Wenige Ereignisse haben bis in die Gegenwart so tiefe Spuren hinterlassen wie das gewaltsame Ende der Provisorischen Regierung. Von langer Hand vorbereitet und im Stile eines militärischen Kommandounternehmens durchgeführt, brachte es die Bolschewiki an die Hebel der ersehnten Macht. Über den Charakter des Putsches wurde seither ebenso heftig gestritten wie über die Kennzeichnung der sozialen und staatlichen Ordnung, die er hervorbrachte. Das Monumentalgemälde vom Massenaufstand der «Großen Sozialistischen Oktoberrevolution» – so die ehedem verbindliche sowjetische Sprachregelung – ist spätestens während der Perestrojka ins Reich der Mythenbildung verwiesen worden, und mit dem Untergang des Staates insgesamt sind auch die letzten Lobeshymnen verstummt.
Doch auch jene Sehweise, die den Umsturz allein zum Werk machtbesessener und doktrinärer Weltverbesserer erklärt, greift trotz ihrer postsowjetischen Renaissance zu kurz. Sie übersieht, dass die Macht, wie Lenin plastisch formulierte, tatsächlich «auf der Straße» lag und es ein Leichtes war, sie aufzuheben. Dies entschuldigt den Staatsstreich nicht und ändert erst recht nichts an seiner begrifflichen Kennzeichnung. Aber es macht deutlich, dass er nicht von der Lage im Lande und von der Stimmung der Masse der Bevölkerung zumindest in Sankt Petersburg und manchen anderen Großstädten zu trennen ist. Intensive sozialgeschichtliche Forschungen haben die tiefen Gräben an den Tag gebracht, die sich schon bald nach dem Sturz der Monarchie im Februar wieder in der russischen Gesellschaft auftaten. Die Einsicht verdient angemessene Beachtung, dass die bolschewistischen Revolutionäre, die Geschichte machten, ohne die kapitalen Versäumnisse der Provisorischen Regierung ihr Ziel nicht erreicht hätten. Politisches und soziales Geschehen erscheinen in dieser Sicht ebenso eng miteinander verklammert wie die Persönlichkeiten mit dem Wirkungsfeld, in dem sie sich erst entfalten konnten. Lenin mochte, mit Trotzki an seiner Seite, in der Tat der böse Geist sein, für den ihn seine Gegner hielten. Ohne seine Autorität und Entschlossenheit ist der Coup ebenso wenig denkbar wie ohne seine Radikalität und Selbstgewissheit. Aber er vollbrachte keine herkulische Tat aus dem Nichts, sondern nutzte die Fehler anderer und die Chance, die in der schweren Dauerkrise des Landes lag.
Gerade mit Blick auf den Oktober sollte man sich allerdings davor hüten, eine Zwangsläufigkeit in die Entwicklung hineinzulesen. Sicher war die Regierung mit ihrer Weisheit am Ende. Spätestens seit August verbreitete sich das Gefühl, dass die entscheidende Kraftprobe bevorstand. Aber nicht nur die Stützen des Regimes dachten dabei an die Konstituierende Versammlung. Auch die meisten bolschewistischen Führer gingen davon aus, dass sich der Knoten gewaltlos lösen würde. Nach dem Kornilov-Putsch sahen sie sich auf dem besten Wege, zur Mehrheitspartei zu werden. Man brauchte nur, wie bisher, «hartnäckig und ohne aufzuatmen … jeden Tag, den Gott gab», in die Fabriken und Kasernen auszuschwärmen und die weitere Untätigkeit der Regierung abzuwarten. Im Sinne dieser legal-parlamentarischen Strategie sprach sich das ZK, Trotzki eingeschlossen, auch für die Teilnahme an der Demokratischen Konferenz aus. Es war erneut ein Einzelner, der die Imperative der aktuellen Lage anders deutete und mit der ihm eigenen Energie zur Geltung brachte: Lenin. Im Vorfeld des Oktober wiederholten sich die inneren Kämpfe vom April. Der Führer benötigte einen ganzen Monat, um die Partei auf seine Linie einzuschwören. Auch die Bolschewiki waren zutiefst gespalten, ohne dass eine formelle Sezession drohte. Mit der Deutung ihrer Organisation als Verschwörerzirkel verträgt sich dieser Befund schlecht.[1] Aber er zwingt ein weiteres Mal dazu, über die kaum zu überschätzende Bedeutung der Persönlichkeit Lenins nachzudenken.
Der neuerliche Blitz des «Donnerschleuderers» (Suchanov) traf das ZK in Gestalt zweier Briefe aus dem Untergrund vom 12. und 14. September. Tonfall und Inhalt wirkten wie Faustschläge. Kaum zwei Wochen nach der Wiederzulassung empfahl der Parteiführer die bedingungslose Offensive. Mit der ihm eigenen Unbeirrbarkeit hämmerte er den Genossen ein, dass die Regierung abgewirtschaftet habe. Es genüge, die «aktive Mehrheit der revolutionären Elemente» in den beiden Hauptstädten zu mobilisieren, um «die Macht zu erobern». Man brauche nur «unverzüglich einen demokratischen Frieden» anzubieten, «den Boden an die Bauern» zu geben und die demokratischen Einrichtungen wiederherzustellen, um eine «Regierung zu bilden, die niemand stürzen» könne. Mit den Petrograder und Moskauer Räten im Rücken dürfe man keinen Tag zögern. Darin bestehe die von Marx geforderte «Kunst des Aufstandes», den rechten Zeitpunkt zu erkennen. Es sei «naiv, eine ‹formelle› Mehrheit der Bolschewiki» abwarten zu wollen. Einen solchen Augenblick zu verpassen, sei «vollendete Idiotie oder vollendeter Verrat». Dies war, von der taktischen Vorbereitung abgesehen, das Szenario des Oktoberaufstandes in nuce. Aber nicht nur das: Wer so redete, wusste sich im Einklang mit dem Weltgeist und scherte sich wenig um messbare Zustimmung und Proteste. Er bezog seine atemberaubende Selbstgewissheit aus dem Anspruch, den Gang der Entwicklung zu kennen. Umso stärker schlug zu Buche, dass seine Grundannahmen in der gegebenen Situation durchaus zutrafen.[2]
Die Empfänger der Briefe waren ähnlich verstört wie Lenins Zuhörer im April. Auf einer eigens anberaumten Sitzung des ZK (am 15. September) fand sich kein Einziger, der die rigorose Empfehlung akzeptiert hätte. Im Gegenteil, es bestand Konsens darüber, dass sie den Aufschwung der Partei gefährde. So einmütig war die Ablehnung, dass beschlossen wurde, ihre Verbreitung zu verhindern und weiterhin eine friedliche Machtergreifung anzustreben. Die Hoffnung galt dabei einem neuen gesamtrussischen Rätekongress, den das Zentrale Exekutivkomitee auf Druck der Bolschewiki für den 20. Oktober anberaumt hatte. Auch wenn seine Aufgaben auf Zuarbeiten für die Konstituierende Versammlung beschränkt wurden, konnte niemand im Unklaren darüber sein, dass die Hauptfrage des Tages nicht auszuklammern war: ob «alle Macht den Räten» zufallen oder das Februarregime fortbestehen sollte. Dies war umso eher zu erwarten, als Wahl und Zusammentritt der Konstituante schon Anfang August auf den 12. bzw. 28. November festgelegt worden waren. Wer immer im Lande vollendete Tatsachen schaffen wollte, musste dies vorher tun.
Lenin wäre nicht der geborene Revolutionär gewesen, der er war, hätte er sich so leicht mundtot machen lassen. In der Sorge, die Parteiführung werde eine unwiederbringliche Gelegenheit verpassen, wiederholte er seine Forderungen in einer Flut von Briefen und Artikeln mit wachsender Ungeduld. Dabei konnte er weitere Krisensymptome ins Feld führen: die Eskalation der Gewalt auf den Dörfern, die Zuspitzung der Arbeitskämpfe in den Städten und nicht zuletzt die Ergebnisse der Moskauer Kommunalwahlen. Mit gutem Grund sprach Lenin von einem «gigantischen Sieg» und einer «klaren Mehrheit», über die ein Bündnis aus Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären verfüge. Als sich das ZK weiterhin taub stellte, scheute er auch vor massivem Druck nicht zurück: Er erklärte seinen Rücktritt von der Parteiführung, wobei er sich die «Freiheit der Agitation» an der Basis vorbehielt. Um der Drohung Nachdruck zu verleihen, verließ er (wahrscheinlich) am 29. September sein finnisches Versteck und bezog – immer noch inkognito – am Rande der Hauptstadt selbst, im Arbeiterviertel Vyborg, Quartier. So nah am Orte des Geschehens fand er Mittel und Wege, die Obstruktion des ZK zu unterlaufen. Anfang Oktober wurden seine Briefe im Petrograder Stadtkomitee bekannt. Obwohl ebenfalls gespalten, verlangte es eine eingehende Diskussion über den künftigen Kurs der Partei. Zugleich erlahmte der Widerstand an der Parteispitze. Als Erster wechselte Trotzki die Fronten und plädierte für einen Boykott des Vorparlaments. Seinem Vorschlag schloss sich das gesamte ZK am 5. Oktober mit der einzigen Gegenstimme von Kamenev an. Auch nach innen markierte der zwei Tage später mit Aplomb inszenierte Auszug eine bedeutsame Wende.[3]
Die entscheidende Sitzung des ZK fand drei Tage später statt. Zur geheimen Zusammenkunft erschien erstmals seit Monaten Lenin, mit Perücke und bartlos, um seine Thesen dem Dutzend führender Genossen vorzutragen. Anwesend waren unter anderem Trotzki, Kamenev, Josif Vissarionovič Stalin, Grigorij E. Zinov’ev, Ja. M. Sverdlov, führender Organisator der Partei, F. Ė. Dzeržinskij, bald Chef der berüchtigten Tscheka (ČK, eigentlich VČK), M. S. Urickij, sein späterer Gehilfe in Petrograd, und die Vorkämpferin der Frauenemanzipation Aleksandra M. Kollontaj. Die entschiedensten Gegner eines Konfrontationskurses, Kamenev und Zinov’ev, räumten zwar ein, dass ein erheblicher Teil der Arbeiter und Soldaten hinter der Partei stehe. Aber sie warnten vor übertriebenen Hoffnungen auf deren Unterstützung im Konfliktfall. Beide hielten es nach wie vor für die einzig richtige Strategie, den Zerfall der Regierungskoalition zu beschleunigen und gemeinsam mit den Linken Sozialrevolutionären eine Mehrheit in der Konstituierenden Versammlung anzustreben. Unter den Anwesenden war die Stimmung jedoch bereits umgeschlagen. Zwei Sympathisanten der legalen Taktik, der führende Moskauer Bolschewik V. P. Nogin und der Vorsitzende des Allrussischen Gewerkschaftsbundes Aleksej I. Rykov, fehlten. So verabschiedete die historische Zusammenkunft vom 10. Oktober eine von Lenin entworfene Resolution, die den «bewaffneten Aufstand» zur Aufgabe des Tages erklärte.[4]
Kamenev und Zinov’ev aber blieben bei ihrer Opposition. Sie fanden Schützenhilfe im Petrograder Stadtkomitee und in der Militärorganisation der Partei, die ebenfalls daran zweifelte, dass ein erfolgversprechender Putsch überhaupt zu organisieren sei. Als die Mehrheit der greifbaren Führungsgenossen den Entschluss zum Gewaltstreich am 16. Oktober dennoch bestätigte, verteidigten die Widersacher ihren Standpunkt in der parteinahen, aber kritischen – unter anderem von Maksim Gor’kij herausgegebenen – Zeitung «Neues Leben». Um die Durchführbarkeit seines Planes fürchtend, zeigte Lenin erneut, dass Toleranz nicht zu seinen politischen Tugenden gehörte: Er beantragte den Ausschluss der Opponenten aus der Partei. Allerdings verweigerte ihm das Zentralkomitee diesmal den vollen Gehorsam. Zwar nahm es den – wie freiwillig auch immer angebotenen – Rücktritt Kamenevs an, begnügte sich aber im Übrigen damit, beide zu verpflichten, nicht weiter gegen die Entscheidung zu agitieren. Nicht zuletzt daran ist ablesbar, dass die offene Rebellion selbst im engsten Kreis der bolschewistischen Führung bis zur letzten Minute umstritten blieb.
Unterdessen liefen die Vorbereitungen auf vollen Touren. Propagandistisch hatte Trotzki mit seiner Auszugsrede im Vorparlament den Startschuss gegeben. Der Boykott ergab nur Sinn, wenn er bei den Massen Widerhall fand. Bolschewistische Redner scheuten sich in den folgenden Wochen denn auch nicht, die Ängste der Bevölkerung nach Kräften zu schüren: vor einer deutschen Besetzung, vor einem neuen Putsch von rechts, vor der Fortführung des Krieges, vor dem Hunger. Sie versprachen einen sofortigen Waffenstillstand, die unverzügliche Aufteilung des Bodens, die Lösung der Versorgungsprobleme und umgehende Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Im Lichte der späteren Geschehnisse verdient es besondere Beachtung, dass sich die Bolschewiki auch als Garanten der parlamentarischen Ordnung präsentierten. Kaum jemand scheint darin einen Widerspruch zur Forderung gesehen zu haben, «alle Macht den Räten» zu übergeben. Und kaum jemand scheint die Vagheit insbesondere der Aussagen zur Behebung der Versorgungskrise bemerkt oder sich Gedanken darüber gemacht zu haben, wie man sich die «Beschaffung von Brotgetreide in natura auf dem Dorfe» konkret vorzustellen hatte. Insbesondere den rhetorischen Künsten des allgegenwärtigen Trotzki war es zu verdanken, dass der Nebel nicht sichtbar wurde, der das bolschewistische Programm umgab. Es mag offen bleiben, ob die Herausforderer, wie ein prominenter Gegner meinte, nichts als «hemmungslose und skrupellose Demagogie» anzubieten hatten – in jedem Fall nutzen sie die Mobilisierungschancen, die in den unbefriedigten Wünschen der Masse lagen, mit großem Erfolg.[5]
Bei alledem blieb eine entscheidende Frage offen: wie die Machtergreifung ins Werk zu setzen war. Lenin war im Untergrund davon ausgegangen, dass die Partei einen Aufstand organisieren sollte. Im ZK sah man dies jedoch anders. Zwar verfügten die Roten Garden wieder über Waffen, aber eine ernste Auseinandersetzung war damit nicht zu bestehen. Hinzu kamen erhebliche Zweifel an der Unterstützung durch Frontsoldaten und Bauern. Selbst die Befürworter einer Machtprobe suchten daher nach einer anderen Strategie. Die größten Risiken glaubten sie vermeiden zu können, wenn es gelänge, den Kommandostab der Rebellion «mit dem gewählten … Sowjet» zu verbinden, «dem überdies Vertreter feindlicher Parteien angehörten». Eine Erhebung im Namen der Räte hatte die besten Chancen, den Makel einer eigenmächtigen Aktion zu tilgen: Sie konnte ihr die unverzichtbare Legitimität verleihen, die Gegenwehr der Regierung erschweren und den Zugang zu militärischen Ressourcen eröffnen.[6]
Für solche Absichten kamen einige Ereignisse wie gerufen, die sich völlig unabhängig von den Bolschewiki vollzogen und den Eindruck erwecken konnten, als hätten die Insurgenten auch noch den Zufall auf ihrer Seite. Nach der Besetzung Rigas waren deutsche Armee-Einheiten weiter vorgerückt. Spähtrupps erkundeten die Lage in Reval (seit 1918 Tallinn). Die Inseln vor Estland wurden eingenommen. Anfang Oktober musste mit einem Angriff auf die Hauptstadt gerechnet werden. Nicht ohne Dramatisierung, aber berechtigt erklärte der Chef des Generalstabs in der Duma, dass das Tor zur Ostsee wieder verschlossen und Russland in die vorpetrinische Zeit zurückgeworfen worden sei. In dieser entscheidenden Situation fasste die Regierung den unglücklichen Entschluss, einige Petrograder Garnisonsregimenter für den Fronteinsatz vorzusehen. Nichts spricht dafür, wie die Bolschewiki demagogisch behaupteten, dass sie ernsthaft daran dachte, die Hauptstadt kampflos zu räumen. Aber manches deutet darauf hin, dass sie die Gelegenheit ergreifen wollte, um aufsässige Soldaten aus dem Brennpunkt des Geschehens zu entfernen. Militärisch waren jedenfalls Zweifel am Nutzen der Order angebracht, die der zuständige Kommandeur am 9. Oktober bestätigte. Politisch erwies sie sich als fatal. Die angedrohte Verlegung löste in der Garnison jenen entschlossenen Widerstand aus, auf den die Bolschewiki als zündenden Funken warteten. Abermals half die Regierung selbst, die Protestenergie zu erzeugen, die ihr zum Verhängnis wurde.
Ähnlich unbeabsichtigte und schlimme Folgen zeitigte eine andere, im gleichen Zusammenhang ergriffene Maßnahme. Angesichts des deutschen Vormarsches hielt auch das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets Vorbereitungen zur Verteidigung der Stadt für angezeigt. Zu diesem Zweck brachten die (‹rechten›) Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Antrag ein, ein Komitee zu gründen, das nicht nur Pläne ausarbeiten, sondern auch die aufgebrachten Garnisonen beruhigen sollte. Die Bolschewiki widersprachen dem Vorschlag, konnten sich aber nicht durchsetzen. Als die Menschewiki ihre Resolution ebenfalls am 9. Oktober dem Plenum des Sowjets vorlegten, hatten sich die Opponenten eines anderen besonnen: Nun unterstützten sie den Vorstoß, gaben ihm aber durch Änderungsvorschläge eine völlig neue Wendung. Was als Hilfe und Vertrauensbildung für die Regierung gedacht war, verkehrte sich unter der wendigen Feder vor allem Trotzkis ins Gegenteil: zum Plan eines Komitees, das unter der Regie des Sowjets unabhängig Vorsorge für die «revolutionäre Verteidigung» der Hauptstadt treffen sollte. In dieser Form, die der Neigung der Delegierten, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen, offenbar entgegenkam, wurde der Antrag angenommen.
Es dauerte eine weitere Woche, bis am 16. Oktober das neu geschaffene Militärische Revolutionskomitee (Voenno-Revoljucionnyj Komitet, VRK) seine endgültige organisatorische Gestalt erhielt. Wie es scheint, erkannte die bolschewistische Führung erst in diesen Tagen die Chance, es für die eigenen Ziele zu nutzen. Was auch sie bis dahin als Instrument zur Konterkarierung von Regierungsmaßnahmen betrachtet hatte, entpuppte sich als idealer Kommandostab für den anvisierten Aufstand. Das ZK versäumte es denn auch nicht, die besten Kräfte aufzubieten: erfahrene Organisatoren aus der parteieigenen Militärkommission wie N. I. Podvojskij und A. V. Antonov-Ovseenko sowie vor allem Trotzki. Diese ‹Investition› mag dazu beigetragen haben, dass das VRK trotz der Teilnahme von Vertretern des Bauernsowjets, der Armee, Flotte, Fabrikräte und Gewerkschaften sowie der Linken Sozialrevolutionäre – die auch den Vorsitzenden stellten – unter bolschewistische Kontrolle geriet. Das Komitee war, wie gegen eine vorschnelle Vereinfachung betont werden sollte, anfangs nicht bloß zum Schein überparteilich. Andererseits schuf der massive Einzug bolschewistischer Prominenz die Voraussetzung für seine Zweckentfremdung zum Sturz der Regierung im Schutze der Legalität des Sowjets. Treibende Kraft dieser Strategie war, wenngleich sich auch Lenin wenige Tage vor der Erhebung von ihrem Vorteil überzeugte, Trotzki.
Manches ließe sich als Beleg für die Behauptung anführen, dass der Staatsstreich bereits vor dem bald historischen Datum stattfand und sich unter den Augen der Öffentlichkeit vollzog. Genau besehen fiel die Entscheidung im Kampf um die Kontrolle über die Petrograder Garnison. Schon in seiner ersten ordentlichen Sitzung am 20. Oktober beschloss das VRK, Kontakt zu den wichtigsten Einheiten aufzunehmen. Eine Rede Trotzkis vor der Garnisonsversammlung hinterließ am folgenden Tag eine solche Wirkung, dass die Bolschewiki die offene Herausforderung wagten. Am Abend desselben 21. Oktober verlangten Abgesandte des VRK vom Oberkommandierenden des Petrograder Militärbezirks das Recht zur Gegenzeichnung aller Befehle. Nach der selbstverständlichen Zurückweisung dieser Zumutung begann das Komitee unverzüglich, die Regimentskommandeure durch Offiziere eigener Wahl abzulösen. Es blieb der demonstrative Schlussakt am 23. Oktober: die Order an die neuen Befehlshaber, nur den Anweisungen des VRK Folge zu leisten. Als sowjettreue Einheiten binnen weniger Stunden auch noch die Kontrolle über das strategische Herz und älteste Bauwerk der Stadt, die Peter-und-Pauls-Festung, samt Waffenarsenal gewannen, war der Sieg faktisch errungen, bevor die Schlacht überhaupt begonnen hatte.
All dies blieb nicht unbemerkt. Offene Aufforderungen an Trotzki, sich zu seinen finsteren Machenschaften zu bekennen, zeugen davon. Bis heute ist die Frage ohne zufriedenstellende Antwort geblieben, warum Kabinett und Militärbehörden dennoch keinen Widerstand leisteten. Das übersteigerte Selbstbewusstsein des Ministerpräsidenten spielte sicher eine Rolle. Ob eine unkorrigierbar falsche Optik hinzukam, die den Feind nur rechts, aber nicht links erkannte, mag offenbleiben; dagegen spricht die Entschiedenheit, mit der die Regierung im Juli (bei aller Inkonsequenz der Durchführung) reagiert hatte. Der allgegenwärtige Suchanov fand letztlich nur im Psychologischen eine Erklärung, wenn er über die «völlige Naivität und das kindliche Gemüt unserer Marionettenregierung» spottete. Darin steckte soviel Wahrheit, dass die meisten nicht glauben wollten, was sie sahen.[7]
Es wäre übertrieben zu sagen, dass Kerenskij auf verlorenem Posten stand, als er sich schließlich mit Verspätung zur Gegenwehr entschloss. Aber seine Chancen hatten sich verschlechtert. Dass in Petrograd außer den Offiziersschülern kaum jemand für die Regierung kämpfen würde, dürfte ihm bewusst gewesen sein. Wenn er dem Kabinett in den ersten Stunden des 24. Oktober dennoch ankündigte, das VRK verhaften zu lassen, vertraute er auf Hilfe von der Front. Die Minister waren vorsichtiger und empfahlen, lediglich die bolschewistische Presse zu verbieten und die Rädelsführer des Juli wieder hinter Schloss und Riegel zu bringen – wohl in der Absicht, nicht alle Wege zu einer friedlichen Lösung zu versperren. Als das VRK wenig später von der Schließung der Pravda erfuhr, nutzte es diese Gelegenheit, um in den Garnisonen umgehend Alarm zu schlagen. Die Losung, unter der das geschah, war ebenso bezeichnend wie irreführend: «Der Petrograder Sowjet ist in unmittelbarer Gefahr.» Damit verwandelte sich der Angriff in die Verteidigung gegen «konterrevolutionäre Verschwörer». Auch die bolschewistischen Parteigremien traten unverzüglich zusammen. Das Petrograder Stadt- und einige Bezirkskomitees votierten für den sofortigen Aufstand. Dagegen legte sich das ZK nicht fest. Immer noch plädierte die bolschewistische Führung lediglich für eine Sammlung der Kräfte und hielt sich die Möglichkeit offen, den zweiten Allrussischen Sowjetkongress abzuwarten, der am nächsten Tag endgültig zusammentreten sollte. Allerdings machte sie ihre Rechnung ohne Lenin, den es nun nicht länger in der erzwungenen Tatenlosigkeit hielt. Am frühen Abend des 24. wandte er sich im Alleingang erneut an die Parteibasis. Eindringlich rief er die Bezirksorganisationen mit den oft zitierten Worten zur sofortigen Aktion auf: «Die Regierung wankt. Man muss ihr den Rest geben, koste es, was es wolle. Eine Verzögerung der Aktion bedeutet den Tod.» Danach begab er sich, der Anweisung des ZK ein weiteres Mal zuwiderhandelnd, zum Petrograder Sowjet. Wie er dies tat, ist oft als Beleg für die Unfähigkeit der Regierung angeführt worden: in der Straßenbahn zur Weltrevolution. Denn obgleich Trotzki und das VRK den Umsturz längst vorbereitet hatten – erst mit der Ankunft Lenins im Smolnyj-Institut, dem neuen Quartier des Sowjets seit August, fielen die Würfel.[8]
Unterdessen bemühte sich Kerenskij um Unterstützung. Noch blieb Zeit für Reden und Verhandlungen. Adressat seiner Werbung war nicht mehr der Sowjet, sondern das Vorparlament. Im Marien-Palais erntete er zwar stehende Ovationen für seine heldenmütige Beteuerung, lieber in den Tod gehen als kapitulieren zu wollen. Aber er musste sich nicht nur die Kritik Linker Sozialrevolutionäre gefallen lassen. Im Namen der menschewistischen und sozialrevolutionären Mehrheit beschwor auch Dan den Ministerpräsidenten, sichtbare Anstrengungen zu unternehmen, um die «Bedürfnisse» des Volkes zu befriedigen. Nur unter der Voraussetzung eines Sofortprogramms für Land und Frieden sah er Hoffnung, die Kraftprobe zu bestehen. Zu Recht vermisste Kerenskij eine klare Solidaritätsbekundung. Mündliche Versicherungen bewogen ihn dennoch, auf den angedrohten Rücktritt zu verzichten. Man überdeckte den offenkundigen Dissens. Die Einkehr von Dan und Goc kam zu spät und blieb folgenlos. Der Ministerpräsident verkündete keine durchgreifende Reform und vertat damit die allerletzte Chance, den Bolschewiki den Wind aus den Segeln zu nehmen.[9]
Bei Licht besehen, bedurfte es der von Lenin zitierten «Kunst des Aufstandes» gar nicht, um dem wankenden Regime den «Todesstoß» zu versetzen. Was zu tun war, lag auf der Hand. Die Strategen des VRK kannten die wenigen zentralen Punkte und Einrichtungen, die im Handstreich genommen werden mussten. Wohl fehlte ihnen eine wirkliche militärische Streitmacht, die einen längeren Kampf hätte bestehen können. Aber angesichts des Mangels an Gegenwehr reichte die Kontrolle über die Garnisonsregimenter aus. Den Roten Garden, in Petrograd etwa 15–20.000 Mann, blieb die Feuerprobe erspart.[10] Am 25. Oktober um zwei Uhr morgens besetzten Soldaten den (Nikolaj-) Bahnhof der Strecke nach Moskau, wenig später Elektrizitätswerk, Post- und Telegraphenamt, Staatsbank und die wichtigsten Brücken und Plätze. Auf der Neva richtete der Panzerkreuzer Aurora seine Kanonen auf den Winterpalast. Als um acht Uhr Soldaten des VRK auch im Warschauer Bahnhof patrouillierten, war der Machtwechsel in Petrograd faktisch bereits vollzogen – kampflos und ohne Blutvergießen, eher eine «Wachablösung» (Suchanov) als ein Umsturz. Eine Stunde später floh Kerenskij in einem Auto der amerikanischen Botschaft nach Pskov, um im Hauptquartier der Nordfront um Hilfe zu bitten.
Was folgte, waren Nachhutgefechte von eher symbolischer Bedeutung. Gegen Mittag lösten Soldaten, ohne Verhaftungen, das Vorparlament auf – ein Vorgeschmack auf das Schicksal der Konstituierenden Versammlung. Um dieselbe Zeit umzingelten aufständische Regimenter und Rote Garden den Winterpalast und forderten die Regierung zur Kapitulation auf. Vor allem Lenin drängte auf ein schnelles Ende. Nach wie vor hielt er es für lebenswichtig, die legale Autorität vor dem Zusammentritt des Allrussischen Sowjets zu stürzen. Man wird nicht fehlgehen, darin einen Rest von Unsicherheit über die Stimmung der Delegierten aus der Provinz zu vermuten. Die Minister, die den Tag in demonstrativer Normalität begonnen hatten, versagten ihm jedoch einen raschen Erfolg. Sie bewiesen Mut und harrten aus. Ihr Widerstand ehrte sie, konnte aber nicht mehr sein als eine Geste. In den ersten Morgenstunden des 26. Oktober, als das Frauen-Elitebataillon unter den wenigen Verteidigern schon die Waffen gestreckt hatte, verschafften sich die Angreifer Zutritt zum Palast. Entgegen der späteren Legende – wie sie Sergej Eisenstein (Ėjzenštejn) zum zehnjährigen Jubiläum 1927 in einem Filmklassiker inszenierte – war ein Sturmangriff gar nicht nötig: Die Verteidiger hatten nämlich vergessen, die hinteren (zur Neva-Seite gelegenen) Pforten des riesigen Gebäudes zu verschließen. Es war ein Leichtes, hier einzudringen und das versammelte Kabinett zu verhaften.
Die Sieger warteten mit ihrer Feier nicht so lange. Lenin war der psychologische Vorteil vollendeter Tatsachen so wichtig, dass er bereits am Vormittag (des 25.10.) eine Proklamation drucken ließ, die den Sturz der Provisorischen Regierung im ganzen Land verkündete. Am frühen Nachmittag gab Trotzki im Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat das abermalige Ende eines alten Regimes in Russland bekannt. Als Lenin den Saal betrat, sich zum ersten Mal seit der Julikrise in der Öffentlichkeit zeigend, erhoben sich die Delegierten von den Plätzen und empfingen ihn mit stürmischem Jubel. In seiner kurzen Rede rief er nicht nur eine neue, allein von den Räten getragene Regierung «ohne Beteiligung irgendeines Bourgeois» aus. Er sprach auch von einer weiteren, der «dritten russischen Revolution», die «letztlich … zum Sieg des Sozialismus» führen müsse.[11] Der Machtwechsel – und das war gerade den Gegnern klar – sollte kein bloßes Stühlerücken am Kabinettstisch sein.
Trotz aller zur Schau getragenen Zuversicht suchte Lenin die Eröffnung des zweiten Allrussischen Sowjetkongresses so lange wie möglich hinauszuzögern. Am späten Abend ließen sich die 739 Delegierten nicht länger vertrösten. Die Abstimmungen zeigten, dass 338 von ihnen Bolschewiki waren, 211 Sozialrevolutionäre (darunter mehr als die Hälfte linke), 69 Menschewiki und 20 Menschewiki-Internationalisten; die Übrigen rechneten sich zu den kleineren sozialistischen Parteien oder allgemein zum revolutionären Lager. Im Vergleich zum ersten Kongress im Juni konnten die Bolschewiki einen beachtlichen Erfolg verbuchen. Gewiss bestätigte die Verdreifachung ihrer Mandatszahl den Stimmungsumschwung im Lande ein weiteres Mal. Aber Lenins Befürchtungen hatten insofern eine Grundlage, als die Bolschewiki keine unanfechtbare Mehrheit besaßen. Sie brauchten die Hilfe der Linken Sozialrevolutionäre. Eine Erprobung dieser Allianz erwies sich allerdings als unnötig. Die Bolschewiki hatten leichtes Spiel. In der Kernfrage stand der Kongress fester im radikalen Lager, als die erklärte Parteizugehörigkeit erwarten ließ. Auf einem Fragebogen gaben 505 seiner Mitglieder an, dass sie in der Absicht gekommen seien, «alle Macht den Räten» zu übergeben. Weitere 86 wollten eine «demokratische Regierung» unter Einschluss von Gewerkschaften, Kooperativen, der Bauernsowjets und ähnlicher Organisationen unterstützen. Für die Aufnahme von Vertretern der besitzenden Schichten, aber gegen die Kadetten votierten 21 Delegierte. Und nur 55 sprachen sich für die Fortsetzung der bestehenden Koalition aus. Es war ein anderer Typus von Volksvertretern als im Juni, der nun aus den Schützengräben und den «dunkelsten Winkeln» des Landes herausgekrochen war: «ungehobelte und finstere Gestalten; ihre Ergebenheit gegenüber der Revolution bestand aus Verbitterung und Verzweiflung, ihr ‹Sozialismus› aus Hunger und einem unstillbaren Drang nach Ruhe». Hinzu kam, dass die Opposition von Beginn an dazu neigte, das Feld kampflos zu räumen. Als das Präsidium des Kongresses neu gewählt wurde, verzichtete sie darauf, die ihnen zugewiesenen Sitze einzunehmen. So blieben die vierzehn Bolschewiki und sieben Linken Sozialrevolutionäre unter sich.[12]
Die Debatte begann mit dem überraschenden Vorschlag Martovs, zuallererst einen friedlichen Ausweg aus der Krise zu suchen. Eine Form der Staatsgewalt müsse gefunden werden, die sich auf die gesamte «Demokratie» stützen könne. Die Linken Sozialrevolutionäre schlossen sich an, so dass auch den Bolschewiki nichts anderes übrig blieb, als ihr Einverständnis zu erklären. Indes wurde die Chance schnell vertan. Vor dem Beginn der inhaltlichen Erörterung machten Abgeordnete der ‹rechten› Menschewiki und Sozialrevolutionäre ihrem Unmut Luft. Sie warfen den Bolschewiki vor, den Kongress verhöhnt und eine militärische Verschwörung angezettelt zu haben. Als einzigen Ausweg schlugen sie sofortige Verhandlungen mit der Regierung vor und kündigten andernfalls ihren Boykott der weiteren Arbeit des Sowjets an. In der Sache trafen solche Äußerungen unbestreitbar ins Schwarze; politisch waren sie unklug. Sie lösten nicht nur Tumulte und Protestgeschrei aus, sondern provozierten auch einen Stimmungsumschwung. Schwankende Parteigänger scharten sich um Lenin und Trotzki und verteidigten einen Coup, dessen Bedenkenlosigkeit sie durchaus mit Skepsis erfüllte. Vieles spricht für das Urteil Suchanovs, dass die rechten Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Bolschewiki keinen besseren Dienst erweisen konnten, als diese schicksalhafte Versammlung zu verlassen. Sie verschafften ihnen so eine problemlose Mehrheit und befreiten sie von dem Zwang, den durchaus attraktiven Gedanken einer Regierung aller Sowjetparteien abwehren oder akzeptieren zu müssen. Ihr überhasteter Schritt ebnete jener Deutung des Umsturzes den Weg, die den Insurgenten sicher vorschwebte, aber nicht zutreffen musste: dass die gesamte Macht nicht den Räten, sondern den Bolschewiki und ihren Gehilfen zugefallen sei.
Andererseits muss offen bleiben, ob Martovs Resolutionsentwurf eine Mehrheit gefunden hätte. Er setzte eine Konsensbereitschaft voraus, die sich längst aufgerieben hatte. Es war Trotzki, der seinem einstigen Lehrer die Sachlage in berühmt gewordenen, schneidenden Worten klarmachte: «Die Erhebung der Volksmassen bedarf keiner Rechtfertigung. Was sich ereignet hat, ist ein Aufstand, keine Verschwörung … Wir haben offen den Willen der Massen zum Aufstand, nicht zu einer Verschwörung geschmiedet. Die Volksmassen sind unserem Banner gefolgt und unser Aufstand war erfolgreich. Und jetzt schlägt man uns vor: Verzichtet auf euren Sieg, macht Zugeständnisse, geht eine Verständigung ein. Mit wem? Ich frage: Mit wem sollen wir eine Verständigung eingehen? Mit jenen kläglichen Häuflein, die davongelaufen sind oder diesen Vorschlag machen? … Hinter ihnen steht doch niemand mehr in Russland … Nein, hier ist eine Verständigung nicht am Platz. Jenen, die weggegangen sind, und denen, die uns dies vorschlagen, müssen wir antworten: Ihr seid armselige Einzelkämpfer, ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt; geht dorthin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Müllhaufen der Geschichte.» Angesichts des lauten Beifalls, mit dem diese Brüskierung quittiert wurde, sah auch Martovs kleines Fähnlein Aufrechter keinen anderen Weg mehr, als den Saal zu verlassen.
Es blieben die Linken Sozialrevolutionäre. Ihr Sprecher übte zwar ebenfalls Kritik an Trotzkis unversöhnlicher Härte und warnte davor, die Brücken zur anderen Seite der revolutionären Demokratie ganz abzubrechen. Aber er bekräftigte zugleich den Willen seiner Fraktion, die neue Regierung mitzutragen. Mit ihren Stimmen nahm der Rumpfkongress in den frühen Morgenstunden des 26. das historische Manifest an, das zum Gründungsakt des Sowjetregimes wurde und unter anderem verkündete: «Gestützt auf den Willen der gewaltigen Mehrheit der Arbeiter, Soldaten und Bauern, gestützt auf den siegreichen Aufstand der Arbeiter und der Garnison von Petrograd, beschließt der Kongress hiermit, die Regierungsmacht in seine Hände zu nehmen. Die Provisorische Regierung ist abgesetzt und die Mehrheit ihrer Mitglieder bereits verhaftet … Der Kongress beschließt: Die ganze Macht geht allerorts an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, die den Auftrag erhalten, eine wirklich revolutionäre Ordnung durchzusetzen.«[13]
Was den Siegestaumel der Bolschewiki dämpfen konnte, war einzig die Flucht Kerenskijs. Binnen weniger Tage zeigte sich jedoch, dass kein Grund zu allzu großer Sorge bestand. Die verfügbaren Truppen waren so weit zerstreut, dass nur wenige mit schlechter Bewaffnung nach Petrograd in Bewegung gesetzt werden konnten, vor dessen Toren sie am 27. Oktober Stellung bezogen. Größere Gefahr ging von der Opposition der Eisenbahnergewerkschaft aus. Ihr sozialrevolutionär-menschewistisch beherrschtes Zentralbüro setzte alles daran, die streitenden Parteien im Sinne der Martovschen Resolution an einen Tisch zu bringen. Angesichts der Streikandrohung konnten die Bolschewiki ihre Teilnahme nicht versagen. Man hat plausibel argumentiert, dass sie in diesen Tagen, zwischen dem 29. und 31. Oktober, in die Zange genommen von einer mächtigen Gewerkschaft und regierungstreuen Soldaten, zu substantiellen Konzessionen bereit waren. Nur fehlte die politische Kraft, die ihre Zwangslage ausgenutzt hätte. Menschewiki und MehrheitsPSR zogen es vor, in der selbstgewählten Defensive zu verharren. Das neue Regime suchte unterdessen die offene Schlacht. Sie fand, ein «Valmy der russischen Revolution», am 30. Oktober auf den Höhen von Pulkovo statt. Die Truppen des VRK bestanden ihre eigentliche Feuerprobe. Kerenskij musste sich zurückziehen und floh ins Ausland.[14]
Ganz anders verlief die bolschewistische Machtergreifung in Moskau. Hier leistete das Februarregime den zähesten Widerstand. Mehrere Ursachen kamen dabei zusammen. Der Aufstand wurde in der alten Hauptstadt nicht von langer Hand vorbereitet. Es gab kein analoges Gremium zum Militärischen Revolutionskomitee (dessen eigentliche Aufgabe ja auch darin bestand, Petrograd vor einer Eroberung durch deutsche Truppen zu schützen); und der Vorsitzende des örtlichen Arbeitersowjets Nogin war zwar Bolschewik, gehörte aber zu den Gegnern eines Alleingangs. Als er dem Exekutivkomitee am 26. Oktober von den Petrograder Ereignissen berichtete, klagte er wohl aufrichtig darüber, dass sich die anderen sozialistischen Parteien «verweigert» hätten. Dennoch war eine bewaffnete Konfrontation nicht aufzuhalten, weil es in Moskau besonders viele antibolschewistische Offiziere und Militärkadetten gab, die sich dem Widerstand der Zivilbehörden unter ihrem Bürgermeister, dem prominenten («rechten») Sozialrevolutionär V. V. Rudnev, anschlossen. Mehr als eine Woche lang lieferten sich beide Seiten heftige Straßenkämpfe, die mehrere Hundert Todesopfer forderten und die Kunstschätze des Kreml nicht verschonten. Nach der Mobilisierung aller Kräfte setzten sich am 3. November schließlich die Verbände des Sowjets durch. Entscheidend dafür war auch in Moskau die Garnison: Kaum ein einfacher Soldat ergriff für die Provisorische Regierung Partei. Drei Tote und achtzehn Verwundete waren auch in Saratov zu beklagen, wo die Mehrheits-Sozialrevolutionäre und Menschewiki die städtische Duma samt Stadtverwaltung dominierten. Sowjet-Truppen umstellten das Gebäude am 28. Oktober und stürmten es nach ergebnislosen Verhandlungen am nächsten Tag.
Im restlichen ethnischen Russland aber hatten die Bolschewiki ähnlich leichtes Spiel wie in der Hauptstadt. Dabei lassen sich im Wesentlichen drei typische Konstellationen und Abläufe unterscheiden. Im zentralen Gewerbegebiet, der Großregion um Moskau, und im Ural, wo es eine nennenswerte Industrie und Arbeiterschaft gab, bildeten die Bolschewiki in aller Regel die stärkste Kraft im Sowjet. Hier erreichten sie, wie in der Textilstadt Ivanovo-Vosnesensk, ihr Ziel meist ebenfalls, ohne einen einzigen Schuss abgeben zu müssen. Der Aufstand nahm die Form eines Mehrheitenwechsels im Rat an. Nicht selten beteiligten sich Sozialrevolutionäre und Menschewiki an den neu geschaffenen revolutionären Gremien, ohne dass sie sich auf Dauer Einfluss und Mitwirkung zu sichern wussten. In den großen Städten mit gemischter wirtschaftlicher Struktur und einem erheblichen Gewicht des Handels wie Nižnij Novgorod (Gor’kij), Samara (Kujbyšev), im erwähnten Saratov oder in Kazan’ blieb das Kräfteverhältnis in den Räten ausgewogener. Häufig konnte sich die menschewistisch-sozialrevolutionäre Mehrheit dort über den Oktober hinaus behaupten. Träger der Radikalisierung waren hier meist die Fabrikkomitees und Garnisonen. Sie verhalfen den Bolschewiki, allerdings deutlich später, zur beherrschenden Stellung. In den zahlreichen, vom Handel bestimmten und stark agrarisch geprägten, mittelgroßen Städten des Zentralen Landwirtschaftsgebiets (wie Kursk, Voronež, Orel oder Tambov) konnten die Bolschewiki meist nicht genügend Anhänger mobilisieren, um einen Aufstand zu wagen. Hoffnungsträger der Bevölkerung blieben hier die Sozialrevolutionäre, deren linker Flügel auch die Initiative übernahm. Wo sie sich anschickten, gegen die neue Ordnung vorzugehen, griffen die Garnisonen oder auswärtige Hilfstruppen der Bolschewiki ein. Der Aufstand wurde hier sozusagen importiert. Besondere Verhältnisse herrschten in den frontnahen und den nichtrussischen Gebieten. Soweit die Soldaten in der Überzahl waren, diktierten sie auch hier das Geschehen im bolschewistischen Sinne. Wenn Nationalitätenkämpfe ausbrachen, bemühten sich die neuen Machthaber mit erheblichem Erfolg, die Unabhängigkeitsbewegungen auf ihre Seite zu bringen. Über die Durchsetzung der bolschewistischen Herrschaft entschied hier freilich erst der Bürgerkrieg.
Der Transfer der Macht auf bolschewistisch beherrschte Räte ließ mithin in der Provinz ganz ähnliche Wesenszüge wie in der Hauptstadt erkennen. In der Regel verlief er friedlich und undramatisch. Obwohl die Zahl der aktiven Teilnehmer bemerkenswert gering war, vollzog er sich auf dem Fundament zumindest der passiven Zustimmung vor allem der Soldaten und strategisch bedeutsamer Gruppen der Arbeiter. Wo die lokalen Kräfte nicht ausreichten, setzten die neuen Herren zudem ihre frisch eroberte zentrale Hegemonie ein, um eine Wende in ihrem Sinne herbeizuführen. Im Endeffekt kontrollierten die Bolschewiki schon in den ersten Novembertagen – mit Lücken vor allem auf dem Lande und in den Kreisstädten – einen breiten Gebietsgürtel im nördlichen Zentralrussland, der von der Westfront über die Nordfront bis zur mittleren Wolga und zum Ural reichte. Zumeist hatte es hier schon vor dem «roten Oktober» starke bolschewistische oder sonstig linksrevolutionäre Kräfte gegeben. Nicht zuletzt diese Kongruenz macht erneut den Zusammenhang mit den vorherigen Entwicklungen deutlich: So skrupellos und hinterhältig die Bolschewiki vorgingen, so steht auch außer Frage, dass ihnen die Provisorische Regierung den Boden bereitete: durch ihr Unvermögen, die Versorgungsprobleme zu lösen, durch eine sinnlose Frontoffensive, durch die Verschiebung der Landreform, durch ihre Blindheit für die Dynamik der sozialen Revolution und durch ihre gesamte Unfähigkeit, das Machtvakuum zu füllen, das der Zerfall der alten Herrschaft und Verwaltung hinterließ.
Es ist längst zum geflügelten Wort geworden, dass die politische Macht im Oktober auf der Straße lag und es ein Leichtes war, sie aufzulesen. Die Bolschewiki hatten ein dreistes Husarenstück vollbracht, vorerst nicht mehr. Insofern spricht vieles für die Meinung, das eigentlich Bemerkenswerte sei nicht der Umsturz selbst gewesen, sondern die Sicherung seines Ergebnisses in den folgenden Monaten und Jahren. Die Herrschaft war an der Spitze und ‹auf Kredit› errungen worden. Sie bedurfte eines Inhalts, der das Neue sichtbar machte, und eines exekutiven Arms, der dem Willen der Zentralgewalt vor Ort Geltung verschaffte. Gewiss war den Bolschewiki so klar wie wenigen, dass ihnen die Bewährungsprobe noch bevorstand. Sie hatten keine Gnade zu erwarten: Bei Strafe ihres eigenen Untergangs, wie Lenin am entscheidenden Abend hellsichtig erkannte, mussten sie die Fehler der Provisorischen Regierung vermeiden.[15]
Die Voraussetzungen dafür gestalteten sich nicht eben günstig. Der Staatsstreich war denkbar ungeeignet, den wirtschaftlichen Ruin und den Zerfall der öffentlichen Ordnung aufzuhalten. Das Land versank in Anarchie und Not. Hinzu kam die weitere, dramatische politische und soziale Polarisierung. Auch wenn der bewaffnete Bürgerkrieg erst im nächsten Frühjahr ausbrach, der politische Bürgerkrieg nahm spätestens im Oktober seinen Anfang. Zum materiellen Elend gesellten sich Angst, Terror und Blutvergießen. Im ungewöhnlich strengen Winter 1917/18 begann ein Leidensweg für die Bevölkerung, der erst nach dem Bürgerkrieg und der anschließenden Hungersnot von 1921/22 (vorübergehend) enden sollte.
Hinzu kam, dass die Bolschewiki nur vage Ideen über die künftige Gesellschaft hatten. Selbst Lenin, der wenig dem Zufall überließ, fand erst in der erzwungenen Muße des Sommers 1917 Gelegenheit, seine einschlägigen Gedanken zu Papier zu bringen. Nicht ohne Grund hat das unfertige Produkt dieser Bemühungen viele seiner Anhänger verwirrt. Staat und Revolution passte schlecht zu den meisten anderen Schriften. Statt eine konkrete Strategie zu entwickeln und der Partei präzise Handlungsanweisungen zu geben, wie sie es von ihm gewohnt war, verlor sich Lenin in allgemeinen Bemerkungen über die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft, die Überwindung der Gewaltenteilung, die Beseitigung des bürgerlichen Parlamentarismus und die Notwendigkeit einer umfassenden Selbstverwaltung des Volkes. Die einfachen Leute sollten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: als bewaffnete Bürger in der Miliz anstelle eines stehenden Heeres, als direkt gewählte, mit imperativem Mandat versehene und jederzeit abberufbare Deputierte in Räten anstelle eines Parlaments. Dabei stellte sich Lenin die Aufgaben denkbar einfach vor. Der alte Staat hatte vor allem die Herrschaft der Bourgeoisie gegen das wachsende Aufbegehren der unterdrückten Arbeiter und Bauern sichern müssen. Nach dem Wegfall dieser repressiven Funktion blieben als wesentliche Inhalte der staatlich-administrativen Tätigkeit «Rechnungsführung und Kontrolle» übrig. Jede Köchin sollte, ein nachmals vielzitierter Satz, den Staat lenken können. Die bolschewistische «Theorie» über die nachrevolutionäre Gesellschaft erschöpfte sich in der verschwommenen Absicht einer Verallgemeinerung der Sowjets. Lenin brachte die Pariser Commune von 1871 (in der Marxschen Deutung) mit den unabhängig davon entstandenen, in starkem Maße autochthonen russischen Arbeiterräten zusammen. Darin lag ein Novum, das der Schrift einen bleibenden Platz in der Ideengeschichte des Sozialismus sicherte. Aber ein konkretes Aktionsprogramm ließ sich daraus nicht ableiten.[16]
Umso erstaunlicher war, dass die bolschewistische Herrschaft den Herausforderungen und Belastungen standhielt. Zu Recht hat man darin ihre eigentliche Leistung gesehen. Umstritten bleibt bis heute, wie sie zu erklären ist. Im Wesentlichen stehen sich zwei mehr oder minder explizierte Interpretationen gegenüber. Die ältere, vom Totalitarismus inspirierte Deutung geht von einem ausgeprägten Machttrieb der Bolschewiki insgesamt aus, der sich dank bedenkenloser Gewaltanwendung schnell und unaufhaltsam durchgesetzt habe. Sie verbindet sich mit hoher Wertschätzung für die Bedeutung historischer Persönlichkeiten, in denen sie sowohl die Träger des Machtwillens als auch eines untrüglichen Instinkts für seine effiziente Verwirklichung verkörpert sieht. Nach dem Untergang der Sowjetunion und des Kommunismus hat diese Deutung mit neuem Akzent auf der Ideologie und dem eliminatorischen Charakter der daraus abgeleiteten politisch-sozialen Visionen eine Renaissance erlebt. Lenin und Trotzki erscheinen als Demiurgen und Dämonen des neuen Staates zugleich. Was sie auf den Weg brachten, war eine geplante Parteidiktatur im Namen einer irregeleiteten Utopie. Ihre Schöpfung war von vornherein eine Missgeburt, an deren Erzeugung vor allem eine Spezies beteiligt war: die radikale intelligencija. Diese nutzte bei ihrem verderblichen Werk nicht nur die Gunst der Stunde in Gestalt von Not, Chaos und skrupelhafter Nachgiebigkeit ihrer Gegner. Darüber hinaus profitierte sie von der Zerrissenheit der Gesamtgesellschaft, dem unverbundenen, oft feindseligen Nebeneinander von Stadt und Land, Elite und Masse, Monarchisten und Liberalen, Russen und Nichtrussen, wie sie vor allem von den Liberalen beklagt wurde. Nicht nur die Oktoberereignisse entsprangen dieser Verbindung von fanatischem Weltbeglückungsdrang der einen und mangelnder Gegenwehr der anderen, sondern auch das Resultat des Bürgerkriegs, das ihren Bestand sicherte.[17]
Auf der anderen Seite steht eine Auffassung, die den Zwängen der realen Lage, der Improvisation in der Auseinandersetzung mit den Regimefeinden, den Folgen einer beschleunigten sozioökonomischen Modernisierung bei andauernder ‹Widerständigkeit› der politischen Verfassung und Kultur, auch der ‹autonomen› Dynamik getroffener Entscheidungen und dem Eigengewicht von Strukturen ‹langer Dauer› größere Bedeutung zuerkennt. Sie veranschlagt den Einfluss der Persönlichkeiten zumeist geringer (ohne sie zu leugnen), die Bedeutung der Geschehnisse und der Rahmenbedingungen höher. Wo sie langfristige Prozesse am Werk sieht, hat sie eher wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen im Blick als ideologische. Sie gesteht den Meinungsverschiedenheiten unter den Bolschewiki größeres Gewicht zu und attestiert dem Experiment eine gewisse Offenheit. Was mit dem Oktober begann, endete für sie nicht zwangsläufig im Stalinismus. Wenn das neue Regime dennoch, entgegen seinen erklärten Zielen, dauerhafte Unfreiheit, ein Übermaß an Entbehrungen und lange Perioden eigenverursachter Gewalt hervorbrachte, dann waren dafür nicht zuletzt Deformationen der allerersten Jahre seiner Existenz verantwortlich. Ob das Überleben nur um den Preis der permanenten Verankerung von Diktatur und Rechtlosigkeit zu sichern war, gehört zu den zentralen Problemen auch der allgemeinen Revolutionstheorie.[18]
Jede Darstellung wird zu diesen ‹Erzählungen› Position beziehen müssen. Dabei erweist sich, dass sie einander nicht immer ausschließen. Die Sicherung der bolschewistischen Herrschaft vollzog sich in Etappen. Vor allem der Bürgerkrieg verlagerte die Auseinandersetzung in eine andere Arena und verlieh ihr eine neue Dimension. Gerade weil keine «Theorie» der neuen Gesellschaft vorlag, war der Gang der Ereignisse ebenso wenig durch den Willen und die Tatkraft Einzelner vorentschieden wie durch objektive Gegebenheiten. Es gab Widerstände, Abweichungen, Zufälle, Gegner und Partner, auf die Rücksicht genommen werden musste. Erst aus der Summe dieser Faktoren formte sich das Resultat.
Die ersten Schritte der neuen Machthaber ergaben sich dennoch mit einiger Zwangsläufigkeit. Schon am Morgen des 25. Oktober hielt das bolschewistische ZK Rat über Form und Charakter der neuen Exekutive. Auf der Hand lag, dass die Distanz zu bürgerlichen Kabinetten deutlich werden musste. Die Welt verdankt Trotzki die Erfindung des «Volkskommissars», der den Minister ablösen sollte. Lenin ergänzte diesen Vorschlag durch die Neuschöpfung des «Rates der Volkskommissare» (SNK) als Ersatz der Ministerrunde. Die ad hoc aus der Taufe gehobene erste «Arbeiter- und Bauernregierung» teilte auf dem Papier mit ihrer Vorgängerin lediglich eines: Auch sie war als Provisorium gedacht, deren Mandat mit der Einberufung der Konstituierenden Versammlung erlöschen sollte.
Mit dieser Entstehung hing zusammen, dass der SNK nicht in die Rätestruktur passte. Als ihn der zweite Allrussische Sowjetkongress anderntags formell ins Leben rief, dachte die Mehrheit der Delegierten weder an die Begründung eines neuen Staates noch an die Einheitlichkeit der politischen Verfassung. Die neue Regierung sollte die alte personell und programmatisch ablösen, nicht als solche beseitigen. Institutionell setzte man die Doppelherrschaft fort, da erst die Konstituierende Versammlung befugt sein sollte, die fälligen Grundsatzentscheidungen zu treffen. Im «embryonalen proletarischen Rätestaat» (M. Ferro) des Februarregimes aber gab es bereits ein oberstes ausführendes Gremium in Gestalt des VCIK, des «Allrussisches Zentralen Exekutivkomitees». Funktional und systematisch gesehen, hätte ihm nach dem Umsturz die politische Führung zufallen müssen. Der SNK war ein Duplikat, das im Gegensatz zu den Sowjets nicht einmal über einen Instanzenzug zur lokalen Ebene verfügte. Als temporäre Lösung mochte seine Existenz unproblematisch sein. Der Rat verfestigte sich jedoch zu einer regulären Regierung mit entsprechendem Apparat und politischem Gewicht. Angesichts des Mangels an eigenen fähigen Kräften blieb den bolschewistischen Kommissaren dabei nichts anderes übrig, als das vorhandene, noch aus zarischer Zeit stammende Personal zu übernehmen. Wo Fachwissen in besonderem Maße unentbehrlich war, wie im Finanz- und Wirtschaftsressort, wechselten die Behörden beinahe komplett zum zweiten Mal Regime und Chef. Bolschewiki waren in ihnen noch einige Jahre lang kaum zu finden. Schon im November siedelten die ersten frisch ernannten Volkskommissare – auch dies nicht ohne Symbolgehalt – in die Gebäude der ehemaligen Ministerien über. Lediglich der SNK tagte weiterhin im Smol’nyj. Als die Hauptstadt des Reiches im März 1918, aus Sicherheitsgründen und als Zeichen des Neuanfangs, in das Herz des altrussischen Reiches zurückverlegt wurde, riss auch diese Nabelschnur. In Moskau konnten Kommissare und SNK ihre Behörden in größerer Distanz zu den Räten und weitgehend ohne Kontrolle ausbauen.
Die Folgen dieser Entwicklung sind leicht ersichtlich: Wichtige Weichen für die Entmachtung der Räte wurden gestellt. Der SNK entzog ihnen nicht nur die entscheidenden Befugnisse, sondern auch die besten personellen Ressourcen. Wer in der bolschewistischen Parteispitze über Qualifikation und Ehrgeiz verfügte, übernahm ein Amt im SNK, nicht im Exekutivkomitee des Sowjets. Lenin und Trotzki, die Säulen der neuen Regierung, stärkten durch ihre Energie und Autorität den SNK, nicht das VCIK. Die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Sowjet änderte daran wenig. In der Praxis verblasste sie von Anfang an zur Formalität. Der zweite Allrussische Sowjetkongress wählte nicht nur ein neues Kabinett, sondern auch ein neues Exekutivkomitee. Gerade hier war die Partei unter sich. Auch wenn sie über manche Fragen stritt, taugte sie wenig zu effektiver Kontrolle der Regierung. Die faktische Fortexistenz der alten Ministerien sorgte nicht nur für eine bemerkenswerte personelle und institutionelle Kontinuität der obersten Reichsverwaltung. Darüber hinaus gab sie der Rätedemokratie ein schweres Handicap mit auf den Weg, das sie nie zu überwinden vermochte.[19]
Dazu trug eine Politik bei, die von Anfang an auf Zentralismus und Alleinherrschaft setzte. Zwar sollte man vorsichtig mit dem bekannten Argument umgehen, beides sei schon seit der Parteispaltung von 1903 im Charakter der Bolschewiki angelegt gewesen. In der freien Luft der Februardemokratie gewann die Partei mehr Normalität als je zuvor. Auch sie erlebte einen Ansturm neuer Mitglieder, der ihre Kader im Meer kurzfristig mobilisierter Sympathisanten untergehen ließ. Auch in ihrer Führung wurde über Wesen und Kurs der Revolution bis zuletzt heftig gestritten. Auf der anderen Seite hatten sich Disziplin und Unterordnung unter Lenins fester Hand trotz allem stärker ausgebildet als in der übrigen antizarischen Fronde. Lenin dominierte und polarisierte. Man war für oder gegen ihn. Zu kollektiver Führung war er nicht bereit oder in der Lage. Es war daher auch ganz wesentlich seiner Hartnäckigkeit anzulasten, dass der Weg zum Einparteienstaat zielstrebig beschritten wurde.
Die erste und im Rückblick schon entscheidende Nagelprobe vor Ausbruch des bewaffneten Konflikts fand unmittelbar nach dem Putsch statt. Als der Eisenbahnerbund mit Unterstützung gleichgesinnter, menschewistisch-sozialrevolutionär orientierter Gewerkschaften auf die Bildung einer sozialistischen Koalitionsregierung drängte, gab das bolschewistische ZK nach. Ohne Lenin und Trotzki, die den Widerstand für die erwartete Entscheidungsschlacht gegen die Fronttruppen Kerenskijs vorbereiteten, war es sogar bereit, dem Sozialrevolutionär Černov das Amt des Ministerpräsidenten zu überlassen und die eigenen Kabinettsmitglieder in unwichtige Ressorts zurückzuziehen. Entsprechende Verhandlungen hatten schon begonnen, als die Armeeregimenter aufgaben und die beiden Parteiführer sich wieder der Politik zuwandten. Lenin und Trotzki widersetzten sich mit aller Entschiedenheit einer Absicht, die nach ihrer Meinung den Sieg der Oktobernacht ohne Not zu verspielen bereit war. Dennoch vermochten sie nicht zu verhindern, dass das ZK am 3. November auf Antrag von Zinov’ev und Kamenev einen formellen Beschluss zugunsten einer Koalition fasste. Lenin gab indes auch dieses Mal nicht auf. Noch am selben Abend entwarf er ein Ultimatum, das die Mehrheit des ZK zur «Opposition» stempelte und ihr mit dem Ausschluss drohte. Die Angegriffenen lenkten ein. Neben seinen alten Widersachern verließen Rykov, Nogin und V. P. Miljutin das ZK; Letztere legten auch ihre Ämter als Volkskommissare nieder. Lenin riskierte eine schwere Regierungskrise, um die Früchte des Umsturzes zu retten, so wie er sie sah: als Herrschaft der Bolschewiki. Dass er dabei auch den neu erwachten innerparteilichen Pluralismus schädigte, nahm er gleichfalls in Kauf: Der rüde Umgang mit der Opposition warf einen Schatten auf das Fraktionsverbot von 1921 voraus.[20]
Im Übrigen halfen einige rasch erlassene populäre Dekrete den Bolschewiki, die Macht im Alleingang kampflos zu behaupten. Lenin hatte die Lektion der ersten Revolution nicht vergessen. Er sah so klar wie kein anderer bolschewistischer Führer, dass Garnisonssoldaten und städtische Arbeiter als Stützen der Sowjetmacht nicht ausreichten. Darüber hinaus bedurfte das neue Regime zumindest der passiven Duldung der Bauern, um zu überleben. Bereits am Tage nach dem Umsturz legte er dem Allrussischen Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat einen Gesetzentwurf vor, der das russische Dorf auf die Seite des neuen Regimes brachte. Das berühmte Landdekret vom 26. Oktober 1917 hob alle privaten Besitztitel unverzüglich und ohne Entschädigung auf. Der gesamte Grund und Boden der Gutsherren, Kirche, Klöster und Zarenfamilie wurde «bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung» in die Verfügung der volost’-Komitees und Bauernsowjets übergeben. Als allgemeines Prinzip galt fortan, dass das Land denjenigen gehören sollte, die es mit eigenen Händen bestellten. Lohnarbeit wurde ausdrücklich verboten. Das ganze agrarische Russland verwandelte sich gleichsam in eine große Föderation bäuerlicher Selbstverwaltungsgemeinden, deren althergebrachte Rechtsauffassung, Sozialorganisation und Mentalität endlich gesetzliche Anerkennung fanden.
Offen zutage lag, wes Geistes Kind dieses Gesetz war: Lenin trug, als er den Text in eigener Person verlas, bis in einzelne Formulierungen hinein das Agrarprogramm der PSR aus dem Jahre 1905 vor. Der Plagiatsvorwurf der sozialrevolutionären Presse war so begründet, dass die Bolschewiki gar keine Anstalten machten, ihn zu entkräften. Lenins Eingeständnis traf den Gegner im Grunde härter als jeder Rechtfertigungsversuch – man sehe daran, dass man die Partei erst habe verjagen müssen, damit ihr richtiges Programm Wirklichkeit werden könne.[21] Dennoch wäre es einseitig, im Dekret nur einen Schachzug zu sehen, der dem Machterhalt sogar die Moral opferte. Auch bloße nüchterne Beobachtung musste zu dieser Einsicht führen. Keine Regierung konnte im Oktober anderes tun, als die spontane Revolution auf dem Dorfe hinzunehmen.
Dazu passt der Befund, dass der Umsturz das Geschehen auf dem Dorfe kaum berührte. Die Bauern handelten weiterhin nach eigener Raison. Auch wenn neue Institutionen begründet wurden, blieben sie die alten. Die Macht ging reibungslos von den volost’-zemstva auf die volost’- oder Dorfsowjets über, weil in beiden dieselben wenigen Personen das Sagen hatten, die über genügend Autorität und Kenntnis verfügten, um administrative Leitungsaufgaben übernehmen zu können. Gerade nach dem Oktober galt, dass alle Gewalt bei der obščina lag. Erst der Bürgerkrieg beendete diesen Zustand, der einem jahrhundertealten bäuerlichen Traum recht nahe kam: Sechs Monate herrschten die Bauern über sich selbst. Auch bei der Verfolgung ihrer sehnlichsten Wünsche ließen sich die Dorfbewohner durch den Umsturz kaum stören. In Zentralrussland gab es nach dem Oktober kaum weniger Revolten als vorher. Lediglich eine Veränderung lässt sich beobachten: Das Landdekret bewirkte vielerorts einen Formwechsel der Aktionen. Wie es scheint, ließen Plünderung und Brandschatzung ungefähr in dem Maße nach, wie die Zahl der gesetzlich gedeckten Enteignungen zunahm. Die legalisierte Agrarrevolution schwenkte in geregelte Bahnen ein. Eben dies belegt, dass nicht der Oktoberputsch, sondern die Aufteilung des Herrenlandes eine Zäsur im dörflichen Kalender markierte. Im Übrigen ließ der Machtwechsel an der Staatsspitze einen entscheidenden Konflikt völlig unberührt: Nach wie vor lagen Welten zwischen Stadt und Land. So kam es zu eigentümlich inkongruenten Fronten und Gegensätzen der Interessen. Die Bauern teilten mit ihren ehemaligen Herren die Aversion gegen die städtischen Machthaber, fühlten sich diesen aber in der Ablehnung sozialer Privilegien verbunden.[22]
Man darf vermuten, dass die Teilung der Regierungsgewalt während der folgenden Wochen mit diesem Eigenleben des Dorfes zusammenhing. Den Anstoß gab eine außerordentliche Tagung des Allrussischen Bauernsowjets am 10. November. Er führte den Bolschewiki vor Augen, wie prekär die Gefolgschaft der Bauern nach wie vor blieb. Die entscheidende Kraft des Kongresses bildeten die Linken Sozialrevolutionäre. Hinzu kam das Problem der Konstituierenden Versammlung. Allen Beteiligten war klar, dass ihre Zusammenkunft die letzte nichtmilitärische Entscheidung über den Oktobercoup bringen musste. Nichts lag näher als ein Bündnis der beiden Parteien, die ein gemeinsames Interesse daran hatten, die Rückgabe der Macht an ein erneuertes Parlament zu verhindern. Ein Verhandlungspaket wurde geschnürt, das den Weg zu einer formellen Koalition freimachte und einem Linken Sozialrevolutionär das Landwirtschaftsressort eintrug. Auch der Eisenbahnerbund arrangierte sich mit den Bolschewiki und übernahm das Kommissariat für Verkehrswesen.[23]
Von einem Partner gestützt, der das Dorf am ehesten hinter sich hatte, konnte das neue Regime der Auseinandersetzung mit den verbliebenen Bastionen der Februarordnung ruhiger entgegensehen. Eine erste Bewährungsprobe fand auf dem zweiten ordentlichen Allrussischen Kongress der Bauerndeputierten statt (26. 11.–10. 12.). Von den 796 regulären Teilnehmern gehörten 305 dem Zentrum oder dem ‹rechten› Flügel der PSR, 350 der linken Fraktion, 91 den Bolschewiki und 44 keiner bestimmten Partei an. Obwohl die neuen Verhältnisse auch in dieser Versammlung bereits deutliche Spuren hinterließen, konnten sich die Anhänger der alten Regierung immer noch auf beinahe die Hälfte der Stimmen stützen. Beide Blöcke bekämpften einander aufs schärfste. Ein förmliches Schisma war vorprogrammiert, da sich Bolschewiki und Linke Sozialrevolutionäre auf eine Sprengung des Kongresses und seine Verschmelzung mit dem Arbeiter- und Soldatensowjet verständigt hatten. Auch die PSR brach nun endgültig auseinander: Die Linken Sozialrevolutionäre erklärten sich zur eigenständigen Partei (PLSR). Sicher geschah dies auch in der Absicht, sich Freiraum für ein förmliches Bündnis mit den Bolschewiki zu schaffen. Die Koalitionsverhandlungen wurden abgeschlossen, so dass am 10. Dezember vier weitere Sozialrevolutionäre in das Kabinett eintreten konnten. Angesichts der hohen Zahl ihrer Portefeuilles (fast die Hälfte) spricht nichts dafür, die Regierungsumbildung als bloßes Alibi abzutun. Beide Parteien waren aufeinander angewiesen. Eben deshalb sollte man die Bedeutung der Koalition auch nicht überschätzen: Sie war ein Zweckbündnis zur Verteidigung eines gemeinsam getragenen Umsturzes, kein Schritt auf dem Wege zum sozialistischen Pluralismus.
Dies zeigte schon das weitere Schicksal des Bauernsowjets. Die Regierungspartner nutzten ihre Mehrheit im neu gewählten Exekutivkomitee, um bereits für den 13. Januar 1918 den dritten Allrussischen Bauerndeputiertenkongress einzuberufen, der zugleich der letzte sein sollte. Die Eile war verräterisch: Man fürchtete, dass eine allzu lange Beratung an der Basis womöglich den Hauptzweck der Zusammenkunft, die endgültige Fusion mit dem Allrussischen Arbeiter- und Soldatenrat, konterkarieren könnte. Die Delegierten gaben indes keinen Anlass mehr zur Besorgnis; sie votierten einstimmig für die eigene Liquidierung. Der Bauernsowjet wurde zur Sektion des Allrussischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrates, leicht kontrollierbar und an die Kandare zu nehmen.[24]
In ähnlicher Weise versuchte das Sowjetregime, sich die ungeteilte Unterstützung der städtischen Basisbewegung zu sichern. Noch in der ersten Proklamation vom 26. Oktober ergänzte es das politische Versprechen, das in der Machtergreifung lag, durch die Selbstverpflichtung, «die Arbeiterkontrolle über die Industrie» zu errichten. Allerdings war es kein Zufall, dass es bei der knappen Absichtserklärung blieb. Ein dem Landdekret entsprechendes Gesetz ließ auf sich warten. Trotz der Werbung um die Fabrikkomitees wollten die Bolschewiki auf keinen Fall anarchosyndikalistischen Tendenzen Vorschub leisten. In diesem Zögern konnten sie sich durch die Beschlüsse des ersten Allrussischen Kongresses der Fabrikräte (17.–22. 10.) bestätigt fühlen. Die Versammlung zeigte, dass die Arbeiterkontrolle im engeren Sinne angesichts der Wirtschaftsmisere in eine Sackgasse geraten war. Bolschewistische Gewerkschaftsführer vom ‹rechten› Parteiflügel nutzten diese Chance, um ihre Deutung der Arbeiterkontrolle in Resolutionen festzuschreiben: als Übertragung des demokratischen Prinzips auf die Wirtschaft, aber unter Aufsicht und Koordination zentraler Organisationen, vor allem der Gewerkschaften.
Dieselben Politiker gehörten dem Ausschuss an, der das Gesetz über die Arbeiterkontrolle vom 27. November vorbereitete. In vieler Hinsicht markierte es in der Tat einen Triumph der Arbeiterkontrolle. In «allen industriellen, kommerziellen, landwirtschaftlichen und ähnlichen Unternehmen» sollten gewählte Komitees Produktion und Management überwachen. In jedem Gouvernement und jeder größeren Stadt sollten ihre Repräsentanten sich zu lokalen Räten der Komiteedeputierten vereinigen bis hinauf zum Allrussischen Sowjet und einem (ständigen) Allrussischen Rat der Arbeiterkontrolle. Freilich tat man gut daran, den Text genau zu lesen. Er traf durchaus Vorsorge gegen die befürchtete Eigenmächtigkeit auf Fabrikebene. Den zahlreichen übergeordneten Gremien wurde die Befugnis erteilt, Beschlüsse der unteren Organe zu kassieren. Das oberste Exekutivkomitee sollte überdies Teil eines zu gründenden «Obersten Volkswirtschaftsrates» (VSNCH) werden. Als dieser am 1. Dezember seine Arbeit aufnahm, verwandelte sich die Mitwirkung rasch in völlige Absorption. Der Allrussische Rat der Arbeiterkontrolle hatte gerade Gelegenheit, zweimal zusammenzutreten, bevor er sich faktisch wieder auflöste. Erst recht führten die zahlreichen intermediären Sowjets bestenfalls eine papierne Existenz.
Es blieben die Fabrikkomitees selbst. Sie konnten sich im Aufwind fühlen. Zweifellos war man ihnen weiter entgegengekommen als je zuvor. Dennoch enthielt das Dekret auch bei ihrer Definition eine bezeichnende Unbestimmtheit. Genau besehen, ließ es die entscheidende Frage offen: ob sie die betrieblichen Funktionen bloß überwachen oder sie, zumindest teilweise, übernehmen sollten. Der Allrussische Rat der Arbeiterkontrolle beeilte sich, die Unklarheit zu seinen Gunsten aufzuheben. Er deutete ihre Aufgaben in einer erläuternden Instruktion Anfang Dezember «im weiten Sinne als Einmischung» in das Management und als «unmittelbare Teilnahme» an der Organisation des Herstellungsprozesses. Die Regierung unterstützte diese Auslegung nicht, widersprach ihr aber auch nicht. Ohne Konzept, hielt sie sich bedeckt und ließ den sozialen Kräften vorerst freien Lauf.[25]
In der Praxis bestimmten die Fabrikräte weitgehend selbst, was Arbeiterkontrolle bedeutete. Sie wurden dabei kaum noch von den Unternehmern behindert, denen der Wind hart ins Gesicht blies. Umso heftiger setzte ihnen nach wie vor der wirtschaftliche Niedergang zu. Im Kampf ums Überleben werteten viele als Rettungsanker, was die bolschewistischen Gewerkschaftsführer anstrebten: die Überführung der Betriebe in staatliches Eigentum. Im November und Dezember, einige Zeit vor entsprechenden Schritten der Regierung, ging eine erste Welle von Enteignungen durchs Land. Die Arbeiter selber lösten sie aus: 77 % von 836 einschlägigen Anordnungen in diesen Monaten wurden von örtlichen Sowjets ausgestellt, während überregionale Organe kaum beteiligt waren. Wie sich zeigen sollte, lieferte sich die Rätebewegung der Basis damit eigenhändig ans Messer. Gleichviel ob die Betriebe unter «nationale» oder «munizipale» Regie gerieten – in beiden Fällen wurde der Transfer zum Vehikel der Zentralisierung und ihrer Unterwerfung unter übergeordnete Zwecke. Insofern trifft die pointierte Formulierung ins Schwarze, mit dem ersten einschlägigen Dekret vom 14. Dezember – das zunächst nur die ‹Festungen des Kapitals› (und besonders widerspenstigen Gegner), die Banken, zum Staatsmonopol erklärte – habe «Marx Rache an Bakunin genommen».[26]
Die Gewerkschaften und sonstigen Berufsverbände mussten die Ausdehnung und wachsende Selbständigkeit der Arbeiterkontrolle zunächst hinnehmen. Sie standen zu einem erheblichen Teil auf der anderen Seite der Barrikaden und hatten eigene Probleme, die ihre Handlungsfähigkeit einschränkten. Gerade in ihren Reihen löste der Oktobercoup heftige Kontroversen aus. Mit den Eisenbahnern beschlossen die Beschäftigten der Post- und Telegraphenämter und die Drucker unmittelbar nach dem Umsturz, einen landesweiten Streik für den Fall auszurufen, dass die Bolschewiki nicht bereit seien, die Regierungsmacht mit allen Sowjetparteien zu teilen. Die Angestellten des öffentlichen Dienstes und der Banken wollten sich gar nicht erst auf solche Kompromisse einlassen und protestierten kategorisch gegen den Staatsstreich, den sie zu Recht als Anschlag auf die Konstituierende Versammlung verstanden. Ihr wochenlanger Ausstand schuf sicher die größte Bedrohung für das neue Regime. Es war kein Zufall, dass zu seiner Niederringung Anfang Dezember die bald berüchtigte Tscheka gegründet wurde.
Letztlich gelang es den Bolschewiki erst nach der Jahreswende, diesen Widerstand zu brechen. Im Falle des Eisenbahnerbundes sahen sich die neuen Herren sogar genötigt, eine Konkurrenzorganisation ins Leben zu rufen und damit den Vorwurf der Parteidiktatur offen zu bestätigen. Ihnen halfen vor allem die Metallarbeiterverbände, die nicht nur ideologische Standfestigkeit mitbrachten, sondern auch die Macht der Überzahl. Diesen war es im Wesentlichen zu verdanken, dass die Bolschewiki auf dem ersten Allrussischen Gewerkschaftskongress vom 7. bis 15. Januar 1918 ihre Vormacht endgültig zu sichern vermochten. Ihre Resolution formulierte, was sich zu leitenden Grundsätzen der sowjetischen Gewerkschaftspolitik verfestigen sollte. Unter entschiedener Zurückweisung jeglicher Neutralität wurde den Berufsverbänden als oberste Pflicht aufgetragen, «die Produktion zu organisieren und die zerstörten Produktivkräfte des Landes» zu erneuern. Damit begann die Deformation unabhängiger Interessenvertretungsorgane zu gefügigen Instrumenten des Staates. Die Gewerkschaften übernahmen die Rolle des vielzitierten «Transmissionsriemens» (Lenin) zwischen Staat und Arbeiterschaft, nicht ohne dabei jene Unfreiheit und Bevormundung nach unten zu übertragen, die vom entstehenden Einparteiensystem erzeugt wurde.
In dieser Konzeption hatten die Fabrikräte keinen Platz. Dieselbe Konferenz besiegelte auch ihr Schicksal. Zwar wurde Arbeiterkontrolle im Prinzip begrüßt und als Palliativ gegen eine neue Industriebürokratie weiterhin verankert. Aber sie büßte ihre Unabhängigkeit ein. Was als autonome Bewegung revolutionärer Selbsthilfe begonnen hatte, endete als nachgeordnetes Exekutionsorgan einer verstaatlichten Gewerkschaft. Gewiss nahm diese Metamorphose einige Zeit in Anspruch. Auch hier wirkte die Anarchie schützend. Überdies konkurrierte die Nationalisierung noch mit anderen Vorstellungen der künftigen Wirtschaftsorganisation. Als aber diese Debatte im Frühjahr beendet war und der beginnende Bürgerkrieg die Konzentration aller Kräfte erforderte, lief ihre Gnadenfrist endgültig ab.[27]
Bei alledem ging das machtpolitische Kalkül der Bolschewiki vorerst auf. Nicht nur aus Mangel an einer akzeptablen Alternative bewahrten die engagierten Arbeiter der Sowjetmacht ihre Loyalität. Erfolge trösteten sie über die wachsende Not und politische Unterwerfung hinweg. Kernforderungen der Gewerkschaftsbewegung wurden endlich erfüllt. Schon wenige Tage nach dem Umsturz erhob die Regierung den Achtstundentag und die Achtundvierzigstundenwoche zur Norm. Kinderarbeit wurde verboten, die Diskriminierung der weiblichen Arbeitskräfte formal beseitigt, Kranken- und Arbeitslosenversicherung verbindlich vorgeschrieben und die Handlungsfreiheit des Managements drastisch eingeschränkt. Anfang Dezember wurden alle Mietshäuser in Petrograd enteignet und den Bewohnern zur Selbstverwaltung übergeben. Gegen Ende desselben Monats annullierte ein Dekret – nach der Nationalisierung der Banken – alle Dividenden und Wertpapiereinkünfte. So gesehen bedeutete Sowjetmacht anfangs in der Tat Arbeitermacht und Herrschaft der ‹Knechte›.[28]
Unentbehrlich für die Sicherung des Militärcoups war schließlich die Unterstützung der Armee. Die Soldaten brauchten nicht gewonnen zu werden wie die Bauern oder Teile der organisierten Arbeiterschaft. Dennoch erwarteten sie Lohn für ihre Hilfe: Frieden. Nicht von ungefähr legte Lenin dem Rätekongress am Abend des 26. Oktober noch vor dem Bodengesetz eine entsprechende Resolution als erstes Dekret der Sowjetmacht überhaupt zur Abstimmung vor. Die Formel vom Verständigungsfrieden der «gepeinigten und gemarterten» Völker wiederholte dabei nur, was auch die Provisorische Regierung seit Mai propagiert hatte. Unerhört aber war das Ausmaß der angebotenen Vorleistungen. Die Versammlung bekannte sich ohne Einschränkung zum Selbstbestimmungsrecht auch der kleinsten Nation und entließ damit verbal alle nichtrussischen Völker aus dem Reichsverband. Darüber hinaus bekundete sie ihre Bereitschaft, «alle anderen Friedensbedingungen zu erwägen». Der tosende Applaus mochte die Bolschewiki darin bestärkt haben, den radikalen Parolen unverzüglich durch Taten Glaubwürdigkeit zu verleihen. Mitte November sondierte man die Gesprächsbereitschaft des Gegners. Die deutsche Führung ergriff die Gelegenheit, um sich Entlastung für die Westfront zu verschaffen. Formelle Verhandlungen begannen am 19. November. Ein letztes Hindernis fiel, als bolschewistische Einheiten am folgenden Tag auch das Hauptquartier der Armee in Mogilev eroberten. Bereits drei Tage später trug ein erster Waffenstillstand, der Anfang Dezember bis zum Jahresende verlängert wurde, ihren sehnlichsten Wünschen Rechnung. Das erleichterte es der Regierung, auch andere Erwartungen der Soldaten zu erfüllen. Die von Kerenskij wiedereingeführte Todesstrafe wurde zum zweiten Mal aufgehoben und der «Befehl Nr. 1» erneuert: Ein Dekret vom 16. Dezember verkündete die Wahl aller Kommandeure durch ihre Einheiten und übertrug alle Gewalt an die Soldatenkomitees und Räte. Die neuen Regenten bewiesen in dieser sensiblen Materie dieselbe Radikalität wie in der Agrarfrage. Sie verfügten die vorbehaltlose Demokratisierung der Armee, mit allen Folgen für deren Kampffähigkeit. Aber sie mochten der Meinung sein, dass diese ohnehin nicht mehr zu retten war. Vollends seit der Verkündung des Landdekrets strömten die Soldaten in Legionen nach Hause, um bei der Aufteilung des Bodens nicht zu kurz zu kommen.[29]
Umso weniger konnte die deutsche Seite daran hindern, ihre Überlegenheit über einen Gegner auszuspielen, der offensichtlich am Boden lag. Dabei half ihr die formelle Loslösung der Ukraine im Dezember, die den Weg für separate Verhandlungen frei machte. Als die deutschen Generäle gegen Jahresende nicht ohne Ursache den Eindruck gewannen, die russische Delegation spiele auf Zeit, einigten sie sich mit der Ukraine (9. 2. 1918) und stellten der bolschewistischen Regierung ein Ultimatum mit weitgehenden territorialen Forderungen: Über die Ukraine mit ihren unentbehrlichen Getreidefeldern und Rohstoffen hinaus, die faktisch zum deutschen Protektorat herabsank, sollte Russland auch auf Polen, Finnland, die baltischen Provinzen und weite Teile Weißrusslands verzichten. Es war ein wirtschaftlich amputierter Rumpfstaat, den das deutsche Militär übrig lassen wollte. Die sowjetische Delegation, seit Jahresbeginn unter Leitung des Außenkommissars Trotzki selbst, antwortete mit einem ebenso hilflosen wie verzweifelten Appell an die Weltöffentlichkeit. Sie lehnte die Bedingungen am 10. Februar 1918 ab und verfügte den völligen Abzug ihrer Truppen von der Front, um einen Zustand herbeizuführen, der «weder Krieg noch Frieden» (Trotzki) war. Die deutsche Seite honorierte diese Verweigerung nicht. Sie deutete die spektakuläre Geste als Abbruch der Gespräche und begann eine neue Offensive. Der Sowjetführung blieb nichts anderes übrig, als sich unter Protest der Gewalt zu beugen. Am 3. März wurde der Separatfrieden von Brest-Litovsk formell unterzeichnet.[30]
Auch innenpolitisch erkaufte das Revolutionsregime die Handlungsfreiheit teuer. Zwar gaben sowohl der siebte Parteitag als auch der vierte Sowjetkongress in eilends anberaumten außerordentlichen Sitzungen ihr Plazet. Aber der Widerstand gegen einen solchen Diktatfrieden war heftig. Lenin hatte selbst in den eigenen Reihen Mühe, eine Mehrheit für seine Meinung zu finden, dass der Rätestaat sich unterwerfen müsse, wenn er überleben wolle. Erst in der entscheidenden Sitzung des ZK Ende Februar setzte er sich durch. Auch dazu war es nötig, dass er mit seinem Rücktritt drohte und sich Trotzki und seine Anhänger der Stimme enthielten. Vier Mitglieder, angeführt von Nikolaj I. Bucharin, votierten aber dennoch gegen das Unvermeidliche. Größeren und dauerhaften Schaden nahm das Regime jedoch durch den Protest der Linken Sozialrevolutionäre. Auch sie werteten die Annahme des Friedens als «Verrat» an der Revolution und hielten der Bedrohung Petrograds durch das deutsche Heer – am 2. März fielen Bomben auf die Stadt – einen trotzig-irrealen Glauben an die Hilfe des internationalen Proletariats entgegen. Als der SNK anders entschied, kündigten sie die Koalition auf.
Im Rückblick drängt sich allerdings der Gedanke auf, dass die Koalition auch deshalb so leicht zerbrach, weil sie ihren tieferen Zweck erfüllt hatte: die Bedrohung durch die Konstituierende Versammlung abzuwehren. Alle Parteien richteten ihren Blick nach dem Oktoberumsturz auf dieses Ereignis. Nicht nur das Sowjetregime stand auf dem Spiel, sondern auch der innere Friede. Nach einem Scheitern der parlamentarischen Lösung war der Bürgerkrieg kaum mehr zu vermeiden. Die Bolschewiki verfingen sich dabei in den Fallstricken ihrer eigenen Täuschungsmanöver. Unzählige Male hatten sie der Provisorischen Regierung vorgeworfen, dass sie den Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung verzögere, um die soziale Revolution zu sabotieren. Nun standen sie im Wort. Zu den wenigen konkreten Absichtserklärungen, die bereits in der historischen Proklamation vom frühen Morgen des 26. Oktober enthalten waren, gehörte nicht zufällig das Versprechen, die Wahlen umgehend anzuberaumen. Im Grunde war aber offensichtlich, dass Unvereinbares miteinander verbunden wurde – «Alle Macht den Räten» konnte nicht zugleich heißen: «Alle Macht der Konstituierenden Versammlung». Die bolschewistischen Führer wussten und ihre Gegner ahnten, dass die Machtergreifung vom Oktober politisch auch schon das Schicksal des Herzstücks der Februarrevolution besiegelt hatte.
Die Wahl begann am 12. November in der Hauptstadt und dauerte in der Provinz bis etwa zum Monatsende. Die harte Gangart der neuen Herrschaft ließ den Wahlkampf nicht unberührt. Vor allem die Kadetten mussten sich gegen den überschäumenden revolutionären Eifer behaupten. Dennoch konnten sie, weil der Arm der neuen Macht noch nicht weit reichte, besonders in den kommerziell geprägten Städten der russischen Provinz wie Samara und Novgorod ein beträchtliches Publikum um sich sammeln. Im Ganzen verlief die Wahl regulär. Sie war nicht nur die letzte, sondern darüber hinaus die einzige im strengen Sinne demokratische Wahl mit gleich gewichteten Stimmen, die es in Russland je gegeben hat. Auch die Kadetten haben dies «trotz pessimistischer Voraussagen» nicht anders gesehen.[31]
Die Wahl bescherte den Sozialrevolutionären einen triumphalen Erfolg. Von 48,4 Mio. Stimmen vereinigten sie mit 19,1 Mio. oder 39,5 % sowie dem deutlich größeren Teil von 4,7 Mio. für «nationale Parteien» abgegebenen (9,6 %) fast die Hälfte auf sich. Die Bolschewiki erreichten ein knappes Viertel (10,9 Mio. entsprechend 22,5 %), die Kadetten 2,2 Mio. (4,5 %), die Menschewiki 1,5 Mio. (3,1 %) und die übrigen Parteien noch weniger. Die Mandatsverteilung war dementsprechend eindeutig: Von 703 Sitzen entfielen 380 auf die PSR, 168 auf die Bolschewiki, 39 auf PLSR und 17 auf die Kadetten. Freilich sind die Zahlen mit Vorsicht zu deuten. Zum Block der sozialrevolutionären Abgeordneten gehörten 81 ukrainische, die nicht nur in der nationalen Frage andere Anschauungen vertraten als die Mutterpartei. Dies in Rechnung gestellt, verfügte die PSR zwar nach wie vor über die größte Fraktion, aber nicht mehr über die absolute Mehrheit. Auch eine Erneuerung der Februarkoalition hätte das Dilemma nicht behoben. Rein arithmetisch ließ das Wahlergebnis stabile Verhältnisse nur in Gestalt einer Verbindung zwischen der PSR und einer der ethnisch orientierten Parteien zu – fraglos ein Beleg für die Brisanz der nationalen Frage und für erhebliche Schwierigkeiten, vor denen der Parlamentarismus in Russland gestanden hätte. Zu warnen ist auch davor, die hohe Stimmenzahl der Sozialrevolutionäre als Votum für die politische Mäßigung der Wähler zu interpretieren. Listenwahl, zentrale Kandidatenauslese und die noch mühsam bewahrte organisatorische Einheit der Partei brachten es mit sich, dass viele Stimmen den ‹rechten› Sozialrevolutionären zugute kamen, die eigentlich für die linken abgegeben wurden. Beachtung verdienen schließlich auch die konträren Ergebnisse in den großen Städten. Die neuen Machthaber fanden ihren Rückhalt in den Ballungszentren, vor allem in den Garnisonen und Arbeitervierteln. In Moskau und Petrograd erlitt die PSR eine ebenso empfindliche Niederlage wie in den vorangegangenen Kommunalwahlen (8,2 % bzw. 16,2 %). Gewinner waren die Bolschewiki (47,9 % bzw. 45 %) und die Kadetten (34,5 % bzw. 26,2 %). Deutlich spiegelte sich die offene Konfrontation seit Oktober in diesen Zahlen. Für die städtischen Wähler, die dem politischen Geschehen näher standen, gab es nur noch pro oder contra.[32]
Wie immer man das Ergebnis bewertete, die Feindseligkeit der Konstituierenden Versammlung gegenüber dem Oktoberregime konnte als sicher gelten. Bereits im Vorfeld gab die «Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft» klar zu erkennen, wie sie darauf zu reagieren gedachte. Mitte November duldete sie erste Übergriffe auf kadettische Politiker, Ende des Monats ächtete sie das gesamte ZK und ordnete seine Verhaftung an. Noch am selben Tag wurden fünf seiner Mitglieder als «Volksfeinde» von Roten Garden abgeführt. Auf den Straßen herrschte ohnehin eine besondere Art von Vogelfreiheit. Marodierende Soldaten und Matrosen demonstrierten hier mit Überfällen ihr eigenes Verständnis von Klassenkampf – zum Leidwesen vor allem der arrivierten liberalen Klientel. Die Sozialrevolutionäre konnten sich dagegen noch weitgehend frei bewegen. Aber auch sie gaben sich keiner Täuschung hin. Der rechte Flügel plädierte sogar für die Wiederbelebung des Terrors. Die Mehrheit des ZK wollte so weit nicht gehen; sie hielt es für «absurd und sogar kriminell», gegen die einstigen Mitkämpfer und Parteigenossen dieselben Mittel einzusetzen wie gegen die Autokratie. Aber sie willigte immerhin in die Vorbereitung der «bewaffneten Verteidigung» der Konstituierenden Versammlung ein. Nur blieb offen, was darunter genau zu verstehen war. Viel konnte es nicht sein, da die PSR in letzter Minute den Beschluss fasste, auf einen bewaffneten Aufstand zu verzichten. Allein Massenstreik und Volksaufstand sollten die Konstituierende Versammlung schützen. Bei den Menschewiki stärkten die Oktoberereignisse den linken Flügel. Auf einem Sonderparteitag Ende November ließ es sich Martov nicht nehmen, den ehemaligen Ministern unter seinen Genossen die Mitschuld am Gewaltstreich der Bolschewiki zu geben. In den Losungen des Tages rückten die Fraktionen jedoch wieder enger zusammen: Die Konstituierende Versammlung und eine demokratisch legitimierte sozialistische Allparteienregierung blieben oberstes Ziel. Für die schwierige Frage der weiteren Mitarbeit in den Räten fand man eine Kompromisslösung. Nur in den Plenarversammlungen, nicht in den Exekutivkomitees sollte sie erlaubt sein. Dahinter verbarg sich die Erwartung, wieder stärkeren Einfluss auf die Arbeiterschaft gewinnen zu können.[33]
Die Delegierten traten schließlich am 5. Januar 1918 zusammen. Schon die Eröffnung verursachte Streit zwischen Bolschewiki und Sozialrevolutionären. Als Beauftragter Lenins ergriff Sverdlov eigenmächtig das Wort. Was er verkündete: dass Russland unabänderlich eine Räterepublik sei, kam faktisch einer Auflösungsorder gleich. Die folgenden Reden und Debatten verrieten neben der Courage, die Drohung zu ignorieren, auch Einsicht. Sozialrevolutionäre und Menschewiki plädierten nunmehr für einen baldigen Waffenstillstand, wenn auch gegen einen Separatfrieden. Sie befürworteten die entschädigungslose Übergabe allen Landes an die Bauern, auch wenn sie die Festlegung der genauen Modalitäten abermals an Kommissionen verwiesen. Indes hatte der Oktober solche Konzessionen überholt. Außerhalb der Konstituierenden Versammlung hörte sie niemand mehr. Die Entscheidung fiel, als die Linken Sozialrevolutionäre während der Sitzung ihre letzten Skrupel aufgaben und sich ebenfalls definitiv von der parlamentarischen Lösung abwandten. Der SNK verständigte sich darauf, den Kongress nicht auseinanderzujagen, sondern ihn auszusperren. Als der frisch gewählte Versammlungspräsident Černov den ersten Verhandlungstag beendete, schloss er das einzige demokratische Parlament der russischen Geschichte vor 1993 für immer.
Denn das erhoffte Wunder blieb aus. Zwar versammelte sich am Morgen des Sitzungstages – vor deren Eröffnung – ein eindrucksvoller Zug von Sympathisanten (Schätzungen reichen bis zu 50.000), die sich friedlich durch ein dichtes Spalier bewaffneter Arbeiter und Matrosen zum Taurischen Palais bewegten, um ihre Unterstützung zu bezeugen. Zwar fielen Schüsse, die eine nicht genau bekannte Anzahl (laut einigen Quellen neun, laut anderen 21) von Demonstranten töteten, weil einige Rotgardisten nervös wurden. Dennoch konnte die Kundgebung den neuen Regenten keine wirkliche Furcht einflößen. Überdies sprachen die Aufrufe, wie es scheint, nicht die Schichten an, von denen sich Sozialrevolutionäre und Menschewiki Unterstützung erhofften. Es waren ganz überwiegend Staatsbedienstete, Angestellte, Studenten und andere ‹Intelligenzler›, die für die Konstituante auf die Straße gingen. Von einer Minderheit abgesehen, rührten sich die Arbeiter ebenso wenig wie die Bauern in der Provinz. Auch nach deren gewaltsamer Schließung, beim Begräbnis der Toten des 5. Januar, das symbolträchtig vier Tage später am Gedenktag des Blutsonntags 1905 stattfand, ließ die Empörung der Massen auf sich warten. Anders als zwölf Jahre zuvor erhob sich das Volk nicht im Protest gegen sinnlose Schüsse der Obrigkeit. Entscheidend aber war erneut, dass die Parteien des Februar keine bewaffneten Kräfte zu mobilisieren vermochten. Selbst die drei Regimenter, mit denen die PSR fest gerechnet hatte, blieben in den Kasernen – letztlich aus mangelndem Engagement für die Sache, nicht wegen technischer Probleme. Das Fazit konnte bitterer nicht sein: Die Konstituierende Versammlung fand kaum und vor allem keine kämpferischen Verteidiger.[34]
Der Weg war nun frei für die endgültige Ausgestaltung der Räteverfassung. Die Regierung nutzte den dritten Allrussischen Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sicher auch deshalb bereits auf den 10. bis 18. Januar anberaumt, um der Auflösung der Konstituante plebiszitären Segen zu verschaffen. Die Versammlung beschloss, dem neuen Staat die Form einer föderativen Räterepublik zu geben. Zum obersten Organ erklärte sie das Plenum der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- und Kosakenvertreter, dessen Vollmachten zwischen den Sitzungen an das VCIK übergingen. Der SNK wurde, auch in seiner (formalen) Verantwortlichkeit gegenüber Letzterem, bestätigt. Alle regionalen Angelegenheiten übertrug man den örtlichen Sowjets, allerdings unter Wahrung der Aufsicht und Steuerung durch die Zentralgewalt. Der Kongress verband diese Beschlüsse mit einer pathetischen, an die Völker der Welt gerichteten Geste. In gezielter Analogie zur Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution verkündete er «die Rechte des arbeitenden und ausgebeuteten Volkes». Er machte es sich darin zur «Hauptaufgabe …, jede Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen, jede Teilung der Gesellschaft in Klassen abzuschaffen, allen Widerstand der Ausbeuter schonungslos zu unterdrücken, die sozialistische Organisation der Gesellschaft und den Sieg des Sozialismus in allen Ländern durchzusetzen». Was die Konstituierende Versammlung, der die Erklärung zuerst vorlag, abgelehnt hatte, wurde nun geltendes Recht. Der Akt war symbolisch: Der Sowjetkongress okkupierte ihren Platz und legte die Grundstrukturen des ersten sozialistischen Staates der Erde unwiderruflich fest.[35]
Die Umwandlung der Revolutions- in Staatsorgane fand mit der Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) ihren Abschluss. Im Wesentlichen beschränkte sie sich darauf, die bestehenden Verhältnisse zu kodifizieren. Als Grundprinzipien der staatlichen Organisation wurde die pyramidenförmige Hierarchie der Räte mit der Wahl der jeweils übergeordneten durch die untergeordneten (mithin keiner direkten auf den oberen Ebenen) ebenso verankert wie die Zusammenführung von Exekutive und Legislative. Nur auf höchster Ebene setzte der SNK die ‹bürgerliche› Trennung beider Gewalten fort. Festgeschrieben wurde auch die Parteilichkeit des neuen Staates für das arbeitende Volk. Nicht nur fand die Deklaration des dritten Sowjetkongresses Aufnahme in die Verfassung. Darüber hinaus ließen die Wahlrechtsbestimmungen an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Wählen durften – bei fortdauernder starker Bevorzugung der städtischen Unterschichten – nur diejenigen, «die ihren Lebensunterhalt aus produktiver und gesellschaftlich nützlicher Arbeit» bestritten. Wer Lohnarbeiter beschäftigte oder von Renten und Wertpapieren lebte, war ausgeschlossen; Kaufleute und Priester entmündigte man per definitionem. Die «Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft», die Lenin ausgerufen hatte, entzog den «schmarotzenden Gesellschaftsschichten» ohne viel Federlesen das grundlegende Bürgerrecht. Das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, die große Errungenschaft des 18. Jahrhunderts, wurde (bald auch im Bereich des Zivil- und Strafrechts) suspendiert. Dass diese Maßnahmen nur vorübergehend, bis zur endgültigen Unterwerfung der Bourgeoisie, gelten sollten, rettete die Demokratie nicht mehr. Als Stalins Verfassung von 1936 das allgemeine Wahlrecht wiederherstellte, war jede gesetzliche Bestimmung Makulatur.[36]
Schon die neuartige Staats- und Verfassungsstruktur zeigte an, dass sich die Politik des Oktoberregimes nicht im bloßen Machterhalt erschöpfte. Ihr Elan verriet einen ausgeprägten Neuerungswillen und die Ungeduld derjenigen, die endlich Gelegenheit erhielten, ihre tausendfach repetierten Theorien zu verwirklichen. Fraglos bewirkte der Sturm auf Tradition und Herkommen, der zwischen Oktoberaufstand und Bürgerkrieg fast alle Bereiche von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur erfasste, in seiner Gesamtheit nicht weniger als eine weitere Revolution. Ränge und Standesbezeichnungen wurden abgeschafft und durch das nivellierende «Bürger» ersetzt, Staat und Kirche getrennt und der Glauben zur Privatsache erklärt, die rechtliche und soziale Gleichheit der Frau dekretiert und durch eine Reihe von Maßnahmen im Sozial- und Wirtschaftsleben unterstützt, Rechtsprechung und Rechtsordnung mit ihren modernen Einrichtungen der Advokatur, des Untersuchungsrichters und der Staatsanwaltschaft liquidiert und für eine – zunächst provisorische – ‹proletarische Justiz› Platz geschaffen, Schulen und Universitäten den Unterschichten weit geöffnet und samt Kunst und Wissenschaft in den Dienst des «neuen Menschen» gestellt. Die Liste ließe sich mit Blick auf die kommenden Jahre verlängern. Sie wirft ein Schlaglicht auf die breit gefächerten kulturell-sozialen Nebenströmungen der revolutionären Bewegung, denen der Februarumsturz zaghaft, die Oktoberwende a fortiori zu praktischer Erprobung verhalf. Zugleich macht sie die eigentümliche Konvergenz zeitversetzter Emanzipationsprozesse auch in diesem Bereich der nachholenden russischen Entwicklung deutlich: Errungenschaften und Leitideen der Säkularisierung des 18., des Liberalismus des 19. Jahrhunderts und des zeitgenössischen Sozialismus kamen zusammen und trugen wesentlich zur Radikalität des Umbruches bei.
Mit guten Gründen ist der Bürgerkrieg als eines der verheerendsten Ereignisse der russischen Geschichte bezeichnet worden. Ob man auf der Suche nach Vergleichbarem bis zum Mongolensturm des 13. Jahrhunderts zurückgehen sollte, mag offenbleiben. Unstreitig aber enthält seine Bezeichnung als neue «Zeit der Wirren» eine treffende Analogie: Keine andere Auseinandersetzung seit der smuta, den Adelsfehden des beginnenden 17. Jahrhunderts, hat so viele Opfer im Innern gekostet, das Land so verwüstet und seine Bewohner so gegeneinander aufgehetzt. Um diese Dimension verständlich zu machen, reicht der Hinweis auf den nachgeholten Kampf zwischen Anhängern und Gegnern des Oktoberumsturzes und der Revolution nicht aus. Überzeugend hat man unlängst daran erinnert, dass der Bürgerkrieg an vielen Fronten ausgetragen wurde und genau besehen mehrere Konflikte umschloss: «Rote» kämpften zunächst gegen andere, nichtbolschewistische «Rote», dann erst gegen «Weiße»; «Weiße» kämpften gegen «Rote», aber auch gegen andere Sozialisten und vor allem gegen nationale Separatisten; zwischen beiden standen «Grüne» in Gestalt aufbegehrender Bauern, die sich gegen den Raub ihres letzten Getreides durch welche Armee auch immer wehrten. Hinzu kam die Intervention der Alliierten, die den Weltkrieg aus bolschewistischer Sicht trotz bzw. wegen des Separatfriedens von Brest-Litovsk gleichsam fortsetzte und das Problem der staatlichen Souveränität aufwarf. Erst die Verschmelzung all dieser Feuer zu einem Flächenbrand vermag das Ausmaß des Bürgerkriegs und die Verwüstungen zu erklären, die er in allen Lebensbereichen des neuen Regimes und seiner Menschen hinterließ.[37]
Der Konflikt zwischen den unmittelbaren Kontrahenten des Oktober überschritt spätestens mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung jenen Punkt, von dem an keine friedliche Lösung mehr denkbar war. Die Kadetten standen mit dem Rücken zur Wand. Sie galten als ärgster Klassenfeind und wurden nicht zufällig als Erste verfolgt. Was die Stunde nach der Auflösung der Konstituierenden Versammlung geschlagen hatte, die vor allem ihre Forderung gewesen war, machte nicht zuletzt eine zufällige, aber symbolische Koinzidenz deutlich: Zwei Tage nach der Aussperrung der Volksvertreter wurden zwei der verschleppten kadettischen Parteiführer in einem Akt der Lynchjustiz von Rotgardisten ermordet. Beide Ereignisse gaben dem konservativen Parteiflügel weiteren Auftrieb. Grundsätzlich standen die Liberalen dabei vor der alten Alternative, entweder mit den gemäßigten Sozialisten zusammenzugehen oder auf Kräfte zu setzen, die zumindest die Räte ablehnten, überwiegend aber auch die Februarrevolution bestenfalls hingenommen hatten. Einige unverdrossene Linksliberale traten auch unter den veränderten Bedingungen für das erprobte, wenngleich glücklose Bündnis ein. Die Mehrheit des verbliebenen ZK wollte aber mit jenen nichts mehr zu tun haben, die sie als Hehler des Umsturzes und obendrein als schwache Partner betrachtete. Sie votierte für klare Verhältnisse – eine Notstandsdiktatur der Militärs. Miljukov wartete die Entscheidung gar nicht erst ab. Er verhandelte bereits mit den Donkosaken, die am ehesten in der Lage zu sein schienen, Widerstand zu leisten. Zur selben Zeit sondierte die unterlegene Fraktion mit den einstigen Partnern aus der PSR die Chancen einer gemeinsamen antibolschewistischen Fronde. Ihre Gespräche erhielten eine tragfähige Grundlage, als sich im April die englische und US-amerikanische Intervention ankündigten. Hoffnung keimte auf, Russland im Verein mit den ehemaligen Bündnispartnern von der Sowjetherrschaft befreien zu können. Zugleich wurde eine Formel gefunden, die eine Verständigung mit den ‹rechten› Sozialrevolutionären ermöglichte. Bald darauf mussten die bekannten Kadetten Zentralrussland endgültig verlassen. Der Exodus nach Süden und Südosten begann, der sie nolens volens unter den Schutz, aber auch in die Gewalt nicht unbedingt demokratiefreundlicher Generäle brachte.
Die Sozialrevolutionäre waren die großen Verlierer des Jahres 1917. Sie hatten es nicht vermocht, ihre überwältigende Popularität in politische Stärke umzumünzen. Ihr größter Triumph, die Mehrheit in der Konstituierenden Versammlung, verwandelte sich in ihre schlimmste Niederlage. Dennoch blieb die PSR der natürliche Träger des demokratischen Widerstandes. Sie verfügte nach wie vor über große Popularität auf dem Dorfe und suchte deshalb nicht bei den Generälen, sondern in ihrer traditionellen Hochburg, den agrarischen Gouvernements an der unteren Wolga (Samara, Saratov), Zuflucht. Hier wollte sie die versprengten Mitglieder der Konstituierenden Versammlung neu formieren und ihre Rückkehr nach Petrograd vorbereiten. Auf den wachsenden Widerstand vor allem der Bauern vertrauend, klammerte sie sich an die Hoffnung, zwischen roter und weißer Diktatur eine «dritte Kraft» bilden und ihr zum Siege verhelfen zu können.
Auch die Menschewiki sahen am 5. Januar ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Aber sie schlossen daraus nicht, dass gegen Gewalt nur Gewalt helfe. Vielmehr hielten sie an ihrem Bemühen fest, über die Sowjets auf das Regime einzuwirken. Dabei konnten sie sich durch deutliche Anzeichen einer Ernüchterung über die wirtschaftlichen und politischen Resultate des Oktober ermuntert fühlen. Vor allem die Kampagnen im Vorfeld der Neuwahlen zum Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat im Mai 1918 zeigten an, dass die Menschewiki eine eindrucksvolle Renaissance erlebten. Jedoch gab ihnen diese Resonanz selbst dort, wo sie eine formelle Mehrheit errungen hatten, keine wirkliche Macht. In die Verfassung war von Anfang an eine ausgeprägte Abhängigkeit der unteren Räte eingebaut. Überdies machte der bald ausbrechende Bürgerkrieg alle Hoffnungen auf größeren Handlungsspielraum zunichte. Gemeinsam mit den Sozialrevolutionären wurden auch die Menschewiki aus dem zentralen und den meisten regionalen Sowjets ausgeschlossen und verfolgt. Dennoch gaben sie ihre Anhänglichkeit gegenüber den Arbeiterräten, ihrer Schöpfung vom Oktober 1905 und Februar 1917, nicht auf. Bis zuletzt hielten sie an der grundsätzlichen Richtigkeit und Korrigierbarkeit der Sowjetordnung fest. Unter dem Eindruck einer gewissen Entspannung akzeptierten sie im Sommer 1919 sogar förmlich die Räteverfassung. Als Hauptforderung erhoben sie nicht mehr den Ruf nach der Wiedereinberufung der Konstituierenden Versammlung, sondern nach uneingeschränkter Verwirklichung der geltenden Gesetze. Zu spät, am Vorabend der erzwungenen Emigration im Frühjahr 1921, begriffen sie, dass sie Wunschträumen nachgehangen hatten. Nicht nur ihre numerische Schwäche, auch ihr zunehmend irrationaler ‹sozialistischer Idealismus› verurteilte die Menschewiki im Bürgerkrieg zu noch größerer Bedeutungslosigkeit als die Sozialrevolutionäre und Kadetten.[38]
Der Konflikt zwischen dem Sowjetregime und seinen Feinden schlug seit Dezember 1917, vollends im Frühjahr 1918 in eine offene militärische Auseinandersetzung um. Zugleich verlagerte er sich von Moskau, Petrograd und anderen Städten Zentralrusslands an die Peripherie des Landes. Der Revolutionskrieg erweiterte sich zum Kampf um das gesamte Staatsgebiet und den Fortbestand des großrussischen Imperiums. In dem blutigen Drama, das damit begann, lassen sich grob drei Abschnitte und Schauplätze unterscheiden. Eine erste Etappe dauerte bis etwa November 1918. Sie fand im Wesentlichen im Dongebiet und an der mittleren Wolga statt. Hauptakteure waren zum einen die deutschen Truppen und die Kosaken, zum anderen die verjagten führenden Mitglieder der Konstituante und die Tschechoslowakische Legion. Es war das «Jahr des Zerfalls» und das Jahr des politischen Kampfes um die Rettung der Demokratie mit anderen Mitteln. Der Krieg begann in der Ukraine. Zum wachsenden Unwillen der neuen Herren in Petrograd duldete die ukrainische Regionalregierung die Sammlung gegnerischer Kräfte an ihrer Südostgrenze. Darüber hinaus begann sie mit der Aufstellung eigener, ‹nationaler› Kompanien an der Front – ein Vorhaben, das die Bolschewiki in bezeichnendem Kontrast zu ihrer vorherigen Propaganda nun ebenso strikt ablehnten wie die Provisorische Regierung. Lenin selbst suchte die Entscheidung mit Waffengewalt, als er Anfang Dezember seinen fähigsten Strategen V. A. Antonov-Ovseenko in die Ukraine schickte. Am 26. Januar 1918 hielt die Sowjetmacht zum ersten Mal Einzug in Kiev. Einen Monat später nahmen bolschewistische Milizen, nunmehr Teil der frisch aus der Taufe gehobenen Roten Armee (formell durch ein Dekret vom 15. 1.), auch die Hafenstadt Rostov am Don, das Zentrum des Kosakenterritoriums, ein.
Freilich waren die Eroberungen kurzlebig. Am selben Tage, an dem die Rada fiel, schlossen ihre Abgesandten ein Separatabkommen mit den Mittelmächten. Für Schutz und Truppen stellte sie Getreide in Aussicht, das vor allem in Deutschland dringend gebraucht wurde. In den ersten Märztagen (n. St.) wechselte Kiev einmal mehr die Besatzer. Die neu installierte Rada ließ sich nach deutschem Dafürhalten aber zu viel Zeit mit der Zahlung des Preises. Ende April verloren die eigentlichen Machthaber die Geduld und installierten eine Marionettenregierung unter dem Hetman P. P. Skoropadskyj. Diese sorgte zwar mit entsprechenden Zwangsmitteln für schnellere Getreidelieferungen, brachte aber die Bauern gegen sich auf und bereitete einen günstigen Nährboden sowohl für die bolschewistische Agitation als auch für die anarchistisch-nationalistische Bewegung des Nestor Machno. Die Ukraine versank im halben Jahr des Skoropadskyj-Regimes in Partisanenkrieg und inneren Wirren. Auch der bolschewistische Sieg am Don hatte keinen Bestand. Mit wirkungsvoller Unterstützung durch die deutsche Heeresgruppe Süd gelang es der Freiwilligen- und Kosakenarmee, die gesamte Region zurückzuerobern. Anfang Mai zog sie, nicht ohne drakonische Vergeltung zu üben, in Rostov ein. Das Blatt hatte sich gewendet. Die antibolschewistischen Verbände konnten sich für ihr Hauptziel formieren, den Vorstoß nach Norden.[39]
Die eigentliche Bedrohung für das Sowjetregime ging im Jahre 1918 jedoch von der Tschechoslowakischen Legion und der von ihr gestützten Gegenregierung in Samara aus. Dass den Fremden, wenn auch nur vorübergehend, eine solche Bedeutung im russischen Bürgerkrieg zukam, gehört zu den Zufällen der Geschichte. Zu einem eigenen militärischen Verband hatten die Führer der tschechoslowakischen Nationalbewegung Landsleute, die unter zarischer Herrschaft lebten, bereits 1914 zusammengefasst. Als Russland aus dem Krieg ausschied, beschlossen sie, ihre Bataillone auf französischer Seite an den letzten Weltkriegskämpfen teilnehmen zu lassen, um ihr Ziel, die Gründung eines eigenen Staates aus der Konkursmasse der Habsburger Monarchie, zu befördern. Da der Weg nach Westen und Norden versperrt war, sollte die Legion die lange Reise über Vladivostok rund um den Globus antreten. Trotz Zustimmung der Sowjetregierung zu diesem Plan häuften sich die Zwischenfälle. Mitte Mai gab ein Handgemenge auf einer entlegenen Bahnstation im Ural dem Verteidigungskommissar Trotzki Anlass, die Entwaffnung der Legion zu befehlen. Die Tschechen besetzten daraufhin kurzerhand die Städte, in denen sie sich gerade befanden. Bemerkenswert war die Leichtigkeit, mit der ihnen das gelang. Etwa 20.000 Mann reichten aus, um in wenigen Wochen die mittlere Wolgaregion, den südlichen Ural (Ufa), Südwestsibirien und die gesamte Bahntrasse bis Vladivostok mit der einzigen Ausnahme von Irkutsk zu erobern.
Die Sozialrevolutionäre an der Wolga hatten auf solche Hilfe gewartet. Sie luden die Tschechen ein, Samara nicht auszusparen. Am Tage des Einmarsches (8. Juni) trat hier das Komitee der Mitglieder der Konstituierenden Versammlung (Komuč) an die Öffentlichkeit, das die bolschewistische Regierung für abgesetzt erklärte und sich selber provisorisch die rechtmäßige Macht zuerkannte. Die anschließende Eroberung von Simbirsk, Lenins Geburtsstadt, und Kazan’ verschaffte ihm ein Herrschaftsgebiet, das die Rede von einem Gegenstaat rechtfertigte. Überdies konnte das Komitee seinen Anspruch auch politisch abstützen. Bis August fanden immerhin 101 gewählte Deputierte den Weg nach Samara. Angesichts dessen mochte das noch erdrückendere Übergewicht der Sozialrevolutionäre in dieser Versammlung und dem Komitee als unvermeidbarer Tribut an die Gesamtlage gelten. Die Kadetten misstrauten dennoch dem ganzen Unternehmen. Sie setzten stattdessen auf die Kosakengeneräle am Don, denen Miljukov, Struve und andere prominente Parteimitglieder beratend zur Seite standen. Auch das menschewistische ZK wahrte Distanz. Als sein Emissär, der sich in Samara nur umschauen sollte, den Posten eines Arbeitsministers übernahm, schloss es ihn aus seinen Reihen aus. Hinzu kam kleinlicher Zank mit anderen Gegenregierungen, die sich unter tschechoslowakischem Schutz in Omsk und Tomsk gebildet hatten. Hier gaben Generäle und regionale politische Gruppierungen den Ton an, eher den Kadetten verbunden und überwiegend konservativ orientiert. Früh wurde sichtbar, dass es den Gegnern des Sowjetregimes nach wie vor an Einigkeit fehlte.
Nicht genug damit, fiel es der Wolga-Regierung schwer, die aktive Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. Wohl sprang sie über ihren Schatten und bestätigte die unwiderrufliche Überführung allen Landes in Gemeineigentum. Aber sie fand damit wenig Gehör, weil sich aus der Bestätigung dessen, was längst geschehen war, kein zweites Mal politisches Kapital schlagen ließ. Noch schwerer tat sie sich in den Städten. Hier war sie nicht bereit, die populärste Maßnahme der Bolschewiki anzuerkennen. Statt den Fabrikräten freie Hand zu geben, hob sie die Nationalisierungsdekrete auf und stellte die alten Eigentumsverhältnisse wieder her – um die Wirtschaft zu neuem Leben zu erwecken, aber auch um sich die Hilfe der Unternehmer und Kaufleute zu sichern. Kommunalwahlen im August präsentierten ihr die Quittung: Sie stärkten die Bolschewiki.
Da auch die Tschechoslowakische Legion nach dreimonatigen Kämpfen den Wunsch erkennen ließ, sich aus den innerrussischen Angelegenheiten zurückzuziehen, schien eine Einigung der Opposition dringend geboten. Es bedurfte freilich des Nachdrucks der ausländischen Interventionsmächte, um im September (8.–23.) eine Allrussische Staatskonferenz aus etwa 170 Vertretern verschiedener Parteien und Organisationen in Ufa zusammenzubringen. Im Mittelpunkt der Debatte stand ein Streit über die Regierung des prospektiven Gegenstaates. Anhänger der Konstituierenden Versammlung und Befürworter einer Militärdiktatur einigten sich schließlich auf die Bildung eines Direktoriums, dem außer konservativen Sozialrevolutionären (Avksent’ev und V. M. Zenzinov) auch ein General und der Premierminister der Regierung von Omsk angehören sollten. Die Konferenz feierte ihren Erfolg jedoch zu früh. Noch während sie tagte, vollbrachte Trotzki eine erste Großtat in seinem neuen Amt des Verteidigungskommissars, als er dem geschlagenen Häuflein von Rotarmisten in einem Städtchen an der Mittelwolga, nicht ohne den Nachdruck erbarmungsloser Exekutionen bei «Feigheit», neue Moral einflößte («Wunder von Svijažsk»). Mitte September wurden Kazan’ und Simbirsk zurückerobert, am 7. Oktober fiel Samara. Unterdessen zerbrach auch die Einheitsfront von Ufa. Als die Tschechen ihre Hilfe versagten, war das Schicksal der letzten zivilen Gegenregierung entschieden. Am 18. November wurde sie verhaftet und Admiral A. V. Kolčak, Befehlshaber von Kosaken- und Freiwilligenverbänden, in Omsk zum «obersten Herrscher» ausgerufen. Als einzig verbleibende bedeutende Partei machten die Kadetten aus ihrer Freude kein Hehl: Sie sahen keine Belastung der russischen Zukunft darin, dass die antisowjetische Opposition fortan ausschließlich in den Händen höchst konservativer Generäle lag und damit auch die Errungenschaften des Februar gefährdet waren.
Die zweite Kriegsphase, das Jahr 1919, war die entscheidende. An drei Fronten gingen die weißen Truppen zum Angriff über. Sie taten das mit Unterstützung der Alliierten, die nun offener Partei nahmen. Im August 1918 waren britische und amerikanische Soldaten in Murmansk und Vladivostok gelandet. Obwohl sie selber kaum kämpften und nie nach Zentralrussland vorzudringen versuchten, waren Geld und Kriegsgerät, das sie verteilten, unentbehrlich. Alle drei Vorstöße blieben jedoch weit vor ihrem Ziel stecken. Damit war der Fortbestand des Sowjetregimes an dieser Front gesichert.
Im Osten verfügte Kolčak über zwei Kosakenarmeen, Reste der Verbände des Komuč und weitere Freiwilligenkorps, insgesamt über mehr als 130.000 Mann. Er musste dennoch schnell erkennen, dass er das riesige Territorium ohne die besser ausgerüstete tschechoslowakische Legion nicht beherrschen konnte. Alle Bemühungen, sie bei der Stange zu halten, schlugen fehl. Dessen ungeachtet begannen im Dezember die Vorbereitungen für die große Frühjahrsoffensive, die den Marsch auf Moskau einleiten sollte. Dass man im Dezember die größte Stadt im Ural, Perm’, einzunehmen vermochte, konnte trotz hoher Verluste als gutes Omen gedeutet werden. Auch die gemeinsame Attacke begann im März 1919 vielversprechend. Bald wurde jedoch klar, dass die Rote Armee nach Plan aus dem Wolgabecken zurückwich. Als sie im Juni zur Gegenoffensive antrat, brach Kolčaks Streitmacht, zumal wichtige Einheiten zum Gegner desertierten, binnen kurzem zusammen.
Im Süden Russlands veränderte die deutsche Novemberrevolution die Lage grundlegend. Sie nahm sowohl der Regierung Skoropadskyjs als auch den weißen Militärregimen am Don, auf der Krim und im Vorland des Kaukasus (Kubangebiet) die entscheidende Rückendeckung. In der Ukraine begann ein Jahr der Anarchie und noch heftigerer Kämpfe, nunmehr zwischen den nationalrevolutionären Kräften, angeführt vor allem von S. V. Petljura, und dem Sowjetregime; dieses konnte sich dabei auf die Hilfe der ukrainischen Kommunisten und die Sowjets einiger größerer Städte stützen. Der Einmarsch der Roten Armee in Kiev Mitte Dezember 1919 brachte das größte Opfer, das der Friede von Brest-Litovsk verlangt hatte, endgültig unter großrussisch-bolschewistische Oberhoheit zurück.
Während die Ukraine an der Nahtstelle zu Kernrussland um ihre Selbständigkeit rang, bildeten die Siedlungsgebiete der Don- und Kubankosaken weiterhin den günstigsten Raum für die Sammlung der antisowjetischen Streitmacht. Auch die Spitzen des Generalstabs hatten sich deshalb nach der bolschewistischen Eroberung des Hauptquartiers von Mogilev hierher geflüchtet. Zu Beginn des Bürgerkrieges konkurrierten dabei zwei Armeen und Lager miteinander: die Donkosaken und die Freiwilligenverbände, deren Führung nach dem frühen Tod von Alekseev und Kornilov General A. I. Denikin übernahm. Als britische und französische Kontingente die deutschen Protektoren Ende November 1918 ersetzten, gewann die Freiwilligenarmee Oberhand, die größere Distanz zum preußisch-deutschen Heer gehalten hatte. Im Mai 1919 standen 64.000 Mann zur Offensive bereit. Auch wenn diese Zahl nicht überwältigend war, konnte Denikin den Feldzug im Vollgefühl der Stärke planen. Die Briten leisteten großzügige materielle Hilfe; außer Panzern stellten sie sogar Flugzeuge.
Der Vorstoß nach Norden sollte aus drei Richtungen, von Odessa im Westen bis zum Nordkaukasus im Osten, gleichzeitig erfolgen. Die kaukasische Armee unter General P. N. von Wrangel (Vrangel’) konnte zwar Ende Juni einen eindrucksvollen Sieg feiern, als Caricyn (später Stalingrad, heute Volgograd) nach hartem Kampf fiel. Aber die beabsichtigte Vereinigung mit den Truppen Kolčaks an der mittleren Wolga gelang nicht. Umso größere Erfolge verbuchte die Freiwilligenarmee, die auf direktem Wege durch die Ukraine nach Zentralrussland marschieren sollte. Anfang Oktober fiel Voronež, bald darauf Orel. Denikin widerstand in dieser Lage der Versuchung nicht, nach der schnellen Eroberung Moskaus zu greifen, und bewegte sich auf Tula zu. Der Gewaltstreich erwies sich jedoch als fatal. Da auch die westliche Armee nicht mithalten konnte, blieb Denikin ohne Flankenschutz. Ende Oktober vollzog sich die entscheidende Wende: Der Vormarsch kam zum Stehen, ein überstürzter Rückzug begann. Kritik am Oberbefehlshaber wurde laut, dessen Autorität dauerhaften Schaden nahm. Der psychologische Effekt dieser Peripetie wurde durch die Ereignisse im Norden verstärkt. Denn auch General N. N. Judenič verfehlte sein Ziel. Mit Unterstützung von estnischen, lettischen und litauischen Freiheitskämpfern unternahmen seine Truppen im Oktober 1919 einen Vorstoß nach Petrograd. Obwohl sie bis in einen Vorort gelangten, mussten sie unverrichteter Dinge umkehren. Auch hierbei griffen innerer Zwist, strategische Fehler und entschlossene, wenn auch späte Abwehr ineinander.
Die dritte Kriegsphase schließlich umfasste das Jahr 1920 und bescherte der Roten Armee einen triumphalen Sieg. Militärisch war der Kampf bereits im Vorjahr entschieden worden. Was nun folgte, glich einer Verfolgungsjagd der weißen Verbände, die sich zunehmend auflösten und nicht eben heldenhaft untergingen. Kolčak musste im Oktober Omsk räumen und begann einen langsamen und intrigenreichen Rückzug nach Fernost. Als er in Irkutsk ankam, standen tschechoslowakische Legionäre und Vertreter der von ihnen gestützten sozialrevolutionären Regierung bereit, um seinen Waggon zu umstellen. Er wurde am selben Tag hingerichtet, an dem der Oberkommandierende einen Waffenstillstand mit der Roten Armee in der Absicht schloss, seine Truppen in letzter Minute unversehrt aus Sibirien zu evakuieren. Im Süden musste Denikin Rostov und die Don-Linie freigeben. Nach einer abermaligen Niederlage im Kubangebiet stellte er sein Amt im April zur Verfügung. Mit englischer Hilfe unternahm sein Nachfolger Wrangel im Sommer von der Krim aus einen letzten hoffnungslosen Versuch, Terrain zurückzugewinnen. Als alliierte Schiffe die Reste der Freiwilligenarmee Mitte November evakuierten, war der Bürgerkrieg nicht nur im Süden zu Ende.[40]
Die Frage drängt sich auf, warum die antibolschewistischen Regierungen und weißen Armeen trotz massiver alliierter Hilfe nicht zu bestehen vermochten. Eine zentrale Ursache lag sicher in der militärischen Stärke des Gegners. Der schnelle Aufbau der Roten Arbeiter- und Bauernarmee gehört zu den größten Leistungen des jungen Regimes. Die Namensänderung bedeutete dabei mehr als einen Wechsel des Etiketts. Was im Laufe des Jahres 1918 Gestalt annahm, war etwas bewusst anderes als die Garden und Milizen der Revolutionszeit. Die Sowjetmacht zeigte in dieser Frage von Leben und Tod besonders früh ihre außerordentliche Lernfähigkeit, aber auch ihre bedenkenlose Bereitschaft, Grundsätze und Versprechen von gestern zu vergessen. Nach der Erfahrung der Wehrlosigkeit gegen das deutsche Heer schob sie die Idee der Französischen Revolution beiseite, eine neue, auf Gleichheit und Überzeugung statt auf Unterordnung und erpresstem Gehorsam beruhende Organisation der Staatsverteidigung zu schaffen. Vom Gedanken der Volksbewaffnung kehrte sie zur Armee alten Typs zurück. Gegen den Widerstand der Soldaten wurde bereits Ende März die Wahl der Offiziere, gewiss das Symbol der Revolution in der Armee, abgeschafft. Im April ersetzte eine neuerliche allgemeine Wehrpflicht die Freiwilligkeit des Beitritts zur Miliz. Feldgerichte gaben den Befehlen wieder den gehörigen Nachdruck. Trotzki schreckte dabei vor äußerster Grausamkeit nicht zurück. Als im kritischen Spätsommer an der mittleren Wolga bei Svijažsk selbst eine Einheit aus Petrograder Arbeitern meuterte, ließ er die befehlshabenden Offiziere und jeden zehnten Mann ohne Pardon erschießen.
Die Schöpfer der neuen Armee waren indes klug genug zu sehen, dass mit Zwang allein keine Loyalität zu sichern war. Zu den Säulen der neuen Struktur gehörte, von Trotzki vielfach theoretisch begründet, in gleichem Maße die «politische Arbeit» und Werbung im Hinterland. Mit der Motivierung der Soldaten und ‹Erläuterung› der Regierungsmaßnahmen wurden politische Kommissare betraut. Institutionell ein Produkt der Februarrevolution, wuchs ihnen eine neue Aufgabe von unschätzbarer Bedeutung zu. Denn auch die Rote Armee sah sich mit dem Problem der Desertion konfrontiert. Wie sehr die Bevölkerung der sozialen Revolution zujubeln mochte, sie wollte alles andere als einen weiteren Krieg. Wenn das Sowjetregime dieser Bedrohung im Gegensatz zur Provisorischen Regierung trotz hoher Fluchtquoten Herr wurde, so war das nicht zuletzt der effektiven Verknüpfung von drakonischen Strafen, politischer Agitation und Kontrolle zu verdanken. Schon das schiere Wachstum sprach für sich: Von 100.000 Mann im April 1918 wuchs die Rote Armee auf eine Million im Oktober, 1,5 Mio. im Mai 1919 und fünf Millionen 1920.
Freilich hätte die Macht der Zahl ohne qualifizierte Führung wenig genutzt. Gerade in dieser Hinsicht strafte das Regime alle früheren Beteuerungen Lügen. Es griff, wie in den Ministerien, auf die einzigen ausgebildeten Offiziere zurück, die zur Verfügung standen: die der zarischen Armee. Patriotische Appelle und materielle Anreize in Zeiten bitterster Not bewogen zwischen Juni 1918 und August 1920 etwa 48.000 ehemalige Offiziere und 215.000 Unteroffiziere zum Wiedereintritt in ihre einstigen Funktionen. Lenin selbst räumte später ein, dass die Rote Armee ohne sie nicht hätte entstehen und ohne die Expertise eines I. I. Vacetis oder S. S. Kamenev, beide für einige Zeit Oberbefehlshaber, nicht hätte siegen können. Dabei blieben viele Spitzenpositionen allerdings Generälen aus den eigenen Reihen vorbehalten. Nicht die geringste Voraussetzung für die Selbstbehauptung der Bolschewiki bestand in der unerwarteten Tatsache, dass sich unter ihnen einige Strategen von Rang fanden. M. V. Frunze, der den Südosten bis Turkestan eroberte, der junge M. N. Tuchačevskij, der Kolčak zurückwarf, der bald legendäre Kavalleriegeneral S. M. Budënnyj, der den Kosaken in ihrer ureigensten Kampfart den Schneid abkaufte – sie bewiesen militärische Qualitäten, die denen der erfahrenen Generalstabsoffiziere auf gegnerischer Seite nicht nachstanden. Über allen schwebte schließlich der rastlose Trotzki, allgegenwärtig, kraftvoll, ein begnadeter Inspirator und fähiger Organisator, dabei hart über die Grenzen des Menschlichen hinaus. Auch wenn man sich nicht vom Glorienschein blenden lässt, der sich bald um den Verteidigungskommissar bildete, bleibt seine Leistung außerordentlich. Der berühmte rot beflaggte Panzerzug, autark bis zur Druckerpresse, der ihn quer durch das Riesenreich trug, wurde zum suggestiven Symbol des Sieges.[41]
Dennoch entschied nicht die Leistung der Roten Armee allein über den Sieg. Geographische und strukturelle Faktoren begünstigten ihren Aufbau und verschafften ihr kaum wettzumachende Vorteile. Sie ergaben sich im Kern aus dem grundlegenden Tatbestand, dass die Bolschewiki über Zentralrussland herrschten und sich seiner überlegenen Ressourcen bedienen konnten. Der Großraum um Moskau und Petrograd war, von der Ukraine abgesehen, am dichtesten besiedelt. Hier konzentrierten sich, wie zerrüttet sie immer sein mochten, Industrie (einschließlich der Rüstungsproduktion), Handel und Gewerbe, hier liefen die Transportwege zusammen, hier breitete sich das größte Netz schiffbarer Wasserwege (Wolgabecken) aus, und hier befanden sich die alten Apparate der administrativ-politischen und militärischen Macht. Dagegen mussten sich die weißen Armeen und Regime spätestens nach dem Fall Samaras an die Peripherie des Reiches zurückziehen – in die dünn besiedelten Steppen am Don, Kuban, im Ural und nach Sibirien. Besonders im Süden operierten sie auf dem Territorium nichtrussischer Völker, auf deren Hilfe sie kaum rechnen konnten. Was sie an Industrieanlagen im Donecbecken und in Ekaterinburg (Sverdlovsk) vorfanden, war weitgehend zerstört. Die Weite des Raumes bot sicher auch strategische Vorteile, aber eher für einen langen Rückzug, nicht für den Vormarsch ins Zentrum.
Den Rest besorgten die politischen Fehler der weißen Regierungen. Die Kadetten im Kabinett Kolčaks taten nichts, um das «wilde Tier, das Volk genannt wird», so die Erkenntnis des rechten Parteiflügels, zu gewinnen. Sie annullierten, was nach bolschewistischer Maßnahme aussah, und errichteten ein inneres Regiment, das jeder Ordnung und Effizienz spottete. Im Süden arbeiteten sie als Berater der dortigen Machthaber eine Verfassung aus, die den Oberkommandierenden zugleich zum Regierungschef ernannte und das Kabinett auf konsultative Aufgaben beschränkte. Vollends fatal aber musste es sich auswirken, dass sie die Wiederherstellung des Reiches in den Grenzen von 1914 auf ihre Fahnen schrieben – und damit sämtliche nationale Befreiungsbewegungen gegen sich aufbrachten. Im Laufe des Bürgerkrieges wurde immer deutlicher – was anfangs durchaus anders war –, dass die bewaffneten Gegner des Oktober letztlich für Grundmerkmale der alten Ordnung standen. Die Stützen des Februarregimes, die eine «dritte Kraft» hatten bilden wollen, waren längst zwischen den Fronten zerrieben worden. Bei aller ‹roten› Gewalt im Innern, die völlig außer Frage steht, wollte aber kaum jemand, und erst recht nicht an der Peripherie, zum Russland des Adels und staatlicher Bürokratie, der Privilegien und des nationalistischen Zentralismus zurück.[42]
Keiner Erläuterung bedarf, dass die Selbstbehauptung des Sowjetregimes nicht nur eine Frage militärischer Überlegenheit war. Der Bürgerkrieg verlangte keine geringere Anspannung aller wirtschaftlichen, sozialen und administrativen Kräfte des Landes als der vorangegangene äußere Konflikt. Gegen jede Wahrscheinlichkeit bestanden die Bolschewiki letztlich auch diese Herausforderung. Der Sieg wurde jedoch teuer erkauft. Im Kampf auf Leben und Tod gingen die sozialen und politischen Freiräume verloren, die der Sturz der Autokratie und die zweite Revolution nach dem Oktober (nicht der Umsturz selbst) geschaffen hatten. Die Einsicht gewann Oberhand, dass basisdemokratische Experimente kein geeignetes Rezept seien, um das neue Regime vor dem Zusammenbruch zu bewahren. «Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht» hießen Organisation und Disziplin, «Rechnungsführung und Kontrolle» sowie allgemeine Effizienz. Lenin und Trotzki, die für solche Losungen seit März 1918 warben, gingen davon aus, dass sie nur durch «Einmannleitung», Heranziehung bürgerlicher Spezialisten, Lohndifferenzierung und die Nutzung der neuesten kapitalistischen Errungenschaften zu verwirklichen seien. Hinzu kamen immer sichtbarer die Propagierung und Anwendung von Gewalt nicht nur gegen erklärte Feinde, sondern auch gegen solche, die nur ihre letzten Habseligkeiten zu retten suchten oder mit bestimmten Maßnahmen nicht einverstanden waren. Auch dieser schroffe Kurswechsel blieb in der Partei nicht unbestritten. Die sogenannten «linken Kommunisten» verwahrten sich gegen die Gleichsetzung von Mitbestimmung und Anarchie. Sie leugneten die unterstellte Alternative zwischen Zentralismus und Untergang und warnten vor der Gefahr einer dauerhaften Deformation der angestrebten sozialistischen Gesellschaft. Das Dilemma der Revolution bestand darin, dass beide Seiten gute Argumente für sich hatten – aber der harte Zwang der Not, den Lenin und Trotzki ins Feld führen konnten, mächtiger war als Befürchtungen für die Zukunft.[43]
Was im Sommer 1918 Gestalt annahm und bis zum Frühjahr 1920 andauerte, war indes nicht die anvisierte Verbindung aus Sowjetmacht und «letztem Wort» der kapitalistischen Technik, sondern eine neue Mangelwirtschaft. Deren spätere theoretische Überhöhung zur «Ökonomik der Transformationsperiode» (Bucharin) hat die Frage aufgeworfen, ob der sogenannte Kriegskommunismus bereits als Versuch zu verstehen war, eine Wirtschaftsordnung neuen Typs zu schaffen, oder nur als Ergebnis erzwungener Improvisation in einer Zeit allgegenwärtiger Not. Mittlerweile ist die Einsicht gewachsen, dass die Alternative ins Leere geht. Ohne Zweifel bildete sich eine ökonomische Organisation heraus, die vom ideologischen Anspruch der bolschewistischen Revolution geprägt war. Wesentliche Prinzipien ergaben sich aus dem Programm, Kapitalismus und bürgerliche Klassengesellschaft hinter sich zu lassen. Auf der anderen Seite erbte das neue Regime die alten Probleme. Die Versorgungslage wurde von Tag zu Tag prekärer, die Inflation grassierte unvermindert, die industrielle Produktion stürzte weiter ins Bodenlose, die Kluft zwischen Stadt und Land vertiefte sich, weil das Dorf mit der Verteilung des Revolutionsgewinns beschäftigt war, das Wandergewerbe zusammenbrach und der Mangel an Industriewaren zu verstärkter Autarkie nötigte. Das Regime fand für diese Probleme teils neue, teils ähnliche Lösungen wie die Autokratie und die Provisorische Regierung. Kriegswirtschaft blieb Kriegswirtschaft mit den ihr eigenen Zwängen, aber im Rahmen anderer Vorgaben sowohl des sozioökonomischen als auch des politischen Grundgefüges.[44]
Den Boden für die neue Wirtschaftsorganisation bereitete die weiter vorangetriebene Nationalisierung. Was nach dem Oktober als spontane Übernahme durch Fabrikkomitees und örtliche Sowjets begann, wandelte sich im Frühjahr zum Instrument zentraler Wirtschaftslenkung. Schon hier fanden Absicht und Notwendigkeit zusammen. Den Realisten in der Parteiführung war klar, dass die unkoordinierte Selbsthilfe der Belegschaften beendet werden musste. Zugleich kamen die Überlegungen über die ‹richtige› Wirtschaftsstruktur zu einer Entscheidung. Lenins «staatskapitalistische» Gedankenspiele, die Idee einer Kooperation zwischen privater Großindustrie und sozialistischem Staat, stießen auf anhaltenden Widerstand. Stattdessen votierten vor allem die örtlichen Volkswirtschaftsräte – seit Dezember nach dem Vorbild des VSNCH gebildet – für die Fortsetzung der ‹antikapitalistischen› Offensive. Ihr erster allrussischer Kongress hatte Ende Mai maßgeblichen Anteil daran, dass die Nationalisierung endgültig beschlossen wurde. Mit der Verstaatlichung der gesamten Großindustrie per Dekret vom 28. Juni 1918 siegte der revolutionäre Impuls über pragmatische Mäßigung. Die Praxis ging im folgenden Jahr über die gesetzlichen Vorgaben noch hinaus. Auch mittlere Betriebe wurden in die Regie der Zentral- und Hauptverwaltungen übernommen, die das Gerüst einer Planwirtschaft errichteten und die Marktkräfte zu ersetzen begannen.
Der erste Schritt zog angesichts von ungelösten Problemen der Finanzierung und Rohstoffzuteilung weitere nach sich. Anfang November 1920 meldete der VSNCH 4547 (= 65,7 % aller berücksichtigten) Unternehmen mit einer Million Beschäftigten als nationalisiert. Dennoch blieben erhebliche Lücken in der Zuständigkeit der staatlichen Stellen. Eine Mischwirtschaft war entstanden, die der neuen Wirtschaftsbürokratie wachsende Probleme bereitete und in Verbindung mit bitterem Mangel auch am Notwendigsten dem Schwarzmarkt Tür und Tor öffnete. Um dem entgegenzuwirken und zugleich die staatliche Kontrolle über Rohstoffe und Konsumgüter zu erweitern, wurde am 29. November 1920 die Enteignung aller Betriebe mit mehr als zehn Lohnarbeitern verfügt. Ökonomisch bewirkte die Maßnahme wenig. Zwei Drittel aller registrierten Betriebe (185.000 von 278.000 nach einer Erhebung von 1920) beschäftigten überhaupt keine Lohnarbeiter und blieben zusammen mit den übrigen Kleinbetrieben in privater Hand; der illegale Tauschhandel blühte weiter. Politisch aber war eine Grundentscheidung getroffen, die auch die NĖP nicht aufhob.[45]
Als unverwechselbares Kennzeichen des «Kriegskommunismus» hat sich schon dem zeitgenössischen Bewusstsein jedoch eine andere Maßnahme eingeprägt: die Zwangseintreibung des Getreides auf den Dörfern. An sich war die Zuflucht zur Versorgungsdiktatur nicht neu. Indem sie per Dekret vom 13. Mai 1918 alles Getreide zum Staatsmonopol erklärten, wiederholten die Bolschewiki nur, was bereits die Provisorische Regierung getan hatte. Dennoch wurde schnell spürbar, dass ein anderer politischer Wille am Werk war. Die Sowjetregierung begnügte sich nicht mit Appellen, sondern drohte mit Gewalt und schuf im Juni 1918 Institutionen, die helfen sollten, das letzte Korn auf den Tennen ausfindig zu machen. Zutritt zu diesen «Komitees der Dorfarmut» hatten alle Gemeindemitglieder, die nicht zu den Wohlhabenderen zählten oder landlose Tagelöhner und Knechte waren. Sie erhielten den Auftrag, die im Dorf benötigten Industriewaren im Tausch gegen Getreide zu verteilen. Um das nötige Engagement sicherzustellen, überließ ihnen der Staat einen bestimmten Anteil am aufgebrachten Getreide. Der Zweck heiligte die Denunziation: Soziale Spannungen, Neid, Gier und nicht zuletzt schiere Not wurden zu Instrumenten der Nahrungsmittelbeschaffung erhoben. Es war ein weiterer Beleg für die Festigkeit der Dorfgemeinschaft, dass die Rechnung nicht aufging. Der Klassenkampf erwies sich als untaugliches Mittel zum Verständnis der dörflichen Sozialbeziehungen. Bereits am Jahresende wurden die Komitees in den meisten Gouvernements wieder aufgelöst.[46]
Umso stärker wuchs die Neigung, die Versorgung der hungernden Städte mit Gewalt zu verbessern. Dabei sind drei Stufen zu unterscheiden. Bereits das Maidekret verlieh dem zuständigen Kommissariat außerordentliche Vollmachten. Im Kampf gegen «gierige Kulaken» gewährte man ihm auch das Recht zum Einsatz «bewaffneter Verbände im Falle des Widerstandes» gegen die Beschlagnahme von Getreide. Noch im Laufe des Sommers wurden zuverlässige Parteigänger, vorwiegend Arbeiter aus Petrograd, zu eigenen Detachements zusammengestellt. Unter Mitwirkung der Militärbehörden bildete sich eine separate «Versorgungsarmee», die mit erheblichem Personaleinsatz (November 1918 ca. 29.000, Oktober 1919 über 45.000 Mann) eine weitere Front des inneren Krieges eröffnete: die zwischen Stadt und Land, zwischen Konsumenten und Produzenten (nicht nur) von Getreide. An die Stelle attraktiver Abnahmepreise traten Bajonette, Requisition ersetzte den Markt. Der trotz allem enttäuschende Ertrag gab Anlass zu weiterer Verschärfung. Im Januar 1919 ging das Sowjetregime dazu über, Ablieferungsquoten pro Gouvernement auf der Grundlage grober Schätzungen festzusetzen (prodrazverstka). Formal hielt man bei der Eintreibung zwar an der Fiktion eines Kaufs fest; nur fehlten die Waren, die das Dorf für die Billets hätte erwerben können. Die Rede vom «nichtäquivalenten Tausch» kleidete in verharmlosende Worte, was für die Bauern nicht nur Erpressung und Raub, sondern Gräuel und Mord war.[47]
Der gewaltsame Zugriff auf die Nahrungsmittel bei den Produzenten fand seine Ergänzung in ihrer kostenlosen Verteilung an die städtischen Verbraucher. Das zuständige Kommissariat (für Versorgung) und der Oberste Volkswirtschaftsrat begannen, den gesamten Warenverkehr zwischen Stadt und Land zu regulieren. Auch hier griffen Notlagen, der Zwang zur Anpassung an bereits getroffene Maßnahmen und bewusstes Hinsteuern auf eine andere Wirtschaftsordnung ineinander. Als die Bolschewiki über die Organisation der Versorgung nachzudenken begannen, verfügten sie über keinen fertigen Plan zur Beseitigung des Marktes. Aus ihrem marxistischen Credo leiteten sie aber die vorrangige Aufgabe ab, den freien Warenverkehr mit Hilfe der verstaatlichten Industrie einzuschränken. Als Mittel bot sich an, durch fixierte Industrie- und Getreidepreise den Austausch zwischen Stadt und Land zentral zu steuern. Dabei ergab sich bald die Notwendigkeit, die Kontrolle über die Warenverteilung zu erweitern. Dekrete vom November 1918 und August 1919 erklärten fast alle Verbrauchsgüter und Rohstoffe zum Staatsmonopol. Die damit vollzogene Nationalisierung des Handels markierte einen weiteren Schritt des «Kriegskommunismus», der nur vorübergehend wieder rückgängig gemacht wurde.[48]
Von hier aus war der Weg nicht weit zu einer Wirtschaftsform, die auf das Symbol des Kapitalismus und der Herrschaft vermeintlich willkürlicher Marktkräfte über die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen, auf das Geld selbst, verzichtete. Wenn der Staat die Produktion regulierte und alle wichtigen Bedarfsgüter verteilte, bedurfte es keines Wertzeichens mehr, das diesen Tausch regulierte. Konsumenten und Produzenten erhielten, was vorhanden war; Kauf und Verkauf entfielen. Freilich stand auch bei dieser Entwicklung die schlichte Macht des ‹Faktischen› Pate. Angesichts der zerrütteten Wirtschaft und Verwaltung wussten die neuen Regenten zunächst keinen anderen Rat, als die Staatsausgaben durch die Beschleunigung der Notenpresse zu decken. Sie vergrößerten die Menge des umlaufenden Geldes zwischen 1917 und 1921 auf mehr als das Hundertfache. Zugleich kletterte die Inflation weiter in schwindelnde Höhen: in Moskau bei Nahrungsmitteln 1918/19 um 1564 %, 1919/20 um 1312 %, 1920/21 um 668,7 %, bei Verbrauchsgütern nicht langsamer. Folgerichtig drängten die Gewerkschaften darauf, den Lohn in natura auszuzahlen. Trotz erheblicher Skepsis der Planungsinstanzen, die an der Übertragbarkeit von Brot und Grütze in gesamtwirtschaftliche Rechengrößen zweifelten, setzten sie sich seit 1919 mehr und mehr durch. Bei kommunalen Dienstleistungen deckten die Einnahmen nur noch einen Bruchteil der Kosten, so dass der Entschluss nahelag, Gas, Wasser, Strom und Konsumgüter gratis abzugeben (seit Januar 1921). Die freie Benutzung von Post und Telegraph sowie der Wegfall von Mietzahlungen durch die weitere Enteignung privater Wohnungen vollendeten schließlich den Übergang zu dem, was man euphemistisch «proletarische Naturalwirtschaft» nannte. Auch diese Entwicklung war jedoch nicht von Anfang an beabsichtigt. Die bolschewistischen Experten ließen dem Geldwertverfall keinen freien Lauf. Vielmehr ergab er sich als Resultat der tiefen Krise des gesamten Finanzwesens. Dabei spielte die überstürzte Nationalisierung der Banken vom Dezember 1917, die mehr Probleme schuf, als sie löste, offenbar eine Schlüsselrolle. Erst als prodrazverstka und Inflation ohnehin zur Rückkehr in die ökonomische Steinzeit zwangen, wurde die Not zur Tugend des antizipierten Kommunismus idealisiert.
Bleibt die Frage nach den Ergebnissen. Soweit es Gewinner gab, waren sie unter den Schwarzhändlern zu suchen. Nicht das staatliche Verteilungssystem erhielt die Versorgung der Stadtbewohner bei aller schlimmen Not in diesen Jahren leidlich aufrecht. Als buchstäblich lebensrettend erwies sich vielmehr der emsige Fleiß unzähliger «Sackmänner», die alles, was an Essbarem entbehrlich schien, in die Ballungszentren trugen und gegen Industriewaren oder Wertgegenstände tauschten. Manch bürgerliches Silber verteilte sich in diesen Jahren über das Land. Man hat geschätzt, dass dieser illegale Markt 65 bis 70 % der Nahrungsmittel bereitstellte. Mit gutem Grund hat die Staatsmacht nie ernsthaft versucht, ihn zu zerschlagen – sie brauchte ihn und die ‹Mittelbauern›, die ihn im Wesentlichen speisten. Umso grelleres Licht fällt auf die Leiden der armen Bauern, die nichts abzugeben hatten. Sie mussten wieder einmal die größten Opfer bringen. Dabei stand ihnen, da die städtischen Detachements auch das Saatgut raubten, das Schlimmste noch bevor: die wohl verheerendste Hungersnot, die das Reich seit Menschengedenken erlebt hatte, im Winter und Frühjahr 1921/22.[49]
Dieser Umgang mit dem Dorf blieb nicht ohne politische Folgen. Während der Bürgerkrieg tobte und die feindlichen Armeen ihre blutigen Kämpfe austrugen, blieb es bei allem Aufbegehren gegen den Raub des Getreides ruhig. Sicher trug ein Übermaß an Gewalt und Terror dazu bei. Aber die Bauern hatten auch wenig Grund, sich auf die Seite der Gegner des Oktober zu schlagen, die ihren kostbarsten Revolutionsgewinn bedrohten: das Adelsland. «So lange sie die Weißen fürchteten, folgten sie, mit schleppenden Füßen» der Marschroute des Sowjetregimes. Die Unzufriedenheit wuchs jedoch in dem Maße, wie sich der Kampflärm legte. Mit guten Argumenten ist die Zeitspanne vom Frühjahr 1920 bis zum Frühjahr 1921 als weitere Phase des Bürgerkriegs und als Jahr der «Grünen» bezeichnet worden. Am heftigsten brach sich der Aufruhr im Sommer 1920 im Gouvernement Tambov Bahn, als der Staat abermals seinen Anteil an der Ernte verlangte. Bis zu 20.000 Bauern leisteten bewaffneten Widerstand. Ihre Forderungen nach Einberufung der Konstituierenden Versammlung, nach Wiederherstellung der alten Wirtschaftsform, aber auch nach Sozialisierung des Landes und der Rückkehr zu den Prinzipien des Oktober (!) trugen unzweideutig die Handschrift der Sozialrevolutionäre. Ähnliche Erhebungen, die vielfach nach altem Muster von der obščina getragen wurden, bedrohten die Sowjetmacht in anderen Gouvernements der Ukraine, der mittleren und unteren Wolga, am Don, im kaukasischen Vorland und in Südsibirien – fast die gesamte ‹Kornkammer› des bolschewistischen Herrschaftsgebiets verwandelte sich in eine «riesige Vendée». Das Regime antwortete – wie in Kronstadt – mit erbarmungsloser Härte und Massenerschießungen. Zugleich kam vor allem Lenin zu der Einsicht, dass Millionen von Bauern auf Dauer stärker sein würden. Es sprach abermals für sein politisches Gespür und seine Durchsetzungskraft gegen ‹kriegskommunistische› Idealisten, dass er die Weichen für den Übergang zur NĖP rechtzeitig, im Frühjahr 1921, stellte. So verwandelte er die erfolgreiche Gegenwehr der Bauern in einen Sieg des Regimes.[50]
Nicht weniger tief waren die Spuren, die der Existenzkampf ins staatliche und politische Leben eingrub. Die von Lenin und Trotzki verfochtenen Prinzipien ließen die verfassungsmäßige Grobstruktur von Herrschaft und Verwaltung zwar bestehen; aber sie veränderten die tatsächliche Machtverteilung grundlegend. Der Bürgerkrieg war die Zeit der außerordentlichen Organe, der Sondervollmachten und des Terrors. Ein Netz von Kommissionen, die reguläre Zuständigkeiten außer Kraft setzten und, wenn sie überhaupt praktischer Kontrolle unterlagen, nur gegenüber Vorgesetzten verantwortlich waren, überzog das Land.
Der erste Pfeiler dieser Notstandsverwaltung wurde schon im Frühjahr 1918 im Transportwesen errichtet, um den lebenswichtigen Schienenverkehr vor dem völligen Zusammenbruch zu bewahren. Im Mai konnte das Volkskommissariat für Versorgung mit der Einrichtung der Requisitionsabteilungen beginnen. Im Sommer ging das Volkskommissariat für Militärwesen in einem neu geschaffenen Revolutionären Militärrat auf, der ebenfalls diktatorische Befehlsgewalt in Anspruch nehmen konnte. Ende November trat ihm ein zentrales Gremium zur Koordination der Rüstungsindustrie und der gesamten Armeeversorgung in Gestalt des Rates für die Arbeiter- und Bauernverteidigung (später Rat für Arbeit und Verteidigung, STO) zur Seite, der dank eigener Gesetzgebungskompetenz zu einem inneren Kabinett wurde. Das umstrittenste, in vieler Hinsicht auch mächtigste dieser Sonderorgane aber war die Allrussische Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage, bekannt als Tscheka. Zur Abwehr des Streiks der Staats- und Bankangestellten ins Leben gerufen, trug ihr der SNK zunächst «die Verfolgung und Bestrafung» aller gegen die Sowjetmacht gerichteten Handlungen, die «Überstellung» der Verhafteten an die Revolutionstribunale sowie vorbereitende Maßnahmen zur Verhinderung weiterer staatsfeindlicher Aktionen auf. Trotz der bedenkenlosen Vereinfachung solcher Formulierungen spricht wenig dafür, dass mit diesem Beschluss bereits eine unkontrollierte Geheimpolizei gegen innere Feinde gleich welcher Art begründet wurde. Im ganzen übte die Tscheka im ersten halben Jahr ihrer Existenz noch keine eigenmächtige Sammeljustiz, auch wenn sie ihre Beschränkung auf bloße Ermittlung früh missachtete. Dazu trug der Umstand wesentlich bei, dass ihr im linkssozialrevolutionären Volkskommissar für Justiz ein Rivale erwuchs, der am Leitbild der Gesetz-, wenn auch nicht unbedingt der Rechtmäßigkeit festhielt. Allerdings ließ die Tscheka ihr Potential an Willkür und Macht früh erkennen. Mitte Januar 1918 billigte der SNK den Plan ihres Schöpfers Dzeržinskij, eigene bewaffnete Verbände aufzustellen. Wenig später begann sie, Dependancen in der Provinz einzurichten. Entsprechend schnell wuchs ihr Personal – von zwei Dutzend Mitarbeitern Ende Dezember auf etwa 1000 im Juni, als sie das Innenkommissariat bereits an Größe übertraf.[51]
Die eigentliche Wende brachte indes der sog. Aufstand Linker Sozialrevolutionäre. Im Frühsommer hatte der beginnende Getreidekrieg dem Unmut der einstigen Partner über den Brester Frieden weitere Nahrung gegeben. Als bolschewistische Redner auf dem fünften Allrussischen Sowjetkongress Anfang Juli 1918 jegliche Konzessionen ablehnten, suchte die PLSR beim alten Rezept des «individuellen Terrors» Zuflucht. Der Schuss, der den deutschen Botschafter Graf Mirbach am 6. Juli tötete, sollte den schändlichen Pakt mit dem Reich annullieren und die eigene Regierung zu einem Kurswechsel zwingen. Vieles spricht dafür, dass die Linken Sozialrevolutionäre gar nicht mehr wollten. Sie hätten durchaus die Chance gehabt, nach der Macht zu greifen, aber sie trafen keine Anstalten dazu. Überdies haben die sofort einsetzenden Verhaftungen ein weiteres Attentat nicht verhindern können, das (in welcher Form auch immer) mit ihrem Wissen geplant wurde. Als Fannie Kaplan am 30. August auf Lenin selber schoss und ihn schwer verwundete, hätte sie um ein Haar weit mehr verändert als nur die deutsch-sowjetischen Beziehungen.[52]
Beide Ereignisse müssen im Zusammenhang mit dem Gegenregime in Samara gesehen werden. Was sie gemeinsam vor diesem Hintergrund auslösten, war der erbarmungslose Feldzug gegen die inneren Feinde und alle, die als solche galten. Der sog. Juliputsch gab Anlass zu einer gründlichen Reorganisation und Vergrößerung der Tscheka. Im August unterstanden der Moskauer Zentrale an der Lubljanka Abteilungen in 38 Gouvernements und 75 Kreisen. Bereits zu dieser Zeit erweiterte sie ihre Kompetenzen willkürlich zum Exekutionsrecht. Die carte blanche zur ungehemmten Selbstjustiz aber stellte ihr der SNK erst nach den Attentaten des August aus. Das Dekret «Über den roten Terror» vom 5. September kündigte dem Klassenfeind und allen weißgardistischen Umtrieben gnadenlose Vergeltung an. Fortan interessierte nicht mehr der Einzelfall, der politische Mord wurde pauschaliert. Alles spricht dafür, dass die Wirklichkeit der berüchtigten Formulierung des hohen «Tschekisten» M. Ja. Lacis an Brutalität nicht nachstand: seine Organisation führe «keinen Krieg gegen Individuen», sie lösche die «Bourgeoisie als Klasse» aus.
Im Dienste dieser Repressionsmaschinerie standen im Januar 1919 etwa 37.000, im Spätsommer 1921 gut 137.000 Mann – verteilt auf verschiedene Aufgabenbereiche, von der Schienenbewachung über die allgemeine innere Sicherung und die Aufsicht in Gefängnissen und Lagern bis zum Fronteinsatz, der in den genannten Zahlen noch nicht einmal berücksichtigt ist. Die Tscheka wurde zum Staat im Staate, den die Nachbarressorts mit wachsendem Argwohn betrachteten. Auf Initiative des Innen- und Justizkommissariats musste sie auch gewisse Einschränkungen ihrer Vollmachten zugunsten der regulären Gerichte hinnehmen. Das Innenressort erhielt sogar Sitz und Stimme in ihrem Führungskollektiv. Aber wirksame Barrieren gegen willkürliche Gewalt wurden nicht errichtet, zumal die Revolutionstribunale allem anderen als rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet waren. Die Schreckensbilanz suchte in der jüngeren russischen Geschichte ihresgleichen. Lacis selbst räumte Anfang 1920 ein, dass in den beiden vorangegangenen Jahren 13.900 Personen in Konzentrationslagern, 4100 in Arbeitslagern, 36.500 in Gefängnissen inhaftiert, 9600 als Geiseln genommen und 54.200 nach Abbüßung von Strafen wieder freigelassen worden seien. Diese Angaben sind mit Sicherheit ebenso untertrieben wie die 9641 (unter Einschluss des Jahres 1920: 12.733) konzedierten Hinrichtungen. Zuverlässige Zahlen haben sich bis heute nicht ermitteln lassen. Für den gesamten Zeitraum vom Dezember 1917 bis zum Februar 1922 hält die sachkundigste Schätzung 280.000 Opfer für wahrscheinlich, etwa je zur Hälfte durch Exekutionen und Maßnahmen zur Unterdrückung von Aufständen verursacht. Andere Schätzungen schwanken zwischen 50.000 und 300.000. In jedem Falle erreichte der rote Terror schon im Herbst 1918 ein Ausmaß, das auch in der Regierung Proteste hervorrief. Gegen Kamenev und Bucharin behielt die von Lenin und Trotzki geführte Mehrheit jedoch die Oberhand. Sie ordnete Menschlichkeit, Recht und Moral ohne Bedenken dem Machterhalt unter. Mit Lenin tat sie die Kritik an der Tscheka als «Spießergerede» ab. Was solchen Zynismus zu erklären hilft, war höchstens eines: dass die weißen Armeen ebenfalls grausame Vergeltung übten, wo sie Kollaborateure witterten. Insofern kann der Terror dieser Jahre nicht vom Kriegsgeschehen gelöst werden – à la guerre, comme à la guerre.[53]
Zur Gewalt im Bürgerkrieg gehört auch ein Geschehen, das erst nach dem Untergang der Sowjetunion aufgeklärt werden konnte und viel Aufsehen erregt hat: die Ermordung der Zarenfamilie in Ekaterinburg, wohin man sie von Tobol’sk, ihrem ersten Verbannungsort, im April 1918 gebracht hatte. Vom Tod des Zaren wusste man; die Information darüber war wenige Tage später bekannt gegeben worden und hatte deutlich weniger Reaktionen hervorgerufen als befürchtet. Die Monarchisten unter den «Weißen» konnten sich bestätigt fühlen, verzeichneten aber keinen nennenswerten Zulauf. Denn die Bauern, zu deren tradiertem Weltbild der religiös verehrte Zar gehörte, blieben erstaunlich passiv – ob aus dumpfer Erschöpfung oder verschlissener Loyalität, muss offen bleiben. Aufmerksamkeit hat die Untat deshalb nicht wegen ihrer Wirkung und historischen Bedeutung in diesem Sinne gefunden, sondern als Symbol für den Charakter des neuen Regimes. Nach allem, was seit 1989 ans Licht gekommen ist, wird man eine solche innere Verbindung nicht bestreiten können. Der Mord war nicht nur politisch sinnlos, weil zumindest dieser Zar kaum geeignet war, zur Integrationsfigur und Kraftquell des Widerstandes zu werden. Darüber hinaus war er unverhältnismäßig und unbegreiflich grausam. Es ist nicht erklärbar, warum eine ganze Familie – neben dem Zaren seine Frau, der bluterkranke Thronfolger, vier Töchter, der Hausarzt und drei Bedienstete – in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 in einem schaurigen Gemetzel auf engstem Raum von einem siebenköpfigen Exekutionskommando niedergeschossen und noch Lebende wie verendendes Vieh mit Bajonetten zu Tode gestochen wurden. Und auch der Umgang mit den Leichen war an entwürdigender Schändlichkeit kaum zu überbieten. Man fuhr sie auf einem Lastwagen in die umliegenden Wälder, um sie in einem aufgegebenen Bergwerksstollen zu vergraben. Da die Weiße Armee vorrückte und man fürchtete, die Opfer könnten entdeckt werden, grub man sie wieder aus, lud sie abermals auf einen Lastwagen, der aber im Morast stecken blieb und das neue Ziel nicht erreichte. Daraufhin verbrannte man die Leichen und verscharrte sie an Ort und Stelle. Erst 1989 wurden die Überreste entdeckt und identifiziert. Angesichts dieser Roheit klang der Hinweis auf die Verantwortlichkeit eines irregeleiteten Kommandanten der örtlichen Tscheka stets schal. Inzwischen darf er sogar als Lüge gelten. Neu entdeckte Quellen belegen, dass die Entscheidung über das Schicksal der Zarenfamilie an höchster Stelle fiel, wahrscheinlich Anfang Juli. Lenin selber gab den Befehl, Sverdlov wusste davon, und Trotzki notierte ihn zustimmend in seinem Tagebuch. Dies zwingt zumindest zu einem Schluss: Das Regime handelte von Anfang an ohne Not mit äußerster Brutalität. Auch unangemessene, durch keinen Zweck nachvollziehbare Gewalt war ihm nicht fremd. Feinde zu schonen, erschien ihm als falsche Sentimentalität. Darüber hinausgehende Deutungen, die Bolschewiki hätten ihre schwankende Gefolgschaft durch eine besonders schlimme Kollektivschuld fester an sich binden wollen, finden in den Ereignissen und Quellen keine Bestätigung. Sie bleiben Spekulation.[54]
Der Aufbau der Staatsverwaltung stärkte nicht nur den Rat der Volkskommissare, bei dem die Fäden nach wie vor zusammenliefen. Mit ihm einher ging der Aufstieg der bolschewistischen Partei. Auch wenn Regierungsbehörden und neue Wirtschaftsorgane im Bemühen um Effizienz zahlreiche «bürgerliche Spezialisten» einstellten, eröffnete die Zugehörigkeit zu ihr die attraktivsten Karrierechancen. Der Ausbruch des Bürgerkrieges gab dieser Entwicklung einen weiteren Schub. Als das VCIK die Mehrheits-Sozialrevolutionäre und -Menschewiki am 14. Juni 1918 ausschloss, avancierte die (im März so umbenannte) Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) endgültig zur Monopolpartei. Sie wurde zum Reservoir der Führungskräfte auch auf den unteren Rängen und wuchs zwangsläufig in staatliche Funktionen hinein. Die neue Rolle hatte ihre Nachteile. Die besten Kräfte der Partei verausgabten sich in den staatlichen, besonders den außerordentlichen Organen und der Roten Armee. Ein so riesiges Land im Griff zu halten und seine letzten Reserven zu mobilisieren, drohte ihre Kräfte auszuzehren. Sie schien im Staate aufzugehen und ihren Führungsanspruch nicht mehr einlösen zu können, wie Kritiker aus den eigenen Reihen monierten. Auf Dauer überwogen jedoch die Vorteile der ‹Verstaatlichung›. Nach dem Tode Sverdlovs im März 1919 passte sich die Partei auch organisatorisch an. Neben das größer gewordene ZK traten ein eigenes Sekretariat sowie ein Organisations- und ein Politbüro. Bezeichnend war der personelle Ausbau des Sekretariats. Sverdlov, der die Partei hausbacken wie einen Verein geführt hatte, war noch mit einer Kanzlei von 15 Mitarbeitern (Stand vom Januar 1919) ausgekommen. Sein Nachfolger befehligte im Februar 1920 schon eine Behörde von der Größe eines Ministeriums (602 Mitarbeiter), die innerhalb eines Jahres (bis Februar 1921) gut 42.000 Parteigenossen über das rasch wachsende Sowjetterritorium verteilte. Ohne die Mitwirkung der Partei wurde kein wichtiges Amt im Lande mehr besetzt.
Auswirkungen auf die Mitgliederschaft blieben nicht aus. Die Partei erlebte einen nie dagewesenen Andrang von Beitrittswilligen. Im Ergebnis belief sich die Zahl der eingeschriebenen Kommunisten zur Zeit des zehnten Parteitages im März 1921 auf 730.000, d.h. auf knapp das Dreieinhalbfache des Standes vom Herbst 1917. Der Zuwachs wurde begleitet von sozialen Veränderungen. Es verdient Beachtung, dass der Rückhalt der Bolschewiki unter den Arbeitern in den Kriegsjahren schwand. Die Umworbenen machten aus ihrer Enttäuschung kein Hehl. Hinzu kam eine der wichtigsten sozialen Folgen des zunehmenden Hungers in den Städten: die Flucht der Unterschichten aufs Land. Vor allem aus den Metropolen wanderten die Menschen scharenweise ab. Moskau verlor zwischen Mai 1917 und 1920 die Hälfte seiner zwei Millionen Einwohner. In Petrograd lebten 1920 sogar nur noch 700.000 von 2,5 Mio. Einwohnern im Revolutionsjahr. Beide Vorgänge, die Entfremdung und die Stadtflucht, summierten sich zu einem deutlichen Effekt: Der Anteil der Arbeiter an der gesamten Mitgliederschaft sank von 1917 bis 1921 von etwa 60 % auf 40 %, bei strengen Kriterien vermutlich sogar noch deutlich tiefer. Davon profitierten Schichten, die stärker als zuvor in die Partei drängten: Bauern in Armeeuniform und Personen, die bald unter den Sammelbegriff der Funktionäre fielen. Vor allem Letztere gaben der Partei ein neues Gesicht. Schon im Laufe des Jahres 1917 wurde ein Typus von Revolutionär sichtbar, der hauptberuflich in den Räten und verwandten Organisationen tätig war und dessen Existenz sich mit ihnen verband. Die Revolution brauchte Verwalter und einen eigenen Apparat. Die neuen Amtsträger sicherten das Überleben des Regimes im Innern und erwarben Macht. Vor allem sie halfen, die neuen Leitprinzipien von Zentralismus und Hierarchie im administrativen Alltag zu verankern. Ohne ihren Aufstieg ist der bedeutendste Wandel in der bolschewistischen Partei nicht zu verstehen: der endgültige Schwund demokratischer Prozeduren und die Verfestigung politischer Willensbildung aus faktisch unkontrollierter Machtfülle. Befehle Einzelner ersetzten kollegiale Konsensfindung und Abstimmungen. Die Partei nahm nicht nur einen staatlichen, sondern auch einen ‹bürokratischen› Charakter an.[55]
Die Leidtragenden dieser Entwicklung waren die Räte. Idee und Institutionen der direkten, proletarischen Demokratie blieben im Bürgerkrieg auf der Strecke. Sie wurden Opfer nicht allein des Notstands und der Auflösung ihres sozialen Fundaments. Wohl noch stärker fiel die Überzeugung Lenins, Trotzkis und der Mehrheit der Entscheidungsträger ins Gewicht, dass die Räte den außergewöhnlichen Aufgaben nicht gewachsen seien. Die Leichtigkeit, mit der die Regenten auf die Mitwirkung der gepriesenen, neu geschaffenen Organe verzichteten, ist ebenso bemerkenswert wie deren Mangel an Widerstand. Regierung und Gesetzgebung konzentrierten sich ausschließlich beim SNK (genauer sogar bei dessen Kern, dem ‹Kleinen SNK›) und beim (personell weitgehend identischen) Rat für Arbeiter- und Bauernverteidigung. Vollends kraft- und wirkungslos blieben die regionalen und lokalen Räte. Die exekutive Macht im Lande lag bei der Tscheka, den Organen der Versorgungsdiktatur und der Armee.
Gegen diese Missachtung der Verfassung regte sich jedoch bald Unmut. Er wurde auf dem achten Parteitag im März 1919 unüberhörbar und wuchs in dem Maße, wie die militärischen Erfolge andauerten. Das Ende des Bürgerkrieges schien auch die Chance zur Korrektur von Fehlentwicklungen zu eröffnen. Selbst die Rückkehr zu einem begrenzten innersozialistischen Meinungspluralismus schien nicht ausgeschlossen. An den Sowjetkongressen dieser Zeit nahmen nicht nur internationalistische Menschewiki, sondern auch einige Sozialrevolutionäre teil. Sie konnten sich auf wachsende Popularität unter den Arbeitern stützen, die seit dem Frühjahr 1919 wieder auf die Straße gingen. Worum es gehen musste, machte unter anderem Martov auf dem siebten Sowjetkongress im Dezember 1919 deutlich: das VCIK wirklich zu dem zu erheben, was es der Idee und Verfassung nach war – die oberste Exekutive und eigentliche Regierung des Landes. In der Tat erlebten die Räte eine Renaissance. Das VCIK suchte seine Chance. Seine erste Sitzung nach anderthalbjähriger Pause (seit Mitte Juli 1918) Anfang Februar 1920 war an sich schon ein symbolisches Ereignis. Zudem setzte sie inhaltliche Zeichen: Die Abschaffung der (wieder eingeführten) Todesstrafe richtete sich gegen die Allmacht der Tscheka; die Einrichtung der Arbeiter- und Bauernkontrolle sagte der Diktatur von Kommissionen und Behörden den Kampf an.[56]
Angesichts der engen Verflechtung von Räteführung und Partei versteht es sich von selbst, dass dem Vorstoß des Zentralen Exekutivkomitees ein neuerlicher Streit in den Reihen der Bolschewiki zugrunde lag. Die Kritik entzündete sich an verschiedenen Problemen und wurde von verschiedenen Gruppen vorgetragen. Die sogenannte Arbeiteropposition um Šljapnikov und Kollontaj sorgte sich um die soziale Identität der Partei. Sie forderte die Mehrheitsfraktion auf, den Bedürfnissen der Arbeiter wieder stärker Rechnung zu tragen und die städtischen Massen in die Organisation zurückzuführen. Die Demokratischen Zentralisten um N. Osinskij konzentrierten ihre Angriffe auf die Herrschaft der Parteizentrale, die den eigentlichen Anspruch der Sowjetmacht in sein Gegenteil verkehrt habe. Vor allem in einem Punkte stimmten beide Gruppen und manche der nachfolgenden oppositionellen Strömungen überein: dass die politische Freiheit auch der Arbeiter in Gefahr sei, ohne die der Sozialismus nicht leben könne.
Dieser Sorge verliehen mit ihren Mitteln auch die Matrosen von Kronstadt Nachdruck. Kein anderes Ereignis ist so sehr zum Symbol der Deformation des Sowjetregimes geworden wie der brutal niedergeschlagene Aufstand derjenigen, die wenige Jahre zuvor die Speerspitze der radikalen Revolution gebildet hatten. Seit langem von linkssozialrevolutionären und anarchistischen Ideen ebenso geprägt wie von bolschewistischen, hingen die Kronstädter Matrosen am Ideal autonomer und egalitärer Kommunen. Sie waren allzu bewusste und unabhängige Vorkämpfer für Gleichheit und Selbstbestimmung, als dass sie sich widerstandslos von Organen hätten entmündigen lassen, die dem Willen der Obrigkeit folgten, auch wenn sie sich Räte nannten. Was sie im Februar 1921 forderten, konnten auch die Arbeiter unterschreiben, die ihre Unzufriedenheit zur selben Zeit in Petrograd und Moskau massiver denn je seit den Revolutionstagen in die Öffentlichkeit trugen: unverzügliche Neuwahlen der Sowjets auf der Grundlage geheimer und gleicher Stimmabgabe, Rede- und Pressefreiheit für alle anarchistischen und linkssozialistischen Parteien, Freiheit der Gewerkschaften, Versammlungsfreiheit, gleiche Brotrationen für alle mit Ausnahme von Arbeitern in gesundheitsschädlichen Berufen und anderes mehr.[57]
So stand das Sowjetregime im Frühjahr 1921 am Scheideweg. Es durchlebte die schwerste innere Krise seit seinem Bestehen. Revolution und Bürgerkrieg hatten neun bis zehn Millionen Tote gefordert, viermal so viele wie der gesamte Weltkrieg. Etwa zwei Millionen Menschen, darunter ein erheblicher Teil der Elite von Besitz und Bildung, waren ins Ausland geflüchtet. Dem Dorf stand die schlimmste Hungerkatastrophe seit Jahrhunderten bevor. Die Industrieproduktion war auf 12 bis 16 % des Standes von 1912 geschrumpft.[58] Die bewaffnete Empörung der Bauern in Tambov und andernorts zwang zum Verzicht auf die Versorgungsdiktatur und setzte dem Experiment einer marktfreien Plan- und Verteilungswirtschaft vorerst ein Ende. Die Arbeiter klagten die Errungenschaften ein, um derentwillen sie den Oktoberumsturz mitgetragen hatten. In Partei und Staat wuchs der Widerstand gegen das autoritäre und terroristische Notstandsregime des Bürgerkriegs. Verschiedene Oppositionsgruppen forderten, was die Kronstädter Matrosen schließlich zur offenen Meuterei trieb: die Rückkehr zur Rätedemokratie. Es war ebenfalls eine unruhige, wenn auch keine revolutionäre Zeit, in der das Sowjetregime in seine zweite Phase trat. Nach dem Ende des Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention eröffnete sie alle Aussichten auf einen Neubeginn. Zugleich hatten sich die Lasten eher vergrößert als vermindert. Zum ökonomischen Ruin waren die Verwüstung des Landes und ungeheure Menschenverluste getreten. Kaum weniger Schatten warfen die Entstellung und Enttäuschung der Ideen und Hoffnungen des Oktober auf die Zukunft. Es musste sich zeigen, was stärker war, die Chance der Erneuerung oder die Macht des Bestehenden.