Der Monarchie haben wenige nachgetrauert, dem Regime, das sie ablöste, sehr viele. Zwischen Februar und Oktober 1917 genoss die russische Bevölkerung mehr Freiheiten als je zuvor; bis 1992 blieben diese Monate die einzige Periode seiner Geschichte, in der sich Demokratie entfalten konnte. Freilich warfen Entstehungs- und Strukturprobleme von Anfang an tiefe Schatten auf die Zukunft. Die neue Ordnung war instabil und glitt mehr und mehr in Herrschaftslosigkeit ab. Der Sturz des alten Staates brachte keine neue Macht von ausreichender Durchsetzungsfähigkeit hervor. Die Freiheit entpuppte sich als Interregnum, die Demokratie als Anarchie. Je deutlicher die historische Forschung dies zu zeigen vermochte, desto stärker verblasste die Leistung der Bolschewiki, die gerade ihre Gegner im nüchtern kalkulierten und bedenkenlos exekutierten Sturz der Februarordnung gesehen hatten. Stattdessen richtete sich das Interesse wieder auf die Akteure und Aktionen des demokratischen Experiments. In den Vordergrund trat die Frage nach den Gründen für die selbstzerstörerischen Fehler und Versäumnisse des neuen Regimes, das anfangs von so viel Konsens getragen wurde. Sie verbindet sich mit der Notwendigkeit einer neuen Gewichtung zwischen subjektiven und objektiven Faktoren. Breite Zustimmung hat die These gefunden, das Ende der Monarchie habe die Polarisierung der russischen Gesellschaft nicht beseitigt, sondern nur verändert. Der Graben zwischen Elite und Masse blieb erhalten, auch wenn erstere im Wesentlichen ‹nur› noch aus der bürgerlichen Oberschicht bestand. Mehr noch, er erweiterte sich in dem Maße, in dem das Land in wirtschaftlicher Not versank und die Verteilungskämpfe sich zuspitzten. Sicher haben das besondere Kräfteverhältnis zwischen «Gesellschaft», Arbeitern, Bauern (auch in Uniform) und Intelligenz sowie spezifische Prägungen dieser Schichten, wie sie die beschleunigte und sektorale sozioökonomische und politisch-kulturelle Entwicklung in Russland mit sich brachten, dazu beigetragen. Auf der anderen Seite dürfen die Schwierigkeiten nicht zur Alternativlosigkeit verzeichnet werden. Trotz eines Übermaßes an Problemen ging die Demokratie in Russland an den Versäumnissen ihrer Träger und Angriffen ihrer Feinde zugrunde, nicht an unheilbaren Erbleiden seiner Vergangenheit und der Rückständigkeit.

Selten hat eine Massenbewegung einen so durchschlagenden Erfolg errungen wie der Protest der Arbeiter von Petrograd. Dies trug ihr den Ruf besonderer Spontaneität ein. Im Februar 1917 schien sich die Empörung über den Blutsonntag von 1905 zu wiederholen: Arbeiter und Soldaten gaben ‹unverfälscht›, ohne Anleitung von außen, zu Protokoll, was sie vom Staat hielten. Zumal im Vergleich zum Oktoberumsturz ist diese Kennzeichnung weithin akzeptiert worden. Unlängst ist zwar darauf hingewiesen worden, dass auch diese Demonstrationswelle nicht ohne steuernde Kräfte und Führer auskam. Dennoch besteht kein Anlass, das bisherige Urteil substantiell zu korrigieren. Offener ist die Frage nach den Ursachen und Bedingungen des Erfolgs. Als zu einfach muss die Vorstellung gelten, die Wucht der Demonstrationen habe die Monarchie im Verein mit Streiks zu Fall gebracht. Vielmehr kamen mindestens zwei weitere notwendige Faktoren hinzu: zum einen die Solidarisierung der Soldaten, zum anderen die Kopflosigkeit der staatlichen Machthaber vor Ort. Erst sie haben vor dem Hintergrund der langjährigen sozioökonomischen Struktur- und politischen Verfassungskrise, der militärischen Niederlage im Weltkrieg und wachsender Versorgungsengpässe bewirkt, dass aus einer Revolte eine Revolution wurde.[1]

Den Beginn des einwöchigen Sturms, dem dies gelang, markierte eine Kundgebung am 23. Februar (8. März n. St). Eigentlich ungeplant, weil die Parteien den wenig populären Internationalen Frauentag nicht begehen wollten, offenbarte sie eben darin den Grundcharakter der Februarereignisse. Es waren die erschöpften, doppelt belasteten Textilarbeiterinnen und Hausfrauen von Vyborg, die das Maß des Zumutbaren für randvoll hielten und sich auf den Straßen versammelten, um Brot zu fordern. Ihrem Aufruf zur Solidarität konnten sich die Revolutionäre in den nahegelegenen großen Metallfabriken trotz anderslautender Generaldirektiven der großen Parteien nicht entziehen. Ein Protestzug formierte sich, der mit bemerkenswerter Gewaltsamkeit die Beschäftigten benachbarter Betriebe zum Anschluss zwang. Streik und Demonstration blieben jedoch auf den Außenbezirk beschränkt. Noch gelang es der Polizei, den Weitermarsch ins Innere der Stadt zu verhindern.

Am 24. Februar standen auch die Maschinen in anderen Stadtteilen still. Insgesamt traten an diesem Tage etwa 210.000 Arbeiter in den Ausstand. Auf der ‹Vyborger Seite› formierten sie sich – unter ebenso starker Teilnahme der Frauen wie am Vortag – schon in aller Frühe zu einem neuerlichen Protestzug. Ihr Ziel war der abermalige Versuch, die Forderungen in die Innenstadt unter die Augen der Regierung, der Duma und der ganzen Nation zu tragen. Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre arbeiteten dabei in ungewohnter Eintracht zusammen. Solange genaue Anweisungen der überraschten Parteizentralen ausblieben, entschieden die Obleute an der Basis, die den gemeinsamen Kampf oft höher bewerteten als theoretische Differenzen. Vereinzelte Schüsse vermochten das Unerhörte nicht zu verhindern: Zum ersten Mal seit 1905 zogen gegen Mittag Kolonnen feindseliger Demonstranten über den Nevskij-Prospekt. Aufs Höchste alarmiert, akzeptierte der letzte Ministerpräsident die Aufforderung des Parlaments, die Lebensmittelverteilung in die Zuständigkeit der Stadt zu übergeben. Beide gingen noch von der irrigen Annahme aus, es mit einer bloßen Hungerrevolte zu tun zu haben. Was die Demonstranten vor den Palästen außer der Forderung nach Brot bereits skandierten, hätte sie eines Besseren belehren können: «Nieder mit dem Krieg» und «Nieder mit der Autokratie».

Am dritten Tag weitete sich der Ausstand zum Generalstreik. Auf der anderen Seite rüstete das Regime zur Gegenwehr. Aus dem Armeehauptquartier im fernen Mogilev, wohin sich der Zar unklugerweise trotz der angespannten Lage am 21. Februar begeben hatte, wies er den Petrograder Militärkommandanten an, Schießbefehl zu erteilen. Allerdings häuften sich die Schwierigkeiten, ihn in die Tat umzusetzen. Von Anfang an hatten die Kosaken – zu jener Zeit eine Art von Elite-Polizei – Sympathien für die Aufständischen erkennen lassen. Nun leisteten sie offene Hilfe oder wahrten ostentative Neutralität. Die berühmte Szene auf dem Nevskij-Prospekt war unmissverständlich: Als Kosaken und Demonstranten aufeinander zumarschierten und eine Teilnehmerin sich aus dem Zug löste – nahm der Kosakenoffizier den Strauß roter Nelken entgegen, den sie ihm überreichte. Auch wenn der Stadtkommandant anderntags Gardetruppen ins Gefecht schickte, die vor dem Gebrauch ihrer Schusswaffen nicht zurückschreckten, machte das Beispiel Schule. Denn wie im Januar 1905 bewirkte das Blutbad, das vierzig Tote hinterließ, das Gegenteil seiner Absicht. Der Widerstand verhärtete sich, und selbst monarchiefreundliche Oktobristen wie der Dumapräsident zweifelten an der Verhältnismäßigkeit einer solchen Reaktion. Die Regierung und die örtliche Militärführung aber täuschten sich weiter über die wahre Sachlage. Sie meinten, die Situation noch im Griff zu haben, und bewogen den fehlinformierten Zaren zu einem Schritt, der fataler kaum hätte sein können: Am Abend desselben 26. Februar verkündete der Ministerpräsident statt der Berufung eines neuen, kompromissbereiten Kabinetts, das der Progressive Block mit verstärktem Nachdruck forderte, die abermalige Auflösung des Parlaments.

Doch nicht der Widerstand der Duma brachte die Entscheidung. Den Todesstoß versetzte dem alten Regime am 27. Februar die massenhafte Fahnenflucht der hauptstädtischen Soldaten. Dies markierte den qualitativen Unterschied zu 1905: dass der bewaffnete Arm der Autokratie im Innern – wohlgemerkt: (noch) nicht an der Front – seinen Dienst versagte. Den Anfang machten dabei eben jene Offiziere und Soldaten, die am Vortag noch geschossen hatten. Gleichsam als Wiedergutmachung verließen sie die Kasernen, um ihre Solidarität mit dem Aufstand zu bekunden. Auf der Brücke zum Vorort Vyborg kam es zur Vereinigung mit demonstrierenden Arbeitern, die das Novum der Februarunruhen symbolhaft zum Ausdruck brachte. Die Euphorie des nahen Sieges wirkte ansteckend. Man schätzt, dass die Zahl der meuternden Soldaten im Laufe des Tages von gut 10.000 auf knapp 67.000 wuchs. Rein numerisch hatte die Obrigkeit bei einer gesamten Truppenstärke von etwa 180.000 Mann und weiteren 152.000 im näheren Umkreis zwar immer noch eine gute Chance, mit dem Schrecken davonzukommen. Doch die Mehrheit der Regimenter stand Gewehr bei Fuß. Man wird einen Zusammenhang mit dem Wandel ihrer sozialen Herkunft unterstellen dürfen: Die neu rekrutierten Garnisonssoldaten stammten etwa zur Hälfte aus dem Arbeiter-, Handwerks- und Tagelöhnermilieu der Petrograder Umgebung. Sie teilten die Sorgen und Stimmungen der kleinen Leute in der Hauptstadt. Über den Erfolg des Aufstandes entschied weniger die Kraft der Rebellen als die Schwäche der Verteidiger. Vieles spricht für das Urteil eines führenden Dumapolitikers, dass ein einziges diszipliniertes Regiment von der Front genügt hätte, um ihn niederzuschlagen. Ein solches aber war nicht zur Stelle, weil die lokale Militär- und Zivilführung eine bemerkenswerte Unfähigkeit an den Tag legte. Als der Stadtkommandant am Abend des 27. erstmals zugab, nicht mehr Herr der Lage zu sein, und die Armeeführung in Mogilev um Verstärkung bat, war viel kostbare Zeit verstrichen. Zur selben Zeit gestand auch die Regierung ihre Machtlosigkeit ein: Sie erklärte geschlossen ihren Rücktritt. Bevor Nikolaus das Telegramm anderntags überhaupt erhielt, hatte er die Herrschaft faktisch schon verloren.[2]

Der Sieg warf unabweisbar die Frage nach einem neuen Machtzentrum auf. Eine Kraft wurde gebraucht, die fähig war, die Dynamik und die wiederholt durchbrechende Gewaltsamkeit der Masse zu bändigen. Dabei blieb ihr Charakter durchaus offen. Zwar war die alte Verfassung nicht mehr zu retten. Aber über das Schicksal der Monarchie selbst musste noch ebenso entschieden werden wie über die Art der neuen Ordnung. Am ehesten war die Duma zum Handeln aufgerufen. Ihre abermalige Auflösung am Vortag zwang sie, Farbe zu bekennen. Nichts war bezeichnender für ihre Furcht als die Zögerlichkeit, mit der sie trotz allem reagierte. Noch am Morgen des 27. weigerte sich der Dumapräsident, den Ältestenrat einzuberufen, dessen Bildung er nach der Entlassungsorder widerwillig zugestimmt hatte. Erst am frühen Nachmittag kam etwa ein Drittel der Parlamentarier aus eigenem Antrieb zusammen. Immer noch war man peinlich darauf bedacht, offenen Ungehorsam zu vermeiden. Die Versammlung deklarierte sich zu einem ‹privaten› Treffen. Erst das unerwartete Eindringen von Demonstranten veranlasste sie zu Schritten, die damit nicht mehr zu vereinbaren waren. Aber sie wählte unter den Handlungsalternativen auch jetzt noch die unverbindlichste. Statt den Ältestenrat zur Regierung auszurufen oder die Duma nach dem Vorbild der französischen Generalstände (vom 17. Juni 1789) zur Konstituierenden Versammlung zu erklären, begnügte sie sich mit der Einsetzung eines Provisorischen Komitees zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Den Kern dieses dreizehnköpfigen Gremiums stellten die führenden Politiker des Progressiven Blocks, verstärkt durch den Vorsitzenden der menschewistischen Dumafraktion und den Sozialrevolutionär Alexander F. Kerenskij als neuen Volkstribun. Beiden fiel die lebenswichtige Aufgabe zu, den Kontakt zu den sozialistischen Parteien und den Aufständischen herzustellen.

Auch nach diesem kaum mehr verfassungsmäßigen Akt verfolgte die Duma einen vorsichtigen Kurs. Erst als sich der Zar einem weiteren Appell zum Einlenken versagte und der Triumph der hauptstädtischen Rebellion feststand, fügte sie sich dem Zwang der Ereignisse. Am 28. Februar um zwei Uhr morgens wandte sich das Komitee mit zwei Aufrufen an die Öffentlichkeit. Darin mahnte es zum Verzicht auf Gewalt und versprach, sich im Benehmen mit Volk und Armee um die Bildung einer vertrauenswürdigen Regierung zu bemühen. Immer noch reagierte die «Gesellschaft» mehr, als dass sie agierte. Sie ergriff, wozu nun selbst konservative Parlamentarier rieten, die verwaiste Macht, um eine Anarchie zu verhindern, nicht weil sie eine Chance suchte, ihr liberales Programm zu verwirklichen.[3]

Zielstrebiger agierten die Aufständischen. Auch sie schufen am 27. ein Organ, das ihren Willen im bevorstehenden Ringen um die Zukunft des Landes zur Geltung bringen sollte. Ihnen half die revolutionäre Intelligenz aller Schattierungen inner- und außerhalb der Parteien. In Abwesenheit der prominenten Radikalen fiel dabei den vor Ort präsenten gemäßigten Parteiführern der legal operierenden Menschewiki und der Arbeitergruppe beim zentralen Kriegsindustriekomitee eine Schlüsselrolle zu. Als der Streik sich ausweitete, entstand in ihrem Umkreis die naheliegende Idee, auf die 1905 erprobten Räte zurückzugreifen. In dieselbe Richtung drängten auch die aufständischen Arbeiter selbst. Verbürgt ist, dass sie in einigen Fabriken bereits am zweiten Protesttag Delegierte wählten und die menschewistische Dumafraktion aufforderten, ein zentrales Repräsentativgremium einzuberufen. Etwa um dieselbe Zeit, als der Dumaausschuss zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung zusammentrat, gründeten menschewistische und andere sozialistische Abgeordnete im selben Gebäude ein Provisorisches Exekutivkomitee des Arbeiterdeputiertenrates. Zugleich beraumten sie die konstituierende Plenarsitzung des Rates bereits für den Abend desselben Tages an.

Für breite Zustimmung spricht, dass der Sowjet tatsächlich noch am Tag der großen Erhebung zusammentrat. Wichtigste Handlung war die Wahl der Führungsgremien. Die Delegierten gaben dabei ihrer Sympathie für die gemäßigten Menschewiki Ausdruck, die mit sechs Mitgliedern neben fünf Parteilosen, zwei Sozialrevolutionären und zwei Bolschewiki die Mehrheit des ersten Exekutivkomitees stellten. Schon am nächsten Tag kamen im Zuge erweiterter Wahlen Vertreter der Truppen und Garnisonen hinzu. Der Arbeiterrat wandelte sich (damit über seinen Vorgänger aus der ersten Revolution hinausgehend) zum Arbeiter- und Soldatenrat. Allerdings verlangte diese Stärkung ihren Preis. Die neuen Bundesgenossen stellten radikale Forderungen, und die gemäßigten Revolutionäre hatten allen Anlass, sie mit gemischten Gefühlen zu betrachten. Bezeichnend dafür war der berühmte Befehl Nr. 1, den Soldatenvertreter einem Ratsmitglied in die Feder diktiert haben sollen. Selbst wenn der entsprechende Bericht den tatsächlichen Hergang stilisierte, weil zu Papier gebracht wurde, was in der Luft lag, war der Mythos gut erfunden. Er erklärte bildhaft, warum dieses erste Dekret zum Symbol der Soldaten- und Matrosenrevolution überhaupt wurde. Zugleich ließ er eine gewisse Distanz der Sowjetführung erkennen. Denn was damit in der Nacht vom 1. auf den 2. März (a. St.) verkündet wurde, war gewiss ambivalent: die Wahl von Komitees in den Regimentern, die Übertragung der Kontrolle über die Waffen an diese Komitees und – psychologisch wohl am wichtigsten – das Verbot des erniedrigenden «Du» samt der verbreiteten Beschimpfungen vonseiten der Offiziere. Das Exekutivkomitee sicherte sich mit seiner Zustimmung die Loyalität der aufständischen Truppen. Aber es mochte ahnen, dass eine so plötzliche Demokratisierung der Armee nicht ohne Auflösung der Disziplin zu haben war.[4] Bereits in der ersten Stunde der neuen Ära betrat damit ein zweites allgemeines Führungsorgan die politische Bühne. Die beiden Hauptkräfte des Umsturzes, die ihre Distanz zueinander nicht überwinden konnten, hatten eigene Repräsentativinstitutionen mit unterschiedlichen Konzepten über die künftige Verfassung und Gesellschaft hervorgebracht. Auch wenn Miljukov die Existenz einer «Doppelherrschaft» leugnete, war ihr Fundament gelegt.[5]

Am selben Tag debattierte der Sowjet auch erstmals über die Regierungsbildung. Drei Lager gewannen schnell Kontur. Auf der Rechten votierten Volkssozialisten, einige Menschewiki und Sozialrevolutionäre für eine formelle Koalition mit den liberal-bürgerlichen Kräften der Duma. Auf der Linken forderten Bolschewiki und Linke Sozialrevolutionäre eine allein vom Sowjet getragene «Provisorische Revolutionäre Regierung». Dazwischen formierte sich eine Mitte aus der menschewistischen und sozialrevolutionären Mehrheit. Sie ging ebenfalls davon aus, dass der im politischen Geschäft erfahrenen bisherigen parlamentarischen Opposition die Führung zufallen müsse. Aber sie wollte den Kopf nicht in die Schlinge stecken und sich darauf beschränken, die Regierung zu kontrollieren und je nach Sachlage mitzutragen. Um die Entscheidung über Russlands Zukunft nicht völlig der anderen Seite zu überlassen, sah sie deshalb einen Programmkatalog vor, den das bürgerliche Kabinett als Gegenleistung für seine Duldung akzeptieren sollte.

Noch am späten Abend des 1. März begannen entsprechende Verhandlungen. Die meisten Wünsche des Exekutivkomitees stießen auf Zustimmung. Gegen die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung auf der Basis des ‹vieradjektivischen› Wahlrechts, gegen Presse-, Rede-, Koalitions-, Streik- und die übrigen bürgerlichen Freiheiten, gegen die Abschaffung religiöser und nationaler Diskriminierung, kurz: gegen eine grundlegende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, hatten die Führer des Progressiven Blocks naturgemäß nichts einzuwenden. Als Sprecher des Dumakomitees brachte Miljukov lediglich zwei, allerdings gravierende Einwände vor. Zum einen lehnte er die vorgeschlagene Ausrufung einer Republik ab und bestand darauf, erst die Konstituierende Versammlung über die Staatsform entscheiden zu lassen. Offenbar wollte er damit die Option einer konstitutionellen Monarchie offenhalten. Im Rückblick erscheint der Gedanke nicht abwegig: Womöglich hätte die Legitimität der Monarchie einen Rest an innerem Zusammenhalt bewahren und ein Gegengewicht gegen sozialen Krieg und Unregierbarkeit bilden können, die der gelernte Historiker am Horizont heraufdämmern sah. Zum anderen wies Miljukov die Wahl der Offiziere durch die Soldaten zurück, da er um die Kampffähigkeit der Armee fürchtete. Sicher war es das stärkste Motiv für beide Einwände Miljukovs, dass er die Fortsetzung des Krieges an der Seite der Alliierten gefährdet und die Wahrscheinlichkeit einer Niederlage wachsen sah. Auf einem anderen Blatt stand, und hierin lag die grundlegende Schwäche seiner Position, ob Nationalprestige und Vaterlandsverteidigung in der gegebenen Situation als Richtschnur der Politik noch taugten. In der ersten Streitfrage gab das Exekutivkomitee fürs Erste nach; die Staatsform blieb offen; in der zweiten einigte man sich auf einen Kompromiss. Die Dumaliberalen akzeptierten die Demokratisierung der Armee, die ohnehin nicht mehr aufzuhalten war. Im Gegenzug verzichtete der Sowjet darauf, sie bis zur Wahl der Offiziere voranzutreiben.

So war der Weg frei für die Bildung der Provisorischen Regierung. Am Nachmittag des 2. März erschien Miljukov im Katharinensaal des Taurischen Palais (Sitz der Duma), um den zufällig Anwesenden in einer historischen Stunde das neue Kabinett vorzustellen. Als Ministerpräsident wurde der Vorsitzende des Zemstvo- und Städtebundes (Zemgor), Fürst G. E. L’vov, ausersehen, der zugleich das Innenressort leiten sollte. Miljukov selber reservierte sich das Außenministerium. Gučkov sollte als einschlägiger Parlamentsexperte an die Spitze des Heeres- und Marineressorts treten. Neben ihm gehörte der zwölfköpfigen Regierung nur ein weiterer Oktobrist an. Linke Kadetten und andere Liberale verliehen ihr ein glaubwürdiges demokratisches Gepräge. Im Vergleich zum Dumakomitee hatte sich die politische Achse deutlich nach links verschoben. Dennoch richteten sich kritische Zwischenrufe nicht nur gegen die wenigen Konservativen. Klassenkämpferische Töne wurden laut, die das Kabinett als Veranstaltung der «privilegierten Gesellschaft» schmähten. Kein Zweifel, die Bindungen zwischen Regierung und Sowjet waren schwach. Die Unterstützung galt auf Abruf.[6]

Angesichts dessen ist die Frage nie verstummt, warum der Deputiertenrat die Macht überhaupt aus der Hand gab, die der Aufstand der Arbeiter vor allem ihm übertragen hatte. Üblicherweise hat man die Antwort in den geschichtstheoretischen Prämissen der Mehrheitsfraktionen gesucht. Menschewiki und ‹rechte› Sozialrevolutionäre definierten den Umsturz als endgültige Beseitigung der Feudalgesellschaft. Zweck dieser «bürgerlichen» Revolution musste es sein, die nunmehr freigesetzte kapitalistische Gesellschaft mitsamt der ihr entsprechenden politischen Verfassung zur vollen Reife zu entfalten. Die Sozialisten hatten die Bourgeoisie bei dieser ihrer genuinen historischen Aufgabe nur zu kontrollieren, nicht an ihrer Stelle zu handeln. Man kann aber nicht ausschließen, dass sich hinter den ideologischen Argumenten noch andere Motive verbargen: vor allem ein Unterlegenheitsgefühl gegenüber den parlamentarisch erfahrenen Liberalen und eine tiefsitzende Furcht vor der Verantwortung. Womöglich handelte die menschewistische Mehrheit aber auch nur, wie die jüngste Studie meint, in nüchterner Einschätzung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse. So gesehen, entpuppt sich das vielzitierte «Paradoxon der Februarrevolution» (Trotzki) als sein Gegenteil: als Realpolitik und Konsequenz ungleicher Handlungsfähigkeit.[7]

Miljukov sah wohl am schärfsten, dass der Schlüssel für den endgültigen Sieg der Revolution im Hauptquartier der Armee lag. Von den Generälen hing ab, ob Nikolaus und die Monarchie noch eine Chance hatten. Den ersten und einzigen Versuch, Frontverbände zur Niederwerfung des Aufstandes einzusetzen, unternahm der Zar selbst. Als die Regierung zurücktrat, setzte er in Mogilev einen Militärdiktator über Petrograd ein und schickte ihn mit allen entbehrlichen Truppen in die Hauptstadt. Überzeugend ist die verbreitete Auffassung widerlegt worden, dass die Mission von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Siebzehn Frontregimenter und -kompanien summierten sich zu einer durchaus eindrucksvollen Streitmacht. Trotz der Anweisung des Dumakomitees, die Waggons vorher anzuhalten, erreichten sie am späten Abend des 1. März den Residenzort Carskoe Selo vor den Toren Petrograds, konnten aber nicht mehr kampflos zur kaiserlichen Familie in den Palast vordringen. Anderntags zogen sie sich unverrichteter Dinge zurück. Über die Gründe ist viel gerätselt worden. Inzwischen dürfte feststehen, dass weder die Stärke der revolutionären Kräfte noch Desertionsgefahr zum Abbruch des Unternehmens zwang. Den Ausschlag gab vielmehr eine neue Instruktion von Nikolaus, die den kommandierenden General anwies, bis zu seinem Eintreffen abzuwarten. Der Zar aber erreichte seine Residenz nicht mehr.[8]

Kaum weniger Bedeutung kam einem zweiten Telegramm vom selben Abend des 1. März zu. Darin hob M. V. Alekseev, Chef des Generalstabs und faktischer Oberkommandierender des Heeres, die Bemühungen des Provisorischen Dumakomitees um Ruhe und Ordnung hervor und gab seiner Erwartung Ausdruck, der Militärdiktator könne auf dieser Grundlage gemeinsam mit dem Zaren eine «friedliche» Lösung des Konflikts herbeiführen. Wie es scheint, bildeten vor allem Nachrichten vom Übergreifen der Unruhen auf Moskau, Kronstadt und die baltische Flotte den entscheidenden Anlass für diese Kehrtwende. Alekseev kam zu der Überzeugung, dass Zugeständnisse unvermeidlich seien und sie allein eine Chance eröffneten, die Armee unversehrt durch die politischen Wirren zu steuern. Hinzu kam, dass einige hohe Generäle, wie die Oberkommandierenden der Nord- und der Südwestfront N. V.Ruzskij und A. A.Brusilov, schon seit Längerem zu der Auffassung neigten, Staat und Reich könnten nur im Bunde mit der «Gesellschaft» neue Kraft schöpfen. In jedem Falle formulierte das Telegramm Alekseevs die letztlich entscheidende Überlebensbedingung der Februarrevolution: Die Armeeführung war bereit, das alte Regime dem übergeordneten Zweck der Aufrechterhaltung der nationalen Verteidigungsfähigkeit zu opfern.

Was folgte, entwickelte sich mit beinahe tragischer Zwangsläufigkeit. Der zarische Sonderzug war auf Weisung des Transportministeriums in sicherer Entfernung von Petrograd abgefangen und nach Pskov umgeleitet worden. Hier im Hauptquartier der Heeresleitung Nord gab Nikolaus am späten Abend des 1. März dem hartnäckigen Drängen von Ruzskij und Alekseev nach, die Bildung einer «verantwortlichen» Regierung zu verkünden. Gegen drei Uhr früh erfuhr Ruzskij telegraphisch vom Dumapräsidenten in Petrograd, dass die Ereignisse solch karge Konzessionen längst überholt hätten und die Monarchie, wenn überhaupt, nur durch die Abdankung des Zaren zu retten sei. Alekseev schloss sich dieser Meinung an. In der Erwartung, dass Nikolaus sich gegen den Verzicht sperren werde, bat er gegen zehn Uhr morgens alle Generäle um ihre Meinung. Gegen Mittag trafen die Antworten zusammen mit der Stellungnahme Alekseevs in Pskov ein. Im Bewusstsein, einem historischen Augenblick beizuwohnen, begab sich Ruzskij in den Waggon des Zaren und legte ihm die Telegramme vor. Nikolaus konnte sich dem einmütigen Votum der Armeeführung nicht entziehen und fügte sich. Seine realitätsfremde und prinzipientreue Vorstellungswelt ließ jedoch den Gedanken immer noch nicht zu, dass er an diesem Ende selbst tatkräftig mitgewirkt haben könnte: Verrat und Feigheit, so vertraute er seinem Tagebuch bitter an, hätten ihn zu Fall gebracht.

In bester Absicht traf der unglückselige Zar bei seiner Abdankung eine weitere Entscheidung, die auch das Schicksal der Monarchie selber besiegeln sollte. Nikolaus verzichtete nicht nur für sich auf den Thron, sondern auch für seinen bluterkranken einzigen Sohn. Er durchkreuzte damit den Plan der liberalen Monarchisten, den unmündigen Aleksej unter der Regentschaft seines Onkels Michail Aleksandrovič zum neuen, konstitutionellen Kaiser auszurufen. Da diese Absicht auch im Sowjet und unter den Aufständischen auf unerwartet heftigen Widerstand stieß, überließ man die Entscheidung schließlich allein dem Großfürsten. Dieser lehnte die Krone nach Beratung mit dem vollzählig versammelten Kabinett ab. So ging am Morgen des 3. März 1917 zusammen mit der dreihundertjährigen Geschichte der Romanov-Dynastie auch die noch längere der russischen Monarchie generell nicht eben ruhmvoll zu Ende.

Als Petrograd am 4. März zum Alltag zurückkehrte, waren 433 Tote und 1136 Verwundete zu beklagen. Die Februarrevolution verlief weder so gewaltlos noch so spontan, wie oft behauptet wurde. Dennoch trifft zu, dass sie im Vergleich zu Geschehnissen von ähnlicher Tragweite wenig Opfer forderte, weil sie sich auf ein verbreitetes Unbehagen quer durch die Schichten und Gruppen der Untertanen stützen konnte. Von Strukturkrisen und Kriegslasten gleichermaßen überfordert, durch Erstarrung und politische Blindheit isoliert, blieb die zarische Herrschaft im Augenblick der Bedrohung ohne Verteidiger. Die Koinzidenz zweier Angriffe, des parlamentarischen Staatsstreichs im Zeichen der Demokratie und des Aufstands der Massen für Brot, Freiheit, Gleichheit und Friede, ermöglichte den Umsturz. Aber sie verhalf ihm noch nicht zum Sieg. Entscheidend für den raschen Triumph – und das ist zu wenig beachtet worden – war das Arrangement zwischen Armeeführung und Duma, das seinerseits die Mäßigung der Revolution voraussetzte. Darin lag sowohl die hauptsächliche Ursache für die Übergabe der Macht an das Parlament als auch ein wichtiger Grund für die bemerkenswerte Tatsache, dass es eine nennenswerte gegenrevolutionäre Bewegung, einen Bürgerkrieg, nach dem Februar (anders als nach dem Oktoberumsturz) nicht gegeben hat.[9]

Die neue Machtstruktur war indes fragil. Sie beruhte auf der Zusammenarbeit zweier Organe, die unterschiedliche Ziele verfolgten und Anliegen verschiedener sozialer Schichten im Auge hatten. Die Duma repräsentierte einen Teil der alten Ordnung. In ihr ragte die «Gesellschaft» von Besitz und Bildung in das neue Zeitalter hinein. Sie hatte gleichsam ihre Rolle gewechselt und sich aus einer Gegenöffentlichkeit in die formal entscheidende Kraft verwandelt. Insofern verkörperte sie auch ein Stück Kontinuität und Legitimität – jene tiefere Dauer über die Zäsur hinweg, die auch in der Marxschen Theorie die Einheit des historischen Prozesses wahren hilft. Vor allem den Menschewiki war dies bewusst.

Aber die Duma erreichte ihren Aufstieg nicht aus eigener Kraft, sondern wurde vom Ungehorsam der Arbeiter und Soldaten auf den Schild gehoben. Zugleich blieb eine Verbrüderung zwischen liberaler «Gesellschaft» und der politisch aktiven, gewerkschaftlich-sozialistisch orientierten (städtischen) Masse wie 1905 aus. Beide Bewegungen und Schichten hatten sich seither nicht nur parteilich organisiert, sondern auch eigene Wege eingeschlagen und eigene ‹Identitäten› (L. Haimson) ausgebildet. Die Arbeiter bedurften der liberalen Intelligenz nicht mehr, um ihre Forderungen wirksam vorzubringen. Sie schufen sich unter symptomatischem Rückgriff auf das erste Gremium dieser Art von 1905 ihr separates Forum der politischen Willensbildung und Artikulation. Aber so wie die Unterschichten nicht zur «Gesellschaft» gehörten, hatten ihre Organisationen einschließlich der Gewerkschaften, anders als die Duma seit 1907, in der alten Ordnung keinen Platz gefunden. Insofern repräsentierte der Arbeiter- und Soldatenrat das eigentlich Neue, Bruch und Provokation zugleich. Man wird das Schicksal der «bürgerlich-demokratischen Revolution» in Russland – wie die Zeit zwischen Februar und Oktober 1917 in der sowjetischen Geschichtsschreibung genannt wurde – nicht verstehen, wenn man nicht sieht, dass sie es infolge der ‹Verspätung› der sozioökonomischen Entwicklung mit einer stärkeren und selbstbewussteren Arbeitervertretung zu tun hatte als alle vergleichbaren Regime der Neuzeit (die französische Revolution von 1848 eingeschlossen).

Dennoch gab es durchaus gemeinsame Ziele, die den Konflikt für eine gewisse Zeit sistierten. Dazu gehörte nach dem Sturz der Monarchie zunächst die Schaffung einer neuen politischen Ordnung, die nicht ohne soziale Veränderung denkbar schien. Die Provisorische Regierung sollte zuallererst das Versprechen politischer Freiheit einlösen. Dafür besaß sie, wie die informelle Koalitionsvereinbarung festlegte, die volle Unterstützung des Sowjets. Was die Regierung am 6. März als Programm verkündete, wurde umgehend in Gesetzesform gegossen. Allgemein verpflichtete sie sich, allen politischen Kräften die Möglichkeit zu ungehinderter politischer Betätigung zu garantieren. Die Koalitions-, Versammlungs- und Pressefreiheit sollte ebenso vorbehaltlos gelten wie die übrigen Grund- und Menschenrechte. Signalwirkung besaß eine Amnestie, die den politischen Häftlingen die Gefängnistore öffnete oder ihnen die Rückkehr aus Verbannung und Emigration ermöglichte. Am 12. März wurde die Todesstrafe abgeschafft, kurz darauf der Strafvollzug von Peitsche und Eisen befreit – Dekrete von starker Symbolkraft, die Sinnbilder der aziatščina beseitigten. Am selben Tag erfuhr die Öffentlichkeit, dass jegliche rechtliche Diskriminierung aus ständischen, ethnisch-nationalen und religiösen Gründen aufgehoben sei. Die Provisorische Regierung liquidierte damit nicht nur die Reste der Leibeigenschaftsordnung; zugleich korrigierte sie Auswüchse der Russifizierung und holte mit bezeichnender Verspätung die Judenemanzipation nach.

Schon Ende März war die rechtliche und politische Verfassung des Russischen Reichs nicht mehr wiederzuerkennen. Erstmals hatte man mit der Absicht ernst gemacht, den Untertanenverband in eine Gemeinschaft freier, rechtsgleicher und souveräner Staatsbürger zu verwandeln. Da mochte es als bloßer Schönheitsfehler erscheinen, dass eine angemessene Legitimation der neuen Demokratie durch freie, gleiche und geheime Wahlen samt der endgültigen Festlegung ihrer Gestalt noch auf sich warten ließ. Immerhin stellte die Provisorische Regierung auch in dieser Hinsicht frühzeitig die Weichen. Am 26. März richtete sie eine «Besondere Beratung» mit der Aufgabe ein, die Konstituierende Versammlung vorzubereiten, wohl wissend, dass Ruhe und Ordnung einigermaßen gesichert sein mussten, bevor reguläre Wahlen durchgeführt werden konnten.[10]

Offen blieb freilich, was diese Flut wohlgemeinter Maßnahmen tatsächlich bewirkte. Es war eine Sache, Gesetze zu verkünden, eine andere, sie in der Weite der russischen Provinzen auch durchzuführen. Kaum überwindliche Barrieren stellten sich bereits dem Aufbau einer neuen Verwaltung entgegen. Wohl verlief die Wachablösung in den meisten Gouvernements- und Kreisstädten fast ohne Gegenwehr. Die örtlichen Bastionen der zarischen Gewalt lösten sich auf und überließen spontan gebildeten Komitees das Feld. Fast überall wiederholte sich das gespannte Nebeneinander eines Bürgerausschusses und eines Arbeiter- und Soldatenrates. Erstere genossen dabei in der Regel die Hilfe der zemstva und Stadtdumen. Gerade die neue Regierung vertraute auf die ‹Schule der Selbstverwaltung›, die der große Aufbruch Alexanders II. ungeachtet aller Beschränkungen dauerhaft verankert hatte. Den Liberalen lag besonders daran, die schöpferischen Kräfte der Regionen, die der alte Obrigkeitsstaat überängstlich hatte brachliegen lassen, für das neue Gemeinwesen nutzbar zu machen. Zugleich musste die Funktionsfähigkeit des Staates gewahrt bleiben. Es war eine Verbindung von Föderalismus und Zentralismus, die das neue Regime nach dem Muster westeuropäischer Demokratien anstrebte.

Allerdings gelang es ihm nicht, die Balance auch nur annähernd herzustellen. Zwar wurden die Gouverneure und nachgeordneten Repräsentanten der alten Staatsgewalt zügig entlassen und durch die Zemstvo-Vorsitzenden als temporäre Kommissare ersetzt. Desgleichen erfüllte die Regierung endlich den alten Traum, der provinzialen Selbstverwaltung durch die Erweiterung auf die Bezirksebene (volost’) und die Einrichtung eines allrussischen Zentralgremiums Fundament und Dach zu geben. Es fehlte ihr aber an Kraft, um den neuen Hoheitsträgern vor Ort zur Anerkennung zu verhelfen. Die Entfesselung lang unterdrückter Energien löste in Verbindung mit der staatlichen Autoritätskrise einen unkontrollierbaren Wildwuchs konkurrierender Komitees und Organisationen aus. Vor Ort entfaltete sich ein Eigenleben, das sich zentraler Kontrolle weitgehend entzog.

Ähnliche Machtlosigkeit, mit gewiss nicht geringeren Folgen, offenbarte die Regierung in der Versorgungsfrage. Der Stillstand von Transport und Produktion in den Aufstandstagen hatte die Lage weiter zugespitzt. Die hauptstädtischen Getreidevorräte reichten nur noch für drei bis vier Tage. Auch ein neuerliches Staatsmonopol, das der Landwirtschaftsminister auf Druck des Sowjets Ende März contre cœur verfügte, half nicht. Die neue Herrschaft sah sich gezwungen, dieselbe unpopuläre Entscheidung zu treffen wie die alte: das Brot zu rationieren. Die Krise verschärfte sich so sehr, dass sich der Petrograder Sowjet mit dem flehentlichen Appell an die Bauern wandte, die Ernährung des Landes zu sichern und dadurch die Revolution zu retten. Im Mai richtete die Regierung ein eigenes Versorgungsministerium ein und veranstaltete eine gesamtnationale Konferenz zur Koordination aller einschlägigen Anstrengungen. Im August nahm sie sogar einen Wortbruch in Kauf, als sie den mehrfach garantierten Festpreis in der Hoffnung verdoppelte, die Produzenten zu höheren Verkäufen bewegen zu können. Auch diese Verzweiflungstat blieb indes erfolglos. Vieles spricht dafür, dass eine Besserung der Lage in der Tat nur von zwei Maßnahmen zu erwarten war: Getreide mit Waffengewalt einzutreiben oder den Krieg zu beenden. Beide Wege konnte die Regierung nicht beschreiten, ohne sich selbst untreu zu werden. Die gemäßigte, demokratische Revolution ließ sich mit Zwangsrequisitionen nicht vereinbaren. Aber ihr Dilemma bestand darin, dass sie auch der Doppelaufgabe nicht gewachsen war, eine freiheitliche Ordnung zu verankern und zugleich den äußeren Konflikt fortzusetzen. Der Schlüssel nicht zur Lösung aller, wohl aber der drängendsten Probleme lag im Krieg.[11]

Krieg und Frieden haben denn auch im Vordergrund der Aufmerksamkeit von Regierung und Sowjet gestanden und erste gravierende Auseinandersetzungen verursacht. Die Organe der Doppelherrschaft dachten unterschiedlich über die beiden unzertrennlich miteinander verbundenen Kernprobleme: wie die Kampfkraft der Armee zu bewahren und unter welchen Bedingungen ein Friede vorstellbar war. Das hinderte sie nicht am Konsens darüber, Russland keinem Diktat der Mittelmächte unterwerfen zu wollen und den Bündnisverpflichtungen so lange nachzukommen, wie kein akzeptabler Weg zur Beendigung des Krieges in Sicht war. Letztlich verlor der Friedenswille darüber an Glaubwürdigkeit. Die Befürwortung des Verteidigungskrieges markierte den Graben zu den radikalen Kräften, die sich bald in den Sowjets meldeten. Sie bildete die Klammer, die den Notbund vom Februar trotz allem zusammenhielt – aber auch die wichtigste Voraussetzung für sein bitteres Ende.

Dabei fiel es den patriotischen Partnern durchaus schwer, sich zu arrangieren. Zwar bemühte sich der Sowjet vereinbarungsgemäß um Schadensbegrenzung, indem er dem «Befehl Nr. 1» einen zweiten mit der Erläuterung folgen ließ, der erste umfasse nicht die Wahl der Offiziere. Parallel kam der Kriegsminister dem Hauptwunsch der Soldaten nach und hob die noch 1913 bestätigten Diskriminierungen auf: Fortan durften auch Gemeine in Straßenbahnen fahren, in Restaurants speisen und ohne Einwilligung der Offiziere Zeitung lesen. Vor allem aber wurde den Offizieren das erniedrigende «Du» untersagt und umgekehrt den Soldaten erlaubt, alle Vorgesetzten mit einem egalitären «Herr» anstelle der alten verschnörkelten Devotionsformeln anzureden. Zusammen mit dem Verbot der Todesstrafe auch in der Armee und der Abschaffung von Sondergerichten summierten sich diese Maßnahmen zur Erfüllung einer zentralen Erwartung an die Revolution: der Befreiung des Menschen im Soldaten. Insofern nahm vor allem die letztgenannte Weisung den Kern der berühmten «Deklaration der Soldatenrechte» vorweg, die eine gleichzeitig eingesetzte gemischte Kommission von Regierung und Sowjet ausarbeitete. Obwohl die traditionelle Befehlshierarchie damit endgültig zusammenbrach, verfehlte der Kompromiss seine Wirkung nicht. In der zweiten Märzhälfte zeichnete sich eine Stabilisierung ab. Viele Offiziere arbeiteten mit den Truppenkomitees zusammen und wahrten ihre Autorität. Noch herrschten – was oft übersehen wird – an der Front andere Verhältnisse als in der Hauptstadt und im Hinterland. Auch die Komitees stimmten für und nicht gegen den Krieg.[12]

Solche Mäßigung änderte sich erst, als Spannungen zwischen Arbeitern und patriotischen Soldaten sichtbar wurden und die konservative Presse eine Kampagne gegen die Frontrevolution für angezeigt hielt. Im Gegenzug verstärkte der Sowjet seine Agitation. Zur Heerschau der sozialistischen Kräfte geriet Mitte April ein großer Kongress von Komiteedeputierten der Westfront. Er machte zugleich die Abkehr der Soldatenkomitees von der Vaterlandsverteidigung deutlich und wurde zum Tribunal über die Außenpolitik der Provisorischen Regierung. Die Offensive der nationalen Publizistik bewirkte eben das, was sie verhindern sollte: den Schulterschluss zwischen den Räten an der Front und denen im Hinterland. Damit setzte eine Dynamik ein, die über den Status quo hinauswies. Der Preis wurde endgültig sichtbar, den der Sowjet für die Loyalität der Armee zahlen musste – die glaubwürdige Bemühung um Frieden.

Was in den letzten Märztagen mit der Befehlsverweigerung einiger Kompanien begonnen hatte, schwoll nun zur Demoralisierung ganzer Regimenter an und mündete ab Mai in eine Flut von Desertionen. Die patriotische Begeisterung erwies sich als Firnis, den die Friedenserwartung und die allgemeine Kriegsmüdigkeit schnell auflösten. Verbrüderung mit dem Feind wurde zum Problem, die Entfernung von der Truppe auf jedem Bahnhof sichtbar. Auch wenn man ihr Ausmaß (in den zehn Wochen von Anfang März bis Mitte Mai nur 135 Mann pro Division der Nordfront bzw. 1,1–1,5 % der Kampfstärke) stark übertrieben hat, bleibt unbestreitbar, dass Flucht aus der Armee zur Existenzfrage des neuen Regimes avancierte. Nur fand sie vor allem im Hinterland statt. Die unerlaubte Heimkehr in die Dörfer war zunächst, wie die Revolution insgesamt, ein Problem der Etappe. Erst seit Juni weitete sie sich auch an der Front zur eigenmächtigen Demobilisierung ganzer Regimenter aus. Diese Massenbewegung ignorierte nicht nur die Befehle der Regierung, sondern auch die Aufrufe der sie nunmehr formell mittragenden Mehrheit des Sowjets. Sie war das erste unübersehbare Indiz für den Aufstieg der Bolschewiki.[13]

Vom Streit um die Kampffähigkeit der Armee nicht zu lösen war die außenpolitische Orientierung des neuen Regimes. Sie stand ebenfalls im Zeichen der Frage nach dem Vorrang von Krieg oder Frieden. Gerade bei diesem heikelsten Problem trat die Kluft zutage, die Liberale und Sozialisten trennte. Andererseits gab es auch innerhalb der Lager eine beträchtliche Spannweite der Meinungen: Befürworter eines Vernunftfriedens als Atempause in der Regierung, gemäßigte «Defensisten» im Sowjet. Wenn die Doppelherrschaft im genauen Sinne über der Friedensfrage zerbrach, hatte das viel mit zwei zusätzlichen Faktoren zu tun: der Persönlichkeit des Außenministers und grundlegenden Veränderungen der politischen Szene durch die Rückkehr der Emigranten.

Miljukov vertrat nicht nur während des Umsturzes konservative Positionen. Auch in der Regierung profilierte er sich schnell als entschiedenster Gegner der «revolutionären Demokratie». Sein Einsatz für die Monarchie war erfolglos geblieben. Umso hartnäckiger hielt er am zweiten Grundsatz seiner politischen Lagebeurteilung fest: der Notwendigkeit, alle Bündnisverpflichtungen vorbehaltlos zu erfüllen. Als Bewunderer der angelsächsischen Verfassung und Gesellschaft versprach er sich von der Allianz mehr als nur einen militärischen Sieg, nämlich Hilfe beim Aufbau der Demokratie in einem Lande, wo sie keine Wurzeln besaß und ihren Weg unter denkbar schlechten äußeren Bedingungen beginnen musste. So begründet diese Überlegung war, so wenig rechtfertigte sie die weitreichenden Kriegsziele, zu denen er sich mehrfach öffentlich bekannte. Miljukov tat wenig, um sich von zarischen Plänen zur Vorherrschaft am Bosporus zu distanzieren. Auch innenpolitisch waren Zweifel an der Klugheit seiner Haltung angebracht. Starrsinnig weigerte er sich, auf die Zwänge der nachrevolutionären Situation Rücksicht zu nehmen. Darin lag, bei allem intellektuellen Format, seine grundlegende politische Schwäche.[14]

Schon die erste Verlautbarung des Außenministers vom 4. März sorgte für Aufregung. Miljukov sicherte den Bündnispartnern darin zu, die neue Regierung werde die internationalen Verträge der alten ohne Abstriche erfüllen. Der Friede kam in der Note nur am Rande und als Folge des Sieges vor. Dadurch provoziert, beschloss der Sowjet, eine eigene Stellungnahme auszuarbeiten und sie in Gestalt eines Manifests als erste internationale Erklärung der Revolution bekannt zu geben. Von keinem Geringerem als Maksim Gor’kij entworfen, wandte sich der Aufruf vom 14. März nicht an die Regierungen, sondern an die «Völker der Welt» und rief sie auf, die Entscheidung selbst in die Hand zu nehmen. Die Revolution wurde zur einzig konsequenten Friedenspolitik, und an die Stelle des Miljukovschen Siegfriedens trat die Formel, auf die sich alle Fraktionen des Sowjets einigen konnten: der «Friede ohne Annexionen und Kontributionen». Dennoch: So radikal dies klang, das Manifest forderte keine sofortige Waffenruhe und ließ Raum zum Arrangement mit der Provisorischen Regierung. Nach zähen Verhandlungen wurde ein solcher Kompromiss am 27. März auch gefunden. Jede Seite wahrte ihr Gesicht – aber um den Preis, dass die Vereinbarung noch unverbindlicher war als andere.[15]

Dazu trug die Rückkehr der prominenten Revolutionäre aus dem Exil entscheidend bei. Dreißig kamen im plombierten Waggon aus der Schweiz, der mit Sondergenehmigung exterritorial durch das Deutsche Reich fuhr. Lenin, der berühmteste Mitreisende, wurde am 3. April mit angemessenem Zeremoniell, aber spürbarer Beklemmung von Abgesandten des Sowjets am Bahnhof empfangen. Die gleiche Ehrung ließ man sechs Tage später, in entspannterer Atmosphäre, dem sozialrevolutionären Parteiführer Černov zuteil werden. Bereits in der dritten Märzwoche war der georgische Menschewik I. G. Cereteli, der mit F. I. Dan an seiner Seite binnen kurzem zur beherrschenden Figur im Exekutivkomitee des Sowjets aufstieg, in Petrograd eingetroffen. Der ‹konservative› Sozialrevolutionär und baldige Innenminister N. D. Avksent’ev fand sich ebenso ein wie der Führer der Parteilinken M. A. Natanson, der als einziger Veteran der siebziger Jahre noch eine bedeutende Rolle spielen sollte. Anfang Mai betraten schließlich Ju. O. Martov und L. D. Trotzki (Trockij) wieder russischen Boden. Ohne Zweifel brachte erst die Selbstauflösung der Emigration die politischen Kräfteverhältnisse in Russland angemessen zum Ausdruck. Zugleich stellten sich die typischen Verzerrungen einer Ordnung ein, die keine Opposition geduldet hatte. Die meisten und vor allem die fähigsten Emigranten bekannten sich in der einen oder anderen Form zur pazifistischen Linken im internationalen Sozialismus. Ihre Rückkehr markierte nicht nur den endgültigen Einzug der Parteien in den Sowjet, sondern leitete auch eine stärkere Hinwendung zu programmatischen Positionen der Linken ein.

Was dies in der ohnehin labilen innenpolitischen Lage bedeutete, musste die Provisorische Regierung bald erfahren. Auf Vorschlag Černovs drängte der Sowjet das Kabinett, den Alliierten die Friedenserklärung vom 27. März auch förmlich mitzuteilen, da sie seiner Meinung nach im Ausland nicht gehört worden war. Miljukov fügte sich widerstrebend, nutzte aber die Gelegenheit, um seinen Standpunkt deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Die «Note» des Außenministers, schon zeitlich mit bemerkenswertem Ungeschick platziert, traf am 18. April (1. Mai n. St.) auf die aufgewühlte Stimmung von Arbeiterdemonstrationen. Bereits seit Monatsbeginn beherrschte die Friedensfrage alle politischen Debatten; die Formel des Sowjets machte die Runde. In dieser Situation konnte ein Text nur als Provokation empfunden werden, der den Annexionsverzicht gar nicht erwähnte und über die Versicherung russischer Bündnistreue hinaus noch «Garantien und Sanktionen» als Unterpfand eines dauerhaften Friedens nach dem Siege anmahnte. Auch gemäßigte Linke sahen darin wenig anderes als den alten imperialen Wunschtraum von einem Protektorat über Car’grad (Konstantinopel). Drei Tage zogen sich die Protestmärsche einer «ungeheuren Menge» teilweise bewaffneter Arbeiter hin, die den Rücktritt des Außenministers verlangten.

Doch der Sowjet kam der bedrängten Regierung zu Hilfe. Menschewiki und Sozialrevolutionäre im Exekutivkomitee waren sich darin einig, dass es keine Alternative zur Herrschaftsteilung gebe. Sie verhandelten mit der Regierung und erzwangen eine Richtigstellung, die als Zusatznote am 22. April veröffentlicht wurde. Der darin ausgesprochene Verzicht auf alle territorialen Ansprüche verfehlte seine innenpolitische Wirkung nicht. Die Regierung überstand die Krise; nicht einmal Miljukov musste zurücktreten. Dennoch hatte sich Entscheidendes verändert: Unübersehbar lag zutage, dass allein der Sowjet über Macht verfügte. Die Doppelherrschaft verdiente ihren Namen nicht mehr.[16]

Die Unruhen warfen somit die Frage nach der Regierungsverantwortung neu auf. Eine Minderheit sah nun die Stunde der Entscheidung gekommen. Sie forderte den Sowjet auf, die ungeteilte Macht zu übernehmen. Auf der Gegenseite sprachen sich die konservativen Liberalen um Miljukov dafür aus, den Rat in seine Schranken zu weisen und klare Verhältnisse zu schaffen. In beiden Lagern setzten sich jedoch die Verfechter einer konzilianten Politik durch. Das Ziel, das anzustreben war, hatte die Hilfe des Sowjets vorgegeben: ein förmliches Bündnis der Gemäßigten, eine Koalition der Vernunft. Allerdings band der Sowjet seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, an einen Acht-Punkte-Katalog, der die gemeinsame Regierung auf die wesentlichen Nahziele der «revolutionären Demokratie» festzulegen suchte – Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, Demokratisierung der Armee, verstärkte Kontrolle über die Industrie, Reform der Landwirtschaft zum Nutzen der Bauern und Verantwortlichkeit der sozialistischen Minister gegenüber dem Sowjet. Den Liberalen fiel es schwer, solche Forderungen zu akzeptieren. Sie empfanden die Aufwertung des Sowjets zu einem regulären, dem Parlament gleichgeordneten Organ als Zumutung. Miljukov zögerte auch nicht, sein Amt mit Eklat niederzulegen. Er musste jedoch erleben, dass sich die Mehrheit der kadettischen Führung angesichts der Notlage des Vaterlands anders entschied. Dabei half ihr der Sowjet, der neuen Verteidigungsanstrengungen zustimmte.

Es blieb die Frage des Personals. Nach zähem Ringen traten ins neue, am 5. Mai vorgestellte Kabinett unter anderem ein: Kerenskij als Heeres- und Marineminister, Černov als Landwirtschaftsminister und ein Menschewik als Arbeitsminister. Ministerpräsident und Innenminister in Personalunion blieb Fürst L’vov. Insgesamt übernahmen Menschewiki und Sozialrevolutionäre sechs von fünfzehn Ressorts. Sie wollten in der Minderheit bleiben, da die Revolution in ihren Augen weiterhin primär «bürgerliche» Aufgaben zu erfüllen hatte. Darin bewahrte sich ein Gefühl unzureichender historischer Legitimation, das sie ehrte, aber gefährlich war. Falls die Koalition scheiterte, war außer der Gegenrevolution nur ein Gewinner in Sicht, die extreme Linke.[17]

Zum Selbstzweifel gesellten sich weitere Probleme. Nach dem Februarumsturz konnten sich die Revolutionäre von einst so frei bewegen wie nie zuvor. Zugleich gehörten sie nun einer staatstragenden Organisation von Gewicht an. Beides ließ die Zahl der Beitrittswilligen steil in die Höhe schnellen. Vor allem die Ortsverbände der Sozialrevolutionäre und Menschewiki füllten sich in einem Tempo, das ihre Integrationskraft überschritt. Auch die Heimkehr der Emigranten trug nicht zum inneren Frieden bei. Sie brachte zwar unentbehrliche Talente zurück, aber auch den Meinungsstreit der Kriegs- und Vorkriegsjahre. Es waren in tiefem Wandel begriffene, von alten und neuen Konflikten zerrissene Parteien, die das Wagnis der Koalition eingingen.

Beide mussten dies auf ihren ersten gesamtrussischen Konferenzen seit der großen Wende erfahren. Die Menschewiki versammelten sich in der zweiten Maiwoche, um ihre Generallinie abzustecken. Im Vordergrund der Debatten standen naturgemäß der Koalitionsbeitritt und die Hauptforderungen, denen die ersten Minister aus den eigenen Reihen praktische Geltung verschaffen sollten. Trotz heftiger Auseinandersetzungen gab der Kongress den Abmachungen mit solider Mehrheit seinen Segen. Cereteli, Dan und ihre Mitstreiter hatten dennoch keinen Grund zu ungetrübter Freude. Die Basis zeigte entschieden mehr Skepsis gegenüber der Politik und den Persönlichkeiten der Führung als erwartet. Hinzu kam, dass sich eine Minderheit weigerte, dem Pragmatismus Respekt zu zollen. Sie verurteilte die Zusammenarbeit mit der ‹Bourgeoisie› als Kollaboration und die Fortsetzung des Krieges als Verrat am proletarischen Internationalismus. In Martov, dem fähigsten und bekanntesten Parteitheoretiker, fand sie einen Fürsprecher, der ihr mehr Gehör verschaffte, als ihre Zahl erwarten ließ. So wurde aller Einheitsrhetorik zum Trotz offenbar, dass auch die Menschewiki zutiefst gespalten waren.[18]

Noch stärker lähmte innerer Streit die Sozialrevolutionäre, die Ende Mai zu ihrem dritten Parteitag zusammentraten. Schon ihre schiere Zahl legte ihnen eine besondere Bürde auf. Zu Recht galten die Menschewiki als die Architekten der Doppelherrschaft, da sie über begabtere Organisatoren und parlamentarische Talente verfügten. Die Massenbasis der Februardemokratie aber stellte die PSR. Wie 1905/06 profitierte sie von ihrem Anspruch, Schmelztiegel der Unterdrückten in Stadt und Land zu sein. Die Wahlen zu den Stadtparlamenten vom Juni 1917, die ersten nach dem neuen, demokratischen Wahlrecht, bestätigten dies eindrucksvoll. In 40 Gouvernementshauptstädten diesseits des Ural erreichte sie 17,6 % der Mandate im Vergleich zu 7,5 % für die Bolschewiki, 3,8 % für die Menschewiki und 11,6 % für die Kadetten. Besonderen Glanz bescherte ihr das Resultat aus Moskau: Mit 58 % der Stimmen verwies sie die anderen Parteien auf die Plätze. Allerdings vermochten die Sozialrevolutionäre solch breite Sympathien kaum in politische Macht umzusetzen. Neben einer gewissen, von Anfang an zu beobachtenden Indifferenz gegenüber der Routine praktischer Alltagsarbeit spielten dabei die inneren Konflikte eine entscheidende Rolle. Dabei spricht vieles dafür, ihre Heftigkeit mit der programmatischen Offenheit der Partei in Verbindung zu bringen. Was als «Synthese» überhöht wurde, ließ sehr verschiedenen Temperamenten und Tendenzen Platz. Nach der Rückkehr der Emigranten Anfang April hatte es den Anschein, als ob sich eine integrationsfähige Mitte bilden würde. Gemäßigte Kriegsgegner («Internationalisten») um Černov verbanden sich mit kompromissbereiten «Vaterlandsverteidigern» zu einer Führungsriege, die Kontakt zur menschewistischen Spitze suchte und die Koalitionsregierung auf den Weg brachte. Damit erhielt die Partei – wie die menschewistische – erstmals die Chance, das Land nach ihren tausendfach erhobenen Forderungen umzugestalten. Aber der Kompromiss forderte einen hohen Preis. Schon im April hatte sich ein neuer rechter Flügel formiert, der ohne Friedensvorbehalt entschieden für die Fortsetzung des Krieges votierte. Auf der anderen Seite entfernte sich die äußerste Linke immer weiter von der Partei. Sie wich keinen Zoll von ihrer (den Bolschewiki nahen) Hauptforderung ab, den Krieg zu bekämpfen und ihn für die soziale Revolution zu nutzen. Dazwischen gerieten Černov und die linke Mitte zunehmend in Bedrängnis.

So lag denn die Spaltung noch spürbarer in der Luft als bei den Menschewiki. Auf dem Parteitag konnte sie noch vermieden werden. Die erste freie Zusammenkunft nach zehn Jahren war nicht der Ort, um Wunden aufzureißen. Vom Triumph getragen, fand die Partei auch in den heftig umstrittenen Lebensfragen der Revolution einen Kompromiss. Die Delegierten votierten für Krieg und Frieden und billigten die Koalition. Darüber konnte sich vor allem das inzwischen bestimmende ‹rechte Zentrum› um Avksent’ev und A. R. Goc freuen. Nichts hinderte sie mehr daran, sich der Koalition mit Haut und Haar zu verschreiben. Diese «Menschewisierung» zähmte den einst überschäumenden revolutionären Elan der PSR so nachhaltig, dass er die Kooperation mit dem liberalen Partner nicht ernsthaft störte. Aber sie machte die Sezession der Linken zur Gewissheit. Lange vor der formellen Gründung der Partei der Linken Sozialrevolutionäre (PLSR) im November 1917 gab es (mindestens) zwei einander bitter befehdende sozialrevolutionäre ‹Parteien›.[19]

Die Zerrissenheit der «revolutionären Demokratie» war geeignet, den Einfluss der Kadetten zu stärken. Ohnehin fiel ihnen, die den Ministerpräsidenten und die Mehrheit des Kabinetts stellten, immer noch die tragende Rolle im Bündnis zu. Auch Miljukovs Demission warf sie nicht aus der Bahn. Ihre Wirkung wurde durch das Bewusstsein kompensiert, das letzte Bollwerk gegen utopische Experimente zu sein und noch enger zusammenrücken zu müssen. Verpflichtung gegenüber der Staatsidee (gosudarstvennost’) und der Anspruch, über den Klassen zu stehen (nadklassnost’), kamen als Leitideen neu zu Ehren. Damit fanden die Liberalen ihre Identität nicht am selben Ort des politischen Spektrums, den sie in der ersten Revolution eingenommen hatten. Im Frühsommer 1917 kündigte sich eine ähnliche Entwicklung an wie im Adel nach dem ‹Bauernkrieg› des Jahres 1905. Die wohlhabenden Schichten formierten sich zum Widerstand gegen einen neuerlichen Angriff auf ihr Eigentum, den sie nach dem Regierungseintritt der Sozialisten erwarteten. Unternehmer und Industrielle verteidigten ihre Interessen mit größerem Nachdruck; landsässige Adelige schlossen sich zum Verband der Grundbesitzer zusammen, um die bevorstehende Agrarreform abzuwehren. Die Kadetten blieben von solchen ersten Regungen der Gegenrevolution nicht unberührt. Zwar gaben die freiberufliche Intelligenz (vor allem Juristen) und die akademische Elite (Professoren) in ihren Reihen nach wie vor den Ton an. Aber ihre Verbindungen zur Welt des (nichtadeligen) Geldes und Besitzes wurden enger. Angesichts der sozialen Polarisierung hielten die Liberalen Distanz zur Masse und zur Linken. Damit aber verlor der Anspruch auf eine klassenneutrale, allein den Freiheitsrechten aller verpflichtete Politik an Glaubwürdigkeit.[20]

Unter solchen Auspizien neu gebildet, stand die neue Regierung nicht nur vor den ungelösten Aufgaben der alten. Darüber hinaus wuchs die Ungeduld im Lande. Die Schicksalsfrage des Regimes blieb der Krieg. Die Koalition hoffte, die Quadratur des Kreises durch eine Doppelstrategie erreichen zu können: Fortsetzung des Kampfes bei gleichzeitiger Bemühung um einen ‹demokratischen Frieden›. Freilich zerstoben die Hoffnungen auf eine Friedenskonferenz sozialistischer Parteien in Stockholm, die Druck auf die Parlamente und Regierungen der jeweiligen Länder ausüben sollte. Was übrig blieb, war nur das Festhalten an dem, was die Bevölkerung immer weniger hinzunehmen bereit war. Ohnehin argwöhnten linke und hofften rechte Kritiker, dass der Krieg die eigentliche Bestimmung der Koalition sei. Mit seinem ausgeprägten Talent zur Selbstdarstellung festigte der neue Kriegsminister diesen Eindruck. Kerenskij erklärte es unverhohlen zu seiner Hauptaufgabe, die Kampfkraft der Armee wiederherzustellen. Dies umso eher, als die Koalition außenpolitisch zunehmend unter Druck geriet. Die Bündnispartner klagten eine Zusage ein, die noch das alte Regime gegeben hatte: den für das Frühjahr geplanten französischen Angriff durch eine Offensive an der russischen Südwestfront zu unterstützen. Allerdings war die Regierung klug genug, die Verantwortung für ein derart riskantes Manöver nicht allein auf sich zu nehmen. Am 3. Juni wurde in Petrograd der erste Allrussische Kongress der Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten eröffnet. Schon im Vormonat waren die Vertreter der (organisatorisch noch separaten) Bauernräte zu einer analogen Konferenz zusammengetroffen und hatten zur Führung der Geschäfte zwischen den Plenarsitzungen ein Zentrales Exekutivkomitee hinterlassen. Auf beiden Konferenzen verfügten Sozialrevolutionäre und Menschewiki über eine solide Mehrheit. Sie nutzten diese Position, um ihrem Vorhaben Mitte Juni die «breiteste demokratische Legitimation» zu sichern, die zu jener Zeit möglich war. Unmittelbar darauf unterzeichnete Kerenskij den Befehl zur Offensive, die zwei Tage später, am 18. Juni (1. Juli n. St.), unter der strategischen Führung des neuen Generalstabschefs Brusilov begann.[21]

Das aufwändige Unternehmen wurde ein kläglicher Misserfolg. Drei Armeen und einige Sondereinheiten, die zahlenmäßig über klare Vorteile verfügten, sollten in Bewegung gesetzt werden. Doch die Soldaten ließen sich nur mit Mühe aus den Gräben holen. Der Angriff kam kaum voran. Bereits am dritten Tag musste die Operation abgebrochen werden. Als die Mittelmächte zum Gegenstoß ansetzten, trafen sie auf keinen nennenswerten Widerstand. Im Angesicht der feindlichen Truppen ergriffen oft ganze Regimenter und Divisionen die Flucht. Die Offensive bewirkte, was ihre Kritiker vorausgesagt hatten: statt einer Beruhigung eine massive Destabilisierung der inneren Lage.[22]

Denn ohne Zweifel markierte der fatale Entschluss zur Vorwärtsverteidigung jenen Punkt, an dem die Regierung und die Mehrheitsparteien ihren Kredit bei den Soldaten endgültig verloren. Alle Versuche, die Kontrolle zurückzugewinnen, waren vergebens. Die drastische Maßnahme der Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front am 12. Juli erwies sich sogar als kontraproduktiv: Indem sie den Offizieren faktisch die alte Macht zurückgab, trieb sie die Soldaten in die Arme radikaler Agitatoren. Im Juli begann der Siegeszug der Bolschewiki im Militär. Zugleich ging die Desertion endgültig in unaufhaltsamen Zerfall über. Damit hörte die Armee nicht nur als Garant staatlicher Souveränität auf zu bestehen, sondern auch als mögliche Stütze der demokratischen Revolution. Der Regierung war ein irreversibler Fehler unterlaufen. Sie hatte nicht verstanden, dass Freiheit für die Soldaten ohne Friede keinen Wert besaß.[23]

Diese Wende vollzog sich zu einer Zeit, als die «revolutionäre Demokratie» einen Höhepunkt ihrer äußeren Selbstdarstellung erreichte. Zum erwähnten ersten Allrussischen Kongress der Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten entsandten 305 örtliche Sowjets gewählte Vertreter, die etwa 20 Mio. Urwähler repräsentierten (knapp halb so viel, wie einige Monate später für die Konstituierende Versammlung zur Urne gingen). Er war mithin keine Veranstaltung nach dem Geschmack des liberalen Lagers, da er wohl frei, aber unter Ausschluss der besitzenden Schichten gewählt worden war. Dennoch konnten die Anwesenden zusammen mit den Mitgliedern des Allrussischen Bauernsowjets den Anspruch erheben, für die große Bevölkerungsmehrheit der russischen Kernlande (nicht der fremdethnischen Gebiete) zu sprechen. Über volles Stimmrecht verfügten 822 Abgeordnete. Davon bekannten sich 285 zur PSR und 248 zu den Menschewiki. Nur eine Minderheit folgte den Bolschewiki (105); die Übrigen gehörten kleineren sozialistischen Gruppen an oder gaben an, unabhängig zu sein. Dennoch sorgte diese Minderheit für einen Zwischenfall, der Aufmerksamkeit erregte. In einem ansonsten wenig eindrucksvollen Debüt erklärte Lenin provozierend, dass seine Partei «jede Minute bereit» seien, «die alleinige Macht zu übernehmen». Aufmerksame Beobachter haben den programmatischen Gehalt dieses bald vielzitierten Satzes nicht überhört. Erstmals gab der bolschewistische Führer vor der landesweiten Öffentlichkeit eine unverhüllte Auslegung der neuen Parolen, die er seiner Partei seit seiner Rückkehr einzuhämmern versuchte.

Denn mit der Ankunft Lenins war ein neuer und – darin stimmten alle politischen Konkurrenten überein – böser Geist in die Bolschewiki gefahren. Kraft und Charisma seiner Person verliehen ihrer unauffälligen und trägen Organisation nicht nur Dynamik und Geschlossenheit. Mit wuchtigen Schlägen rammte Lenin auch neue taktische Grenzpfähle in die nachrevolutionäre Parteienlandschaft. Was er Freunden und Sympathisanten schon am Tage nach seiner Rückkehr im bolschewistischen Hauptquartier vortrug, schlug wie ein «Blitz aus heiterem Himmel» ein. Die Zuhörer vernahmen mit Erstaunen, dass die neue Regierung nicht mehr Schonung verdiene als die alte, da sie denselben «räuberischen imperialistischen Krieg» führe. Zur Begründung dieser Situationsanalyse scheute sich der Parteigründer nicht, revolutionstheoretischen Ballast abzuwerfen. Wenn er die Eigenart der aktuellen Lage Russlands bereits im Übergang zum Sozialismus erkannte, dann ließ er die alte, im Parteiprogramm von 1903 festgeschriebene Auffassung vom bürgerlich-demokratischen Charakter der Revolution hinter sich. Kaum fünf Wochen nach ihrem Amtsantritt erklärte er die bürgerliche Regierung mit der Begründung für obsolet, das ihr – laut Marx – von der Geschichte aufgetragene Werk sei schon getan. Ab sofort stehe mithin die Aufgabe an, «die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft» zu legen. Theoretisch betrat Lenin mit dieser Wende – unausgesprochen – den Boden der Trotzkischen Gedanken über die «permanente Revolution» und schuf die Basis für ihre baldige Zusammenarbeit. Praktisch pflanzte er, wie eine menschewistische Zeitung ihm vorwarf, «die Fahne des Bürgerkriegs inmitten der revolutionären Demokratie» auf. Denn die Handlungsanweisung der neuen Lehre ließ sich in einem Satz zusammenfassen: die Provisorische Regierung, der man eben noch in den Sattel geholfen hatte, zu bekämpfen, wo immer dies möglich war. Gegner sprachen von «Verrücktheiten» und «Fieberphantasien». Aber auch die meisten Parteigenossen wie L. B. Kamenev und A. V. Šljapnikov, die Meinungsführer der hauptstädtischen Bolschewiki im Februar und März, schrieben die irritierende Radikalität solcher Ansichten mangelnder Vertrautheit mit den innerrussischen Verhältnissen zu. Ihre Hoffnung auf die heilende Wirkung der Eingewöhnung erfüllte sich jedoch nicht. Lenin beharrte nicht nur auf seinen bald berühmten «Aprilthesen», sondern brachte nach und nach auch die Partei auf seine Seite.[24]

Den Mehrheitssozialisten, die diese Parolen angesichts des Häufleins bolschewistischer Delegierter mit Spott quittierten, verging das Lachen schon vor dem Ende der ersten Konferenzwoche. Sie hatten vergessen, was für die gesamte Revolution typisch war: dass die Uhren in der Hauptstadt anders gingen als in der Provinz, aus der die meisten Delegierten kamen. Am 9. Juni hielten aufgebrachte Sowjetführer ein bolschewistisches Flugblatt in den Händen, das die Arbeiter zum Protestmarsch gegen die «Konterrevolution» und zur Absetzung der «kapitalistischen Minister» aufrief. Furcht vor einem Aufstand breitete sich aus. Die menschewistisch-sozialrevolutionäre Sowjetführung setzte sich mit einer Gegenerklärung zur Wehr und appellierte an das bolschewistische Zentralkomitee, die Demonstration abzusagen. Der Konflikt schien beigelegt, da selbst Lenin sich dem Druck beugte; er teilte die Befürchtung, dass die bolschewistische Fraktion andernfalls aus dem Allrussischen Sowjet ausgeschlossen werden könnte.

Mehrere Umstände trugen jedoch dazu bei, dass sich die Lage nicht entspannte. Tiefste Quelle der Unruhe war eine zufällige, aber bedeutungsschwere Koinzidenz: Am selben Tag, an dem der Sowjet die Krise mit einer von ihm organisierten Demonstration endgültig beizulegen suchte (18. Juni), begann die Offensive. Hinzu kam der Beschluss der Regierung, das Hauptquartier der Anarchisten (nach langer Auseinandersetzung) zu räumen. Deren Rädelsführern gelang es in dieser Situation, ein bolschewistisch orientiertes Maschinengewehrregiment der hauptstädtischen Garnison zur Gehorsamsverweigerung zu bewegen, als es seine Waffen für die Front abgeben sollte. Damit war der Weg nicht weit zur bewaffneten Demonstration, zu der das Regiment am 3. Juli aufforderte. Dies geschah zwar ohne förmliche Zustimmung des bolschewistischen ZK. Dennoch spricht manches dafür, dass der weitere Führungskreis der Partei die Stimmung schürte und abwartete. Am frühen Abend glich Petrograd einer belagerten Stadt. Aber die Februartage wiederholten sich nicht. Niemand ergriff die Initiative und gab der Bewegung ein Ziel. Auch Lenin hielt sich auffallend zurück. Er hatte aufmerksam registriert, dass die meisten Garnisonsregimenter in ihren Kasernen blieben. Zunächst neutral, schlugen diese sich schließlich auf die Seite der Regierung. Allem Anschein nach gaben dabei vermeintliche Beweise für eine Agententätigkeit Lenins in deutschem Sold den Ausschlag. Als sich außerdem die Nachricht vom Anmarsch einiger Fronttruppen herumsprach, war das Spiel der Bolschewiki vorerst verloren.

Der ‹Juliputsch› klärte die Fronten. Für die Regierung lag nun offen zutage, dass Lenins vollmundige Erklärung vor dem Allrussischen Sowjet ernst gemeint war. Mit guten Gründen deutete sie die Zurückhaltung des bolschewistischen Zentralkomitees als bloß taktische Vorsicht. Die Partei wurde (ebenso wie ihre Publikationen) verboten, ihre Führungsriege, soweit man ihrer habhaft werden konnte, verhaftet. Allerdings zeigte sich bald, dass die Regierung nicht über die Mittel verfügte, ihre Sanktionen auch durchzusetzen. Außerdem entkam ihr die wichtigste Person: Lenin floh nach Finnland und dirigierte von dort aus die weitere, illegale Tätigkeit seiner Anhänger. Auch wenn sein Konfrontationskurs in Misskredit geriet, hatte er doch ein Ziel erreicht: Der Fehdehandschuh war hingeworfen.[25]

Der bolschewistische Aufstandsversuch bildete aber nur einen Teil des schweren Bebens, das die Provisorische Regierung im Juli erschütterte. Als am zweiten Aufstandstag (4. Juli) die vereinigten Allrussischen Exekutivkomitees zusammenkamen, stand eigentlich ein anderes Problem auf der Tagesordnung: das Ende der ersten Koalition. Urheber der Krise waren die Kadetten. Angesichts wachsender Unzufriedenheit im Lande drängte vor allem Miljukov zum Kurswechsel. Für ihn war klar, dass die Wurzel der Misere in der Nachgiebigkeit gegenüber linken Umtrieben lag. Ein Stein des Anstoßes fand sich schnell – der Konflikt mit der ukrainischen Regionalregierung.

Die russische Revolution war nicht nur eine soziale und politische, sondern in gleichem Maße eine nationale. Als die Monarchie im Februar zusammenbrach, fiel auch das Vielvölkerreich auseinander. Die Peripherie nutzte das Machtvakuum, um die Hegemonie des Zentrums endlich abzuschütteln, unter der sie besonders seit dem Aufkommen des großrussischen Chauvinismus gelitten hatte. In den Regionen entfaltete sich ein eigenständiges politisches Leben, das sich um die Anweisungen aus Petrograd immer weniger kümmerte. Die neue Regierung beobachtete diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite gehörte das nationale Selbstbestimmungsrecht zum Kern der demokratischen Verfassung, für die sie stand. Auf der anderen Seite bedrohte der Sezessionismus nicht nur die staatliche Einheit, sondern auch die ohnehin prekäre politische Stabilität. Überdies hatten sich vor allem die Kadetten vom großrussischen Hegemonialanspruch der Vorkriegs- und Kriegsjahre anstecken lassen. Die Abtrennung Polens oder Finnlands, deren nationale Eigenständigkeit prinzipiell außer Frage stand, nahmen sie hin. Umso energischer missbilligten sie den Anspruch auf exklusive Machtbefugnis, den die ukrainische Rada für ihr Territorium am 10. Juni erhob.[26]

Die Ukraine war politisch, ökonomisch und geschichtlich zu bedeutsam, als dass ihre Eigenständigkeit von national gefärbtem zentralistischem Denken hätte akzeptiert werden können. Hinzu kamen aktuelle Motive, da die Rada auch die Bildung einer getrennten Armee anstrebte. Schon aus bloßer Sorge um das Überleben des Reststaates teilten die sozialistischen Minister das Befremden über das ukrainische Vorgehen. Die Verhandlungsdelegation, die man nach Kiev entsandte, vermochte zwar die Zustimmung zu dem allgemeinen Vorbehalt zu erwirken, dass erst die Konstituierende Versammlung endgültig über das Schicksal des Einheitsstaates entscheiden könne. Aber sie musste im Gegenzug die ukrainische Nationalregierung und die meisten ihrer Forderungen bis zu diesem Zeitpunkt anerkennen. Die kadettischen Minister akzeptierten dies nicht und traten mit Billigung der Parteiführung (gegen eine starke Minderheit) am 2. Juli zurück.

Die dadurch ausgelöste Regierungskrise zog sich bis zum 25. Juli hin. Schon ihre Dauer weist darauf hin, dass das Februarregime alle Reserven mobilisieren musste, um die auseinanderdriftenden politischen und sozialen Kräfte noch einmal zusammenzubinden. Der bolschewistische Angriff machte die Aufgabe nicht leichter, da er die menschewistische und sozialrevolutionäre Mehrheit zwang, sich der Nöte der einfachen Leute auf überzeugendere Weise anzunehmen. Diese Einsicht prägte die Erklärung vom 8. Juli, mit der das Rumpfkabinett nach der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung an die Öffentlichkeit trat. Mit dem Versprechen, die begonnenen Reformen mit größerer Entschiedenheit fortzuführen, warb es um neues Vertrauen. Dabei stellte es, über die Demokratisierung des öffentlichen Lebens und verstärkte Bemühungen zur Sanierung der Wirtschaft hinaus, vor allem soziale Verbesserungen in den Vordergrund. Nicht nur die gesetzliche Regelung des Achtstundentags, auch eine Agrarreform auf der Grundlage der «Übergabe des Landes an diejenigen, die es bearbeiten», wurde zugesagt. Mit solchen Versprechen bewirkte das Manifest zunächst das Gegenteil seiner Absicht. Der noch amtierende kadettische Ministerpräsident Fürst L’vov wollte sie nicht akzeptieren und trat zurück. Es bedurfte erst der Rücktrittsdrohung seines kommissarischen Nachfolgers Kerenskij, um die Verhandlungen aus der Sackgasse zu befreien. Den Untergang des Februarregimes (und die Anarchie) vor Augen, beschlossen die Minister, sich unter allen Umständen zu einigen. Die historische Zusammenkunft fand noch in derselben Nacht statt. Alle Parteien sprachen Kerenskij ihr Vertrauen aus und räumten ihm weitgehende Sondervollmachten ein. Verlierer waren letztlich die konservativen Kadetten. Kerenskij beließ nicht nur den Landwirtschaftsminister Černov im Amt, der in ihren Augen die Illegitimität der Revolution in kaum geringerem Maße verkörperte als Lenin. Faktisch erhob er auch die Erklärung vom 8. Juli zum Regierungsprogramm. Überdies gewannen die Sozialrevolutionäre und Menschewiki durch den Eintritt neuer Minister aus ihren Reihen numerisch die Oberhand: Bei nur vier Kadetten schien die zweite Koalition einer rein sozialistischen Regierung nahezukommen. Was dennoch alle ihre Mitglieder und Stützen miteinander verband, waren der Wunsch nach Fortsetzung des Krieges und die Überzeugung, die soziale Umwälzung dürfe nur durch die Konstituierende Versammlung vollzogen werden. Ebenso wenig wie die alte begriff die neue Regierung, dass ihr die Zeit davonlief.[27]

Das Februarregime begann mit einem Aufstand der Arbeiter und Soldaten, und es endete mit einem Ereignis, das ohne die passive Mitwirkung beider nicht denkbar ist. Sein Schicksal entschied sich, ungeachtet der lebenswichtigen Parteinahme der Bauern in und außerhalb der Armee, in höherem Maße als das der ersten Revolution in den Industrievororten der großen Städte. Immer wieder, im April, Juli, August, Oktober, griff die städtische Unterschicht in die große Politik ein und erzwang wesentliche Veränderungen. Genau besehen, ruhte die «Doppelherrschaft» auf drei Säulen, da die Arbeiter und Garnisonssoldaten eine Vetomacht behielten. Voraussetzung dafür war das Engagement einer kritischen Masse für ihre Interessen. Früh öffnete sich eine Kluft zwischen den Aufständischen und den Organen, die sie hervorbrachten. Die Übergabe der Macht an die «Gesellschaft» und das Konzept der ‹bürgerlichen Revolution› trugen das Ihre dazu bei: Sie legitimierten die politische Umwälzung, legten aber der sozialen Fesseln an. Das Februarregime vermochte die Spannung zwischen beiden immer weniger zu überwinden. Politische Kurzsichtigkeit und eine widrige Wirklichkeit hinderten es gleichermaßen daran. An beidem ging es schließlich zugrunde.

Der Sturz der Monarchie bescherte der Arbeiterschaft vor allem eines: Organisationsfreiheit. Vereinigungen schossen wie Pilze aus dem Boden. Dabei hatten die kleinen Gremien den Vorzug, den Bedürfnissen an den Werkbänken näherzustehen. Die charakteristische Organisation der Arbeiter im Jahre 1917 waren die Fabrikkomitees, nicht die Gewerkschaften. Darin lagen sowohl eine Gemeinsamkeit als auch ein Unterschied zu 1905. Offenkundig knüpften die Betriebsräte ebenso an die Vorbilder der ersten Revolution an wie die Berufsverbände und die Gesamtsowjets. Zugleich verdient der Umstand Beachtung, dass die städtischen Unterschichten im Laufe der zweiten Revolution (vor dem Oktober) häufiger und bestimmender in das Geschehen eingriffen. Man wird einen Zusammenhang mit der bescheideneren Rolle der Intelligenz unterstellen dürfen. An deren Stelle traten verstärkt qualifizierte Arbeiter, die in den Komitees das Sagen hatten. Ob man in diesem Wandel nun einen neuen Grad der ‹Reife› erkennt oder nicht – erwiesen scheint, dass die Arbeiter 1917 über mehr Erfahrung und Selbstbewusstsein, angesichts des Zerfalls der staatlichen Zwangsgewalt auch über mehr Macht verfügten und zugleich der «Gesellschaft» mit größerem Misstrauen begegneten als zuvor. Nicht zuletzt die «Mobilisierung der Arbeit» (W. Rosenberg) zwischen März und Oktober war Ausdruck der Polarisierung, die das soziale Gefüge Russlands zwischen den Revolutionen prägte.

Es lag nahe, dass die Fabrikkomitees zunächst dieselben Forderungen erhoben wie die Gewerkschaften. Nach dem Umsturz galt ihr Einsatz in erster Linie dem Hauptziel seit 1905: der Einführung des Achtstundentags. Einige Großbetriebe der Hauptstadt gaben ihrem Wunsch dadurch Nachdruck, dass sie die Arbeit trotz des Endes der Unruhen nicht wieder aufnahmen. Am 10. März lenkten die Petrograder Industriellen ein und erklärten sich zu einem Abkommen bereit. Zugleich mussten sie darin die Betriebskomitees rechtlich anerkennen, denen beide Parteien nicht nur die Überwachung der neuen Regelung auftrugen, sondern auch erhebliche Befugnisse in Angelegenheiten der Arbeitsorganisation und Personalstruktur zugestanden. Dies war die zweite Kernforderung der Fabrikkomitees und ihr besonderes Aktionsfeld, das sie von den Gewerkschaften unterschied: Sie verlangten und erhielten Mitspracherechte bei Einstellungen und Entlassungen, während die Produktion vorerst außerhalb ihres Ehrgeizes blieb. Der Vertrag gab ein «Signal für ganz Russland». Er etablierte die Fabrikkomitees endgültig und bereitete damit ihre Anerkennung im ganzen Reich per Regierungsdekret vom 23. April vor.

Daneben vergaßen die Vertrauensleute nicht, was ihren Mandanten ebenfalls auf den Nägeln brannte. Im März kam es zu einer Welle von Lohnkämpfen. Meist genügten kurze Ausstände auf Betriebsebene, um die Forderungen durchzusetzen. Schon die Reduzierung der Arbeitszeit war bei vollem Lohnausgleich erzwungen worden. Nun kam weiterer Gewinn hinzu. In Petrograd stiegen die Löhne bis Juli auf etwa das Zwei- bis Dreifache des Januarniveaus, in Moskau allein im Mai um gut 200 %. Bereits diese Größenordnung verweist darauf, dass es den Arbeitern nicht zuletzt darum ging, im Wettlauf mit den Preisen einigermaßen zu bestehen. Wie schnell die Inflation voranschritt, ist noch schwerer zu ermitteln als die Lohnbewegung. Man wird jedoch davon ausgehen können, dass der Februarumsturz den Arbeitern bei erheblichen Unterschieden zwischen den Branchen und Lohngruppen realen Gewinn einbrachte. Ohne Zweifel veränderte er das Kräfteverhältnis in den Betrieben zu ihren Gunsten.[28]

In der Forschungsliteratur ist es üblich geworden, die Fabrikräte mit Arbeiterkontrolle gleichzusetzen und sie als größten Triumph anarcho-syndikalistischer Tendenzen in der russischen Revolution zu betrachten. Neuere Untersuchungen geben Anlass, diese Sehweise zu korrigieren. Die Bewegung speiste sich aus unterschiedlichen, eher pragmatischen als theoretischen Motiven und ließ in der Praxis kaum Ablehnung staatlicher Gewalt oder zentraler Wirtschaftslenkung erkennen. Was sie ins Leben rief und zu einer entscheidenden Kraft der nachrevolutionären Sozialordnung machte, war vielmehr ein handfestes, drängenderes Motiv: der schlichte Überlebenswille aufgrund der Einsicht, dass nur eigener Einsatz den Zusammenbruch der Produktion und Entlassungen würde verhindern können. Auf einem anderen Blatt steht, ob sie dadurch nicht ungewollt jenes wirtschaftliche Chaos verschärfte, dessen Folgen sie abzuwenden suchte. Die Fabrikkomitees verursachten denn auch zunächst wenig Reibungen. Sie bemühten sich um eine bessere Versorgung ihrer Klientel mit Lebensmitteln und halfen, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Erst allmählich griffen sie nach Kompetenzen, die Konflikte mit den Unternehmensleitungen heraufbeschworen. Diese Radikalisierung war von der wirtschaftlichen Katastrophe nicht zu lösen, auf die Russland immer schneller zueilte. Bei aller Skepsis, die gegenüber der Provisorischen Regierung herrschen mochte, wäre die Vorstellung eines vorprogrammierten Zerwürfnisses verfehlt. Wachsende Versorgungsprobleme, Massenentlassungen und eine schwindelerregende Teuerung gaben der Entfremdung die entscheidenden Impulse. Vor allem sie bereiteten im Verein mit einer härteren Haltung der Unternehmer den Boden für die Zuspitzung der Interessenwahrnehmung zum Klassenkampf. Die Wende markierten dabei die ersten Sommermonate. Um die Löhne zu sichern, gingen die Komitees dazu über, die Effizienz der Produktion einschließlich der Rohstoffzulieferung zu überwachen. Allerdings konnten sie die volle Verfügungsgewalt über die Unternehmen nur in Ausnahmefällen erzwingen. Außerdem verwalteten sie im Regelfall nur den Bankrott. Arbeiterkontrolle im engeren Sinne setzte sich vor allem dort durch, wo andere Mittel gegen Schließungen versagt hatten. Rätebewegung und ökonomischer Niedergang waren Zwillinge.

Ebenfalls im Frühsommer zeichnete sich ab, welche politische Rolle den Komitees zufallen sollte. Ende Mai fand in Petrograd ihre erste gesamtstädtische Konferenz statt. Fast die Hälfte der 568 Delegierten kam aus der metallverarbeitenden Industrie, deren Großbetriebe vollständig vertreten waren. Die Debatten brachten schnell zutage, dass die Bolschewiki hier ihre alte Stärke nicht verloren hatten. In ihrem Namen forderte Lenin die Verantwortlichkeit des Managements gegenüber den autorisierten Organen der Arbeiterbewegung. Obwohl er seine Worte vorsichtig wählte, musste die Versammlung sie als Unterstützung ihrer Wünsche verstehen. Mit Hilfe der Anarcho-Syndikalisten vereinigte die bolschewistische Schlussresolution die überwältigende Mehrheit der Stimmen auf sich.[29]

Um dieselbe Zeit war auch die Regeneration der Gewerkschaften weitgehend abgeschlossen. Im ganzen Land entstanden 976 größere Organisationen (die Gesamtzahl erreichte fast 2000), die Ende Juni zur ersten allrussischen Konferenz der neuen Ära zusammenkamen und etwa 1,5 Millionen Mitglieder zu repräsentieren beanspruchten. Aus mehreren Gründen war die politische Färbung der Gewerkschaften weniger einheitlich als die der Fabrikkomitees. Soweit sie bereits auf eine nennenswerte Tradition zurückblicken konnten, setzten sich die alten Sympathien durch. Allgemein schlug der Wettbewerb der Parteien zu Buche, der auf der höheren Organisationsebene, auf der die Gewerkschaften operierten, klarere Konturen besaß als an der Basis. Bolschewiki und Menschewiki teilten sich dabei die wichtigsten Leitungsgremien. Im Petrograder Zentralbüro gaben die Bolschewiki den Ton an, in Moskau und den meisten Provinzhauptstädten die Menschewiki. Hart umkämpft war die Führung des Allrussischen Verbandes. Beide Fraktionen bildeten im Zentralen Exekutivkomitee gleich starke Blöcke; dank der Unterstützung durch drei Sozialrevolutionäre fiel der Vorsitz aber einem Menschewiken zu. Die bedeutenden Einzelgewerkschaften verteilten ihre Präferenzen unterschiedlich. Fest in bolschewistischer Hand befand sich immer noch der Verband der Metallarbeiter; unter dem prägenden Einfluss des alten Kämpen Šljapnikov wurde seine Petrograder Organisation zum unentbehrlichen Instrument der Aufstandspolitik. Die zweitgrößte Gewerkschaftsgruppe, die der Beschäftigten der Textilindustrie, neigte anfangs eher den Menschewiki zu, geriet aber seit Juni ins Fahrwasser der bolschewistischen Rivalen. Ihr überkommenes eigentümliches Selbstverständnis als ‹white-collar›-Vereinigung pflegte die Eisenbahnervereinigung; ihm entsprach eine moderat sozialistische Grundhaltung unter menschewistisch-sozialrevolutionärer Leitung.

Man darf unterstellen, dass die organisatorische Verschmelzung der Fabrikräte mit den Berufsverbänden vor allem an dieser andersartigen politischen Ausrichtung scheiterte. Von der Gewerkschaftsführung wurde sie betrieben, und sachlich lag sie nahe. Die Komitees beharrten jedoch auf ihrer Selbständigkeit und veranstalteten am 20. Oktober sogar ihre erste allrussische Delegiertenkonferenz. Sicher handelten sie dabei im Einverständnis mit der bolschewistischen Führung. Vor dem Umsturz waren die Komitees an der Basis die zuverlässigeren und wertvolleren Gehilfen.[30]

Gewerkschaften und Komitees zogen allerdings mit Blick auf das wichtigste Ziel ihrer Anhänger an einem Strang: beim Kampf gegen die wachsende Not. Sommer und Herbst des Jahres 1917 brachten die Wirtschaft des Landes so dicht an den Rand des Zusammenbruchs wie nie zuvor. Längst fehlte es an allen lebensnotwendigen Gütern, über Nahrungsmittel hinaus in erster Linie an Energie, mit unabsehbaren Konsequenzen für die Produktion und Arbeitsplätze. Der Niedergang begann, sich durch eigene Schwerkraft zu beschleunigen. In den Bergwerken machten sich Mangel und Ermüdung von Mensch und Material bemerkbar. Selbst von der Hälfte des Kohlevolumens von 1914, die nur noch gefördert werden konnte, kam lediglich ein Teil in den Ballungszentren an, weil die Transportkapazitäten nicht mehr ausreichten. Und wo die Züge noch fahrtüchtig waren, fehlte es an Brennstoff und Personal. Im Oktober mussten auch die bevorzugten elektrifizierten Unternehmen ihren Betrieb drastisch einschränken. Der Einbruch in diesem und den folgenden Monaten war so tief, dass im Jahres- und Landesdurchschnitt ein Produktionsrückgang der erzeugenden Industrie von 30,5 % zu verzeichnen war.

Solch ein Verfall belastete die Bevölkerung auf vielfache Weise. In den Ballungszentren fiel die Lebensmittelversorgung auf einen neuen Tiefstand. Auch hier summierten sich verschiedene Ursachen und trieben die Notlage über jene Grenze hinaus, «jenseits derer der Hunger mit all seinen Folgen» begann. Selbst Brotkarten waren weitgehend wertlos, weil die erforderlichen Getreidelieferungen nicht mehr eintrafen. Im März konnte die Hauptstadt noch 81 % ihres Bedarfs decken, im Juni 62 % und in den folgenden Monaten nur noch 50 %. Die Anlieferung von frischer Milch fiel auf verschwindende 8 % des Vorkriegsstandes. Umgekehrt proportional kletterten, ausgehend von einem ohnehin hohen Niveau, die Preise. Ein führender sowjetischer Wirtschaftshistoriker hat errechnet, dass die Festpreise im Laufe des Jahres 1917 um das 2,3-Fache, die Marktpreise aber um das 34-Fache stiegen. Trotz erheblicher Lohnaufschläge mussten die Arbeiter fast aller Qualifikationskategorien empfindliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Auch dieser Sturz begann im Frühsommer.[31]

Inflation und Wirtschaftskrise grassierten nicht ohne Schaden für den sozialen Frieden. Die Streikwellen, die das Land vor allem seit Mai überrollten, ergriffen immer mehr Arbeiter. Landesweit stieg die Zahl der Streikenden von 35.000 im April auf 175.000 im Juni und 1,2 Millionen im Oktober. Wachsende Militanz konnte als Folge solch enormer Dynamik kaum ausbleiben. Ferner änderte sich, wie es scheint, nach den Juliereignissen auch der vorherrschende Typus der Aktivisten. Die ‹Avantgarde› der Qualifizierten und gewerkschaftlich Organisierten machte der Masse der schlechter Bezahlten und politisch Unerfahrenen Platz. Parallel dazu gaben auch die Unternehmer ihre anfängliche Konzessionsbereitschaft auf. Teils stand ihnen das Wasser selber bis zum Halse, teils versuchten sie, die Notlage der Streikenden zu nutzen: Seit dem Frühsommer beantworteten sie Arbeitsniederlegungen verstärkt mit Aussperrungen oder Betriebsstilllegungen. Der Klassenkampf wurde beklemmend real. Verschärfend wirkte außerdem, dass das Reformprogramm der Koalitionsregierung, das die Wogen hätte glätten sollen, an inneren und äußeren Widerständen scheiterte. Der neue, menschewistische Arbeitsminister weckte hohe Erwartungen, bewirkte aber wenig. Noch größeren Schaden erlitt sein Ansehen durch die Kehrtwende, die er seit Juni in der Öffentlichkeit vollzog. Immer häufiger mahnte er zu Disziplin und politischer Zurückhaltung; immer nachdrücklicher unterstrich er die Notwendigkeit von Entbehrungen für die Offensive und die Sicherung der revolutionären Errungenschaften. Bevorzugte Zielscheibe seiner Angriffe wurden die Fabrikräte. Offizielle Zirkulare entzogen diesen daher Ende August wieder alle Kompetenzen bei Einstellungen und Entlassungen und untersagten ihnen sogar Versammlungen während der Arbeitszeit.

Die Motive solcher Anweisungen bedürfen ebenso wenig der Erläuterung wie die Gründe für den wachsenden Widerstand der Unternehmer. Eine andere Frage bleibt, ob sie auch politisch klug waren. Denn ihre Folgen lagen auf der Hand: Angesichts derselben Teuerung und Lebensmittelknappheit wie zu zarischen Zeiten, angesichts auch der Tatsache, dass nicht einmal der faktisch erkämpfte Achtstundentag durch ein Gesetz zur allgemeinverbindlichen Norm erhoben wurde, fühlte sich eine wachsende Zahl von Arbeitern um die Früchte des Februarsieges betrogen. Unversöhnliche Kritik an der bestehenden Ordnung breitete sich aus. Vom Massenprotest der einfachen Arbeiter getragen, erreichte die bolschewistische Formel der «Arbeiterkontrolle über die Produktion und Distribution» im September eine nie dagewesene Popularität. Die Weichen waren für die ironische Pointe gestellt, dass der Geburtshelfer des Februarregimes auch sein Totengräber werden könnte.[32]

Für die Bauern kam die Februarrevolution aus heiterem Himmel. Dem Umsturz gingen keine Ausschreitungen gegen die Gutsbesitzer voran. Ebenso wie am Vorabend des Weltkrieges blieb das flache Land in den folgenden Jahren auffallend ruhig. Indes trog der Friede; keinesfalls zeigte er das Ende der sozialen Spannungen an. Die Reaktion der Bauern auf die Nachricht vom Sturz der Autokratie ließ im Gegenteil an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Ein offizieller Bericht vermerkte «allgemeine Freude» und Erleichterung. Monarchistische Kundgebungen wurden nur in drei Gouvernements registriert. Vom Zarenmythos, der die Loyalität der Bauernschaft über Jahrhunderte gesichert hatte, war überraschend wenig geblieben.

Der laute Jubel setzte die Provisorische Regierung unter starken Handlungszwang. In der Vergangenheit hatte beinahe jede größere Reform bei den Bauern die Hoffnung geweckt, auch ihr Los werde eine Erleichterung erfahren. Umso eher musste sich diese Erwartung nach dem unwiderruflichen Untergang des alten Staates einstellen. Niemand konnte den Bauern plausibel machen, warum sie nicht umgehend erhalten sollten, was nach ihrer Auffassung der Freiheit erst ein Fundament gab: Land. Die neue Regierung stand jedoch vor demselben Dilemma wie bei den Forderungen der Arbeiter. Sie konnte nicht halten, was die Revolution versprach, ohne die Fortsetzung des Krieges aufs Spiel zu setzen und eine tiefgreifende soziale Umwälzung mit unabsehbaren Folgen für den inneren Frieden zu riskieren. Nur stellte sich dieses Problem in noch schärferer Form, weil die bäuerlichen Ansprüche nicht mit Teilkonzessionen oder monetären Ersatzleistungen befriedigt werden konnten. Erschwerend kam hinzu, dass die neue Regierung in elementarer Weise auf die aktive Unterstützung des Dorfes angewiesen war – nicht nur um im Krieg zu bestehen, sondern auch zur Sicherung der Versorgung. Was sie sich vorgenommen hatte, kam daher der Quadratur des Kreises nahe: ein ausreichendes Getreideaufkommen zu gewährleisten und dennoch die soziale Revolution auf dem Lande hinauszuschieben, bis die Konstituierende Versammlung Zeit finden würde, darüber in Ruhe zu beraten.

Bei alledem konnte auch das bürgerlich-liberale Kabinett grundsätzlich mit einem Vertrauensvorschuss rechnen. Dorfversammlungen, in denen Sozialrevolutionäre erkennbar Wort und Feder führten, versicherten ihm nicht nur ihre Sympathie, sondern äußerten sogar Zustimmung zur Vertagung der endgültigen Entscheidung. Höchst unterschiedliche Meinungen traten jedoch in der Frage zutage, was bis dahin zu geschehen habe. Die Regierung verstaatlichte zwar Mitte März demonstrativ die Besitzungen der kaiserlichen Familie und andere öffentliche Ländereien. Aber sie machte zugleich klar, dass sie nicht daran dachte, Hand an private Güter zu legen. Vorerst sah sie ihre Aufgabe darin, neben Ruhe und Ordnung auch den sozialen Status quo auf dem Lande zu sichern. Der Verdacht kam auf, dass die alten Herren auch die neuen sein sollten.

Die Bauern zögerten jedoch nicht klarzumachen, dass sie die Revolution anders interpretierten. Bezeichnenderweise griffen sie dabei auf bestehende Institutionen zurück: Ob als Dorf- oder volost’-, Revolutions- oder Volkskomitee, faktisch übernahm die obščina die Macht, indem sie die verwaisten Funktionen von Polizei, Justiz und Verwaltung an sich zog. Ihre Zusammensetzung spiegelte dabei die jeweiligen lokalen Besonderheiten. In ihren Reihen fanden sich Angehörige der ‹Landintelligenz› (Dorflehrer, Schreiber) und beurlaubte Soldaten ebenso wie gelegentlich auch angesehene Gutsbesitzer. Die große Mehrheit der Mitglieder aber stellten die Bauern selbst; dabei scheinen sich junge Inhaber mittlerer Höfe in neuer und auffälliger Weise engagiert zu haben. Auf volost’-Ebene verdrängten die autochthonen Gremien – nicht selten in offener Auseinandersetzung – auch die neu gegründeten zemstva, die ebenfalls als Herrschaftsorgane der traditionellen Elite galten. Bei aller Verschiedenheit des Namens und des sozialen Gehalts bildeten sie im Kern Organisationen gleichen Typs: direkte Vertretungen der Bauern, deren Interessen sie mit Nachdruck zur Geltung brachten.[33]

Die Komitees konnten dabei auf die Unterstützung städtischer Agitatoren rechnen, die in größerer Zahl als je zuvor ausschwärmten. Allerdings spricht nichts dafür, dass diese mehr bewirkten, als die Unruhe zu schüren. Die Bauern handelten aus eigenem Antrieb und nach alter Gewohnheit, fast immer im Kollektiv nach einem förmlichen Beschluss der Gemeinde, zumeist auf Dorf- und volost’-Ebene, selten in überregionalem Maßstab. Schon im März kam es zu Zerstörungen und Plünderungen. Erneut leerten die Bauern gutsherrliche Getreidespeicher und raubten Vieh und Gerät. Vor allem aber nahmen sie sich Land. Teils beseitigten sie einfach die Grenzmarkierungen und begannen, adeliges, vor allem brachliegendes Land umzupflügen. Teils erklärten die Komitees selbstherrlich allen Boden, der nicht binnen einer kurz bemessenen Frist bestellt werde, zum Eigentum der obščina. Und wie stets in Zeiten des Aufruhrs schlugen die Dorfbewohner Holz aus gutsherrlichen Wäldern oder verletzten andere vormalige Feudalrechte. Eines wagten sie jedoch noch selten: die Grundbesitzer ganz zu verjagen. Zumeist beließen sie ihnen den größten Teil der Besitzungen. Tradition bestimmte auch darin nach wie vor ihr Verhalten.[34]

Unterdessen bemühte sich die Regierung, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Nach bemerkenswert kurzer Zeit gab sie Ende März Anweisung, im Ernstfall auch Polizei und Truppen einzusetzen – bei Arbeiterunruhen kaum denkbar und ein Indiz für die anhaltende panische Angst der gehobenen Gesellschaft (unter Einschluss der revolutionären Intelligenz) vor dem unverstandenen dörflichen Zorn. Im Wesentlichen aber vertraute sie auf die beruhigende Wirkung konkreter Schritte zur Vorbereitung einer Agrarreform. Am 21. April wurden auf vier Verwaltungsebenen Landkomitees mit der Aufgabe eingerichtet, Material für die Konstituierende Versammlung zusammenzutragen, ihr aber nicht vorzugreifen. Schon diese organisatorische Grundlegung der Agrarpolitik der Provisorischen Regierung ist in aller Regel gescholten worden. Das Hauptkomitee hat keine guten Noten bekommen, weil es bei 161 Mitgliedern kaum effektive Arbeit leisten konnte. Es vereinigte viel abstrakten Sachverstand, aber wenig Kenner der realen Verhältnisse. Durch die Einbeziehung der Parteien wurde es überdies zum Schauplatz heftigen und unfruchtbaren Streits. Um die untergeordneten Komitees war es nicht besser bestellt. Sie führten ein tatenloses Dasein im Schatten der bäuerlichen Gremien, es sei denn, sie verschmolzen (auf der untersten, der volost’-Ebene) faktisch mit diesen. In der Regel erging es ihnen nicht anders als fast allen vorangegangenen Versuchen des Behördenstaates, seine Instanzen bis in die Dörfer vorzuschieben: Sie scheiterten an der Geschlossenheit der bäuerlichen Welt und der Weite des Landes.

Mit der Weichenstellung vom April schlug die Provisorische Regierung einen Kurs ein, der die Gefahr dauerhafter Verzögerung in sich barg. Sie tat dies nicht nur aus Respekt vor der demokratischen Revolution, die es zu erfordern schien, dass eine Entscheidung von solcher Tragweite dem dazu legitimierten Gremium vorbehalten blieb. Vielmehr spricht alles dafür, dass auch politische Gegensätze und soziale Interessen eine Rolle spielten. Aus beiden Gründen verlief die hauptsächliche Konfliktfront in der Regierung zwischen den Kadetten und dem ‹linken Zentrum› der PSR um Černov. Wohl hatten unverdrossene Linksliberale den bäuerlichen Landhunger nicht vergessen; sie votierten weiterhin für die Zwangsenteignung von privatem Großgrundbesitz, wenn auch bei angemessener Entschädigung. Die allermeisten der Delegierten, die im Mai zum achten Parteikongress zusammenkamen, wiesen solche Ansichten jedoch entsetzt zurück. Auf Vorschlag Miljukovs verabschiedeten sie mehrere Ergänzungen zum Parteiprogramm, die das darin noch verankerte Prinzip des Landtransfers durch einen Ausnahmekatalog weitgehend aufhob. Obwohl die Konferenz Enteignungen nach wie vor für zulässig erklärte, distanzierte sie sich sichtbar von der revolutionären Vergangenheit. Bei allem Bekenntnis zur ‹Klassenneutralität› verpflichtete sich der russische Liberalismus dem Eigentum so stark, dass der Graben zu den bäuerlichen Forderungen nicht mehr zu überwinden war.

Auf der anderen Seite herrschte bei den Sozialrevolutionären selbst in der Agrarfrage keine Einigkeit. Zwar bestätigte der dritte Parteitag emphatisch die alte Losung von der entschädigungslosen Überführung des Großgrundbesitzes in die «gleiche Nutzung» der «Werktätigen», d.h. selbst auf dem Felde arbeitenden Bauern. Aber er beschloss zugleich, die Festlegung der Modalitäten der Konstituierenden Versammlung zu überlassen. Damit vertagte auch die PSR das Problem, obwohl gerade ihr das damit verbundene Risiko bewusst sein musste. In der Zwischenzeit konnte sie als Regierungspartei einer temporären Entscheidung nicht ausweichen. Dabei hielt die dominierende gemäßigte ‹Rechte› aber ebenfalls am Schulterschluss mit den Kadetten und Menschewiki und dem Grundsatz der ‹bürgerlich-demokratischen› Revolution fest. Demgegenüber fühlte sich Černov stärker dem ursprünglichen Geist der Partei verpflichtet. Ohne der Konstituierenden Versammlung das letzte Wort bestreiten zu wollen, hielt er Konzessionen an die Bauern für dringend geboten, um der Februarordnung Halt zu geben. Der Landwirtschaftsminister und die schwindende Schar seiner Anhänger waren unter den Entscheidungsträgern letztlich die Einzigen, die der politischen Dimension der Agrarfrage angemessen Rechnung trugen. Was sie durchzusetzen vermochten, war jedoch nur ein Minimalprogramm. Ende Juni löste Černov die Landeinrichtungskommissionen aus dem Jahre 1906 auf; damit brach er der bei den meisten Bauern verhassten, weil gegen die obščina gerichteten Stolypinschen Reform das Rückgrat. Am 16. Juli nutzte er die Koalitionskrise, um den örtlichen Landkomitees, unbehindert von den zurückgetretenen liberalen Ministern, zusätzliche Rechte einzuräumen. Faktisch bedeutete die Order weit mehr, als ihr Wortlaut besagte. Der Agrarminister wusste, dass die Komitees sie als Anerkennung ihrer Verfügungsgewalt über das Land deuten würden. Das ‹Missverständnis› war in seinem Sinne: Eben diese Verfügungsgewalt schwebte ihm als Interimslösung bis zur Konstituierenden Versammlung vor. Sie war zugleich der größte Stein des Anstoßes für die Kadetten, die darin mit gutem Grund den ersten Schritt zur faktischen Legalisierung der spontanen Landnahme, der «Schwarzen Umteilung», sahen.

Letzten Endes saßen die Liberalen mit Unterstützung der konservativen Sozialrevolutionäre und Menschewiki am längeren Hebel. Als Černov nach mehreren Versuchen einsehen musste, dass sein Gesetzentwurf zur Landreform im Kabinett keine Chance haben würde, gab er Ende August auf. Sein Nachfolger vom rechten Flügel der PSR wollte nur noch Pachtland in den Distributionsfonds geben. Selbst dieses Projekt, das den bäuerlichen Landhunger mit Brosamen zu stillen suchte, fand jedoch keine Mehrheit. Die Februarregierung und die Sozialrevolutionäre als ihre mittlerweile stärkste Kraft verspielten ihren großen Kredit bei der Dorfbevölkerung leichtfertig.[35]

Nicht glücklicher operierte die PSR auf dem zweiten Schauplatz der Agrarpolitik, in den Bauernsowjets. Die Räteidee fasste auf dem Dorfe mit bezeichnender Verspätung Fuß. Organe der bäuerlichen Interessenvertretung waren seit Menschengedenken die obščiny; andere erschienen überflüssig. Die ersten Konferenzen von Bauerndeputierten gingen denn auch nicht aus dörflicher Initiative hervor. Vielmehr wurden sie seit März auf Anregung der Arbeiter- und Soldatensowjets eingerichtet. Politische Bedeutung erlangte vor allem der Allrussische Bauernsowjet. Auf Initiative der PSR und verwandter Organisationen zusammengerufen, konnte seine parteiliche Orientierung keine Überraschung sein. Von den 1115 Delegierten betrachteten sich 537 als Sozialrevolutionäre, nur 14 als Bolschewiki. Bemerkenswert hoch war der Anteil von Soldaten: Knapp die Hälfte der Delegierten trug Uniform, ein weiterer Beleg für die enge Verflechtung der Unruhe in Armee und Dorf. Im Vordergrund der Debatten stand naturgemäß die Landfrage. Sozialrevolutionäre Parolen beherrschten die Reden, solche allerdings, die den meisten Parteiführern nicht mehr behagten. Deren Bemühungen, radikale Beschlüsse zu verhindern, blieben denn auch vergeblich. Die Schlussresolution vom 26. Mai empfahl den Landkomitees, bei der Vorbereitung einer umfassenden Reform vom Grundsatz auszugehen, dass sämtliche Staats-, Kirchen- und Privatgüter entschädigungslos in den Besitz des ganzen Volkes zu überführen seien. Die Bauerndeputierten forderten dasselbe wie 1905: die «Sozialisierung des Landes».

Das Dorf unterstützte solche Beschlüsse mit wachsender Ungeduld. Die Fieberkurve des Aufruhrs stieg seit April, lediglich durch die Ernte unterbrochen, steil an. Zugleich wuchsen Radikalität und Gewalt. Die Bauern gaben sich keine Mühe mehr, den Schein von Legalität zu wahren. Wo sie Land beanspruchten, nahmen sie es im Handstreich; wo sie es gepachtet hatten, ignorierten sie die Verträge. Im Zentralen Schwarzerdegebiet wurden pogromartige Plünderungen von Gutshöfen nachgerade zur üblichen Äußerungsform ihres Zorns. Wo noch bewaffnete Milizen ausgeschickt werden konnten, blieb Blutvergießen nicht aus. Auch unbesonnenes Verhalten seitens der einstigen Herren konnte die Empörung bis zum Mord steigern. Im Frühherbst 1917, als die Regierung ihre Handlungsfähigkeit vollends eingebüßt hatte, erlebte Russland eine neuerliche grande peur – verheerender als 1905 und politisch folgenreicher: Sie bildete eine elementare Voraussetzung für den Oktober.

Denn fraglos goss auch die wachsende Verbitterung der Bauern Wasser auf die Mühlen der militanten Gegner des Februarregimes. Nicht zuletzt auf dem Dorf grub sich die Provisorische Regierung ihr eigenes Grab. Schon vor dem Allrussischen Kongress der Bauernräte im Mai hatte Lenin eine effektvolle Rede gehalten, deren Botschaft die Stimmung der Anwesenden weit eher traf als Černovs Appell zur Mäßigung. Dennoch bewahrten die Sozialrevolutionäre in vielen Regional- und Dorfkomitees eine erstaunliche Popularität. Den Bolschewiki gelang es nicht, sie zu verdrängen. Die offensichtliche Radikalisierung, vorangetrieben vor allem von den Bauernabteilungen, die den städtischen Arbeiter- und Soldatenräten immer häufiger angegliedert wurden, kam ganz überwiegend den linken Sozialrevolutionären zugute. Mit gutem Grund sahen die Bauern in ihnen die wahren Erben der alten PSR. Beide führte nicht nur das gemeinsame Ziel der sofortigen Landumteilung zusammen, sondern auch das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der Dorfgemeinde. Wenn die Revolution auf dem Lande einen Sieger hatte, dann war es die traditionale Lebens- und Wirtschaftsform in Gestalt der obščina.[36]

Angesichts der unvermindert wachsenden Konflikte in Staat und Gesellschaft weckte die mühsam reparierte Koalition wenig Optimismus. Niemand traute ihr einen Aufbruch zu neuen Ufern zu. Augenzeugen verschiedenster Orientierung waren sich darin einig, dass das Land mit hoher Geschwindigkeit auf die Unregierbarkeit zuraste. In gleichem Maße schrumpfte der Mittelboden, auf dem die Regierung stand. Die drohende Anarchie war die Stunde extremer Rezepte. Dabei befanden sich die Bolschewiki vorerst im Nachteil. Verbot und Verfolgung banden ihnen die Hände, auch wenn der Bann nicht mit der beabsichtigten Härte durchgesetzt werden konnte. Vielmehr erkannten die Generäle im August, ermuntert durch Sympathiebezeugungen der politischen «Gesellschaft» und die widersprüchliche Haltung des Ministerpräsidenten, eine Chance, das Vaterland aus den Fängen der Revolution zu befreien. Die Ironie wollte es, dass ihr Rettungsversuch das genaue Gegenteil bewirkte: den endgültigen Triumph der radikalen Linken.

Die Option eines Militärputsches wurde in konservativen Offiziers- und Wirtschaftskreisen schon seit April erwogen. Aber bis zum Hochsommer konnte niemand ernsthaft daran denken, sie zu verwirklichen. Die gescheiterte Offensive änderte dies. Sie rückte nicht nur die militärische Niederlage in greifbare Nähe. Darüber hinaus bescherte sie dem nationalen Lager eine Führerpersönlichkeit, der man die schwierige Aufgabe zutrauen konnte: einen neuen Oberkommandierenden, soldatisch, nicht ohne Charisma, kein bloßer Militärstratege, sondern ein Mann mit politischem Verstand, kein unverbesserlicher Monarchist, sondern einer jener Befehlshaber, die den Februarumsturz möglich gemacht hatten. General L. G.Kornilov zeigte schon am Tage nach seiner Ernennung, dass er aus anderem Holz geschnitzt war als seine Vorgänger. Er übermittelte dem Ministerpräsidenten nachträglich Bedingungen seiner Amtsübernahme: alleinige Entscheidungskompetenz in allen militärischen Fragen einschließlich der personellen, Ausdehnung der Todesstrafe auch auf die Etappe und Anerkennung seiner ausschließlichen Verantwortlichkeit gegenüber dem «Volk als Ganzem».

Solch forscher Ton gab Kerenskij Anlass, an der Klugheit seiner Wahl zu zweifeln. Als der Generalstabschef seinen Worten Taten folgen ließ und die Abberufung des neu ernannten Oberkommandierenden der Südwestfront verlangte, war der Grundstein für ein unheilbares Zerwürfnis gelegt. Ministerpräsident und Kabinett wagten dennoch nicht, den neuen Mann schon wieder zu entlassen. Sie fürchteten nicht nur die öffentliche Blamage, sondern auch eine neue Zerreißprobe für die Koalition. Denn darin bestand die eigentliche Stütze Kornilovs und seiner kommenden Aktionen: Außer Monarchisten alten Schlages freundeten sich breite Kreise der Kadetten mit dem Gedanken einer vorübergehenden Militärdiktatur an. Der neunte Parteitag Ende Juli gab die wachsende Neigung zu gewaltsamen Lösungen deutlich zu erkennen. Miljukovs Aufruf zum entschiedenen Kampf gegen die Linke rief größere Begeisterung hervor, als die soeben bestätigte Zusammenarbeit mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zuließ. Was nach mehrheitlicher Meinung nottat, war die Sammlung aller «Kräfte zur Rettung des Vaterlandes», eine «nationale Regierung» im «nationalen Interesse» mit «nationalen Persönlichkeiten». Die Liberalen suchten den Schulterschluss nicht nur mit dem Landadel, sondern auch mit dem Militär. Es gereichte ihnen zur Ehre, dass sie an ihrer Selbstverpflichtung auf Legalität festhielten. Dennoch lag offen zutage, dass sie es hinnehmen würden, wenn andere zu tun wagten, was sie nur dachten.[37]

Wie sehr das Land auf einen Eklat zutrieb, machte eine Veranstaltung deutlich, die ihm vorbeugen sollte. Nach dem Zerfall der ersten Koalition war eine sog. Staatsberatung aus Vertretern aller sozialen Gruppen (im Gegensatz zu den Sowjetkongressen) anberaumt worden, um Wege aus der Krise zu suchen. Solche Hoffnungen waren jedoch längst zerstoben, als sie am 12. August für drei Tage im Moskauer Bolschoj-Theater zusammentrat. Die mit Bedacht gesuchte Ferne von der zerstrittenen Hauptstadt trug nicht dazu bei, die Gräben zwischen den Delegationen der Duma, Sowjets, Handels- und Industrieverbände, Grundbesitzer, Städte, Nationalitäten, Armeeführung und anderen zuzuschütten. Stattdessen schlugen die Wogen hoch. Obwohl Kornilov eine maßvolle Rede hielt, entspannte sein Auftritt die Lage nicht. Im Gegenteil, die Umstände seines Aufenthaltes, der Blumenregen und die Fanfaren bei seiner Ankunft, seine Wallfahrt zur selben Ikone im Kreml, zu der die Zaren traditionell vor ihrer Krönung gebetet hatten – all dies bezeugte das Wissen um einen Wunsch, den ein prominenter Altliberaler zur Begrüßung offen aussprach: «Retten Sie Russland, und ein dankbares Volk wird Sie krönen.»

Die Ergebnislosigkeit der Konferenz beschleunigte die Ereignisse. Sie brachte Kornilov zu der Einsicht, dass Russland nur durch eine Diktatur zu retten sei. Hinzu kam eine weitere Hiobsbotschaft von der Front: Deutsche Truppen besetzten am 21. August Riga und standen damit in bedrohlicher Nähe zur Hauptstadt. Auf der anderen Seite reifte wohl auch in Kerenskij die Überzeugung, dass eine Politik der starken Hand, allerdings unter seiner Führung, unvermeidlich sei. Auf diesem Hintergrund gedieh jene kaum entwirrbare Mischung aus Putschvorbereitungen, Verhandlungen, Missverständnissen und Intrigen durch interessierte Mittelsmänner, die schließlich in den stümperhaften Versuch eines Coup d’Etat mündete. Das Hauptquartier der Armee in Mogilev nutzte den deutschen Vormarsch, um Truppen im baltischen Raum zusammenzuziehen, die auch gegen Petrograd eingesetzt werden konnten. Am 23. und 24. bemühte sich der stellvertretende Kriegsminister mit Erfolg, durch das Angebot eines ‹legal› verhängten Ausnahmezustands und einer gemeinsamen Notstandsdiktatur einen Kompromiss zu erreichen. Kornilov musste glauben, im Einverständnis mit Kerenskij zu handeln. Am nächsten Tag begab sich ein anderes Kabinettsmitglied auf eigene Initiative zum Hauptquartier, um die Lage zu sondieren. Bis heute ist unklar, ob Kornilov ihm gegenüber nur die Abmachungen wiederholte, die er für akzeptiert hielt, oder ob er jetzt die alleinige Macht für sich beanspruchte. In dieser Form, als ultimative Androhung einer ausschließlichen Militärdiktatur, erfuhr der Ministerpräsident am 26. von Kornilovs Äußerungen. Er reagierte prompt und enthob den Oberkommandierenden seines Amtes. Kornilov verweigerte den Gehorsam und gab formelle Order zur Besetzung der Hauptstadt. Die Truppen kamen aber nicht weit. Auf Anweisung der Eisenbahnergewerkschaft blieben die meisten weit vor Petrograd liegen. Die einzige Division, die durchkam, ließ sich vor den Toren der Stadt von der Unrechtmäßigkeit ihrer Mission überzeugen. Überdies standen Garnisonssoldaten, Arbeitermilizen und Matrosen zur Abwehr bereit. In bemerkenswert kurzer Zeit hatten die Revolutionäre den Widerstand organisiert. Die Gegenrevolution blieb ohne Chance.[38]

So mochte es scheinen, als hätte das Februarregime einen wertvollen Sieg errungen. Die Wirklichkeit sah anders aus. Auf der Hand lag, dass der Umsturzversuch nicht ohne Konsequenzen in der Regierung bleiben konnte. Die Minister erkannten dies und stellten ihre Ämter noch am Abend des 26. August zur Verfügung. Die Geschäfte übernahm ein fünfköpfiges Direktorium aus ihrer Mitte, in dem Kerenskij, mit Sondervollmachten ausgestattet, den Vorsitz führte. Indes konnte die Notstandsdiktatur die Misere an der Staatsspitze nicht verbergen: Abermals musste Russland in schwerer Zeit ohne handlungsfähige Regierung auskommen. Denn die Regierungsbildung gestaltete sich noch schwieriger als zwei Monate zuvor. Umstritten war erneut die Beteiligung der Kadetten. Dabei hatten sich die Fronten nicht nur verhärtet, sondern auch verkehrt. Sicher nicht schuldlos in den Ruch der Kollaboration geraten, standen die Liberalen mit dem Rücken zur Wand. Anders als im Juli mussten sie aus der Defensive operieren. Dagegen spürten ihre Gegner in den Koalitionsparteien Auftrieb. Unter dem Eindruck des Putsches fand ihr Votum für eine rein sozialistische Regierung größere Resonanz denn je. Doch als es zum Schwur kam, hatten sich die ‹Konservativen› in der menschewistischen und sozialrevolutionären Führung gefangen. Gemeinsam trafen sie hinter den Kulissen ein drittes Mal Absprachen mit den Kadetten.

Formell blieb die Entscheidung allerdings einer Veranstaltung vorbehalten, die eigens zur Krisenbewältigung anberaumt wurde. Im Unterschied zur Moskauer Staatsberatung sollte die Demokratische Konferenz (14. bis 23. September) kein Forum der ganzen Nation sein, sondern nur die Säulen des Februarregimes repräsentieren. Unternehmer und Großagrarier blieben ebenso ausgeschlossen wie die Kadetten, die kollektiv dem Verdikt verfielen, dem ‹anderen Russland› anzugehören. Fraglos zeigte die Konferenz, dass sich die politische Achse im Land merklich nach links verschoben hatte. So konnte es nicht überraschen, dass es den Strategen des Regimes nur mit Mühe gelang, die Delegierten zu dem erwünschten Votum zu bewegen. Wohl sprachen diese sich in einem ersten Referendum mit knapper Mehrheit grundsätzlich für eine Koalition mit bürgerlichen Parteien aus. Das hinderte sie aber nicht, die Kadetten in der folgenden Abstimmung aus dem Kreis der Regierungspartner auszuschließen und bei einem «offenkundig unsinnigen Ergebnis» zu enden. Es bedurfte der ganzen Raffinesse des Sitzungsvorstands, um einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden. Die Aufgabe der Demokratischen Konferenz wurde auf die Verabschiedung eines allgemeinen Aktionsprogramms für die nächste Zukunft zurückgestutzt, während die endgültige Entscheidung über die Form der Regierung einem neu zu wählenden, permanent tagenden Demokratischen Rat vorbehalten blieb. Am 25. September konnte Kerenskij die dritte Koalition vorstellen. Von einigen Moskauer Liberalen abgesehen, enthielt die Kabinettsliste nur unbekannte Namen, die sich dem öffentlichen Gedächtnis auch im knappen Monat ihrer Amtszeit kaum einprägten. Unter den Sozialisten fand sich kein Politiker von Rang mehr. Das letzte Aufgebot der Februarrevolution rekrutierte sich aus dem zweiten und dritten Glied.[39]

Da half es wenig, dass der Demokratische Rat, bald bekannter als Vorparlament, eine überaus gelungene Schöpfung war. Im Gegensatz zur Konferenz selbst repräsentierte er wieder alle sozialen Schichten. Die Parteien, einschließlich der Bolschewiki und der Kadetten, boten ebenso ihre besten Kräfte auf wie die administrativen, sozialen und berufsständischen Organe und Verbände. Beobachter aus verschiedenen Lagern stimmten darin überein, dass diese Versammlung, die am 7. Oktober ihre Arbeit aufnahm, am ehesten den Anspruch erheben konnte, die «Blüte der Nation» zu sein. Leider standen solche Qualitäten in Widerspruch zu ihrer bloß beratenden Aufgabe. Vieles spricht jedoch dafür, dass ihr auch erweiterte Rechte nicht zu größerem Gewicht verholfen hätten. Denn abgesehen von innerer Zerrissenheit litt sie am Boykott durch die Kraft, auf die bereits alle starrten: Trotzki verursachte tumultartige Szenen, als er den Rat am Tage seiner Eröffnung mit polemischem Getöse als bürgerliches Blendwerk anprangerte und den Auszug seiner Parteigenossen begründete. Wer politischen Verstand hatte, begriff – die Bolschewiki rissen die Brücken ab. Die Moskauer Staatsberatung hatte im Bann Kornilovs gestanden. Zwei Monate später agierte das Vorparlament im überlebensgroßen Schatten Lenins. Das Gespenst eines Staatsstreichs von links ging um.[40]

Diese Wende kam nicht aus heiterem Himmel. Das erste weithin sichtbare Signal gaben Wahlen zum Petrograder Stadtrat am 20. August. Zwar konnte sich die PSR als stärkste Partei behaupten (37,4 %). Aber den eigentlichen Sieg, der ganz Russland aufhorchen ließ, verbuchten mit einem Stimmengewinn von 13 % im Vergleich zur Wahl vom Juni die Bolschewiki (33,4 %). Das Nachsehen hatten, am Ort ihrer größten Chancen auf den dritten Rang verwiesen, die Kadetten (20,9 %). In mancher Hinsicht beschleunigte der Kornilov-Putsch nur, was sich in diesem Ergebnis bereits abzeichnete. Glaubwürdig vermochten sich die Bolschewiki als Retter der Revolution in Szene zu setzen: Es waren ihre Garden, die binnen weniger Stunden die Verteidigungsposten besetzten. Wer noch eine Bestätigung für den politischen Erdrutsch brauchte, der sich vor aller Augen vollzog, konnte sie den Wahlen zu den Moskauer Stadtbezirksräten am 24. September entnehmen. Im Vergleich zu den Juni-Wahlen verloren die Sozialrevolutionäre über 40 % der Stimmen (14,4 % gegenüber 56,2 %) und die Menschewiki etwa 8 % (4,1 % gegenüber 12,6 %). Die Wähler, insbesondere die Soldaten, liefen scharenweise zu den Bolschewiki über: Der Sprung von 11,5 % auf 50,9 % war ein Triumph, der weit über den kommunalen Rahmen hinauswirkte.

Schon deshalb machte der Wandel vor den Sowjets nicht halt. Allein die Bolschewiki profitierten vom Popularitätsgewinn der revolutionären Organe, den die konservative Mobilmachung auslöste. Sie schienen als Einzige keine Verantwortung für die verfahrene Gesamtsituation zu tragen. Bereits am 31. August traten die Folgen in einer denkwürdigen Abstimmung zutage. Erstmals nahm der Petrograder Sowjet eine gegen die Regierung gerichtete bolschewistische Resolution an. Auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Exekutivkomitees blieben nicht aus. Dies umso eher, als die Bolschewiki wieder weitgehend legal agieren konnten. Die Regierung hatte keine andere Wahl, als ihre inhaftierten Führer (nicht also Lenin, der sich weiterhin versteckt hielt) Anfang September wegen ihrer Verdienste bei der Verteidigung der Demokratie auf freien Fuß zu setzen. Es begann die große Zeit Trotzkis, der kein bloßer Platzhalter war, sondern zur zweiten akzeptierten Führungsfigur aufrückte. In entscheidenden Wesenszügen ergänzten Lenin und Trotzki einander: von hypnotischer Willenskraft der eine, ein begnadeter Volkstribun der andere. So fiel die Wahl nicht schwer, als sich der Petrograder Sowjet auf ein neues Präsidium mit bolschewistischer Mehrheit und einem bolschewistischen Vorsitzenden einigte: Am 25. September löste Trotzki in einem wahrhaft symbolischen Wechsel den menschewistischen Amtsinhaber ab. In seiner Antrittsrede versprach er, «den Arm des Präsidiums» nie zur Unterdrückung einer Minderheit einzusetzen. Er sollte seine Worte schon bald Lügen strafen.[41]