiederei, Kürschnerei, Seilerei und die Erzeugung anderer, für nichtlandwirtschaftliche Tätigkeiten benötigter, regional jeweils unterschiedlicher Gegenstände (Fischnetze, Boote usw.). Dieses Kustargewerbe behielt auch in der ausgehenden Zarenzeit (und bis weit in die frühe Sowjetzeit hinein) große Bedeutung. In ihm dürfte der überwiegende Teil der drei Millionen «Industriearbeiter» Lohn und Brot gefunden haben, die außerhalb der Fabriken und Bergwerke registriert wurden. Sogar die Bergleute konnten mit guten Gründen als eine eher ländliche Gruppe gelten. Im Ural hatten sie unter der Leibeigenschaft zu den Bauern gehört, die den Erzstollen und Eisenhütten zwangsweise überwiesen worden waren und fernab der Städte ihre ländliche Lebensweise bewahrten. Im Donecbecken ging die Erschließung der Kohlevorkommen der Entstehung von Städten um einiges voraus. Außerhalb ihrer Arbeit waren die Bergleute auch hier – wie der junge Chruščev, der als Sohn eines solchen ‹Proletariers› Ziegen hütete – von Dorfbewohnern kaum zu unterscheiden.[11]
Nur der schmale Rest genügte strengeren Definitionskriterien. Erhebungen der sog. Fabrikinspektion, die Betriebe mit weniger als 16–20 Beschäftigten in der Regel nicht erfassten und als zuverlässig gelten, bezifferten die Industriearbeiterschaft im engeren Sinne auf knapp 800.000 im Durchschnitt der Jahre 1861–70, 1,64 Mio. 1891–1900 und 2,28 Mio. 1914. Dies entsprach einer Verdopplung bis zur Jahrhundertwende und einem weiteren Anstieg um ein gutes Drittel – mit einer besonderen Dynamik seit 1910 – danach. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass nicht nur ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sehr gering blieb (noch 1914 nur ca. 1,9 %), sondern auch die Grenzen zwischen Groß- und Kleinbetrieben fließend waren. Selbst in den Städten hielt sich die alte vorindustriell-handwerkliche Struktur noch lange. Größere Betriebe bestanden nicht selten aus einer Addition kleiner, weitgehend selbständiger Einheiten. Ganze Berufsgruppen wurden in ihrem Selbstverständnis und politischen Handeln von Kleinunternehmen geprägt. Gerade mit Blick auf die Rolle der Arbeiterschaft im Revolutionsprozess ist es daher angezeigt, die Lohnarbeiter dieser kleinen Werkstuben einzubeziehen. Die Schätzungen über ihre Zahl schwanken allerdings bei Angaben zwischen 1,2 Mio. bis 2,5 Mio. stark.
Selbst die Arbeiter der städtischen Großbetriebe pflegten überdies ihre Kontakte zum Dorf. Dass sie ihrem rechtlich-korporativen Status nach «Bauern» blieben, hatte nicht nur formale Bedeutung. Sie waren in ihrer Heimat registriert, mussten ihre Pässe dort verlängern lassen und ihre direkten Steuern (zumindest bis 1903) an die obščina abführen. Viele nutzten darüber hinaus auch das ihnen zugewiesene Land, das von der zurückgelassenen Familie bestellt wurde. Mehr und mehr ganzjährig in den Städten ansässig, halfen sie selbst nur bei der Aussaat und Ernte aus, konnten aber jederzeit zurückkehren: Der tiefere Grund für diesen scheinbaren Anachronismus lag darin, dass Haus, Hof und die Parzelle auf dem Dorf den einzig wirksamen Schutz gegen Arbeitslosigkeit und Invalidität bildeten. Wer durch Krankheit oder Alter in Not geriet, konnte in der Regel nur in der Heimat überleben. Noch 1907 gab die Hälfte der Moskauer Arbeiter aus diesen und anderen Gründen an, dass ihre Äcker bestellt wurden; 90 % von ihnen überwiesen beträchtliche Summen an dörfliche Empfänger. In Sankt Petersburg unterhielt im selben Jahr von den Druckern, die als Kern der urbanisierten «Kader» galten, jeder zweite Beziehungen solcher Art zum Dorf.[12]
Allerdings waren auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten. Die Jahre städtischer Existenz fielen nicht immer mit der Dauer der Fabrikarbeit zusammen. Vor allem im Zentralen Gewerbegebiet mit seiner langen Tradition bäuerlichen ‹Hausfleißes› gab es einen größeren Stamm von Arbeitern, der regelmäßig, wenn auch saisonal, an fremden Werkbänken stand. Dabei wurde die anfängliche Nebentätigkeit zum Haupterwerb. Zugleich nahm der Anteil derjenigen zu, deren Väter schon in der Fabrik gearbeitet hatten. Kontinuierliche Tätigkeiten über zehn und mehr Jahre waren keine Seltenheit mehr. Auch zeitgenössische Sachkenner aus der «Fabrikinspektion» meinten, dass man solche Vorprägungen nicht einfach ignorieren könne. Sicher blieben gerade die «erblichen» Arbeiter, wie die Sowjethistoriker sagten, oft besonders tief im Dorf verwurzelt, weil auch diese Bindungen über Generationen weitergegeben wurden. Dennoch waren sie keine Neulinge, die den Pflug erst kurz zuvor gegen eine Werkbank eingetauscht hatten.
Nachhaltiger aber veränderte sich die Physiognomie des russischen Arbeiters durch einen anderen Vorgang: den Zuwachs an Bildung, wie einfach diese immer bleiben mochte. Noch zu Beginn der 1880er Jahre ergaben erste statistische Erhebungen, dass in Moskau nur etwa 36 % lesen und schreiben konnten, wobei die Quote bei den Männern deutlich höher lag. Im ersten Jahr der neuen Ära (1918) verfügten immerhin schon 64 % aller Industriearbeiter im europäischen Russland, bei den Jugendlichen unter 14 Jahren sogar 80,3 %, über solche Elementarkenntnisse. Allerdings dauerten geschlechtsspezifische und regionale Unterschiede an. Unter den Frauen fanden sich nach wie vor erheblich mehr Analphabeten, dementsprechend auch in den Industriezweigen, in denen sie überwogen, wie in der Nahrungsmittel- und Textilherstellung. Den ersten Rang nahmen nicht nur in dieser Hinsicht die Beschäftigten der Metallindustrie ein. Insgesamt galt, dass die städtischen Arbeiter, nach ihrem Bildungsstand zu urteilen, in deutlich höherem Maße fähig waren, sich aus Flugblättern und Zeitungen zu informieren, als die übrige, zumeist bäuerliche Bevölkerung, die 1897 noch zu knapp 80 % aus Analphabeten bestand.[13]
So wird man dieser zentralen, seit der zeitgenössischen Debatte zwischen den Marxisten und ihren Gegnern heftig umstrittenen Frage am ehesten durch eine doppelte Antwort gerecht: Einerseits liegt auf der Hand, dass die russische Arbeiterschaft bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus, wie die Slavophilen behauptet hatten und die Anhänger des russischen Sozialismus wiederholten, die Muttermale ihres dörflichen Ursprungs nicht verlor. Das konnte angesichts der kurzen Strecke, die das Reich auf dem Wege zur Industrialisierung erst zurückgelegt hatte, kaum anders sein. Andererseits war in Verbindung mit ihrem deutlichen quantitativen Wachstum eine Tendenz zur Verstetigung und Herausbildung einer eigenen sozialen Identität, wenn man so will: zur Konstituierung als soziale Klasse, offenkundig. Die russische Arbeiterschaft befand sich am Vorabend der Revolution in der Tat «zwischen Feld und Fabrik». Darin sollte man allerdings weniger eine Besonderheit sehen als einen weiteren Aspekt der Phasenverschiebung und Rückständigkeit: Das Zarenreich holte nach, was andernorts früher geschehen war, wenn auch schneller, unter Veränderung der ‹Verlaufsfiguren› und mit anderen Ergebnissen.[14]
Mit den Arbeitern kam der Protest. Nicht zuletzt darin irrten die autokratischen Reformer, dass sie meinten, zur öffentlichen und massenhaften Äußerung von Unzufriedenheit durch die neue Schicht werde es nicht kommen. Wache Zeitgenossen konnten sich jedoch schon in den ersten Anfängen der Industrialisierung vom Gegenteil überzeugen. Ende Mai 1870 verlangten einige Dutzend Beschäftigte der größten Baumwollspinnerei in Sankt Petersburg höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Obwohl der anschließende kurzfristige Ausstand friedlich verlief, zeigte sich die Öffentlichkeit verstört. Sie begriff, dass sich eine neue Form des gesellschaftlichen Konflikts ankündigte, deren Sprengkraft nicht abzusehen war. Die weitere Entwicklung bestätigte solche Befürchtungen. Was sich damit abzeichnete, trat im Januar und Oktober 1905 schließlich ein: Als ein Wachbataillon vor dem Winterpalast am 9. Januar auf einen friedlichen Demonstrationszug von Arbeitern schoss, die dem Zaren nur eine untertänige Petition hatten überreichen wollen, löste dies eine landesweite, das Regime bis in die Grundfesten erschütternde Streikwelle aus. Gewiss lässt sich diese Wirkung ohne die äußere Schwächung nach der blamablen Niederlage im Krieg gegen Japan kaum erklären. Desgleichen ist unbestritten, dass sie durch die Loyalitätsverweigerung der Intelligenz seit dem Frühjahr und das Aufbegehren der Bauern im Herbst wesentlich verstärkt wurde. Die Intelligenz formulierte die Ideen der Bewegung und gab ihr mit dem Ruf nach politischer Freiheit und Demokratie ein Ziel. Die Bauern sorgten durch die Gewalt ihres Vorgehens für den nötigen Nachdruck. Aber es waren die Arbeiter, die dem Regime völlig ohne Zutun der Parteien als Erste den Gehorsam aufkündigten und die Mobilisierung in der entscheidenden Phase bis zu jenem Punkt vorantrieben, an dem die «Selbstherrschaft» im alten (unbeschränkten) Sinne zu bestehen aufhörte. Der Generalstreik in der zweiten Oktoberwoche 1905, der die Zusage einer Verfassung erzwang, war im Wesentlichen ihr Werk.[15]
Dem Einlenken der Autokratie folgten die «Tage der Freiheit». Zwei Monate lang hatte die «Gesellschaft» Gelegenheit, organisatorische Grundlagen für ihre neuen Bewegungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Arbeiter nutzten sie auf ihre Weise: Unter tatkräftiger Mitwirkung der engagierten Intelligenz gründeten sie zum einen einen Rat (sovet) als oberstes Repräsentativgremium, zum anderen branchenmäßig organisierte Gewerkschaften. Der Rat war im Kern, auch wenn er sich als revolutionäre Gegenregierung verstand, ein zentrales Streikkomitee. Für diesen Charakter spricht nicht zuletzt sein Ende: Als die Arbeiter seinen Aufrufen, die Werkbank zu verlassen, nicht mehr folgten, verfiel seine Macht. Anfang Dezember konnte die zarische Polizei über 250 Delegierte ohne Gegenwehr verhaften. Größere faktische (nicht symbolische) Wirkung entfalteten die Gewerkschaften. Was schon seit dem Frühjahr auf den Weg gekommen war, brach sich nach dem Generalstreik angesichts der Ohnmacht der Staatsgewalt unbehindert Bahn. Als die Autokratie wieder Luft schöpfte und die Kraftprobe mit den Aufständischen in Moskau wagte, hatte die Arbeiterbewegung bereits ein gutes Stück auf dem Wege zur Organisierung zurückgelegt. Der Traum umgehender politischer Freiheit und materieller Besserstellung zerstob zwar Ende Dezember in den Barrikadenkämpfen des Arbeitervororts Presnja. Aber der einjährige Kampf war nicht vergebens: Er hatte Realitäten geschaffen, die der Staat auch nach der endgültigen Wiederherstellung seiner Zwangsgewalt durch das Diktat eines restriktiven Wahlgesetzes am 3. Juni 1907 nicht wieder beseitigen konnte.[16]
Denn dieser illegale Akt verschaffte dem Zaren zwar ein gefügiges Parlament und öffnete der Verfolgung unliebsamer politischer Parteien wieder Tür und Tor. Doch wurde weder das Staatsgrundgesetz selbst aufgehoben, noch ließ sich ein effektives Polizeiregime errichten, ohne die Gefahr einer Wiederholung der Ereignisse von 1905 heraufzubeschwören. Zur Strategie der begrenzten Kooperation mit der «Gesellschaft» und der kontrollierten Reform von oben gehörte auch die Duldung eines Freiraums, in dem die Gewerkschaften überleben konnten. Das Regime verstrickte sich im Widerspruch: Gewiss suchte es mit allen Mitteln gerade die Arbeiterorganisationen zu zerschlagen, in denen es nicht zu Unrecht ein Saatbeet des Massenprotests sah; zugleich verpflichtete es sich aber zu mehr Rechtsstaatlichkeit, die auch die Arbeiterschaft nicht aussparen konnte. Viele Gewerkschaften passten sich den neuen Verhältnissen an. Sie suchten und fanden Nischen für legale Tätigkeiten. Aus Agenturen der Revolution wurden Bildungsvereine, Unterstützungskassen und Konsumgenossenschaften. Manches spricht dafür, dass die russischen Gewerkschaften den Weg zu «reformistischen» Organisationen westeuropäischer Prägung eingeschlagen hatten und eine breite Strömung innerhalb der revolutionären Parteien bereit war, ihnen dabei zu folgen.[17]
Diese Entwicklung brach schon vor dem neuen Krieg jäh ab. Den Anstoß dazu gaben Schüsse, die Soldaten am 4. April 1912 auf eine friedliche Versammlung streikender Arbeiter der Goldminen an der sibirischen Lena abfeuerten und denen zahlreiche Tote und Verwundete zum Opfer fielen. Der Vorfall ähnelte den Januarereignissen des Jahres 1905 ebenso wie die städtischen Massenunruhen, die er auslöste. Insgesamt hat man errechnet, dass die Zahl der Streikteilnehmer im europäischen Russland von 105.000 im Jahre 1911 auf 725.000.1912 und 1,45 Mio. in den ersten sieben Monaten des folgenden Jahres stieg, entsprechend etwa 38,8 % (1913) bzw. 68,2 % (1914) aller Industriebeschäftigten. Die Unruhen erreichten Anfang Juli einen dramatischen Höhepunkt, der das literarische Zeitgefühl vom ‹Tanz auf dem Vulkan› endgültig zu bestätigen schien: In der Hauptstadt mussten Polizei und Kosaken Stellung beziehen, um die Paläste und eleganten Kaufhäuser am Nevskij-Prospekt vor den Bewohnern des Arbeitervororts Vyborg zu schützen.[18]
Lange Zeit ging man davon aus, dass auch die politisch-sozialen Wirkungen dieser neuen Unruhe offen zutage lägen: Die Arbeiter wurden radikaler und hörten den Verfechtern militanter Parolen aufmerksamer zu. Was die menschewistischen Sozialdemokraten bei den Wahlen zur vierten Duma im Herbst 1912 noch als Zufall abtaten, verursachte auf dem Gründungskongress der wiederzugelassenen Metallarbeitergewerkschaft von Sankt Petersburg im April 1913 eine Sensation: Die Delegierten entschieden sich für ein mehrheitlich bolschewistisches Leitungsgremium. Unklar bleibt freilich, welche Folgen dieser Führungswechsel hatte. In der konkreten Politik änderte sich wenig, und die Bolschewiki vor Ort verstanden sich auch nicht als ausführende Organe der Exilführung. Außerdem waren die Unterschiede zwischen den Branchen ebenso erheblich wie die regionalen. So wird man eher von einer diffusen, organisatorisch nicht kanalisierten Radikalisierung der Arbeiterschaft sprechen. Auch in dieser Hinsicht lag das Jahr 1914 nicht, wie einst in vorschneller Verallgemeinerung pointiert formuliert worden ist, auf «halbem Weg» zum Jahr 1917. Aber der Stimmungsumschwung in ‹proletarischen› Schlüsselgruppen der strategisch so entscheidenden Hauptstadt steht außer Zweifel.[19]
Umso größeres Gewicht kommt der Frage nach den Gründen für diese Entwicklung zu. Auch wenn man von einer erheblichen Wirkung extremistischer Agitation ausgeht, bleibt zu beantworten, welche Faktoren den Nährboden dafür bereitet haben. Ein unbestrittener Vorgang bietet sich als ‹Folie› an: Seit 1909 brach sich ein dynamischer Konjunkturaufschwung Bahn, der die Lähmung der Wirtschaft durch Krieg und Revolution ablöste und neue Arbeitskräfte in die Städte spülte. Drei von vier Arbeitern der Metall- und Maschinenbauindustrie, der weiterhin eine zentrale Rolle in der revolutionären Bewegung zufiel, waren Neulinge (71,5 %). Die meisten kamen nach wie vor vom Dorf, aber ihre Zahl war bereits relativ geringer als in den 1890er Jahren. Dementsprechend wuchs der Anteil der Stadtgeborenen, die das Fabrikleben und das Elend der übervölkerten Industrievororte von Kindheit an kannten, zugleich ein Mindestmaß an Schulbildung genossen hatten und mit den Formen kollektiver Interessenvertretung vertraut waren. Ein Strukturwandel fand statt, der die Mentalität vor allem der hauptstädtischen Arbeiter veränderte: Zeitgenössische Beobachter sagten ihnen nach, impulsiver und ungestümer, dabei aber auch informierter und artikulationsfähiger zu sein als die ältere Generation. Eine kritische Masse bildete sich, aus der die Meinungsführer der organisierten und nichtorganisierten Bewegung hervorgingen.[20]
Auch beim Kernproblem, der Rolle dieser beiden Großgruppen im Radikalisierungsprozess, zeichnet sich inzwischen ein Konsens ab. Lange Zeit galt die Flut neu rekrutierter Arbeit als Wurzel des Übels. Ihrem Lebenszusammenhang entrissen, ungewohnter Fabrikdisziplin unterworfen und in menschenunwürdige Elendsquartiere gepfercht, schienen sie zu anarchischem Aufbegehren prädestiniert. Entwurzelung und Entfremdung, so unterstellte man in Anlehnung an die menschewistische Deutung, erzeugten Unzufriedenheit und spielten militanten Agitatoren in die Hände. Unbeschadet der produktiven Impulse, die von ihr ausgingen, hat diese Argumentation der empirischen Überprüfung nicht standgehalten. Eingehende Detailstudien haben gezeigt, dass die bäuerlichen Zuwanderer die ihnen zugeschriebene zentrale Funktion ebenso wenig erfüllten wie die stadtgeborenen Neulinge. Wohl verliehen beide Gruppen der Arbeiterschaft neue Züge: ein Element der dörflichen Neigung zur spontanen Empörung (buntarstvo) die einen, ein ausgeprägteres Interessenbewusstsein die anderen. Aber sie lösten die überkommenen Führungskader der Gewerkschaften nicht ab. Die Alters- und Herkunftsstruktur war gemischt. Rückgrat der Bewegung blieb die qualifizierte, überdurchschnittlich verdienende, urbanisierte, großenteils von handwerklichem Bewusstsein geprägte «Arbeiteraristokratie», die außerdem durch die erste Revolution an politischer Erfahrung gewonnen hatte. Sie fand sich auch nicht primär in riesigen Fabrikhallen der hauptstädtischen Großunternehmen, wie die sowjetische und die westliche Forschung lange Zeit gleichermaßen meinten. Der typische Arbeiter, der die Werkbank verließ, um auch politische Forderungen zu stellen, kam vielmehr aus einer mittelgroßen Maschinenbaufabrik, die er aufgrund seiner Qualifikation auch im Krieg nicht verlassen musste. Manches spricht deshalb dafür, die hauptsächliche Ursache der Radikalisierung des städtischen Sozialprotests vor und während des Krieges nicht im Identitätsverlust, sondern umgekehrt in einem Zuwachs an kollektivem Identitätsbewusstsein vor allem der Facharbeiter zu suchen. Nicht Entwurzelung, sondern Verwurzelung führte zu jener Streikwelle, die das alte Regime schon vor Kriegsausbruch in Bedrängnis brachte.[21]
Bei alledem behält jedoch auch die Erklärungsfigur der ungeduldigen Handlung aus Enttäuschung ihr Gewicht. Ein erheblicher Teil der Protestenergie, die seit April 1912 manifest wurde, dürfte unerfüllten Erwartungen anzulasten sein. Die Zulassung der Gewerkschaften im März 1906 und ihre relativ unbehinderte Tätigkeit bis zum Juni 1907 hatten Ansprüche erzeugt, die nach dem Juniumsturz enttäuscht wurden. Diese «Frustration» zunächst geweckter Hoffnungen – darin dürften ältere Hypothesen der soziologischen Revolutionstheorie ebenso wie der Schöpfer des einschlägigen locus classicus Tocqueville ihr Recht behaupten – zählte allemal zu den fatalsten Fehlern, die ein Ancien Régime begehen konnte.[22]
Von den sozialen Problemen nicht zu trennen war die Entstehung oppositioneller politischer Bewegungen. Was konservative Staatsmänner befürchtet hatten, traf ein: Die Modernisierung ließ sich nicht auf die Wirtschaft und einige sozialstrukturelle Anpassungen beschränken, sie griff auf die Herrschaftsverfassung über. Der Staat selbst stellte auch diese Weiche. Frühzeitig erkannte er, dass seine Ziele ohne flankierende Reformen der Verwaltung und Sozialverfassung nicht erreichbar waren. Mit gutem Grund schnürten die «aufgeklärten Bürokraten», die nach dem Desaster des Krimkrieges die innere Politik bestimmten, ein ganzes Bündel von Maßnahmen zur Wiederherstellung von Russlands Kraft und Geltung. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, die neue Wirtschaftspolitik, die Polizei- und Justizreform (1862/64), die Einführung provinzialer Selbstverwaltungskörperschaften (zemstva, 1864), die neue Stadtordnung (1870), die allgemeine Wehrpflicht (1874) und die Abschaffung der Kopfsteuer (1883), die noch von Peter dem Großen stammte – dies alles gehörte zusammen. Die Fachleute in den Ministerien verstanden, dass die gesamte innere Organisation des Landes erneuert werden musste. Davon konnte weder die Gesellschaft noch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat ausgenommen bleiben.[23]
Schon während der Vorbereitung der großen Agrarreform geschah Ungewöhnliches. Personen und Gruppen ohne Mandat meldeten sich zu Wort und trugen ihre Vorschläge zur Lösung des Problems vor. Eine neue Öffentlichkeit bildete sich, die den Anspruch erhob, gehört zu werden. Sie tat dies in korporativen Versammlungen oder in neuen Zeitschriften, in denen sie sich so frei äußern konnte wie nie zuvor. Die publizistische Debatte war eine Angelegenheit der großen Städte und erzeugte manche scharfen Töne. Die ständischen Erörterungen fanden überwiegend in den Räumen der Adelsgesellschaften statt. Hier dachte man furchtsamer, schwankte zwischen Protest gegen die Unterminierung der eigenen Lebensgrundlagen und Zustimmung zu einem Aufbruch, der die angeschlagene Stabilität des Staates retten sollte.
In dieser ersten Regung politischer Eigenständigkeit der «Gesellschaft» waren somit bereits die Keime der künftigen Hauptströmungen zu erkennen. Aus der radikalen Kritik eines Alexander Herzen (A. I. Gercen) oder N. G. Černyševskij ging eine revolutionäre Bewegung hervor; sie verschrieb sich dem Ideal einer sozialistischen Gesellschaft, wenn auch in höchst unterschiedlicher Gestalt, und zerfiel seit den achtziger Jahren ihrerseits in ein marxistisches und ein agrarsozialistisches Lager. Die maßvollen Stimmen fanden in den zemstva bald ein Forum von wachsender Resonanz. Hier entstand Lokal- und Regionalpolitik, die weitgehend in den Händen des landsässigen Adels lag. Nicht zuletzt das große Interesse an diesen «Landschaften» zeigte jedoch an, dass mit der partiellen Heranziehung der «Gesellschaft» zur Bewältigung staatlicher Aufgaben unweigerlich die Frage weitergehender Mitwirkung aufgeworfen worden war. Mochte sich die Autokratie auch noch einige Jahrzehnte behaupten, die Modernisierung setzte auch in Russland die Ausweitung politischer Partizipationsrechte mit dem letzten Ziel einer Demokratisierung auf die Tagesordnung.
Aus der Eigenart der russischen sozialen und politischen Verfassung ist am ehesten zu erklären, dass frühsozialistische Kräfte zuerst erstarkten und einige Jahrzehnte die politische Bewegung beherrschten. Solange die «Selbstherrschaft» ihren Namen zu Recht trug, verfielen nichtautorisierte öffentliche Äußerungen und erst recht Handlungen grundsätzlich dem Verdikt, Opposition zu schüren. Dies drängte sie in eine Frontstellung, die radikalen Forderungen nach einem gewaltsamen Umsturz und der Schaffung einer völlig neuen Gesellschaft Vorschub leistete. Auch eine Schicht stand bereit, um solchen Gedanken und Bestrebungen Aufmerksamkeit zu verschaffen: die Intelligenz im weltanschaulichen Sinn. Ein Generationswechsel von erheblicher Tragweite fand statt. Die «reuigen Edelleute» vom Schlage eines Herzen oder Bakunin, Abtrünnige eines privilegierten Standes, machten jüngeren Vertretern von zumeist bescheidener Herkunft Platz, die nichts anderes als ihre geistige Qualifikation besaßen. Die «Söhne» taten dies zumeist staatsfern, als Publizisten, Literaten oder Hauslehrer. Sie erhoben Gesellschaftskritik und politisches Räsonnement zu ihrer Hauptaufgabe, waren die ersten Intellektuellen von Beruf. Im Zuge des sozialen Wandels erhielten sie Unterstützung durch eine rasch wachsende Zahl von technischen und sonstigen Spezialisten. Eine breite Schicht aus Ärzten, Lehrern, Agronomen und Ingenieuren formierte sich, deren radikal gestimmte Mitglieder zum ergiebigsten Reservoir der revolutionären Elite wurden.
Einen ersten Höhepunkt erreichte die russische revolutionäre Bewegung in den siebziger Jahren. Wer um die Jahrhundertwende Rang und Namen unter den Vorkämpfern des Sozialismus gleich welcher Richtung besaß, war in dieser bald verklärten Zeit politisch erzogen worden. Er hatte in endlosen Debatten zwischen friedlichen «Aufklärern» und anarchistischen Propagandisten der Tat Farbe bekannt und war im «verrückten Sommer» 1874 mit Hunderten Gleichgesinnter aufs Dorf gezogen, um die Bauern gegen die Obrigkeit aufzuwiegeln. Ihm war die bittere Enttäuschung nicht erspart geblieben, dass die Umworbenen den Städtern feindselig begegneten und sie eher verprügelten, als ‹ihren› Zaren beleidigt zu sehen. Umso eher hatte er die Notwendigkeit organisierter Agitation erkannt und war 1876 der ersten überregionalen revolutionären Gruppierung im Zarenreich, der (zweiten) Zemlja i Volja (Land und Freiheit), beigetreten. Als dennoch Erfolge ausblieben, gehörte er eventuell zu jenen, die es für zwecklos hielten, weiterhin nur friedlich in Geheimzirkeln für die ‹Befreiung› des Volkes zu werben. Stattdessen drängten diese Revolutionäre zu radikalen Aktionen und schreckten in blinder Ungeduld sogar vor dem Äußersten, dem «Schlag ins Zentrum der Zentren», nicht zurück. Der Zarenmord sollte zuwege bringen, was Agitation und Aufklärung nicht hatten bewirken können: die Initialzündung für den Volksaufstand.
In der Tat erreichte die Narodnaja Volja (Volkswille oder Volksfreiheit) ihr Nahziel. Am 1. März 1881 wurde der einst gefeierte «Befreier-Zar» Alexander II. im dritten Versuch ermordet. Der Anschlag erschütterte die alte Ordnung bis ins Mark und hinterließ ein tiefes Trauma. Was aber ausblieb, war die Erhebung der Massen. Weder Bauern noch Arbeiter sahen sich veranlasst, den Keulenhieb gegen die Autokratie für einen Umsturz zu nutzen. Augenfälliger ließ sich der Realitätsverlust der Revolutionäre nicht demonstrieren. Insofern konnte sich eine Minderheit der zemlevol’cy bestätigt sehen, die sich dem Terror als ultima ratio der Politik verweigert hatte. Sie fand zu einer Gruppe zusammen, aus der nach längerer theoretischer Neuorientierung die russische Sozialdemokratie hervorging.
In den siebziger und achtziger Jahren wurden auch die theoretischen Konzepte formuliert, von denen sich die Bewegung leiten ließ. Die Kernideen teilte man mit Herzens «russischem Sozialismus», jener eigenartigen Synthese von westlichem Frühsozialismus und slavophil-nationalem Sendungsbewusstsein: Skepsis gegenüber dem Segen der westlichen Zivilisation, verbunden mit der Zuversicht, dass Russland berufen sei, seinen eigenen Weg zur herrschaftsfreien Gesellschaft zu finden. Diese Hoffnung gründete auf dem angeblich urslavischen Kollektivismus der russischen Bauern samt seiner sozialen Organisationsformen, insbesondere der obščina (oder mir). Wo man eigentumsfernen, natürlichen Assoziationsgeist lebendig sah, glaubte man nur die repressive politische Macht beseitigen zu müssen, um eine bessere Ordnung des menschlichen Zusammenlebens errichten zu können. Russland schien nicht genötigt, die harte Schule des Kapitalismus zu durchlaufen und das Leid der bürgerlichen Klassenkonflikte auf sich zu nehmen: Es konnte in dieser Sicht, gestützt auf die Unverderbtheit des Dorfes, direkt zum Sozialismus übergehen.[24]
Wie erfolglos das gefeierte Attentat auf Alexander II. genau besehen war, brachte die Friedhofsruhe zutage, die in den achtziger Jahren herrschte. Auch wenn der Untergrund trotz der Zerschlagung der Narodnaja Volja lebendiger blieb, als man lange gemeint hat, unterband das strenge Regime des neuen Zaren (Alexander III., 1881–1894) bedrohliche Aktivitäten doch effektiv. Nicht nur die revolutionäre, auch die übrige oppositionelle Bewegung beugte sich dem Diktat eines Herrschers, der sich programmatisch als Autokrat verstand. Es bedurfte einer Katastrophe, die (fälschlicherweise) staatlichem Versagen angelastet wurde, um eine Wende herbeizuführen. Die verheerende Hungersnot von 1891/92 brachte viele Zeitgenossen zu der Einsicht, moralisch zum Kampf gegen die Autokratie, mit welchen Mitteln und zu welchem Ziel auch immer, verpflichtet zu sein. Von diesem neuerlichen Erwachen der Intelligenz profitierten auch die Veteranen der siebziger Jahre. Das narodničestvo erlebte eine Renaissance, die im Winter 1901/02 in die Gründung der Sozialrevolutionären Partei (PSR) mündete. Weit weniger im Bewusstsein der Nachwelt verankert als die Helden der Frühzeit, bildete sie die erste umfassende Föderation derer, die gegen den aufstrebenden Marxismus bei aller Anerkennung des industriellen Fortschritts an der primären Bedeutung des Dorfes für den Aufbau des Sozialismus in Russland und an ihren geschichtstheoretischen Prämissen festhielten. Trotz mancher Anleihen vor allem bei reformistischen Denkern der europäischen Sozialdemokratie beharrte ihr führender Theoretiker V. M. Černov auf der Grundeinsicht der «subjektiven Soziologie» der siebziger Jahre: dass die ‹kritisch denkende Persönlichkeit› (P. L. Lavrov) letzter Motor des gesellschaftlichen Fortschritts sei.
Damit entfiel nicht nur das ‹revolutionäre Monopol› einer Klasse, sondern auch jede Vorstellung eines gesetzmäßig sich vollziehenden historischen Prozesses. In der sozialrevolutionären Theorie gab es keine feste Abfolge von Stufen, die Russland zu durchlaufen hatte. Eine «bürgerliche» Revolution musste der sozialistischen nicht vorangehen, der Kapitalismus sich nicht erst entfalten, bevor es erlaubt war, ihn zu stürzen. Die Sozialrevolutionäre hielten es für richtig, ihn so bald wie möglich abzuschaffen, zumal er die Masse der Bauern noch kaum berührt habe. Sie konnten ohne Zögern die Losung von der «Sozialisierung des Landes» ausgeben und zu jener spontanen Landnahme – denn nichts anderes verbarg sich hinter dieser Forderung – aufrufen, die seit Jahrhunderten Ziel unzähliger Bauernaufstände gewesen war. Ihre Revolution brauchte sich keine geschichtsphilosophischen Zügel anzulegen: Sie war eine Empörung aller Unterdrückten in Stadt und Land.[25]
Nicht unähnliche, in der unausgewogenen Struktur der russischen Wirtschaft und Gesellschaft wurzelnde Probleme plagten unter umgekehrten Vorzeichen die Sozialdemokraten. Mussten die Neo-Narodniki der beschleunigten Industrialisierung Rechnung tragen, so wurde den russischen Marxisten die Zählebigkeit der dörflichen Traditionen zum Ärgernis. In mancher Hinsicht taten sie sich bei dem Versuch, Theorie und Realität zur Deckung zu bringen, schwerer als ihre populistischen Rivalen – hatten sie sich doch einer Theorie verpflichtet, die ausschließlich aus der westeuropäischen Erfahrung abgeleitet worden war. In der Diskrepanz zwischen vorgegebener Deutung und einer Wirklichkeit, die sich ihr bei allem Aufbruch in die Moderne nicht fügen wollte, lag ein Geburtsfehler der russischen Sozialdemokratie. Die meisten der unaufhörlichen Strategie- und Theoriedebatten und fast alle Kurskorrekturen hatten (mindestens bis zur ‹Stalinschen Revolution›) hierin ihren tieferen Ursprung.
Die Rezeption des Marxismus im Zarenreich sollte im Zusammenhang mit dessen Eintritt ins industrielle Zeitalter gesehen werden. Was die zeitliche Parallelität nahelegt, findet eine inhaltliche Stütze: Zumal in seiner frühen Form stand und fiel er mit dem universalen Anspruch und der Vorhersage, dass sich der Kapitalismus auch die russische Wirtschaft und Gesellschaft unterwerfen werde. G. V. Plechanov entwickelte diese These zu Beginn der achtziger Jahre in der Auseinandersetzung mit dem narodničestvo, dem er selbst von Beginn an angehört hatte. Die Gruppe der Befreiung der Arbeit, 1883 im Schweizer Exil gegründet, war Fleisch vom Fleische der Zemlja i Volja. Wie die terroristische Taktik der Narodnaja Volja entsprang sie der Enttäuschung über die Apathie der Bevölkerung, besonders der Bauernschaft, und wie jene schoss sie im Bemühen um eine überzeugende Alternative über ihr Ziel hinaus. Vieles spricht dafür, den deterministischen Grundzug des Plechanovschen Marxismus – von Einflüssen zeitgenössischer evolutionistischer Theorien abgesehen – auch als Ausdruck des Bestrebens zu begreifen, sich unmissverständlich von den Fehlern der Vergangenheit zu distanzieren. Es war nicht zuletzt der Legitimationszwang des Renegaten, der dem «Vater des russischen Marxismus» die Feder führte.
Indem die Sozialdemokraten das städtische Proletariat zur entscheidenden Triebkraft der Revolution im Zarenreich erklärten, schrieben sie der kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung einen Entwicklungsgrad zu, der erst noch herzustellen war. Der russische Marxismus nahm den Charakter einer Industrialisierungsideologie an. Damit entsprach er einerseits einem prägenden Zug der Zeit. Es war kein Zufall, dass er in den neunziger Jahren den Zenit seines Einflusses erreichte. Offensichtlich stärkte der stürmische Aufbruch dieser Ära, der im Bau der Transsib ein säkulares Symbol fand, seine Überzeugungskraft. Angesehene Intellektuelle, wie die jungen Ökonomen P. B. Struve und M. A. Tugan-Baranovskij, sahen in ihm das Gedankengebäude, das die Signatur der Gegenwart am ehesten zu begreifen half. Der Marxismus drang in die Universitäten ein und wurde auch für maßvolles, ‹liberales› Reformdenken attraktiv. Andererseits erwuchs ihm aus dem einseitigen Bezug auf eine großenteils noch latente Wirklichkeit ein unlösbares Problem, das seine Glaubwürdigkeit empfindlich schmälerte.
Die Spaltung schon zu diesem frühen Zeitpunkt kam nicht von ungefähr. Sie hatte sich bereits in den Strategiedebatten der neunziger Jahre angekündigt. Im Kern ging es um die Entscheidung zwischen sehr verschiedenen Vorstellungen über Charakter und Struktur der Partei. Geführt von Ju. O. Martov, plädierten die künftigen Menschewiki (Minderheitler) für eine prinzipiell offene, demokratische Arbeiterpartei. In den Grenzen der marxistischen Theorie wollten sie Raum lassen für unterschiedliche Grade des Engagements und die Kooperation mit anderen oppositionellen Richtungen. Dem hielt Vladimir Il’ič Lenin Formulierungen entgegen, die – gestützt auf restriktive Mitgliedschaftsbedingungen – eine strengere Parteidisziplin und die Forderung zu verwirklichen suchten, die er kurz zuvor in seiner berühmten Programmschrift Was tun? (1902) erhoben hatte: eine schlagkräftige Kaderpartei von Berufsrevolutionären aufzubauen. Gewiss sprach manches für sein Argument, dass man der Autokratie nicht mit «Handwerkelei» und unverbindlichem Geplauder in «Aufklärungszirkeln» beikommen könne. Aber Hellsichtige erkannten schon zu dieser Zeit, dass der Preis der angestrebten Waffengleichheit hoch war: Strukturen wurden geschaffen, die der innerparteilichen Demokratie im Wege standen und in der revolutionären Bewegung Wesensmerkmale des verhassten Staates heimisch machten. Wie bekannt, setzten sich Lenin und seine Anhänger auf dem zweiten Parteitag (1903) durch, nachdem ihnen der Auszug einer dritten Gruppierung zum Abstimmungssieg verholfen hatte. Sie konnten sich fortan den propagandistischen Vorzug zunutze machen, als Bolschewiki (Mehrheitler) aufzutreten.
Demgegenüber war das Parteiprogramm noch unumstritten. Bolschewiki wie Menschewiki hielten es für verfrüht, den Übergang zum Sozialismus anzustreben. Beide gingen davon aus, dass die «feudalen Überreste» im Zarenreich noch kräftig seien und dessen Sturz die entstehende bürgerliche Gesellschaft erst wirklich freizusetzen habe. Der Arbeiterpartei fiel somit die Aufgabe zu, dem Klassenfeind zur Herrschaft zu verhelfen. Welch abträgliche Folgen sich daraus ergaben, wurde insbesondere in der Agrarfrage sichtbar, deren politische Sprengkraft man als Ausfluss eines vermeintlich gestrigen Problems aufs Gröbste unterschätzte. Auch die paradoxe Konstruktion einer stellvertretenden Revolution für das unterentwickelte Bürgertum musste ihre praktische Tragfähigkeit erst noch erweisen. Und völlig offen blieb, wie die spätere sozialistische Ordnung funktionieren sollte, wenn das Proletariat, anders als Marx unterstellt hatte, nur eine Minderheit der Bevölkerung umfasste. Sicher waren solche Fragen nicht akut. Aber die Erleichterung darüber hob das Dilemma nicht auf, dass die Sozialdemokraten die Folgen der Rückständigkeit theoretisch wie taktisch nur unzureichend verarbeitet hatten.[26]
Eine Opposition, die auf legale Mittel setzte, entstand später als die revolutionäre Bewegung. Das hatte den schon erwähnten Grund: Innerhalb der staatlichen Ordnung war kein Platz für abweichende Meinungen. Unfähig, zwischen feindseliger und wohlmeinender Kritik zu unterscheiden, drängte die Autokratie jede Art kollektiver politischer Bestrebungen in die Illegalität. Hinzu kam, dass im Zarenreich eine breite soziale Schicht fehlte, die eine Reformbewegung hätte tragen können. Ein Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, ein «dritter Stand», hat sich infolge der geringen Bedeutung der Städte und der allgemeinen Rückständigkeit nur zögernd entfaltet. Soweit die wohlhabende Kaufmannschaft und die entstehende industrielle Elite ein Bewusstsein gemeinsamer Wünsche und Sorgen entwickelten, taten sie dies in enger Anlehnung an den übermächtigen Staat. Zwar erkannten sie den Nutzen der Verbandsbildung; es gelang ihnen auch, die Obrigkeit zur Duldung solcher Organisationen zu bewegen. Aber sie verzichteten darauf – und das hat die staatliche Nachsicht ermöglicht –, sie für allgemeinpolitische Zwecke zu nutzen. Auch die neue wirtschaftsbürgerliche Oberschicht Russlands ließ lange Zeit keinen Zweifel an ihrer Ergebenheit aufkommen.[27]
Forderungen nach politischer Teilhabe der «Gesellschaft» als Kern dessen, was dem vagen Begriff des Liberalismus in Russland eine gewisse Kontur gab, wurden deshalb von anderen Schichten und Gruppen erhoben. Dabei ist es üblich geworden, in Anlehnung an die Selbstdeutung vor allem auf zwei Wurzeln zu verweisen: auf den reformorientierten Adel in den zemstva und die entstehende städtische Intelligenz. Die Annäherung beider ermöglichte nach der Jahrhundertwende die Gründung einer liberalen politischen Organisation.
Der «Adelsliberalismus» ging unmittelbar auf die Reformdebatte der ausgehenden fünfziger Jahre zurück. In einigen Gutsbesitzerversammlungen wurden nicht nur bauernfreundliche Meinungen über die Art der bevorstehenden Aufhebung der Leibeigenschaft laut, sondern auch Rufe nach stärkerer Heranziehung des Adels zur Landesverwaltung. Solche Wünsche trafen sich mit der Überzeugung der fortschrittlichen Beamten, dass ein neuerlicher Anlauf zur Beseitigung der notorischen Administrationsmängel unabdingbar sei, wenn die angestrebte sozioökonomische Modernisierung Erfolg haben sollte. Allerdings wurde der Raum für gesellschaftliche Eigentätigkeit eng begrenzt. Die zemstva sollten eher Auftrags- als Selbstverwaltung betreiben und die erwachten Partizipationswünsche in konstruktive Energie zur Festigung der bestehenden Ordnung umwandeln. Als Helfer kam dabei nur der Adel in Betracht, in dessen Hände die Führung der neuen Institutionen bei geringer Beteiligung der Städte und der Bauernschaft aufgrund des Kurienwahlsystems gelegt wurde. Auch ihm, dem Stützpfeiler ihrer Macht, traute die Autokratie so wenig, dass sie eines um jeden Preis zu unterbinden suchte: die Entstehung eines Dachverbandes, eines allrussischen zemstvo. Hierin witterte sie nicht ohne Grund die Keimzelle einer nationalen Landesversammlung, eines Parlaments.
Indes hat sich der progressive Adel mit solchen Beschränkungen nicht abgefunden. In den Krisenjahren von 1878 bis 1881, als die revolutionäre Bewegung der Autokratie sichtbar zusetzte, brachten immerhin neun zemstva den Mut auf, erneut die Schaffung eines allrussischen Repräsentativgremiums mit erweiterten Kompetenzen anzumahnen. Auch die Ablehnung durch den überzeugten Autokraten Alexander III. hat die Forderungen lediglich vorübergehend zum Verstummen gebracht. Als Nikolaus II. (1894–1917) an die Spitze der Monarchie trat, wurden sie sofort wieder laut. Wenngleich sich die Adressen äußerste Mäßigung auferlegten, reagierte der neue Zar mit jenem Mangel an Flexibilität, der später maßgeblich zu seinem Sturz und zum Untergang des Reiches beitrug. Zemstvo-Delegierte, die anlässlich eines Empfangs zu seiner Krönung zusammengekommen waren, brüskierte er 1895 mit dem berühmt gewordenen Rat, sich «sinnlose Träume» von einer Konstitution aus dem Kopf zu schlagen.
Die Zeit hatte solche Empfehlungen jedoch überholt. Um die Mitte der neunziger Jahre mehrten sich die Anzeichen dafür, dass auch die Geduld der zemstva zu Ende ging. Dazu trugen weitere Drangsalierungen ebenso bei wie die Verunsicherung, die das Programm der forcierten industriellen Entwicklung beim landbesitzenden Adel auslöste. Zwar behielten die gemäßigten Kräfte fürs Erste die Oberhand, die dem Autokraten höchstens eine beratende Reichsversammlung, einen zemskij sobor im altrussisch-slavophilen Sinn ohne wirkliche Vollmachten, an die Seite stellen wollten. Doch auch sie nahmen die fortgesetzte Weigerung, dem zemstvo-Gebäude ein Dach zu geben, nicht länger tatenlos hin. Seit 1899 fanden sie sich auf eigene Initiative regelmäßig zu überregionalen Konferenzen zusammen. Die innere Lage war der Einsichtsfähigkeit des Zaren, auf die sie letztlich angewiesen blieben, allerdings nicht eben förderlich. Außer verstärkten Streiks und Bauernaufständen verunsicherte vor allem das Wiederaufflammen des Terrors die Herrschenden tief. Unter dem Eindruck der Intransigenz des Zaren und der gleichzeitigen Sammlung der Opposition gewannen die Vorkämpfer einer Verfassung westlicher Prägung die Oberhand. Nachdem sie sich Ende 1903 zum Bund der Zemstvo-Konstitutionalisten zusammengeschlossen hatten, errangen sie im November 1904 den entscheidenden Sieg: Die Mehrheit der aus Anlass des Krieges gegen Japan versammelten Zemstvo-Führer des ganzen Landes schloss sich ihren Forderungen an.
An dieser Entwicklung hatte aber schon die zweite Stütze der liberalen Bewegung maßgeblichen Anteil: die Intelligenz. Alles deutet darauf hin, in ihr die treibende Kraft der Radikalisierung zu sehen. Professoren und Persönlichkeiten der publizistischen Öffentlichkeit gaben der konsequenten demokratischen Opposition geistig-programmatische Kontur und übernahmen die Initiative zur Umformung der amorphen Bewegung in eine formale Organisation, wie unvollendet diese auch immer bleiben mochte. Eine Schlüsselrolle fiel dabei dem erwähnten Ökonomen Struve zu, der sich von seinen marxistischen Anfängen lossagte. Als er 1901 Kontakt zur Zemstvo-Bewegung aufnahm und mit ihrer Hilfe im folgenden Jahr die Zeitschrift Osvoboždenie (Befreiung) herausgab, schlug die Geburtsstunde des revolutionären Linksliberalismus in Russland. Nicht nur die illegale Publikation eines Parteiorgans im Ausland nach Art der Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre machte die neue Qualität sinnfällig. Auch in den Leitartikeln war unmissverständlich nachzulesen, dass der Autokratie nun ein weiterer Gegner erwachsen war, der auf eine fundamentale politische Wende drängte. Bei aller Skepsis gegenüber der gewaltsamen sozialen Revolution hatte er zu der Überzeugung gefunden, dass eine stabile Demokratie nach westeuropäischem Vorbild ohne tiefe Eingriffe in die agrarischen Eigentumsverhältnisse nicht zu begründen war. Dem Staat musste dies doppelt bedenklich erscheinen, da die liberale Intelligenz das Bündnis mit dem fortschrittlichen Adel zu festigen verstand. Als formale Klammer zwischen beiden wurde im Januar 1904 in Sankt Petersburg der Bund der Befreiung (Sojuz osvoboždenija) aus der Taufe gehoben. Sein Programm, das die Einberufung einer frei und mit gleicher Stimme aller Untertanen gewählten verfassunggebenden Versammlung sowie die Einführung des Achtstundentags und die Aufteilung des Großgrundbesitzes forderte, hatte mit dem alten Adelsliberalismus nichts mehr gemein. Es konnte von der unmittelbaren Nachfolgeorganisation des Bundes, der Partei der Volksfreiheit, besser bekannt als Konstitutionelle Demokraten (Kadetten), die ein Kind der Revolution war, weitgehend unverändert übernommen werden.
Die liberale Bewegung teilte mit der revolutionären eine weitgehend identische soziale Struktur, die besondere Beachtung verdient: Alle russischen Parteien fanden ihre Mitglieder, zumal die aktiven, ganz überwiegend in der schmalen Schicht der Intelligenz. Allein sie verfügte über die bildungsmäßigen Voraussetzungen; vor allem sie brachte jene Diskrepanz zwischen gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und geringem politisch-sozialem Einfluss mit, die man oft als besonders günstigen Nährboden für systemkritisches politisches Engagement gewertet hat. Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Lehrer, Statistiker und andere Vertreter der neuen, vom Aufbruch in das Industriezeitalter hervorgebrachten akademischen Berufe, die großenteils im Dienst der zemstva standen (und als «drittes Element» bekannt waren), bildeten das Reservoir ihrer Gefolgschaft. Relativ gesehen fiel diese Intelligenz mit einem Anteil von höchstens 2,7 % an der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung (1897) kaum ins Gewicht; breitere Kreise der Bevölkerung wurden erst durch die Revolution von 1905 in den politischen Prozess einbezogen. Dennoch reichte ihre absolute Zahl aus, um die politische Organisation der Gesellschaft auf den Weg zu bringen.
Dies gab dem Parteiwesen insgesamt einen eigentümlich embryonalen Charakter. Beim Linksliberalismus kam hinzu, dass er sich nicht, wie die bewusste Allgemeinheit seiner Forderungen anzeigte, als Vertreter einer bestimmten Klasse, sondern als Sprecher der gesamten Nation verstand. Ohne spezifische soziale Bezugsgruppe, in diesem Sinne am wenigsten Interessenpartei, war er in besonderem Maße eine Bewegung der Intelligenz, soweit sie sich als nichtrevolutionär verstand. Diese Überparteilichkeit schlug ebenso zu seinem Vor- wie zu seinem Nachteil aus. Sie begründete den ungewöhnlichen Erfolg der Kadetten in der ersten Revolution, trug aber auch zu einer organisatorischen Schwäche bei, die ihm später zu schaffen machte.[28]
Die schweren Unruhen, die das Zarenreich in den Jahren 1905/06 erschütterten, sind von den beschriebenen Wandlungsprozessen nicht zu trennen. Momentane Anstöße, neben Missernten vor allem die Niederlage im vermeintlichen Blitzkrieg gegen Japan, kamen hinzu. Aber sie setzten den Zunder nur in Brand, den langfristige sozioökonomische und politisch-geistige Veränderungen angehäuft hatten. Schon die Art und Anliegen der Hauptakteure verweisen auf die tieferen Ursachen des Aufstandes: Die Arbeiter forderten bessere Arbeitsbedingungen, soziale Garantien und einen anerkannten Platz im autokratischen Sozialverband, in dem sie bestenfalls geduldet wurden; die Bauern verlangten nach Abhilfe für ihre Landnot und sonstigen Beschwernisse, mochten diese auch objektiv nicht größer geworden sein; und die Gesellschaft von Besitz und Bildung drang angesichts der militärischen Katastrophe mit neuem Nachdruck auf wirkliche politische Partizipation. Da die beiden unterprivilegierten Schichten aber eine dauerhafte Verbesserung ihrer Lage nur unter veränderten politischen Rahmenbedingungen erwarten konnten, fiel es ihnen leicht, sich auch den Wünschen der Intelligenz anzuschließen. Die Bürger- und demokratischen Freiheitsrechte bildeten zweifellos eine Klammer, die geeignet war, die Bedürfnisse aller oppositionellen Kräfte zu umfassen. Insofern wurde die Autokratie nun endgültig von der Dynamik eingeholt, die sie selbst ausgelöst hatte.
Umso müßiger erscheint die einstige Debatte darüber, welche ‹Klasse› in der ersten russischen Revolution die ‹Hegemonie› ausübte. Für alle drei ‹Anwärter› gibt es gute Argumente, da sie jeweils unterschiedliche Rollen ausübten. Fraglos erzeugten die Arbeiter mit ihrem unvermittelten und heftigen Aufbegehren den stärksten Schub. Auch die revolutionären Parteien waren vom Ausmaß des Widerstandes überrascht: Was ihre langjährige Agitation vergeblich herbeizuführen gesucht hatte, bewirkte über Nacht die panische Fehlreaktion eines überforderten Palastschutzkommandanten. Der Eindruck des Massakers vom 9. Januar 1905 war so nachhaltig, dass der Streit über das Verhältnis von «ökonomisch»-gewerkschaftlichen und politischen Forderungen gegenstandslos wurde. Schon die Bittsteller des «Blutsonntags» hatten beides miteinander verbinden wollen. Nach den Schüssen und der kompromisslosen Haltung der Regierung in den folgenden Monaten bedurfte es keiner Anstrengung mehr, um auch den Fürsprechern einer eng verstandenen Interessenpolitik klarzumachen, dass diese im autokratischen Staat nicht durchzusetzen war. Versammlungs- und Organisationsfreiheit avancierten zur Voraussetzung für den Achtstundentag und Lohnerhöhungen. Das Regime selber half den sozialistischen Revolutionären, Anschluss an eine Bewegung zu gewinnen, die ihnen davonzueilen drohte, und den Radikaldemokraten, ihren Parolen durch die Gewalt einer Massenbewegung Nachdruck zu verleihen, die sie selbst nicht zuwege gebracht hätten. Revolutionäres und liberales Engagement verschmolzen ebenso im Generalstreik vom Oktober 1905 wie die Proteste höchst unterschiedlicher sozialer Schichten.
Schon früh nahmen die Arbeiter jedoch die Hilfe der Intelligenz in Anspruch. Kaum hatte sich die Regierung auf Beratungen eingelassen, um dem wochenlangen Ausstand der Arbeiter in den großen Städten des Reiches die Schwungkraft zu nehmen, fanden sich zahlreiche Angehörige akademisch qualifizierter Berufe bereit, ihre Kenntnisse und Talente zur Verfügung zu stellen. Dabei handelte es sich nicht nur um radikal Gesinnte, die in der russischen revolutionären Bewegung stets mehr Einfluss ausübten, als es deren Selbstverständnis eigentlich erlaubte. Es waren vielmehr – und in dieser Form zum ersten Mal – engagierte intelligenty unterschiedlicher oppositioneller Orientierung, die politische Gemeinsamkeiten mit den Arbeitern entdeckten und in der Absicht halfen, die Front gegen die Autokratie zu stärken. Um dieselbe Zeit begann in ihren eigenen Reihen ein völlig neuartiger Prozess: die Organisierung von Berufsverbänden. Was die Arbeiter auf ihre Fahnen schrieben, verwirklichten mit ihnen nun in breitem Maßstab die Inhaber akademischer Zertifikate, von den Rechtsanwälten, die vorangingen, über Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Agronomen bis hin zu Journalisten und Apothekern. Als sich Anfang Mai vierzehn Einzelorganisationen zu einem Dachverband zusammenschlossen, hatten sie sogar mehr erreicht als die Arbeiter: ein allrussisches Repräsentativgremium, das weithin gehört wurde und in der Tat als «Verbindungsglied» zur Arbeiterbewegung dienen konnte. In mancher Hinsicht repräsentierte der Bund der Bünde die differentia specifica der gesamten ersten Revolution: die Forderung nach institutionellen Garantien von individueller Freiheit und Demokratie als Kernanliegen des revolutionären Liberalismus.
Hinzu kam schließlich der Aufruhr der Bauern. Anfangs mochte die Autokratie hoffen, dass ihr der Zangengriff einer parallelen Erhebung von Stadt und Land erspart bleiben würde. Aber seit Juni häuften sich auch die Ausschreitungen auf dem Dorfe. Im November und Dezember schließlich kam es zu einer Welle von Gewalt, wie man sie seit Menschengedenken nicht mehr erlebt hatte. An die 2000 Gutshöfe gingen in Flammen auf oder wurden geplündert. In manchen Gouvernements des Schwarzerdgürtels (von der nördlichen Ukraine bis zur mittleren Wolga), seit Jahrhunderten Zentren agrarischen Sozialprotests, leuchtete die Steppe im Widerschein der Feuer, die brandschatzende Bauern legten. Sicher wird man Ausmaß und Art dieser Gewalt am wenigsten vom Krieg in Fernost trennen können. Auch die normalerweise im Landesinnern stationierten Truppen befanden sich noch an der Front und standen für Pazifizierungsaktionen nicht zur Verfügung. Dies änderte sich schon wenige Monate später und mag dazu beigetragen haben, dass eine Wiederholung der fureur paysanne entgegen der Hoffnung vieler Revolutionäre im Frühjahr 1906 ausblieb. Beides, die außerordentliche Gewaltsamkeit und seine zeitliche Konzentration auf wenige Monate, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Funktion des dörflichen Aufbegehrens im Gesamtkontext der schweren Staatskrise von 1905/06. Der Sturm auf die Herrenhäuser versetzte Regime und Adel gewiss in Angst und Schrecken. Indem er gleich einem Erdbeben eine tiefe, irrationale Erschütterung auslöste, trug er zu jener Lähmung bei, die es den Revolutionären während der erwähnten ‹Tage der Freiheit› vom Herbst 1905 erst ermöglichte, in Gestalt verschiedener politischer Organisationen trotz aller Restauration dauerhafte Fakten zu schaffen. Zugleich zeigt sein Verlauf aber auch an, dass die Bauern reagierten, nicht agierten, und – nach alter Art – primär die Chance der Wehrlosigkeit des Staates nutzten. Die Initiative dagegen lag bei der Arbeiterschaft und die geistige Führung bei den radikaldemokratischen und revolutionären, sich zunächst mit ‹bürgerlichen› Forderungen begnügenden Intellektuellen. In diesem Sinne war die erste Russische Revolution, wenn man sie denn so nennen will, eine liberale Revolution und eine Generalprobe für den Februaraufstand 1917 (nicht für den Oktobercoup).[29]
Die überwölbende Bedeutung demokratisch-liberaler Ziele fand ihren Ausdruck in der – vor den Gewerkschaften – wichtigsten institutionellen Hinterlassenschaft der Revolution: im Parlament, den neuen Parteien und einer von beiden wesentlich getragenen politisch-publizistischen Öffentlichkeit. Dem äußeren Anschein nach vollzog Russland damit einen entscheidenden Schritt auf dem Wege zur politischen Verwestlichung. Die Autokratie im genauen Sinn hörte endgültig auf zu bestehen. Sie musste das Zugeständnis, das sie im Angesicht des Generalstreiks am 17. Oktober 1905 gegeben hatte (im sog. Oktobermanifest), erfüllen und sich selber durch eine Verfassung Zügel anlegen. Umstritten bleibt freilich, in welchem Maße die Staatsduma das politische Machtgefüge im Zarenreich tatsächlich änderte. Dies ist die Frage nach den Chancen des Konstitutionalismus in Russland, die so alt ist wie das Parlament selbst.
Die frühere Forschung hat sich überwiegend, soweit sie nicht alle Schuld auf die radikalen Revolutionäre abwälzte, dem Verdikt Max Webers angeschlossen, die Autokratie habe die erlahmende Revolution mit einem bloßen «Scheinkonstitutionalismus» abgespeist. In der Tat lassen sich für diese ‹pessimistische› Sicht manche überzeugende Argumente anführen. Die Verfassung entsprach nicht den Vorstellungen des konsequenten Liberalismus. Es hatte gute Gründe, dass die meisten Kadetten sie ablehnten. Schon mit ihrer Entstehung konnten sie sich nicht anfreunden. Statt eine frei gewählte Konstituante einzuberufen, setzten Zar und Regierung aus eigener Vollmacht eine Kommission ein, die den Auftrag erhielt, in Tuchfühlung mit dem Zaren ein – ausweichend so genanntes – ‹Staatsgrundgesetz› auszuarbeiten. Auch wenn dem Gremium auf Drängen des ‹liberalen› Ministerpräsidenten Sergej Ju. Vitte einige reformbereite hohe Beamte angehörten, konnte auf diese Weise nur ein Dokument zustande kommen, das der «Gesellschaft» so wenig Konzessionen wie nötig machte und dem Monarchen so viele Rechte wie möglich bewahrte. Am meisten schmerzte es die Opposition, dass keine Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament vorgesehen war. Der Zar sollte das Kabinett weiterhin souverän ernennen und absetzen. Die Volksvertretung durfte Fragen stellen (Interpellation) und Gesetze einbringen (Initiativrecht). Aber sie hatte formal keinen Einfluss darauf, was weiter geschah. Wirksame Druckmittel standen ihr nicht zu Gebote. Dies umso weniger, als auch ein erheblicher Teil des Budgets, vor allem die Militärausgaben und der Hofetat, ihrer Kontrolle entzogen war. Desgleichen entsprach das Wahlrecht nicht den Standards entwickelter Demokratien der Zeit. Der alte Staat hatte sich ein kompliziertes, mehrstufiges und auf «Kurien» gegründetes Verfahren ausgedacht, um die Zusammensetzung der Delegierten in seinem Sinne zu lenken. Fatal sollte sich schließlich auch ein Notverordnungsrecht auswirken, das dem Zaren die Möglichkeit gab, zwischen den Dumasitzungen in alleiniger Vollmacht Gesetze zu erlassen. Freilich war der Verfassung nicht anzulasten, dass es durch die bewusste Herbeiführung von Sessionspausen missbraucht wurde.
Gegen diese negative Bewertung sind in jüngerer Zeit zunehmend Bedenken erhoben worden. Man hat davor gewarnt, den Verfassungstext für die Wirklichkeit zu nehmen und den historischen Vergleich außer Acht zu lassen. Ohne Zweifel eroberte sich das Parlament einen festen Platz im politischen Entscheidungsprozess. Ohne Zweifel entstand eine publizistische und politische Öffentlichkeit, die weder der Monarch noch die Regierung ignorieren konnten. Plausibel ist auch der Einwand, dass nicht erst mit der Sicherung von Ministerverantwortlichkeit und vollständiger Kontrolle des Parlaments über die Gesetzgebung von Konstitutionalismus gesprochen werden kann. Andernfalls verlöre die Abgrenzung vom Parlamentarismus ihren Sinn und müssten auch im Mittel- und Westeuropa des 19. Jahrhunderts viele Regierungsformen, z.B. die preußisch-deutsche, aus der Liste konstitutioneller Regime gestrichen werden. Die bleibenden Prärogative des Zaren widersprachen nicht dem Konstitutionalismus, sondern der Dominanz des Parlaments im politischen Entscheidungsprozess nach angelsächsischem Muster.[30]
Ein Blick auf die nachrevolutionäre Verfassungspraxis eröffnet wohl die beste Chance, um die Kontroverse zu schlichten. Allerdings führt auch dieser Weg zu keinem klaren Ergebnis. Das Verhältnis zwischen Zentralgewalt und Parlament blieb ebenso ambivalent und wechselhaft wie die Beziehung zwischen publizistischer Öffentlichkeit und zarischem Staat. Die erste Duma, die Ende April 1906 zusammentrat, war trotz des Verfassungsoktroi ein echtes Kind der Revolution. Obwohl die sozialistischen Parteien die Wahl boykottierten, kamen Delegierte zusammen, die ganz überwiegend auf eine weitere Demokratisierung der politischen Verfassung drängten und sich nur zum kleineren Teil (in Gestalt der sog. Oktobristen) mit dem Erreichten zufriedengaben. Eine klare Mehrheit rechnete sich den Kadetten zu, die zu dieser Zeit auch für das entscheidende soziale Problem eine vergleichsweise radikale Lösung vorschlugen: Die bäuerliche Landnot sollte durch die Enteignung (wenngleich gegen Entschädigung) auch des privaten Großgrundbesitzes gelindert werden. Damit war allerdings die Konzessionsbereitschaft der Regierung schon überschritten. Bestärkt durch deutliche Anzeichen nachlassender Aufstandsenergie in Stadt und Land wagte sie es, die Duma aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben.
Die zweite Duma, die sich im Februar 1907 konstituierte, machte es der Regierung nicht leichter. Zwar gehörte ihr erstmals eine nennenswerte Fraktion konservativer und monarchistischer Abgeordneter an. Überdies mussten die Kadetten empfindliche Verluste hinnehmen. Dafür zogen aber auch Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre, die ihre realitätsferne Boykotttaktik aufgegeben hatten, in beträchtlicher Zahl ins Parlament ein. Als Bemühungen des neuen Premierministers Stolypin scheiterten, mit den Kadetten wenigstens zu einem stillschweigenden Arrangement zu kommen, war abzusehen, dass der zweiten Duma das Schicksal der ersten nicht erspart bleiben würde. Den offenen Konflikt löste auch in diesem Falle die Agrarfrage aus. In einem Akt, der gewiss gegen den Geist der Verfassung verstieß, schloss der Zar das Parlament am 3. Juni 1907 erneut. Zugleich erließ er ein neues Wahlgesetz, das endlich eine breite systemloyale Mehrheit sicherstellen sollte.
In der Tat gaben monarchistische und gemäßigt-konstitutionalistische Parteien und Fraktionen in den letzten beiden Vorkriegsparlamenten den Ton an. Die Kadetten schrumpften zu einer Minderheit, die sich überdies immer weiter von ihren revolutionären Ursprüngen entfernte. Umgekehrt wuchs der Einfluss des konservativen Liberalismus oktobristischer Spielart. Stolypin hatte endlich die maßgeschneiderte Duma mit einer Mehrheit rechts der Mitte, die er für sein Programm begrenzter Reformen von oben brauchte. Was er jedoch nicht fand, waren Berechenbarkeit und Stabilität. Das «System des 3. Juni» hat keine ernsthafte Prüfung bestanden. Es zeigte sich, dass die Wahlrechtsänderung für eine Regierungsform wenig Nutzen brachte, die sich nicht aufs Parlament stützen wollte, andererseits aber auch beim Monarchen keinen zuverlässigen Rückhalt besaß, weil Nikolaus den Tag längst bereute, an dem er das Oktoberversprechen gegeben hatte. Der Balanceakt einer unverbindlichen Kooperation manövrierte den Premier im Gegenteil zwischen die Blöcke und raubte ihm das politische Fundament. Letztlich hat er nur die nach ihm benannte Agrarreform des Jahres 1906 durchsetzen können, die noch unter dem Druck der Revolution erlassen wurde. Alle anderen Maßnahmen, vor allem die Erweiterung der provinzialen Selbstverwaltung durch zemstva auf Kreis- und Bezirksebene sowie Verbesserungen im Rechts- und Bildungswesen, wurden angesichts des vereinten Widerstandes der Duma und des Reichsrates (der wiederum eng mit dem Zaren kooperierte) so weit zurückgestutzt, dass sie als gescheitert gelten müssen. Als ein Kernpunkt seines Programms, die Einführung der zemstva in den Westgouvernements, schließlich sogar formell abgelehnt wurde, meinte der Premier, sein Gesicht wahren zu müssen. Unter Androhung des Rücktritts bewog er den Zaren, die Duma für kurze Zeit zu vertagen und das Gesetz auf dem Wege der Notverordnung zu erlassen. Von diesem Pyrrhussieg erholte er sich nicht mehr. Die Vermutung ist nicht aus der Luft gegriffen, dass seine Ablösung nur noch eine Frage der Zeit war, als er im September 1911 ermordet wurde.
Stolypins Tod bedeutete mehr als nur einen Wechsel an der Regierungsspitze. Mit ihm fand der Wille zur Reform und Zusammenarbeit mit dem Parlament überhaupt ein Ende. Die Anhänger der alten Ordnung feierten einen zweiten (scheinbaren) Triumph, indem sie die monarchische Exekutive dazu bewogen, die sichtbarste institutionelle Errungenschaft der Revolution so weit wie möglich zu ignorieren. Damit trugen sie wesentlich zum Scheitern des Experiments einer Kooperation mit der Duma bei. Bei alledem sind die Schuldigen nicht nur unter den Unbelehrbaren im Reichsrat und am Kaiserhof zu suchen. Der Zerfall der oktobristischen Fraktion, für die das Lager der gemäßigten Nationalisten keinen Ersatz bot, schadete dem Versuch ebenso wie Stolypins eigene Distanz zur Duma. Auch wenn er um eine Mehrheit warb, blieb der Premier ein Geschöpf des Monarchen, eines solchen zudem, der sich weiterhin als uneingeschränkten Herrscher betrachtete.[31]
Allerdings sollte man die Antwort auf die Frage nach den Chancen des Konstitutionalismus in Russland nicht allein auf zentraler Ebene, im Konflikt zwischen Duma und zarischer Regierung, suchen. Neuere Forschungen haben den Blick in die Regionen und auf die Gesellschaft selber gerichtet. Was sie zutage förderten, legt den Schluss nahe, dass sich hier tiefgreifende Veränderungen vollzogen, die auf ein neues Niveau der Eigenorganisation hinausliefen. Vereine und andere Formen sozialer Assoziation auf der Grundlage freiwilligen Engagements zu den verschiedensten Zwecken, von traditioneller Caritas bis zu künstlerischer Liebhaberei und zeittypischer Freizeitgestaltung, schossen seit der Jahrhundertwende und besonders nach 1906 wie Pilze aus dem Boden. In den Parlamenten der größeren Städte agierte eine neue Generation von Abgeordneten – gebildeter als die ältere, nicht mehr ständisch denkend, sondern am ‹Gemeinwohl› zumindest der engeren Umgebung interessiert. Damit entstand so etwas wie eine Kommunalpolitik, während die Vereine und Klubs den Grundstein für eine «Zivilgesellschaft» legten, die anderen Regeln verpflichtet war als die autokratische. Hier musste ein Mindestmaß an Pluralismus, freier Meinungsbildung und Gleichheit gelten. Analog zur Transformation des politischen Prozesses auf Reichsebene kann man in diesem Wandel ebenfalls eine neue, zukunftsträchtige Entwicklung sehen. Auch im Zarenreich waren Anzeichen dafür zu erkennen, dass Vereine gemäß der bekannten These Tocquevilles als «Schulen der Demokratie» wirkten: dank ihrer Konsensfindung durch regulierte, weitgehend herrschaftsfreie Verfahren, dank der Anerkennung unterschiedlicher Vorstellungen und dank der Bestellung von Funktionsträgern durch Wahl.[32]
Mithin muss offen bleiben, wie weit das Zarenreich bei Ausbruch des Weltkriegs auf dem Weg zu einer politischen Ordnung, die den Partizipationsansprüchen einer zunehmend engagierten Gesellschaft Rechnung trug, vorangekommen war. Die Antwort hängt nicht nur von der Gewichtung der einzelnen Elemente des Gesamtprozesses, sondern in gleichem Maße von der Betrachtungsebene ab. Was im Zentrum blockiert war, mochte sich in den Regionen eingespielt haben. Dessen ungeachtet gilt, dass sich das Schicksal des Reiches letztlich – schon als Folge der autokratischen Gesamtstruktur – an der Spitze und in der Hauptstadt entschied. Hier aber traf zu, was der ehemalige Dumapräsident und Führer der Oktobristen, A. I. Gučkov, 1913 feststellte: dass der Versuch, Regierung und «Gesellschaft» zu versöhnen, gescheitert sei. Dies musste nicht so bleiben. Jüngere Autoren beurteilen die grundsätzliche Fähigkeit der ‹konstitutionellen Autokratie›, sich zu einer parlamentarischen Monarchie fortzuentwickeln, gerade auch mit Blick auf die Regionen, eher positiv – unter der Kautel allerdings einer friedlichen Entwicklung. Eben diese aber war dem Reich nicht vergönnt.
Schon wegen solcher Implikationen ist über den Platz des Ersten Weltkriegs in der Vorgeschichte der Revolution von 1917 von Anfang an viel gestritten worden. Konservative wie liberale Selbstdeutungen neigten dazu, im Krieg die entscheidende Ursache zu sehen, die das alte Regime zum Einsturz brachte. Dem haben sich akademische Historiker, soweit sie dem Regime eine Zukunft gaben, angeschlossen. Die Zerreißprobe des Krieges beendete in dieser Perspektive abrupt jenen hoffnungsvollen ökonomischen und politischen Aufbruch nach Europa, der nach der ersten Revolution mit neuem Elan eingesetzt hatte. Die alte Ordnung wurde von einem Ereignis aus der Bahn geworfen, an dem sie gewiss nicht schuldlos war, das aber doch von außen über sie hereinbrach – ohne Krieg keine Revolution. Andere Sichtweisen verschiedenster Färbung konzedierten zwar, dass die außergewöhnliche Belastung den Sturz erheblich beschleunigt habe. Aber sie erkannten in den Vorkriegsereignissen so viele Blockaden und Knoten, dass sie eine Wiederholung des Aufruhrs und der schweren Staatskrise von 1905 auch im Fall einer friedlichen Zukunft nicht für unwahrscheinlich hielten.
Solche Unterschiede der Deutung werden bleiben, da kontrafaktische Szenarien nicht als Entscheidungshilfe taugen. Dennoch sollte man, anders als oft angeraten, die Kenntnis des Kommenden nicht völlig aus der historischen Retrospektive verbannen. Wenn man die Gefahr vorschneller Eliminierung von Alternativen vermeidet und historische Situationen als so offen wie möglich betrachtet, kann sie im Gegenteil dabei helfen, die entscheidenden Weichenstellungen zu identifizieren. Ein solcher Blick zeigt, dass gegen Kriegsende abermals zwei Krisen zusammenkamen: eine des politischen Systems und eine soziale. Erstere resultierte nach wie vor aus dem Konflikt zwischen ‹mündiger› Gesellschaft, vertreten durch die dominanten Kräfte des Parlaments, und einer Autokratie, die so wenig Mitsprache wie möglich gewähren wollte. Letztere spitzte sich vor allem seit 1916 als Folge von zunehmenden Versorgungsproblemen, Teuerung, Arbeitslosigkeit und Massennot in den Städten zu. Schon weil sie sich nicht hätten verbinden müssen und in sehr unterschiedlichen Kontexten standen – im Übrigen kam es auch zu keiner mit 1905 vergleichbaren Zusammenarbeit –, ist es angezeigt, sie separat zu behandeln. Auch darin trifft die Denkfigur einer doppelten Polarisierung den Kern der Gesamtentwicklung, dass sie die Gemeinsamkeit nur in der vereinigten, für den alten Staat fatalen Wirkung ortet.
Der Krieg führte zu einer deutlichen Kräfteverschiebung im Ringen zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition. Zwar hatte es anfangs den Anschein, als würden Zar und Duma ihren Streit begraben können und zueinander finden. Anders als unter den Arbeitern und Bauern fand der Appell des Zaren zum «Burgfrieden» im liberalen Bürgertum und Adel ebenso engagierte Fürsprecher wie im konservativ-monarchistischen Lager. Kadetten und Oktobristen murrten auch nur verhalten, als der Zar es für angezeigt hielt, die Abgeordneten nach einer eintägigen Manifestation nationaler Solidarität im August (n. St.) wieder nach Hause zu entlassen. Aber es verging kein Jahr, bis sich erwies, dass der Staat nicht in der Lage war, die kommenden Herausforderungen tatsächlich aus eigener Kraft zu bewältigen. Nach verheerenden Niederlagen und angesichts weiterhin alarmierender Nachrichten von der Front wurde im Frühsommer 1915 der Ruf nach Wiederaufnahme der regulären Sitzungen des Parlaments laut. Er verband sich mit weitergehenden Forderungen, die das Ende der inneren Waffenruhe unübersehbar machten. In vielfältiger Weise ergriff die «Gesellschaft» die Initiative, um die Lage zu retten. Die Moskauer Industriellen riefen im Mai Kriegsindustriekomitees ins Leben. Bereits vor Kriegsausbruch hatten sich die zemstva in einem Dachverband, dem Zemstvo-Bund, zusammengeschlossen. Im August 1914 waren Vertreter der Munizipalverwaltungen diesem Beispiel gefolgt und hatten den Städtebund gegründet. Nun bildeten sie aus ihrer Mitte ein neues Organ zur zentralen Koordination der Armeeversorgung (Zemgor). Sie machten damit einen Vorgang sinnfällig, den beide auch dezentral in den Gouvernements mit verstärkter Kraft vorantrieben: die Übernahme der staatlichen Verwaltungsaufgaben durch Wahlorgane der «Gesellschaft». Die «Landschaften» und Stadtgemeinden sorgten für jenes Mindestmaß an innerer Funktionsfähigkeit, das vorerst noch aufrechterhalten werden konnte. Ein ‹Gegenstaat› wurde sichtbar, dessen Träger aufs engste mit den konstitutionellen Kräften im Parlament verbunden waren.[33]
Nicht genug damit, erhob die liberale Opposition auch politische Ansprüche. Nach dem Einbruch der Südwestfront im April 1915 verlangte sie den Rücktritt der verantwortlichen Politiker. Unter ihrem Druck fand sich der Zar bereit, zwei besonders unpopuläre Kabinettsmitglieder zu entlassen. Seine Geste reichte jedoch nicht aus, um die Lage zu entspannen und die weitere Formierung der Opposition zu verhindern. Im August 1915 trat ein, was unmöglich schien: Auf Drängen der Kadetten schlossen sich alle Dumaparteien mit Ausnahme der radikalen Rechten und Linken zum Progressiven Block zusammen. Allerdings wurde die Breite der Einheitsfront mit der Ausklammerung zentraler Probleme erkauft. Das Programm ließ nicht nur Mäßigung, sondern auch eine beträchtliche Unverbindlichkeit erkennen. Den Bauern versprach es rechtliche Gleichstellung, den Arbeitern die Wiederzulassung der Gewerkschaften, den religiösen und nationalen Minderheiten das Ende der Diskriminierungen. Es forderte Amnestie für politische Gefangene, mehr Rechtsstaatlichkeit und Toleranz, aber es schwieg sich über die Agrarfrage und soziale Reformen ebenso aus wie über Einzelheiten einer besseren Verfassung. Raison d’être des Blocks war letztlich nur eine Forderung: die nach einer «Regierung des gesellschaftlichen Vertrauens». Auch hier blieb das Verlangen nach einer verantwortlichen Regierung ausgespart, weil es vom rechten Flügel (konservative Oktobristen und gemäßigte Nationalisten) nicht mitgetragen wurde. In dieser Zurückhaltung lagen Chance und Risiko zugleich. Der Progressive Block konnte gewiss als stärkste parlamentarische Opposition seit 1906 gelten. Er wusste nicht nur den Städte- und Zemstvo-Bund hinter sich, sondern auch kooperationsbereite Kräfte in der Regierung. Aber er machte sich durch seine Selbstbeschränkung von der Einsichtsfähigkeit des Zaren abhängig. Als «Sicherheitsventil», wie einer seiner Schöpfer formulierte, konnte der Block nur bei sichtbaren Erfolgen wirken, nicht wenn er machtlos gegen eine Mauer anrannte.[34]
Indes ließen Zar und Regierung keinerlei Bereitschaft erkennen, sich auf ein Arrangement einzulassen und ihren Kurs zu ändern. Vielmehr traf Nikolaus im Spätsommer 1915 gleich zwei einsame Entscheidungen, die sich als schwere Fehler erweisen sollten. Zum einen setzte er sich in den Kopf, das militärische Geschick des Reiches durch eigenen Einsatz zum Besseren zu wenden und den unmittelbaren Oberbefehl über das Heer zu übernehmen. Gerade die treuesten Anhänger der Monarchie sahen diesen Schritt mit Beklemmung, da der Zar seine persönliche Autorität mit dem militärischen Geschehen verknüpfte: Die Verantwortung für Niederlagen konnte fortan nicht mehr glaubwürdig den Generälen zugewiesen werden. Hinzu kam seine Abwesenheit vom Zentrum des politischen Geschehens. Nikolaus verbrachte die letzten anderthalb Jahre seiner Regentschaft im Hauptquartier der Armee an der Südwestfront. Nicht ungern entzog er sich den Anstrengungen und Intrigen der Hauptstadt. Die Selbstisolation mag den zweiten Fehler vom Spätsommer 1915 begünstigt haben: Der Zar ließ sich von seinem greisen Ministerpräsidenten abermals zur Auflösung der Duma verleiten. Statt Verständigung zu suchen, entschied er sich für eine Strafaktion gegen das unbotmäßige Parlament. Einige Kabinettsmitglieder schüttelten darüber den Kopf. Aber Nikolaus schlug die Warnungen nicht nur in den Wind, sondern zog die Kritiker sogar zur Rechenschaft. Die Koinzidenz der Ereignisse sprach Bände: Einen Tag nach der Entlassung von drei ‹liberalen› Ministern (Ende September 1915) durfte der zwischenzeitlich aus der Hauptstadt verwiesene dubiose Wunderheiler Rasputin nach Petrograd zurückkehren. Das alte Regime grub sich starrsinnig das eigene Grab.
In selbstmörderischer Verblendung halfen dabei die Zarin und ihre spiritistische Clique, deren Einfluss dank der Abwesenheit von Nikolaus auf dem Höhepunkt stand. Ihrer Rache fielen weitere verständigungsbereite Minister zum Opfer. Die Portefeuilles wechselten ihre Besitzer im Tempo inflationärer Münzen. Zwischen September 1915 und Februar 1917 verbrauchte das Reich vier Premier-, fünf Innen-, drei Außen-, drei Kriegs-, drei Verkehrs- und vier Landwirtschaftsminister. Solch ein ministerielles «Bockspringen», wie Zeitgenossen spotteten, war kaum geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Als sich ein vermeintlich integrer neuer Innenminister ebenfalls als Kumpan der Hofkamarilla entpuppte und der Volkszorn angesichts leerer Geschäfte immer bedrohlicher wurde, konnte auch der Progressive Block dem Sog der Unruhe kaum noch standhalten. Sicher war die berühmte Parlamentsrede Miljukovs vom 3. November 1916 als Tribut an die wachsende Empörung im Lande zu verstehen. Die kunstvoll-provokative Wiederholung seiner Frage, ob es «Dummheit oder Verrat» sei, was die Regierung zu ihrem verhängnisvollen Kurs treibe, formulierte in durchaus demagogischer Manier die tiefen Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Regimes, die weite Teile der Bevölkerung ergriffen hatten. Dabei ist zu beachten, dass ein Mann zum Fenster hinaus sprach, der die Stimmung besänftigen und nicht schüren wollte. Aus Angst vor Rechtlosigkeit und Gewalt akzeptierte der Block am 17. Dezember sogar die abermalige Vertagung der Duma (auf den 14. Februar 1917). Hinzu kamen außenpolitische Motive: Alle Parteien der parlamentarischen Opposition waren so tief vom nationalen Gedanken durchdrungen, dass sie an der Notwendigkeit der Fortsetzung des Krieges keine Minute zweifelten. Ob aber Russland nach einem Sturz der Autokratie seine Bündnisverpflichtungen noch würde einhalten können, blieb ungewiss.[35]
Denn immer deutlicher wurde, dass die Ablösung der Monarchie kein bloßer Staffettenwechsel sein konnte. In dem Maße, wie Zar und Regierung jede Konzession verweigerten, geriet die alte Ordnung selbst in Gefahr. Als Autokratie war sie auch in konstitutionell gezähmter Form ohnehin nicht mehr zu retten. Denkbar schien zu Beginn des Krieges aber eine Übernahme des Staates durch die faktisch bereits dominierenden Organe der «Gesellschaft» bis hinauf zur Regierung. Freilich verlor diese Option mit dem Fortgang des Kampfes ihren exklusiven Charakter. Nicht nur der Gegensatz zwischen Parlament und Regierung gewann größere Schärfe denn je. Auch die Distanz zwischen den sozialen und politischen Kräften, für die der Progressive Block stand, und der Masse der Bevölkerung nahm zu oder wurde deutlicher. Vieles deutet darauf hin, dass die Liberalen deren «Hang zur Anarchie» und den revolutionären Bruch kaum weniger fürchteten als die Fortsetzung der alten Herrschaft.[36] Sie gerieten in einen Zwiespalt, aus dem sie keinen Ausweg fanden: Sie wollten das alte Regime politisch erneuern, ohne es sozial tiefgreifend zu reformieren. Weil beide Ziele nicht mehr kompatibel schienen, kam es zu keiner abermaligen Verbrüderung von «Gesellschaft» und ‹einfachem Volk› wie 1905. Eine solche Kooperation wäre wohl am ehesten in der Lage gewesen, jene doppelte Polarisierung zu verhindern, die den gewaltsamen Umsturz von unten immer wahrscheinlicher machte.
So aber entfaltete die Arbeiterschaft ihre eigene Dynamik, die sich äußerer Kontrolle bald entzog und das politische Geschehen mehr und mehr bestimmte. Strukturveränderungen im Gefolge des Krieges haben offenbar dazu beigetragen. Während die Gesamtzahl der Arbeiter sank, stieg sie in den großen Unternehmen, besonders in den Schlüsselbranchen der Rüstungs- und Produktionsgüterindustrie, deutlich an. In Sankt Petersburg/Petrograd gab es im metallverarbeitenden Gewerbe Anfang 1917.136 % und in den chemischen Fabriken 85,6 % mehr Beschäftigte als bei Kriegsbeginn; im gesamten Reich belief sich dieser Zuwachs 1916, auf alle großen Fabriken bezogen, auf ca. 20 %. Dementsprechend stieg der Anteil der Großbetriebe. Im letzten Friedensjahr gehörten 55 % aller Arbeiter von Petrograd zu Unternehmen mit mehr als tausend Beschäftigten, drei Jahre später bereits 67,9 %. Anders gerechnet, erreichte die Agitation in nur 132 Betrieben (= 13 %) 80,7 % aller hauptstädtischen Arbeiter. Die Bedeutung solcher Massierung, die in den besonders unruhigen Metallunternehmen am höchsten war, für die Möglichkeit politischer Mobilisierung liegt auf der Hand. Hinzu kam, dass andere Arbeitskräfte in die Städte zogen als vor dem Krieg. Auf den Dörfern waren schon im zweiten Kriegsjahr, seit den katastrophalen Niederlagen vom Frühjahr 1915, kaum noch Männer zu finden. Frauen und Kinder blieben zurück, um die Feldarbeit zu verrichten. Sie waren es auch, die als Ersatz für die männlichen Arbeitskräfte in größerer Zahl als je zuvor in die städtischen Fabriken zogen. Anfang 1914 verzeichneten die staatlichen Inspektoren 31,2 % (knapp 724.000) Frauen in den von ihnen kontrollierten Großunternehmen, drei Jahre später 40,1 % (839.000). Die politischen Folgen dieser Veränderungen sollten spätestens bei den ersten Hungerrevolten im Herbst 1916 zutage treten.[37]
Dennoch wäre es verfehlt, den Strukturwandel der Arbeiterschaft zur völligen Erneuerung zu überzeichnen. Zumindest in den kriegswichtigen Branchen und den großen Städten, wo sich das Schicksal der Autokratie weitgehend entschied, war auch eine bemerkenswerte Kontinuität zu beobachten. Man hat geschätzt, dass infolge von Freistellungen zwischen 1914 und 1917 de facto nur 17 % der Petrograder und 27 % der Moskauer Arbeiterschaft eingezogen wurden. Auch wenn man den breiten Zustrom von außen in Rechnung stellt, hielten neue und alte Gruppen einander die Waage. Die Folgerung scheint gerechtfertigt, dass der Kern der hauptstädtischen Arbeiterschaft den Umbruch der Kriegsjahre unversehrt überstand. Viele der Erfahrenen und Qualifizierten, der Meinungsführer und Organisatoren blieben an ihrem Platz. Ihnen war es auch zu verdanken, dass sich einige der Veränderungen fortsetzten, die das Profil der Arbeiterschaft vor Kriegsbeginn entscheidend geprägt hatten. So nahm der Analphabetismus trotz der ländlichen Immigration weiter ab. In Petrograd konnten 1918 89 % aller männlichen und 65 % aller weiblichen Beschäftigten lesen und schreiben. Im Druckereigewerbe und in der Metallverarbeitung gab es wohl niemanden mehr, der keine Schule und Lehre durchlaufen hätte. Damit blieb auch jene Mischung aus städtischen und dörflichen Elementen in der Arbeiterschaft erhalten, in der radikales Denken und Handeln seit den Schüssen an der Lena hatten gedeihen können.[38]
Wichtiger für die wachsende Unruhe in der Arbeiterschaft aber dürften andere Entwicklungen gewesen sein, die sich unter dem Stichwort der dramatischen Verschlechterung der städtischen Lebens- und Arbeitsbedingungen zusammenfassen lassen. Zum einen spricht trotz ungelöster Probleme bei der Gegenrechnung von Preisen und Löhnen alles dafür, dass die Realeinkommen der meisten Arbeiter und besonders der Angestellten deutlich fielen. Ursache dafür war eine rapide Inflation, die bald nach Beginn der Kampfhandlungen einsetzte und vor allem 1916 ein verheerendes Ausmaß annahm. Bezogen auf 1913 (= 100) kletterte der Preisindex im nationalen Durchschnitt, einer zurückhaltenden Schätzung zufolge, bis Ende 1916 auf 221 und bis Ende 1917 auf 512. Damit konnten nur die Einkommen in den kriegswichtigen Industrien einigermaßen mithalten. Hier waren die Reallöhne bis 1916 sogar gestiegen (bezogen auf 1913 = 100 auf 102,1 % resp. 122,8 % in der Munitionsherstellung). Danach aber fielen sie auch hier auf 75 %, in anderen Unternehmen sogar auf 53,9 % und bei den Angestellten auf 38 %.[39]
Zum anderen forderte der Krieg auch mehr Einsatz und Leistung. Ohnehin war die wöchentliche Arbeitszeit in Russland mit einem Durchschnitt von 9,7 Stunden an sechs Tagen (1913) länger als in Westeuropa. Die Ausweitung der Rüstungsproduktion führte vor allem in den Hauptstädten zu einer zusätzlichen Anspannung der Kräfte. In der Metallindustrie wurde elf bis zwölf Stunden pro Tag gearbeitet, in der Textil- und Lederindustrie nicht selten noch mehr. Überstunden waren üblich, und 1915 hob man das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Kinder auf. Mit einer solchen Ausschöpfung aller Kapazitäten hing zusammen, dass sich auch Sicherheit, Hygiene und Gesundheit in den Werkhallen, um die es dürftig genug stand, noch verschlechterten. Erkrankungen scheinen, begünstigt durch mangelhafte Ernährung und Mehrarbeit, zugenommen zu haben. Die anhaltende Zuwanderung vom Dorfe und der Flüchtlingsstrom aus den Kampfgebieten verschärften die Wohnungsnot in den Industrievororten weiter.[40]
Den entscheidenden Anstoß zu neuer Unruhe aber gab die Versorgungskrise. Soweit ersichtlich, war sie nur zum geringeren Teil Resultat der Teuerung. In erster Linie ergab sie sich aus der Verknappung des Warenangebots auf den großstädtischen Märkten. Kriegsbedingte Engpässe des Bahntransportes spielten dabei eine wesentliche Rolle. Hinzu kamen Probleme der agrarischen Produktion, da die Aushebung von Millionen männlicher Arbeitskräfte und der Verlust eines großen Teils der Zugkraft (durch die Beschlagnahme der Pferde für die Armee) nicht ohne Folgen für die Bestellung der Äcker blieben. Die Erträge gingen zurück, Gutsbesitzer und Bauern verkauften weniger Getreide. Dass sie sich in solchem Maße zurückhielten, war allerdings einem weiteren wichtigen Umstand anzulasten: der planlosen Preis- und Beschaffungspolitik des Staates. Gegen Kriegsende operierten drei verschiedene Organisationen vor Ort. Diese Zersplitterung lud die Produzenten geradezu ein, Fest- und Marktpreise, Beschaffer und Händler gegeneinander auszuspielen. Die Lage wurde auch nicht besser, als sich die Regierung im Dezember 1916 zur ultima ratio entschloss und Getreide zum Staatsmonopol erklärte. Dem Staat fehlten jedoch die Mittel, eine Versorgungsdiktatur durchzusetzen.
Die Folgen solcher Defizite wurden seit dem zweiten Kriegsjahr sichtbar. Im Herbst 1916 kulminierten sie in einer schweren Versorgungskrise, die den Schwarzmarkt florieren ließ und die arme Masse der Stadtbewohner an den Rand des Hungers brachte. Die Zahlen über den Lebensmitteltransport nach Petrograd sprechen für sich: Nur in zwei Monaten konnten die gut 12.000 Eisenbahnwaggons, die eine Sonderkommission im Dezember 1915 für nötig hielt, tatsächlich entladen werden; im Januar 1917 kam nur noch die Hälfte an. Um diese Zeit zehrte man bei fast allen Artikeln des täglichen Bedarfs von den letzten Notvorräten. Im Februar 1917 musste das Brot auf ein Pfund pro Person und Tag rationiert werden. Einige Fabriken schlossen, weil die Kantinen die Arbeiter nicht mehr verpflegen konnten.[41]
Solche Vorgänge waren geeignet, stille Unzufriedenheit mehr und mehr in offenen Protest umzuwandeln. Der Kriegsausbruch hatte die Streiks schlagartig zum Erliegen gebracht. Auch wenn es keinen förmlichen ‹Burgfrieden› gab, erfasste die nationale Aufwallung anfangs auch die Reihen der Arbeiter. Hinzu kam, dass andere Probleme Vorrang hatten; viele wurden eingezogen, alle aus dem Alltag gerissen und mit neuen Sorgen konfrontiert. Die Atempause dauerte jedoch nicht lange. Seit dem Herbst 1915 gehörten Streiks und Demonstrationen wieder zum gewohnten Bild im ganzen Reich. Ein Jahr später erlebten besonders die Hauptstädte ein Ausmaß an Protest, das Erinnerungen an die Vorkriegsjahre weckte. Neben Versorgungsmängeln und Inflation trugen auch politische Motive dazu bei. Gerüchte über das seltsame Treiben Rasputins zeichneten Nikolaus als willenlose Marionette eines Scharlatans, und Andeutungen über eine Verschwörung im Umkreis der aus Deutschland gebürtigen Zarin Aleksandra Fedorovna (Alice von Hessen) schienen einen Abgrund von Landesverrat im Herzen der kaiserlichen Familie aufzudecken. Hinter der Angst und Panik, die der drohende Hunger auslöste, verbarg sich mehr: ein tiefes Misstrauen gegen die Regierung und das alte Regime schlechthin. Nach einer kurzen Beruhigung zeigten die wiederaufflammenden Demonstrationen seit dem Januar 1917, dass eine neue Stufe der Entfremdung und Eskalation erreicht war. Sie gingen nahtlos in den großen Februaraufstand über, der die Monarchie schließlich in die Knie zwang.[42]
Bei alledem verdient Beachtung, dass die Arbeiterschaft so selbständig handelte wie selten. Weniger denn je war ihre Bewegung im Ersten Weltkrieg mit den revolutionären Parteien verknüpft. Der Kriegsbeginn traf diese vielmehr schwer. Soweit sie überhaupt wieder Fuß gefasst hatten, wurden sie auf den Stand nach dem Juni-Coup 1907 zurückgeworfen. Die Polizei konnte abermals mit aller Härte gegen sie vorgehen. Prominente Parteiführer fanden sich in sibirischer Verbannung wieder oder flüchteten zu ihren Gesinnungsgenossen ins Exil. Zurück blieben versprengte Gruppen, die bis Ende 1916 den Namen einer Organisation kaum verdienten. Überwiegend existierten die Parteien im Ausland. Wer in Russland ausharrte, war selbst als moderater Oppositioneller näher am Puls des Geschehens. Er wusste, was die Emigranten erst post festum bemerkten: dass die städtischen Massen – bei völliger Ruhe auf dem Dorf – aus eigenem Antrieb auf die Straße gingen und der Lauf der Dinge durch eine Reform kaum mehr zu ändern war. Die Revolution, so räumt im Januar 1917 selbst ein prominenter rechter Kadett ein, sei «unausweichlich». Offen bleibe nur, wann der Kampf beginne.[43]