Am Anfang der neuen Ära stand vor allem eine Maßnahme: die Abschaffung von Getreiderequisitionen. An ihre Stelle trat am 21. März 1921 eine Naturalsteuer, die nicht mit Waffengewalt eingetrieben wurde. Die neue Abgabe war neueren Berechnungen zufolge nicht niedriger als die des Vorjahres, aber im Voraus fixiert und berechenbar. Der Zweck der Umwandlung lag auf der Hand: Den Bauern sollte ein Anreiz gegeben werden, wieder mehr zu produzieren, als sie selbst brauchten. Ihnen wurde zugesichert, den Überschuss auf den lokalen Märkten verkaufen zu können. Nicht nur die Versorgung der Städte mit Nahrungsmitteln sollte auf diese Weise verbessert werden. Darüber hinaus hoffte das Regime auf eine Wiederbelebung des gesamten Warenaustauschs zwischen Stadt und Land. Was der «Kriegskommunismus» im letzten Jahr gezielt zu beseitigen versucht hatte, wurde wieder zugelassen: der Motor und Inbegriff des Kapitalismus – der Markt. Lenin scheute sich nicht, die Kehrtwende offen einzugestehen. Man sei «zu weit gegangen auf dem Wege der Nationalisierung des Handels und der Industrie» und habe die Bedürfnisse der Bauernschaft sträflich vernachlässigt. Nun sei es an der Zeit, ein neues Signal zu setzen. Umgehend («noch heute abend») müsse «der ganzen Welt» mitgeteilt werden, dass der Parteitag die Ablieferungspflicht aufgehoben habe.

Die Eile war bezeichnend. Sie machte klar, dass der eigentliche Antrieb für die Maßnahme nicht ökonomischer, sondern politischer Natur war. Lenin sah deutlicher als andere, dass die Sowjetmacht selbst auf dem Spiele stand. In einem Lande, in dem die Bauernschaft eine so überwältigende Mehrheit bildete, konnte sich kein Regime behaupten, dem es nicht gelang, zumindest ihre wohlwollende Neutralität zu sichern. Schon das aber verlangte Konzessionen an den privaten Kleinbesitz, von dem die Masse der Bauern lebte. Weil man «Klassen … nicht betrügen» könne, gebiete es die revolutionär-marxistische Staatsräson, die Interessen der beiden wichtigsten zu versöhnen. Lenin fand damit zurück zur «revolutionären Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft», die schon nach dem Oktober verkündet worden war. Als «smyčka» (Zusammenschluss) wurde diese Formel zur Leitidee des neuen Staates am Beginn seines ‹friedlichen Aufbaus›. Um den Hammer legte sich nun auch in der realen Politik die Sichel. Zweifellos bezeichnete das Emblem die Essenz der NĖP recht genau.[1]

Freilich machte Lenin diese Zugeständnisse schweren Herzens. Ebenso wie der Mehrheit der Partei war ihm selber dieser begrenzte Kapitalismus, den man mit dem bäuerlichen Handel wieder zuließ, nicht geheuer. Als Gegenmittel empfahl er zum einen Genossenschaften als ideales Instrument zur Steuerung des Warenverkehrs und «besten Verteilungsapparat», den der Kapitalismus hinterlassen habe. Darüber hinaus meinten der Parteiführer und seine Gesinnungsfreunde aber den angeblichen Gefahren aus der Pandora-Büchse des freien Handels durch besondere Wachsamkeit der proletarischen Avantgarde vorbeugen zu müssen. Geschlossenheit und Disziplin wurden zum Gebot der Stunde. Nicht zufällig verabschiedete derselbe zehnte Parteitag, der die Naturalsteuer absegnete, auch das bald berüchtigte Fraktionsverbot. Der Weg von der Diktatur der Partei zur Diktatur über die Partei war geebnet.

Damit sind die beiden hauptsächlichen Streitfragen bezeichnet, die den zwanziger Jahren in der Sowjetunion das Gepräge gaben. Ökonomisch wurde um das Ausmaß der Konzessionen an die Privatwirtschaft gerungen. Diese Debatte konzentrierte sich auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit der Bauernschaft, der die Umwälzung des Jahres 1917 gegen die Absicht beider revolutionärer Regime faktisch zu mehr privat genutztem, von Eigentum kaum zu unterscheidendem Land verholfen hatte als je zuvor. Politisch setzte man sich über das Ausmaß an innerparteilicher Meinungsfreiheit und notwendiger zentraler Kontrolle auseinander. Beide Kontroversen waren nicht nur inhaltlich aufs engste miteinander verknüpft (wenngleich die Fronten nicht immer kongruent verliefen), sondern vor allem durch eine Gemeinsamkeit der Absicht: Das neue Regime suchte nach dem ‹richtigen Weg›. Auch wenn ‹abweichende› Voten dabei nicht mehr frei geäußert werden konnten, gelangten sie in der Regel an die innersowjetische und internationale Öffentlichkeit. In diesem Sinne konnte noch von einem begrenzten Meinungspluralismus die Rede sein, der dieser Periode retrospektiv eine gewisse Offenheit und ‹Liberalität› verlieh. Wie immer auch idealisiert, lag hierin ihre bleibende Attraktivität sowohl für künftige sowjetische Reformer (von Chruščev bis Gorbačev) als auch für die internationale Forschung. Der Grundsatzstreit der zwanziger Jahre schien zu bestätigen, dass nicht kommen musste, was kam. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gilt, dass sich keine Darstellung sinnvollerweise von dieser Perspektive wird lösen können – und sei es nur, weil sie ohne jene Ungleichmäßigkeit der sozioökonomischen Entwicklung (um den Begriff der Rückständigkeit zu vermeiden) nicht zu verstehen ist, die sich als allzu schwere Erblast der neuen Ordnung erweisen sollte.

Die «Arbeiteropposition», wie die Anhänger eines solchen Kurswechsels genannt wurden, legten ihre Vorstellungen unter anderem in «Thesen» für den zehnten Parteitag nieder. Im Kern liefen ihre Forderungen darauf hinaus, die gesamte Wirtschaftsleitung in die Hände der Gewerkschaften zu legen. Die Fabrikkomitees sollten wiederbelebt und in die einst verbrieften Rechte restituiert werden. Auf sie gründend, sollte sich eine Pyramide nächsthöherer Organe erheben, die sämtlich von den jeweils untergeordneten zu wählen waren. Dem Allrussischen Kongress und seinem Exekutivgremium, dem Zentralrat, an der Spitze sollte nicht nur die oberste Leitung der Einzelgewerkschaften zufallen, sondern auch die Koordination der Volkswirtschaft. In der Praxis hätten sie den VSNCh ersetzt. Die Arbeiteropposition meinte, mit diesem Rezept mehreren Übeln gleichzeitig das Wasser abgraben zu können: der «bürokratischen Methode» durch die «Wählbarkeit … aller Organe von unten nach oben» und der «Demoralisierung» der Arbeiter durch ihre wirkliche Beteiligung am Produktionsprozess. Sicher kamen darin, wie ihre Gegner meinten, syndikalistische Neigungen zum Vorschein. Zugleich offenbarten sie aber auch naives Vertrauen in das spontane Engagement der Arbeiter für eine Sache, die sie als ihre erkennen sollten. Es war der ursozialistische Glaube an die besondere Kraft des «Proletariats», der in ihrer Plattform am reinsten zutage trat. Nur der Arbeiter konnte einen Ausweg aus der tiefen Not des Staates weisen; man musste bloß seine produktiven Energien wecken, um ihn – dies ein Schlüsselsatz – «aus einem Anhängsel der toten Wirtschaftsmaschinerie zum bewussten Schöpfer des Kommunismus» zu machen. Im Übrigen trug die Gruppe ihren Namen auch unter soziologischem Aspekt nicht zu Unrecht. Obwohl Intellektuelle wie Kollontaj nicht fehlten, gehörten ihr auffallend viele erfahrene Gewerkschafter an. Besonders eng waren die Beziehungen zu den Metallarbeitern, deren Vorsitzender Šljapnikov als ihre führende Persönlichkeit galt.[2]

Die Kritik der Arbeiteropposition und verwandter Gruppen gab auch anderen prominenten Parteimitgliedern Anlass, Stellung zu beziehen. Zu Zeiten kursierten bis zu acht «Plattformen»; auch dies war ein Beleg dafür, dass sie einen Lebensnerv des Regimes traf. Die Verteidigung des Status quo ließ sich – im Gegensatz zu seiner vor- und nachher vertretenen Position – besonders Trotzki angelegen sein. Da Markt und wirtschaftliche Freiheit nicht wiederhergestellt werden sollten, konnte der völlige Zusammenbruch des Landes, wie er meinte, nur durch die Perfektionierung der «Kriegsmethoden» abgewendet werden. Alle gesellschaftlichen Organe, alle Glieder des Wirtschaftskörpers waren einem zentralen Willen zu unterwerfen. Skrupel hinsichtlich der Folgen für die Macht- und Herrschaftsstruktur im neuen Staat fochten ihn nicht an. Trotzki war zu dieser Zeit wenn auch kein «Proto-Stalinist» (R. V. Daniels), so doch ein bedenkenloser Verfechter autoritärer Organisations- und Entscheidungsstrukturen, deren Effizienz er als Vorsitzender des STO und der Zentralen Transportkommission in den letzten Kriegsjahren demonstriert hatte. Diese Erfahrung mag ihn auch bewogen haben, als Lösung für das äußerst schwierige Problem der beruflichen Wiedereingliederung von fünf Millionen Kriegsheimkehrern die sog. Militarisierung der Arbeit vorzuschlagen. Angesichts der Wirtschaftskrise und des Mangels an Arbeitsplätzen war, an den Maßstäben ‹instrumenteller Vernunft› gemessen, wenig gegen diese Idee einzuwenden. Sie hatte ‹nur› ebenfalls den Nachteil, die Freiheit der Menschen nicht zu beachten, die sich im Sozialismus doch erst voll entfalten sollte. Aus alledem ergab sich, dass Trotzkis Überlegungen zur künftigen Rolle der Gewerkschaften vor allem um einen Gedanken kreisten: sie für den übergeordneten Zweck des sozialistischen Aufbaus nutzbar zu machen. Weil die Proletarier im Sozialismus per definitionem an der Macht waren, brauchten sie keinen Schutzverband mehr. Die vornehmste Pflicht ihrer Organisationen sollte fortan in der «erzieherischen» Funktion bestehen, eine «Schule der Disziplin» und allgemein des «Kommunismus» sein. Nicht wenige prominente Bolschewiki schlossen sich diesen Thesen, wenn auch zum Teil mit Vorbehalten, an: unter anderem Bucharin, Dzeržinskij, der Parteisekretär N. N. Krestinskij und der Ökonom E. A. Preobraženskij.[3]

Angesichts der Heftigkeit der Kontroverse konnte Lenin nicht abseits stehen. Er sah, dass der Riss erneut mitten durch das ZK ging und eine mehrheitsfähige Kompromissplattform nötig war. Nicht nur darin zeigte er abermals Führungsstärke, sondern auch in den politisch-taktischen Grundeinsichten, die seinen Thesen zugrunde lagen: Die Gewerkschaften sollten bei der Lenkung der Wirtschaft helfen, diese aber nicht übernehmen; sie sollten die Masse «erziehen», aber ihre Selbständigkeit behalten. Selbstredend ging auch Lenin davon aus, dass der Partei als Zusammenschluss der ‹Besten› eine Aufsichtsfunktion zukam. Aber sie sollte Behutsamkeit walten lassen und sich «kleinlicher Bevormundung» enthalten. Lenin trug damit der Tatsache Rechnung, dass die bolschewistisch organisierten Arbeiter keineswegs mit der gesamten Arbeiterschaft identisch waren. Die Partei konnte an der Fiktion festhalten, die Interessen aller Minderprivilegierten – einschließlich Bauern – zu vertreten, nicht aber die Gewerkschaft. Darüber hinaus nahm Lenin die Warnungen ernst, die in den Streiks zum Ausdruck kamen. Auch die Arbeiter wollten keinen Zwang und keine Kommandowirtschaft mehr. Sie mochten die Umwandlung ihrer Interessenverbände in «Transmissionsriemen» des Sozialismus akzeptieren, nicht aber deren Liquidierung. All dies machte es den Delegierten leicht, Lenins Plattform zuzustimmen. Letztlich errang er einen erstaunlich mühelosen Sieg. Dazu trug allerdings die (auch später zu beobachtende) organisatorische Schwäche der Opposition maßgeblich bei. Ein Übriges bewirkte die Rebellion der Matrosen von Kronstadt, die während der ersten Sitzung des Kongresses noch andauerte. So hatten die Kritiker schon verloren, als der Parteitag zusammentrat.[4]

Lenin und die Mehrheit des ZK nutzten die angespannte Lage, um einer Wiederholung des Streits vorzubeugen. Angesichts vorhersehbarer Gefahren hielten sie es für dringend geboten, die Partei besser zu rüsten. Vor allem die Zulassung des Agrarmarktes und des privaten Kleinhandels flößte ihnen Furcht ein. Immer noch galten die selbständigen Bauern, mochte ihre Wirtschaft nach westeuropäischen Maßstäben noch so ärmlich sein, als kleinkapitalistische Brandstifter im prospektiven sozialistischen Hause. Die Resolution «Über die Einheit der Partei» ließ an diesem ‹genetischen Junktim› keinen Zweifel. Ausdrücklich verwies sie auf die anarchistisch-syndikalistische «Abweichung» – ein wahrhaft zukunftsträchtiges Schlag-Wort – und auf die Instrumentalisierung der Meuterei von Kronstadt durch die «Sozialrevolutionäre und die bürgerliche Konterrevolution allgemein [sic!]». «Kritik» sei zwar weiterhin «unbedingt nötig», dennoch habe das ZK fortan die «größtmögliche Einheit» der Partei zu sichern und für die «vollständige Zerstörung jeglicher Fraktionierung» zu sorgen. Von Protesten der Arbeiteropposition abgesehen, passierte diese Entschließung ebenfalls ohne nennenswerten Widerspruch. Ahnungsvoll äußerte der Kominternfunktionär Karl Radek zwar das dumpfe Unbehagen, hier werde eine Vorschrift erlassen, von der man noch nicht wisse, «gegen wen» sie sich richten könne. Aber auch er stimmte ihr mit jener Ergebenheit an die Sache zu, mit der er und seine Freunde sich anderthalb Jahrzehnte später zur Stalinschen Schlachtbank führen ließen.[5]

Schon auf dem neunten Parteitag im März 1920 waren, das Unbehagen an der «Einmannleitung» gleichsam verallgemeinernd, deutliche Worte über den «bürokratischen Zentralismus des Zentralkomitees» gefallen. Der Fisch, hatte ein mutiger Opponent gemeint, fange bekanntlich «vom Kopf her zu stinken an». Die Interessen der Lokalorganisationen würden sträflich missachtet; «engstirniges Ressortdenken» habe Einzug in die oberen Etagen der Partei gehalten. Ein Jahr später wiederholten Sprecher der «Demokratischen Zentralisten» nicht nur diese Anwürfe, sondern präzisierten auch ihre Korrekturvorschläge. Das Plenum des ZK müsse gestärkt, sein Personal erneuert, der Karrierismus beseitigt, die Rechenschaftspflicht ernst genommen und die ungehinderte Äußerungsfreiheit für alle Strömungen der Partei in Wort und Schrift wiederhergestellt werden. Auch wenn damals andere Prioritäten die Oberhand behielten, verhallten solche Forderungen nicht ungehört.[6]

Zu denen, die der Kritik wachsende Aufmerksamkeit schenkten, zählte nicht zuletzt Lenin. Es gehört zu den Geheimnissen seiner unangreifbaren Autorität, dass er beides miteinander zu verbinden wusste: Unnachgiebigkeit im Interesse der Sache, so wie er sie sah, und ein sensibles Gespür für Missstände. Allerdings wirkten auch alte, tief eingegrabene Vorbehalte gegen Institutionen, Behörden und Verwaltungen aus vergangenen Kampftagen mit. Als Revolutionäre, die den Sturz der Autokratie zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatten, nahmen die Bolschewiki seiner Generation ein tiefes Unbehagen gegen Institutionen, Behörden und Verwaltungen mit in die neue Zeit. Obwohl der sozialistische Staat in ihrer Sicht ein völlig anderer war, begegneten sie ihm mit Misstrauen. Zwar hielten sie ihn für unverzichtbar, um die alten Klassen und andere Regimegegner in Schach zu halten; aber diese Notwendigkeit sollte befristet sein. So gesehen, war es der bekannte Widerspruch zwischen den Idealen der ‹Kampfjahre› und den Realitäten der eigenen Herrschaft, zwischen ‹Bewegung› und ‹Regime›, der in der Bürokratismusdiskussion zum Ausdruck kam.

Dieser Zwiespalt hilft auch eine Einrichtung zu verstehen, die in diesen Jahren eine prominente Rolle bei den Bemühungen spielte, das Problem zu lösen. Die Arbeiter- und Bauerninspektion (RKI) ging zwar auf eine zarische Behörde zurück, die sogar personell weitgehend übernommen wurde. Aber als die «Staatskontrolle» im Februar 1920 im neuen Kommissariat aufging, veränderte man mehr als nur die Bezeichnung. Sie erhielt auch einen anderen Auftrag. Aus der Finanzrevision sollte eine institutionalisierte Bürokratiekritik werden. Der unterstellten Neigung eines jeden administrativen Apparates, sich vom Knecht zum Herrn aufzuschwingen, wollte man mit gleichen Mitteln, einem ‹Apparat›, entgegenwirken. Freilich wurde schnell offenbar, dass sich Gift und Gegengift nicht aufhoben, sondern beide von einem dritten gelähmt wurden – von Inkompetenz, Schlendrian und Korruption. Immer deutlicher erwies sich, dass die beklagten «bürokratischen» Missstände vor allem in den alten Übeln aus Gogolschen Tagen wurzelten, nicht in einem Übermaß an Funktionsfähigkeit und Kraft.[7]

Auch in dieser Debatte markierte der zehnte Parteitag einen Wendepunkt. Lenin ließ sich zwar in seinem Feldzug gegen die Opposition nicht beirren, aber er räumte erstmals die Berechtigung der Klagen ein. Es war kein bloßes Lippenbekenntnis, wenn sein Resolutionsentwurf zur Gewerkschaftsfrage zugleich zum «energischen und systematischen Kampf» gegen den «Zentralismus» aufrief. Dazu gab schon der Umstand Anlass, dass die NĖP nach seiner Meinung auch in dieser Hinsicht Konsequenzen verlangte. Da der Sozialismus dem Kapitalismus wirtschaftliches Terrain abtrat, sollten Partei und Staat nicht nur besonders wachsam, sondern zugleich besonders handlungsfähig sein. Wenn dennoch anderthalb Jahre bis zu konkreten Vorschlägen vergingen, so hatte das viel mit einem Ereignis zu tun, dessen elementare Bedeutung für die Frühgeschichte der Sowjetunion unbestritten ist: mit Lenins Krankheit. Der rastlose Parteiführer, der sich in den Bürgerkriegsjahren physisch verausgabt und an bleibenden Folgen des Attentats zu tragen hatte, konnte den elften Parteitag im März/April 1922 noch nutzen, um ein weiteres Mal auf Degenerationserscheinungen in der Staatsverwaltung aufmerksam zu machen. Doch Vorschläge zur Remedur vermochte er nicht mehr auszuarbeiten. Am 26. Mai erlitt der erst 52-Jährige seinen ersten Gehirnschlag, der ihn bis zum Herbst zwang, sich von den Regierungsgeschäften zurückzuziehen. Auch nach seiner Rekonvaleszenz war er nicht mehr der Alte. Leicht erschöpfbar, konnte er nur noch «mit der Hälfte seiner früheren Kraft» arbeiten.

Glaubt man Trotzki, so wurde dem Parteiführer in diesen Wochen klar, dass er gut daran täte, sein Haus zu bestellen. Dies sollte im Bunde mit dem Mann geschehen, der seine politischen Grundpositionen am ehesten teilte und den er bei allen Fehlern für den fähigsten Genossen hielt. Trotzki berichtet von einem Schlüsselgespräch, in dem Lenin sein Entsetzen über die Arbeitsweise im SNK geäußert und um Unterstützung für eine «radikale Personalumgruppierung» gebeten habe. Er habe gern zugesagt und vorgeschlagen, die gesamte Parteispitze einzubeziehen. Man einigte sich auf einen «Block … gegen Bürokratismus überhaupt und gegen das Organisationsbüro insbesondere». Beide hatten dabei vor allem einen Mann im Visier, der nach ihrer Meinung schon zu viel Macht angehäuft hatte: Iosif Vissarionovič Stalin, den der elfte Parteitag zum Leiter des Organisationsbüros und Generalsekretär des ZK bestellt hatte. Zur gemeinsamen Aktion kam es jedoch nicht mehr. Am 16. Dezember erlitt Lenin seinen zweiten Schlaganfall. Obwohl schwer getroffen und ans Bett gefesselt, konnte er zeitweise noch sprechen. Was er seinen beiden Sekretärinnen in diesen Tagen diktierte, machte in der Tat deutlich, wie Trotzki überliefert, dass «Lenins letzter Kampf» (M. Lewin) vor allem der zunehmenden Isolation der Partei- und Staatsführung von denen galt, in deren Namen die Macht doch ergriffen worden war.[8]

Denn auch der sog. georgische Konflikt, dem ein Teil seiner letzten Briefe galt, betraf nicht nur die ‹nationale Frage›. Hinter der Debatte über die Verfassung der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), auf deren Gründung man zusteuerte, verbarg sich vielmehr ein gleichrangiges politisches Problem: das der Machtverteilung zwischen Zentrum und Peripherie. Was Lenin aufs Höchste alarmierte, war die Furcht, die Früchte der (durchaus doppelzüngigen) Kooperation mit den Nationalbewegungen im neuen-alten Vielvölkerreich könnten verspielt werden. Zugleich wird man aber auch seine Sorge über die rabiate Arroganz ernst nehmen müssen, die er am Werke sah. Mit guten Gründen erkannte er in der Missachtung des Wunsches der georgischen Genossen nach einem Mindestmaß an Selbstbestimmung (ohne das sie keine Chance sahen, Anhang zu gewinnen) ein weiteres Symptom für die zentralistische Degeneration der bolschewistischen Herrschaft. Die Vorfälle zeigten ihm, dass die neue Ordnung immer noch mit dem alten ‹Apparat› operierte und keinen «nichtrussischen Einwohner» vor Übergriffen «großrussischer Chauvinisten» nach Art des «typischen russischen Bürokraten» zu schützen vermochte. Sicher war es ebenso bezeichnend wie irreführend, dass Lenin die Schuld dafür vor allem in der Vergangenheit suchte. Davon unberührt bleibt die Richtigkeit der Diagnose, dass die Missachtung von Minderheiteninteressen viel zu tun hatte mit der zunehmenden Kaltschnäuzigkeit zentraler Herrschaftsausübung – und mit Stalin.

Deutlicher noch äußerte der Parteiführer seine einschlägige Kritik in anderen Schriften aus diesen Tagen. Am 23. Dezember 1922 begann er mit dem Diktat eines Briefes, der später als sein «politisches Testament» bezeichnet wurde und viel Staub aufgewirbelt hat. Er richtete ihn an den nächsten Parteitag, vertraute ihn aber seiner Frau N. K. Krupskaja mit der Maßgabe an, ihn der Partei erst nach seinem Tode zur Kenntnis zu bringen. Ende Januar und Anfang März folgten zwei verwandte konkrete Korrekturvorschläge, die er für die Veröffentlichung bestimmte. Lenin empfahl darin, das ZK (von 25) auf «einige Dutzend oder sogar auf hundert» Mitglieder zu erweitern. Die Neulinge sollten vorzugsweise aus der Arbeiter- und Bauernschaft kommen und noch nicht in den Räten oder vergleichbaren Institutionen tätig gewesen sein. Vor allem solchen Personen traute er die Distanz zu, die nötig schien, um den eingeschliffenen miserablen Arbeitsstil («unter aller Kritik») zu verbessern. Freilich verfolgte er mit diesem Vorschlag noch ein weiteres Ziel, dessen nachrangige Erwähnung nicht mit seiner tatsächlichen Bedeutung verwechselt werden sollte. Der Parteiführer machte sich Sorgen um die Harmonie im ZK. Mit klarem Blick erkannte er die Rivalität zwischen Trotzki und Stalin samt der Gefahren, die sich daraus für die Handlungsfähigkeit der Partei ergaben. Eine Erhöhung der Mitgliederzahl, so formulierte er umschreibend, aber doch unmissverständlich, könne verhindern helfen, dass partielle Konflikte «eine übermäßig große Bedeutung für das ganze Schicksal der Partei» erlangten. Hinzu kamen allgemeine Überlegungen. Bei allem berechtigten Stolz auf die Leistungen im Bürgerkrieg warnte Lenin davor, den Fortbestand alter Verfahrensweisen und Gewohnheiten zu übersehen. In «schwindelerregender Schnelligkeit» vorwärts eilend, habe man die Binsenweisheit – dies ein bald geflügelter Titel – «Lieber weniger, aber besser» vergessen. Wenn sich das Sowjetregime in der veränderten Kräftekonstellation «behaupten», wenn es vom «Bauernklepper … auf das Pferd der maschinellen Großindustrie» (sic!) umsatteln wolle, müsse es als armes Agrarland lernen, wenig Verwaltungspersonal effektiv einzusetzen.[9]

So führten die Überlegungen zur Reorganisation der RKI weit über das engere Thema hinaus. Lenin suchte in ihnen nach Voraussetzungen für die Machtsicherung der Partei im Angesicht einer teilweise kapitalistischen, auf die Bauernschaft gestützten künftigen Entwicklung des Landes. Die zugrunde liegende Diagnose lautete auch hier: Rückständigkeit und «Bürokratismus» waren verschwistert; wer das eine überwinden wollte, musste auch das andere in den Griff bekommen. Man unterstellt keine ungerechtfertigte Kontinuität, wenn man darin ebenfalls die Anerkennung einer schweren Hypothek aus vorrevolutionären Tagen sieht. Gleichfalls nicht neu war die Therapie, die Lenin für die Staatskrankheit bereithielt. Wie in Staat und Revolution vertraute er auf die heilende Kraft des Arbeiters, möglichst des einfachen, gremienunerfahrenen. Die Parallelen zur romantischen Verklärung des unverderbten altrussischen Bauern im narodničestvo oder zu slavophilen Zeitdiagnosen liegen auf der Hand. Gemeinsam war beiden der naive Glaube an eine gleichsam angeborene, der kapitalistisch-zivilisatorischen Verformung vorgelagerte Potenz des natürlichen Menschen. Erneut und immer noch meinte Lenin, dass jeder «echte» Proletarier in der Lage sei, den Staat zu lenken, wenn er nur rechnen und schreiben könne. Dass gute Verwaltung, wie er wusste, viel mit Qualifikation und Professionalität zu tun hatte, empfand er nicht als Widerspruch. Zur Lösung dieses Rätsels hat er nicht mehr beitragen können. Am 9. März 1923 erlitt Lenin seinen dritten Schlaganfall, der ihn der Sprache beraubte und halbseitig lähmte. Fortan war klar, dass der neue Staat auf seinem Weg zu einer welthistorisch neuartigen Gesellschaft ohne seinen Gründer und unbestrittenen Führer auskommen musste.

Allerdings hatte Lenin noch Gelegenheit zu dem Versuch, in den Nachfolgekampf einzugreifen, der nun in ein neues Stadium trat. Anlass gab ihm abermals das georgische Problem, das der kommende Parteitag im Zusammenhang mit den Verfassungsgrundsätzen für die geplante Union entscheiden musste. Was er schrieb und tat, ließ vor allem zwei Absichten erkennen: Stalin zurückzudrängen, Trotzki zu stärken und dadurch sowohl in der nationalen als auch in der ‹Bürokratismus›-Frage eine Kurswende einzuleiten. Im georgischen Streit war eine Untersuchungskommission eingesetzt worden. Lenin zeigte sich über deren Bericht zutiefst irritiert. Nicht ohne Ursache begann er, an der Unparteilichkeit der Vermittler, allen voran Stalins als Nationalitätenkommissar, zu zweifeln. Als er dann noch von Beschimpfungen erfuhr, die sich Stalin am Telefon gegenüber seiner Frau Krupskaja – einer allseits respektierten bolschewistischen Revolutionärin der ersten Stunde – erlaubt hatte, beschloss er am 5. März allem Anschein nach durchzugreifen. In zwei parallelen Briefen drohte er Stalin in ungewöhnlich scharfer Form «den Abbruch der Beziehungen» an, falls er sich nicht entschuldige. Zugleich ließ er Trotzki eine Notiz mit der Bitte überbringen, im ZK «die Verteidigung der georgischen Sache» zu übernehmen. Die damit beauftragte Sekretärin sprach von einer «Bombe», die gegen Stalin vorbereitet werde, und vertraute ihm Kopien der streng geheimen Diktate über die nationale Frage an.

Zweifellos hatte Trotzki damit Trümpfe in der Hand, die hätten stechen und das Spiel entscheiden können. Doch er nutzte sie nicht. Stattdessen ließ er sich auf eben jenen «faulen Kompromiss» ein, vor dem Lenin ihn ausdrücklich hatte warnen lassen. Er bestellte Kamenev zu sich, der «sehr aufgeregt und blass» erschien. Aber selbst nach seiner eigenen, wenig selbstkritischen Darstellung unterbreitete er ihm einen Vorschlag, der kaum dazu angetan war, Furcht zu verbreiten. Trotzki eröffnete ihm, dass er weder die Absetzung Stalins noch einen «Kampf» vom Zaun brechen wolle. Er erwarte lediglich eine andere Politik in der nationalen Frage, einen «festeren Kurs auf die Industrialisierung» und ehrliche Zusammenarbeit in der Parteispitze. Diese Worte richteten sich bereits an die Allianz aus Stalin, Zinov’ev und Kamenev, die nun offen sichtbar wurde. Die ‹Troika› akzeptierte das Angebot. Stalin war froh, ohne tiefere Blessuren davongekommen zu sein, und stimmte einer Korrektur seines Resolutionsentwurfs zur nationalen Frage im Leninschen Sinne bereitwillig zu. Das hinderte ihn nicht daran, seine georgischen Gegenspieler dennoch auszumanövrieren. Trotzki erfuhr davon, erhob aber keinen lauten Protest. Auch von Lenins geheimen Briefen machte er keinen Gebrauch, sondern behielt sie höchst unklug für sich. Deshalb geriet er selbst ins Zwielicht, als Lenins Sekretärin buchstäblich am Vorabend des Parteitages Kamenev über Lenins Briefe und seine Bitte an Trotzki informierte. Unversehens fand er sich in der Lage, sich gegen Stalins Vorwurf verteidigen zu müssen, richtungsweisende Worte des großen Führers verheimlicht zu haben. Er musste hinnehmen, dass das Politbüro entschied, die Texte nicht zu veröffentlichen, sondern sie nur den Parteitagsdelegierten zur Kenntnis zu geben. So wurde Lenins «Bombe» nicht nur zum Blindgänger, sondern sie rollte auch noch dem Falschen in den Weg.[10]

Denn auch der zwölfte Parteitag (17.–25. 4. 1923) brachte keine Wende. Schon im Vorfeld hatte Stalin klug taktiert. Als sich nach Lenins zweitem Hirnschlag die Frage stellte, wer den Rechenschaftsbericht des ZK – bereits damals das Hauptreferat – vortragen sollte, schlug er Trotzki als bekanntestes Mitglied der engeren Führung vor. Dieser lehnte erwartungsgemäß ab, um nicht in den Geruch zu geraten, schon zu Lebzeiten Lenins nach dessen Krone zu greifen. Die Aufgabe fiel daraufhin Zinov’ev zu, der Trotzki ebenfalls nicht wohlgesonnen war, weil er ihm die Niederlage vom Vorabend des Oktoberumsturzes nicht verziehen hatte. Stalin blieb im Hintergrund und beschränkte sich auf das Referat zur nationalen Frage. Darin verstand er es mit erheblichem Geschick, die schweren Vorwürfe Lenins vergessen zu machen. Er verurteilte sowohl den «großrussischen» als auch den «georgischen Chauvinismus» – und verteidigte zugleich seine eigene autoritäre Einmischung unter dem Deckmantel der Behauptung, nur die Zentrale könne die Interessen des Ganzen wahrnehmen. Vergebens hielt Bucharin eine Philippika gegen die Unterdrückung der kleinen Völker; vergebens warnte der ukrainische Parteichef weitsichtig vor dem falschen Weg, den die entstehende Union von Anfang an nehme. Die lange Hand des Generalsekretärs hatte zwar die Delegierten dieses Parteitags noch nicht einzeln verlesen; aber die Zahl der Oppositionellen war gering. Hinzu kam, dass Trotzki ihm abermals unschätzbare Dienste leistete: Er schwieg während der gesamten Debatte beharrlich.

Und auch Lenins Vorschlägen zur Reorganisation der Staats- und Parteiführung blieb die gewünschte Wirkung versagt. Schon die erste Reaktion des Politbüros zu Jahresbeginn ließ nichts Gutes ahnen. Die Mehrheit seiner Mitglieder war höchst befremdet. Auch Trotzki sprach sich entschieden gegen eine Erweiterung des ZK aus, weil er um seine Handlungsfähigkeit fürchtete. Eine andere Stimmung herrschte auf dem zwölften Parteitag selbst. Nicht wenige Redner, überwiegend vom linken Flügel, schlossen sich den harschen Worten des schwerkranken Parteiführers an. Sie empörten sich über die Praxis der «Empfehlung» von Regionalsekretären durch die Parteileitung. Aber auch der Adressat dieser Beschwerden, die Mehrheit des Politbüros um Stalin, besann sich überraschenderweise eines anderen und unterstützte Lenin. Zum einen konnte sie sich nicht gegen ein Votum der größten Autorität stellen, die schon jenseits aller Kritik stand. Zum anderen dürfte sie die Vorteile erkannt haben, die der Plan entgegen der Absicht seines Urhebers für sie barg: Die meisten der Neulinge, die von der Vermehrung der Vollmitglieder von 27 auf 40 und der Kandidaten von 3 auf 17 profitierten, entpuppten sich als «treue Stalinisten». Trotzki blieb auch in dieser Angelegenheit stumm.[11]

Es ist fraglich, ob je geklärt werden kann, warum das so war. Spätestens mit dem zwölften Parteitag begann jene Passivität, die so gar nicht zu Trotzki passte und bis heute rätselhaft geblieben ist. Dass ihn «Großmut und Vergeben» dazu veranlassten, klingt angesichts seiner früheren (und späteren) Energie und Härte unwahrscheinlich. Eher schon vermag Trotzkis eigene Begründung zu überzeugen, sein «Hervortreten» hätte als «Kampf um Lenins Platz in Partei und im Staate» verstanden werden können. Manches spricht auch für eine temporäre Resignation oder eine allzu ausgeprägte Konzentration auf Wirtschaftsfragen, die das zweite große Thema des Kongresses bildeten. Hinzu kamen ein Mangel an politischem Instinkt, Selbstüberschätzung und Egozentrik, die vielen aufgefallen sind, die ihm begegneten. Auch wenn kontrafaktische Gedankenspiele über einen anderen Lauf der sowjetischen Geschichte bloße Spekulation bleiben, trifft Trotzkis rückblickende Erkenntnis zu, dass man «in den Jahren 1922/23 … noch die Kommandoposition … durch einen offenen Angriff» hätte erobern können. Weil ihm diese Einsicht zur rechten Zeit fehlte, verpasste er die unwiederbringliche Chance: Der zwölfte Parteitag etablierte das Triumvirat endgültig und erhob «Stalin vom Stand der Unterordnung auf den ersten Platz».[12]

Parteidiktatur versus Neuer Kurs: der Sieg des Triumvirats.  Im Sommer 1923 rückte ein weiteres Problem in den Vordergrund. Zwei Jahre nach der Einführung geriet die NĖP in ihre erste schwere Krise. Der Absatz von Industriewaren stockte. Die Unternehmen konnten die Löhne nicht mehr auszahlen. Es kam zu Entlassungen und Streiks. Über die Hauptursache der Schwierigkeiten herrschte schnell Einigkeit: Die Preise zwischen Industrie- und Agrarprodukten klafften zu weit auseinander. Die Bauern konnten für ihre Erzeugnisse zu wenig kaufen, als dass es sich gelohnt hätte, viel auf den Markt zu bringen. Somit warf die «Scherenkrise» das Kernproblem der nachrevolutionären Entwicklung wieder auf: die konkrete Gestaltung des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Bauern, Industrie und Landwirtschaft. Reibungen waren von Anfang an aufgetreten, nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen Arbeitern und neuen Managern. Schon im Frühjahr hatte Trotzki sie auf dem zwölften Parteitag zum Anlass genommen, sich für die Stärkung von Plan und Lenkung auszusprechen. Als vollblütiger, wenn auch nicht orthodoxer Marxist äußerte er die Überzeugung, dass nur zentrale Führung die Schwierigkeiten meistern und das prekäre Bündnis zwischen den neuen ‹Hauptklassen› auf Dauer festigen könne. In seiner zündenden, mit großem Beifall bedachten Rede ließ er keinen Zweifel daran, auf wessen Seite der proletarische Staat bei allem Bemühen um das Dorf letztlich zu stehen habe: auf Seiten der Arbeiter und des industriellen Aufbaus. Mit Lenin sah auch Trotzki die wesentliche Aufgabe des revolutionären Regimes darin, den Traum von der wirtschaftlichen Modernisierung des Riesenreichs zu verwirklichen. Nebenbei, aber doch unmissverständlich gab Trotzki auch zu erkennen, wer die «wirklichen Fortschritte» dieser Art in erster Linie bezahlen sollte: die Bauernschaft. Als griffige Formel für die Hauptaufgabe der Zukunft fiel dabei – in Anlehnung an die Marxsche Deutung der Frühgeschichte des englischen Kapitalismus – der Begriff der «ursprünglichen sozialistischen Akkumulation». Auch wenn Trotzki eine vermittelnde Beschlussvorlage unterbreitete und der Kongress als weitere Erleichterung für die Bauern den Ersatz der Naturalsteuer durch eine monetäre beschloss, waren damit die Positionen benannt, die in den kommenden Jahren den Richtungsstreit bestimmen sollten: Bürokratismuskritik, Planwirtschaft und beschleunigte Industrialisierung durch Werttransfer vom Dorf in die Stadt auf der einen, faktischer Ausbau der Parteidiktatur, Anreiz zum Marktverkauf und bauernfreundliche Mäßigung des industriellen Fortschritts auf der anderen Seite.[13]

Der Knoten schürzte sich im Frühherbst 1923. Streiks und unpopuläre Maßnahmen der Regierung zur Krisenbekämpfung gaben der Opposition Auftrieb. Neue radikale Gruppen, die sich als eigentliche Anwälte der Arbeiter verstanden, begannen offen zu agitieren und wurden – wie die Arbeiterwahrheit um Lenins alten Rivalen A. A. Bogdanov – verboten und verhaftet. Aber nicht dieser rüde Umgang mit Minderheiten bewog Trotzki, seine Deckung zu verlassen; nach wie vor hegte er wenig Sympathien für neo-syndikalistische Umtriebe und sah offenbar auch keine Prinzipien verletzt. Vielmehr bedurfte es erst des Vorschlags einer Kommission zur Vorbereitung des nächsten ZK-Plenums, alle Parteimitglieder zu verpflichten, der Parteispitze Informationen über Gruppenbildungen zu melden. Dieser unverhohlene Aufruf zur Denunziation überschritt die Toleranzgrenze der ‹zentralen› Opposition: Trotzkis Brief an die Parteiführung vom 8. Oktober eröffnete die entscheidende Phase im Kampf um die Nachfolge Lenins. Dabei rückte die innerparteiliche Demokratie ebenfalls wieder in den Vordergrund. Die politische Dimension des Konflikts verschmolz mit der wirtschaftlichen, wobei die eigentümliche Inkongruenz der Positionen erhalten blieb.

Trotzki bezeichnete es als «äußerst besorgniserregendes Symptom», dass ein «Bedürfnis» nach einer solchen Form von Gesinnungskontrolle entstanden sei. «Sehr viele Mitglieder der Partei und nicht die schlechtesten» betrachteten die Empfehlung als weiteres Anzeichen einer dramatischen Verschlechterung der inneren Lage. Der Generalsekretär habe es durch autoritäre Intervention verstanden, nicht nur die wirtschaftlichen Beschlüsse des zwölften Parteitages zu unterlaufen, sondern auch den Wunsch der Parteibasis nach tatsächlicher Mitsprache zu ignorieren. Der «von oben nach unten geschaffene Sekretärsapparat» ziehe immer sichtbarer alle Fäden. Ernennung habe die Wahl verdrängt. Daraus sei eine eigentümliche «Sekretärspsychologie» erwachsen, deren «wesentlicher Zug» in der Überzeugung bestehe, dass der Eingesetzte «jede beliebige Frage ohne Vertrautheit mit dem Wesen der Sache» entscheiden könne. Konformität und Gefügigkeit seien zu den wichtigsten Eigenschaften für den Aufstieg avanciert. Nicht genug damit, drohte Trotzki nun auch mit einer breiteren Öffentlichkeit: Der Krieg war erklärt.

In der Tat erhielt er eine Woche später wirkungsvolle Schützenhilfe aus der Partei. Nicht weniger als 46 prominente Bolschewiki gaben dem ZK in einem offenen Brief ihren Protest gegen die aktuelle Politik und die Zustände in Partei und Staat zu Protokoll. Auch sie sahen eine enge Verbindung zwischen der Wirtschaftskrise und inneren Fehlentwicklungen. Die Partei sei blind geworden und habe «in beträchtlichem Maße aufgehört», ein «lebendiges, an Eigeninitiative reiches Kollektiv» zu sein. Auf ihren Versammlungen gehe bereits «Angst» vor den Sekretären um, die «freie Diskussion» sei «faktisch verschwunden». Auch diese Diagnose ließ es an Deutlichkeit nicht fehlen. In welchem Maße sie von Trotzki inspiriert war, muss offenbleiben. Unter den Unterzeichnern fanden sich alte Weggenossen wie Preobraženskij oder Antonov-Ovseenko und einstige linke Oppositionelle wie Osinskij oder T. V. Sapronov gleichermaßen. Wie auch immer: Die «Erklärung der 46» gab dem Streit eine neue Dimension. Sie konnte nicht mehr als Verirrung eines Einzelnen abgetan werden; vielmehr äußerte sich darin ein großer Teil der bolschewistischen Elite insgesamt.[14]

Dies bewog die Mehrheit im ZK zur Vorsicht. Zwar bemühte sie sich mit Erfolg, auf der Plenartagung Ende Oktober ein Scherbengericht über die Opposition zu veranstalten. Deren Sprecher, Preobraženskij, hatte einen schweren Stand. Er konnte nicht verhindern, dass die Versammlung nun das Eisen drohend zeigte, das sie für die Dissidenten bereithielt: den Parteiausschluss. Die Empörung schlug aber besonders in Moskau so hohe Wellen, dass sich Stalin und seine Gefolgsleute zu Konzessionen genötigt sahen. Sie räumten erhebliche Missstände in der Partei ein, bemängelten die niedrige Moral vieler Sekretäre und prangerten selber den «Bürokratismus» an. Mehr noch, in mancher Hinsicht unterwarfen sie sich geradezu. Die Entschließung, die das Politbüro am 5. Dezember verabschiedete, kam der Opposition weit entgegen. Auch wenn sie ‹objektive› Probleme der ‹Übergangszeit› dafür verantwortlich machte, konzedierte sie erstmals offiziell die Verselbständigung des «Apparats» und ein Ungleichgewicht zwischen Zentralismus und Demokratie. Sie betonte die Unerlässlichkeit durchgängiger Wahlen, versprach, Ernennungen fortan auf ein Mindestmaß zu beschränken, und verzichtete ausdrücklich darauf, Kritik als illegitime Fraktionsbildung zu verdammen.

In dieser Form fand die Resolution, die das Wort vom «neuen Kurs» prägte, Trotzkis volle Zustimmung. Sie wurde sogar weitgehend nach seinem Diktat an jenem Krankenbett formuliert, an das ihn seit Oktober ein mysteriöses Fieber fesselte. Das Argument ist weit verbreitet, diese unglückselige Schwächung, die bis zum Frühjahr anhielt (und im Herbst wiederkehrte), habe maßgeblich zu seiner Niederlage beigetragen. Man wird auch hier die Bedeutung des Zufalls nicht leugnen wollen. Aber schon die Entstehung der Dezemberresolution wirft die Frage auf, ob ein gesunder Trotzki wirklich mehr erreicht hätte. Der Infekt war weder für die taktischen Fehler verantwortlich noch für die gesamtpolitischen und sozialstrukturellen Veränderungen in der Partei, auf die Stalin sich stützen konnte. Insofern sollte man in der bekannten Äußerung Trotzkis nicht nur eine aphoristische, sondern auch eine apologetische Absicht erkennen: «Man kann Revolution und Krieg voraussehen. Man kann aber die Folgen einer herbstlichen Jagd auf Enten nicht voraussehen.«[15]

Auch der endgültige Bruch, der dem scheinbaren Frieden abrupt folgte, hatte wenig mit seinem Krankenlager zu tun. Zwar darf man davon ausgehen, dass Stalin und Zinov’ev nach einem Vorwand suchten; Täter und Opfer sollten nicht verwechselt werden. Dennoch trug – nicht zum ersten Mal – ein erhebliches taktisches Ungeschick ihres Gegenspielers zur abermaligen Eskalation des Konflikts bei. Trotzki musste damit rechnen, dass sein erläuternder Brief an das ZK vom 8. Dezember die Flammen wieder schüren würde, statt sie zu ersticken. Dazu trug nicht allein die Wiederholung der bekannten Anwürfe gegen den Apparat bei. Was der Debatte neue Schärfe gab, war etwas anderes: die Begründung einer neuen Frontlinie zwischen der «alten Garde» und der «Jugend». Die nachwachsende Generation, so Trotzki, müsse «Diensteifer» und «Karrierismus» hinter sich lassen und «die revolutionären Formeln im Kampf» erobern, nicht nur gegen die «Feinde», sondern auch «in der eigenen Organisation». Dies konnte kaum anders denn als Aufruf verstanden werden, die selbstherrlichen Bürokraten der institutionalisierten Revolution davonzujagen. Ein besänftigendes Postskriptum, er habe keinesfalls die Jungen gegen die Alten aufhetzen wollen, änderte daran wenig.

Die Antwort der Troika war Mitte Dezember in der Pravda nachzulesen. Dabei lag der wirkungsvollste Vorwurf auf der Hand: Trotzki habe die Resolution voll und ganz unterstützt; das ZK sei im guten Glauben auseinandergegangen, eine einmütige Lösung gefunden zu haben. Der renitente Ankläger, selbst zur «alten Garde» zählend, offenbare in diesem Verhalten jenen ‹Opportunismus›, den ein Überläufer Lenin zufolge nie überwinden könne: Er bleibe ein verkappter ‹Menschewik›. Stalin, der den Hauptangriff führte, brauchte nicht auszusprechen, was jeder Leser selbst ergänzen konnte – dass Opportunisten nicht in die bolschewistische Partei gehörten.[16]

Im Rückblick zeigt sich, dass die innerparteilichen Machtkämpfe im engeren Sinne jenseits der publizistischen Polemik schon in der zweiten Dezemberhälfte 1923 ihren Höhe- und Wendepunkt erreichten. In den Kasernen und Hochschulen Moskaus entfachte die Opposition eine «nie dagewesene» Kampagne gegen die Parteiführung. Doch mehr Bastionen vermochte sie nicht zu erobern. Kein Funke sprang nach Petrograd über, das eine Hochburg des örtlichen Parteivorsitzenden Zinov’ev war und blieb. Wenig Sympathie ließen die Organisationen der zentral- und südrussischen Industriestädte erkennen. Alles deutet darauf hin, dass die Macht der Triumvirn nie ernstlich gefährdet war. Sie kontrollierten nach wie vor die Presse, wussten den Apparat mit seinen Ressourcen hinter sich – und taktierten äußerst geschickt. Gegen die verbreitete Neigung zu einer wohlwollenden Überschätzung der Opposition gilt es festzuhalten, dass ihre Kraft gerade für drei Wochen reichte. Mit Jahresbeginn 1924 brach ihr Aufbegehren zusammen. Als die 13. Parteikonferenz – das höchste Gremium zwischen den Parteitagen – Mitte Januar (immer noch in Trotzkis Abwesenheit) zusammentrat, konnte sich Stalin in Siegerpose präsentieren. Wenn es noch eines Beweises für die Richtigkeit der oppositionellen Vorwürfe bedurfte, dann erbrachte ihn diese Versammlung. Sie war erstmals generalstabsmäßig geplant: Unter 128 stimmberechtigten Mitgliedern fanden sich noch drei versprengte Kritiker. Alle Übrigen bedachten Stalins Hauptreferat – auch dies eine Premiere – mit lebhaftem Beifall und stimmten der Verurteilung der Opposition zu. Der Redner vermochte dabei durchaus zu überzeugen: nicht mit analytischer Schärfe, das war nicht seine Stärke, aber mit Schläue und Wendigkeit. Eindrucksvoll demonstrierte er seine Fähigkeit, dem Gegner das Wort im Munde umzudrehen und die eigenen Ziele hinter einem Vorhang von Absichtserklärungen zu verbergen. Die Resolution zog eine ‹politische› Bilanz. Sie warf der Opposition alle nur erdenklichen Varianten einer Sünde vor – der Parteischädigung. Deutlicher denn je traten die verheerenden Folgen des Gruppenverbots von 1921 zutage: Mit seiner Hilfe konnte jede öffentlich geäußerte abweichende Meinung ‹kriminalisiert› und unter den Bannfluch des Gegensatzes zu Lenins sakrosanktem Wort gestellt werden. Dazu passte, dass in dieser Resolution nun auch das verleumderische und inhaltsleere Vokabular, das bis dahin weitgehend den äußeren Propagandaschlachten vorbehalten war, in massiver Form auf innerparteiliche Feinde angewandt wurde. Man warf der Opposition vor, sich «kleinbürgerlicher Abweichung» und einer «ultrafraktionistischen» Lagebeurteilung schuldig gemacht zu haben. Die entstehende Orthodoxie schuf sich einen Gegner nach ihrem Bilde. Zu Recht hat man gesagt, dass die 13. Parteikonferenz größere Bedeutung besaß als die meisten nachfolgenden höherrangigen Kongresse. Sie vollzog die irreversible Wende auch zur innerparteilichen Monokratie.[17]

So waren die entscheidenden Weichen schon gestellt, als Lenin am Abend des 21. Januar 1924 den Folgen seines vierten Hirnschlags erlag. Sein Tod kam nicht mehr unerwartet. Dennoch schuf er neue Tatsachen, weniger politische als psychologische. Die Partei, seit jeher an eine starke Hand gewöhnt, war führerlos geworden und erwartete Ersatz, den es nicht geben konnte. Lenins Stellung war einzigartig. Sie beruhte nicht nur auf seinen politisch-organisatorischen und intellektuellen Fähigkeiten, sondern vor allem auf seiner jahrzehntelangen Symbiose mit der Partei. Umso eher erhöhte sich die Empfänglichkeit für eine andere Form der Kontinuität: die Bewahrung seines Vermächtnisses, allem voran seiner bedeutendsten Schöpfung – der Partei. Der Verlust des charismatischen Führers erzeugte weniger den Wunsch nach Fortentwicklung seines Lebenswerkes, als vor allem und zuerst das Bedürfnis nach seiner Konservierung. Dies war nicht die Stunde unverdrossener Revolutionäre, sondern die Chance für Epigonen, sich zu Gralshütern aufzuwerfen.

Erneut gab Trotzkis Verhalten Rätsel auf. Er beging in diesen Tagen den vielleicht größten Fehler im Kampf gegen die falschen Erben: Er fehlte auch an Lenins Sarg. Am 18. Januar, noch während die Parteikonferenz tagte, hatte er auf Anraten seiner Ärzte eine Erholungsreise zur östlichen Schwarzmeerküste angetreten. Auf dem Bahnhof in Tiflis erreichte ihn am Abend des 21. die Nachricht von Lenins Tod. Seiner eigenen Darstellung zufolge setzte er sich am anderen Morgen mit Stalin in Verbindung und erhielt die Auskunft, er könne bis zur Beisetzung, die für Samstag, den 26., anberaumt sei, ohnehin nicht in Moskau zurück sein; das ZK empfehle ihm, seinen Weg fortzusetzen, und wünsche ihm baldige Genesung. Tatsächlich aber fand die Trauerfeier erst am Sonntag, dem 27., statt. Man hatte ihn – vorsätzlich? – falsch informiert. So hörte Trotzki im Sanatorium von Suchumi die Salutschüsse, die zur letzten Ehrung des «großen Lehrers» (Zinov’ev) im ganzen Lande abgefeuert wurden. Der Bevölkerung, die nicht nur in Moskau intensiven Anteil nahm, konnte seine auffällige Abwesenheit ebenso wenig entgehen wie den professionellen politischen Beobachtern: «Mein Gott, solch eine Gelegenheit zu verpassen!», notierte stellvertretend für viele Sympathisanten ein französischer Korrespondent, «der grollende Achilles in seinem Zelt … Wenn er nach Moskau gekommen wäre …, hätte er die ganze Schau gestohlen.» Nicht einmal publizistisch vermochte er sich zu Wort zu melden. Auch diese seine schärfste Waffe versagte aus Gründen, die mit dem mysteriösen Fieber allein gewiss nicht zu erklären sind.[18]

So konnten vor allem Stalin und Zinov’ev die Bühne nutzen, die ihnen Trotzki nolens volens überließ. Von außen gesehen, gab der Generalsekretär dabei seinem wichtigsten Bündnispartner den Vortritt. Zinov’ev war nicht nur weitaus populärer und eloquenter. Er konnte auch auf eine längere Weggenossenschaft mit Lenin verweisen, an dessen Seite er im Züricher Exil gelebt hatte und im plombierten Waggon durch Deutschland zurückgekehrt war. Tatsächlich aber zog Stalin nicht nur die Fäden, sondern verstand es auch, zumindest vor der Parteiöffentlichkeit das größte Kapital aus der Situation zu schlagen. Denn fraglos hielt er am Vorabend der Beisetzung in einer Feierstunde des 2. Allunionskongresses der Rätedeputierten, obwohl er – nach dem CIK-Präsidenten M. I. Kalinin, Lenins Witwe Krupskaja und Zinov’ev – erst als Vierter sprach, die effektvollste Rede. Als einstiger Zögling eines Priesterseminars – dies eine verbreitete, wenn auch vielleicht allzu einfache Deutung – gab er ihr eine deutlich erkennbare liturgische Form. Er gliederte sie in «Gebote», die der Führer hinterlassen habe, und wiederholte refrainartig, als gebetsähnliche Eidesformel einer im virtuellen Dialog antwortenden Gemeinde, die (in seiner Werkausgabe auch noch kursiv gedruckten) Sätze: «Als Genosse Lenin von uns schied, hinterließ er uns das Vermächtnis, … Wir schwören Dir, Genosse Lenin, dass wir dieses Dein Gebot in Ehren erfüllen werden!» Die Wortwahl war elegisch, der Satzbau biblisch knapp. Kein Zweifel, hier begann, wenige Tage nach seinem Tod, die Kanonisierung Lenins, verbunden mit gefühlsorientierten Formen der Massensuggestion, wie sie von den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts erfunden und von den totalitären Regimen des 20. zur Perfektion entwickelt wurden.[19]

Nach alledem verstand es sich von selbst, dass die Frondeure auch von der Neuverteilung der Ämter nicht profitierten, die durch Lenins Ableben nötig wurde. In den ersten Februartagen avancierte Rykov vom Stellvertretenden Vorsitzenden des SNK zum regulären und übernahm damit formal Lenins Funktion. Sein Amt als Leiter des VSNCh wurde Dzeržinskij übertragen. Kamenev folgte Lenin in der Leitung des STO. Wichtiger aber war ein offener Angriff auf Trotzkis Machtposition im Kriegskommissariat: Man enthob seinen langjährigen Stellvertreter des Amtes und ersetzte ihn durch den Eroberer Mittelasiens Frunze, der als Anhänger Zinov’evs galt. So waren weitere Fakten geschaffen worden, als der 13. Parteitag in der letzten Maiwoche 1924 zusammentrat. Trotzkis Fieber hatte nachgelassen; er war im Frühjahr nach Moskau zurückgekehrt und konnte an der Veranstaltung teilnehmen. Dennoch hatten sich die Ausgangsbedingungen für die Opposition nicht gebessert. Im Gegenteil, die erste Zusammenkunft nach Lenins Tod war kein geeigneter Ort für politischen Streit. Auch ohne Steuerung konnte derjenige auf stürmische Ovationen rechnen, der sich am glaubwürdigsten als Garant der Einheit zu präsentieren wusste. Trotzki spürte diesen Konformitätsdruck – und beugte sich. Trotz seiner wiederhergestellten Gesundheit fand er auch diesmal keine Kraft, sich zu widersetzen.

Dabei spielte ihm Lenin postum einen letzten und hochkarätigen Trumpf zu. Am Vorabend des Kongresses übergab Krupskaja, der Verfügung des Verstorbenen entsprechend, dem Politbüro den berühmten Brief vom 23.–25. Dezember 1922 einschließlich einer Nachschrift vom 4. Januar 1923 mit der Bitte, ihn dem Parteitag zur Kenntnis zu bringen. Dieses «Testament» enthielt nicht nur die bereits bekannten Vorschläge zur Erweiterung des ZK, sondern auch persönliche Bemerkungen über die Parteiführer, von denen nach Lenins Meinung die Zukunft abhing. Zinov’ev und Kamenev wurden mit der wenig schmeichelhaften Bemerkung bedacht, dass ihr Verhalten «im Oktober natürlich kein Zufall» gewesen sei, man es ihnen aber nicht als «persönliche Schuld» anrechnen solle. Über Bucharin fielen die – zu Beginn der Perestrojka vielbeschworenen – Worte, er sei «nicht nur ein überaus wertvoller und bedeutender Theoretiker», sondern gelte «auch mit Recht als Liebling der ganzen Partei»; in ihm stecke aber «etwas Scholastisches», weil er «die Dialektik … nie vollständig begriffen» habe. Trotzki wurde ausdrücklich als «der wohl fähigste Mann im gegenwärtigen ZK» bezeichnet, zugleich aber auch als «ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewusstsein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen» habe. Waren diese Sätze freundlich bis ambivalent, so wusste Lenin über Stalin nur Kritisches zu sagen: Er sei «nicht davon überzeugt», dass Stalin, der als Generalsekretär «eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert» habe, es immer verstehen werde, «von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.» Von besonderer Brisanz aber war – und darin mag die seinerzeit von Lenin angekündigte «Bombe» bestanden haben – das Postskriptum, das in scharfer Form eine ebenso unmissverständliche Empfehlung aussprach: Stalin sei «zu grob», und dieser Mangel könne in seiner Funktion als Generalsekretär «nicht geduldet werden». Der Parteitag möge deshalb «überlegen, wie man Stalin ablösen» und durch jemanden ersetzen könne, der «toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw.» sei.

Nach der Verlesung dieser Sätze im engsten Führungskreis am Vorabend des Parteitags (21. Mai) stellte sich Zinov’ev – verabredungsgemäß – als Erster vor den Generalsekretär. Auch wenn «jedes Wort von Il’ič» für die Partei «Gesetz» sei, gab er seiner festen Überzeugung Ausdruck, dass sich Lenins Befürchtungen nicht bestätigt hätten. Stalin habe gute Arbeit geleistet. Nach einer gleichlautenden Fürsprache Kamenevs konnte Stalin es sogar wagen, seinen Rücktritt anzubieten: Die Versammlung bat ihn einmütig zu bleiben. Danach war es ein Leichtes, die rhetorische Frage aufzuwerfen, ob die öffentliche Verlesung des Testaments noch anderes bewirken könne als Irritation. Gegen das Votum Krupskajas wurde mit etwa 30 zu 10 Stimmen beschlossen, den Text nicht im Plenum vorzutragen, sondern nur den Delegationsleitern vertraulich zur Kenntnis zu geben. Es bleibt unbegreiflich, warum Trotzki zu alledem bis zum Schluss schwieg.[20]

So verlief der Parteitag nach dem Plan der Troika. Stalins Sekretariat hatte noch gründlichere Arbeit geleistet als vor der Januarkonferenz: Unter den stimmberechtigten Delegierten fand sich kein einziger Anhänger der Opposition mehr. Deshalb blieb es sogar folgenlos, dass Zinov’ev in seinem mehrstündigen ‹politischen Bericht› des ZK (mit dem er zum zweiten Mal als primus inter pares hervortrat) über das Ziel hinausschoss. Er forderte von der Opposition öffentliche Buße und musste sich eine Zurechtweisung von Krupskaja gefallen lassen, die den Beifall der Delegierten fand: Einheit war angesagt, nicht Zwiespalt. Dies verstand auch Trotzki und verzichtete auf flammende Anklagen. Moderat beschränkte er sich auf die Darstellung seines Verständnisses der gemeinsamen Resolution vom 5. Dezember, deren Umsetzung er nach wie vor vermisste. Und es war vielleicht nicht nur ein Tribut an die Situation, dass er dieser Deutung ein Grundsatzbekenntnis zur Einheit der Partei anfügte: Niemand von seinen Freunden, so Trotzki, könne und wolle «gegen seine Partei» obsiegen. «Letztlich» behalte die «Partei immer recht», weil sie «das einzige historische Instrument sei, das dem Proletariat zur Lösung seiner grundlegenden Aufgaben» zur Verfügung stehe.

Doch auch dieses weitgehende Entgegenkommen nützte nichts mehr. Stalin konnte es sich in seiner Replik leisten, Trotzki und seinen Mitstreiter Preobraženskij lächerlich zu machen. Seine abschließende Empfehlung, den Bann der 13. Parteikonferenz über die «kleinbürgerliche Abweichung» zu bestätigen, war schon akzeptiert, als sie ausgesprochen wurde. Auch die Vorschläge der Troika für personelle Veränderungen an der Parteispitze wurden widerspruchslos gebilligt: Das ZK wuchs abermals (von 40) auf 53 Vollmitglieder und (von 17) 34 Kandidaten. Da niemand ohne Zutun des Sekretariats avancierte, lief die angebliche Erfüllung der Leninschen Wünsche ebenfalls auf eine deutliche Stärkung der Mehrheitsfraktion hinaus. Allerdings wurde die oberste Führung kaum verändert. Lediglich Bucharin, bis dahin Kandidat, rückte auf und übernahm Lenins verwaisten Platz. Trotzki blieb – neben Zinov’ev, Kamenev, Stalin, Rykov und Tomskij – (noch) Mitglied des Politbüros. Der Fetisch der Einheit verlangte auch darin Respekt, dass ein Revirement an der Spitze nicht opportun schien.[21]

Die erhoffte ‹Blöße› gab sich Trotzki mit einer provozierenden Schrift vom September 1924 über die Lehren des Oktober. Schon die ersten Seiten machten klar, gegen wen sie sich richteten: gegen die Feiglinge in der Parteiführung, die revolutionäre Bekenntnisse auf den Lippen führten, aber den Worten keine Taten folgen ließen. Trotzki zog eine Parallele zwischen dem kläglich gescheiterten Aufstandsversuch, den die KPD im Herbst 1923 auf Drängen der Komintern halbherzig unternommen hatte, und dem glorreichen Sieg der Bolschewiki sechs Jahre zuvor in Petrograd. Was hier gelang, schlug dort fehl; eine «einzigartige revolutionäre Situation von weltgeschichtlicher Bedeutung» sei ungenutzt geblieben, weil man die Erfahrung des Jahres 1917 nicht beherzigt habe. Eingeweihte verstanden, wer vor allem gemeint war: Zinov’ev und Kamenev; und sie dürften auch die Sätze wiedererkannt und als besondere Perfidie gewertet haben, die Trotzki fast wörtlich aus Lenins «Testament» zitierte: dass die «Meinungsverschiedenheiten des Jahres 1917 … durchaus nicht zufällig» gewesen seien, man aber kein Kapital für aktuelle Auseinandersetzung daraus schlagen solle.

Genau besehen, tat Trotzki eben das. Im Wesentlichen rekapitulierten seine Schrift die bolschewistischen Strategiedebatten des Revolutionsjahrs unter der Leitfrage nach der ‹richtigen› Weichenstellung. Der Parteiführer stand dabei außerhalb jeder Kritik; auch Trotzki hatte längst die unumstößliche Gültigkeit eines jeden Wortes von Lenin akzeptiert. Hinzu kam, dass dessen radikale Linie durch den Triumph bestätigt worden war. Durchaus in polemischer Absicht nutzte Trotzki diesen Vorzug des Rückblicks, um die Schafe von den Böcken zu trennen. Völlig unhistorisch, aber dem aktuellen Zweck angemessen, geriet seine Darstellung zu einer geschichtlich argumentierenden Verurteilung der Zauderer und Anhänger des «parlamentarischen Kretinismus» (Lenin). Vor allem gegen Zinov’ev als Komintern-Vorsitzenden richtete sich der Vorwurf, die «verhängnisvolle Politik» des Versöhnlertums vom Oktober 1917 in Deutschland (und Bulgarien) wiederholt zu haben. War dies schon Zündstoff genug, so goss Trotzki weiteres Öl durch die Darstellung seiner eigenen Rolle ins Feuer. Unmissverständlich machte er klar, dass von all denen, die sich nun stolz als «alte Bolschewiken» bezeichneten, nur er fest und unverrückbar zu Lenin gehalten habe. Auch bezüglich der Bauernschaft habe es «keinen Schatten von Meinungsverschiedenheiten» zwischen ihnen gegeben. Niemand wird bestreiten können, dass Trotzki Ross und Reiter richtig benannte. Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass er mit dieser Schrift als Erster die Vergangenheit zum Richter über die Gegenwart erhob und jene Form der Reinwaschung oder Denunziation durch vergangene Taten zur Waffe machte, die Irrtümer nicht zuließ, den Oktoberumsturz samt Lenins Rolle heilig sprach und zur Geschichtsklitterung geradezu herausforderte.[22]

So konnte Trotzki über die wütende Reaktion seiner Kontrahenten eigentlich nicht überrascht sein. In der Natur der Sache lag auch, dass sich Zinov’ev und Kamenev am heftigsten wehrten. Hier galt, dass am lautesten schrie, wer am meisten zu verbergen hatte. Invektiven ersetzten Argumente, Tatsachen wurden nach Belieben verdreht. Kamenev erklärte die Darstellung vor Moskauer Parteifunktionären in Bausch und Bogen für verzerrt. Im Gegenangriff attackierte er Trotzki an seinem schwächsten Punkt: der nichtbolschewistischen Vergangenheit (bis zum Frühsommer 1917). Der Kritiker verschweige, dass die größte Gefahr für die Revolution in einem «rückständigen» Lande wie Russland vom «kleinbürgerlichen» Element und dessen politischer Speerspitze, dem «Menschewismus», ausgegangen sei. Das liege in seinem Interesse, weil er selbst als «Agent des Menschewismus unter der Arbeiterklasse» den größten Schaden angerichtet habe. Auch nach dem Oktoberumsturz habe er sich, erkennbar an seinem Votum gegen den Brester Frieden, nicht gebessert. Trotzki bleibe Trotzki – ein Einfallstor der Konterrevolution.

Stalin war – schon weil er 1917 keine nennenswerte Rolle spielte – nicht ausdrücklich angegriffen worden. Dennoch hielt er es für opportun, seinen Bundesgenossen beizuspringen. Dabei war seine vorgebliche neutrale Sachlichkeit durchaus wirkungsvoller als die offensichtliche Betroffenheit Kamenevs und Zinov’evs. Auch Stalin mokierte sich über die «Ergüsse» und «orientalischen Märchen» Trotzkis. Aber er ließ sich nicht auf den unglaubwürdigen Versuch ein, dessen Bedeutung während und nach dem Oktober zu bestreiten. Seine Vernichtungsstrategie war subtiler: Unter dem Vorwand, der Legendenbildung entgegenwirken zu wollen, begann er, Trotzkis Taten zu relativieren. Dieser sei ein herausragender Akteur gewesen, aber kein Einzelkämpfer; man dürfe nicht vergessen, «dass er als Vorsitzender des Petrograder Sowjets lediglich den Willen der entsprechenden Parteiinstanzen» ausgeführt habe. In Stalins Darstellung tritt der Heros zurück ins Glied und wird ebenso zum Werkzeug der ‹Organisation› wie alle anderen auch. Der Schachzug war brillant. Er kam dem verbreiteten Ressentiment gegen Trotzki entgegen, erhöhte das Gewicht der Partei, an dem die ‹graue Masse› der neuen Mitglieder gleichsam partizipieren konnte, und eignete sich zugleich zur Fortsetzung: Noch kaum merklich, hatte die Ausmerzung Trotzkis aus den Annalen der Revolution begonnen.[23]

Der Streit um die Lehren des Oktober verband sich mit dem ideologischen Kampf gegen eine zweite angebliche Irrlehre Trotzkis: die sog. Theorie der permanenten Revolution. In mancher Hinsicht ‹argumentierte› die Troika in dieser Frage noch unaufrichtiger. Wohl war weniger persönliche Anklage und Rechtfertigung im Spiel. Aber dafür glich die ganze Debatte einem Schattenboxen, weil die Angriffe kein Ziel hatten. Noch offensichtlicher diente Trotzki als Sündenbock: Es ging weniger um die Widerlegung seiner Theorie als um einen Vorwand für die Abkehr von jenem Credo, das zum innersten Kern der Legitimation des Oktoberumsturzes gehörte – der Erwartung einer «Weltrevolution».

Wie erwähnt, fiel es der russischen Sozialdemokratie schwer, die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution im Zarenreich überhaupt zu begründen. Laut Marx musste sich eine solche Umwälzung im ökonomisch fortgeschrittensten Land ereignen, da sie den Kapitalismus nicht antithetisch negieren, sondern ihn im dialektischen Sinne ‹aufhebend› überwinden sollte. Die Produktivkräfte würden gleichsam aus den alten Produktionsverhältnissen herauswachsen und sie in neue, sozialistische überführen. Agent dieses Vorgangs war das Proletariat, das als Mehrheit der Bevölkerung ebenso vorausgesetzt wurde wie die Dominanz der kapitalistischen Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft. Russland befand sich zwar im ökonomischen Umbruch, blieb aber in vieler Hinsicht rückständig. Die sozialdemokratische Theorie hatte anfangs – und die Menschewiki hielten bis zuletzt daran fest – auf diese Besonderheit insofern Rücksicht genommen, als sie nur eine «bürgerlich-demokratische» Revolution anstrebte. Erst am Ende dieses Stadiums, nach der Reife des Kapitalismus, sollte der Übergang zum Sozialismus auf der Tagesordnung stehen. Lenin rüttelte erstmals im Zusammenhang mit seiner Imperialismustheorie an diesen Fesseln der theoretisch legitimierten revolutionären Ziele. Als eines der charakteristischen Merkmale des «höchsten Stadiums des Kapitalismus» hob er die ungleichmäßige Entwicklung hervor. Dieser Befund erlaubte ihm, das «halbkoloniale» Zarenreich, das teils abhängig war, teils selbst an der südöstlichen Peripherie über unterworfene Gebiete herrschte, ebenso einzubeziehen wie die führenden Mächte der Vorkriegswelt, Deutschland und Großbritannien. Lenin deutete nun an, dass die angestrebte Revolution nicht unbedingt im fortgeschrittensten Land ausbrechen müsse, sondern die Voraussetzungen dafür grundsätzlich in allen ‹imperialistischen› Staaten gegeben seien. Wegen der besonderen Spannungen hielt er eine Umwälzung in den weniger entwickelten Ländern sogar für wahrscheinlicher. Die praktische Konsequenz lag auf der Hand: Das Zarenreich konnte Schauplatz der ersten ‹Selbstbefreiung› des Proletariats sein. Auserwähltheitsgedanken aus der Tradition des «russischen Sozialismus» verschmolzen in dieser Deutung mit der importierten marxistischen Theorie.

Als Lenin die Bolschewiki auf den Kurs der Aprilthesen zwang, setzte er voraus, dass eine sozialistische Revolution in Russland möglich sei. Zugleich blieb diese Prämisse aber mit einem Makel behaftet: Der Umsturz im Zarenreich konnte nur ein Anfang, kein Ersatz für die internationale Revolution sein. Gerade Lenin hat immer wieder auf die Nabelschnur hingewiesen, die beide verband. Der Weltkrieg machte sie in seinen Augen ebenso unübersehbar wie der «Imperialismus», aus dem er notwendig hervorgegangen sei. Weil die Oktoberrevolution zugleich als erste «antiimperialistische» Erhebung des Proletariats galt, lag es auch nahe, den neuen Parteienverbund, der an die Stelle der Zweiten (über die Haltung zum Weltkrieg zerbrochenen) Sozialistischen Internationale treten sollte, in Moskau aus der Taufe zu heben: Daseinsgrund und Hauptaufgabe der Kommunistischen Internationalen (Komintern) war die Herbeiführung einer ähnlichen Erhebung in den anderen «imperialistischen» Staaten, letztlich der Weltrevolution. In seiner Rede vor dem Ersten Kominternkongress vom 4. März 1919 hat Lenin diesen Zusammenhang in die vielzitierten Worte gefasst: «Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Revolution in mehreren westeuropäischen Ländern sehr bald zum Ausbruch kommen wird … Dann ist unser Sieg sicher, und keine Macht wird imstande sein, etwas gegen die kommunistische Revolution zu unternehmen.» Diese Zuversicht verlor allerdings in den folgenden Jahren an Realitätsgehalt. Auch in Deutschland, auf das man nach dem Ende des Kaiserreiches so sehr gehofft hatte, geriet die Entwicklung in andere Fahrwasser. Die endgültige Wende markierte der erwähnte Aufstandsversuch im Herbst 1923. Danach war offensichtlich, dass jede kurzfristige Revolutionserwartung auf keinem nachvollziehbaren Urteil mehr beruhte. Eine grundlegende Neubesinnung wurde nötig, die der Partei nicht leicht zu vermitteln war.[24]

In dieser Situation kam es der Troika gelegen, dass Trotzki zu den entschiedenen Befürwortern eines radikalen Kurses der Komintern gehörte. Die Lehren des Oktober entsprangen auch der Absicht, die unverminderte weltrevolutionäre Bedeutung der russischen Geschehnisse vor Augen zu führen. Damit luden sie dazu ein, in Trotzkis zahlreichen Schriften nach einer Konzeption zu suchen, aus der diese Haltung mit dem Ziel abgeleitet werden konnte, einen tief verwurzelten, ‹unkorrigierbaren› Irrtum zu belegen – und die eigene Neuorientierung zu kaschieren. Eine solche «Theorie» fand sich in Gestalt der Gedanken über die «permanente Revolution». Trotzki formulierte sie in seinen Schriften über die russische Revolution von 1905. Sie entstand im Kontext der Bemühungen um eine angemessene Interpretation dieses ersten Umsturzversuchs vor dem Hintergrund der sozioökonomischen und politischen Besonderheiten des Zarenreiches. Im Kern lief sie auf die naheliegende These hinaus, dass die russische Revolution entgegen den Vorhersagen orthodoxer Marxisten keine bürgerliche im westeuropäischen Sinne sein könne. Die zarische «Bourgeoisie» sei zu schwach und zu eng mit dem Regime verbunden, um die kapitalistisch-demokratische Umwälzung aus eigener Kraft durchführen zu können. Sie müsse sich auf das Proletariat als stärkste emanzipatorische Kraft stützen, das aufgrund derselben zeitlich-‹morphologischen› Verschiebungen der russischen sozioökonomischen Entwicklung als numerisch bedeutsame und politisch aktive Klasse auch schon vorhanden sei. Die russische ‹bürgerlich-demokratische Revolution› werde mithin nicht in diesem Stadium verharren, sondern von selbst in eine sozialistische Phase übergehen, d.h. ‹permanent› sein. Angesichts dieser Situationsanalyse hatte Trotzki 1917 gute Gründe für die Meinung, Lenin habe sich mit den Aprilthesen seinen Überlegungen genähert. Allerdings blieb ein wichtiger Unterschied bestehen, auf den seine Gegner später zu Recht – wenn auch aus anderen Motiven – hinwiesen: Trotzki ließ die Bauernschaft weitgehend außer Betracht; sie kam in seiner Revolutionstheorie eher als konservative Gegenkraft und später bestenfalls als nachrangige Hilfstruppe der Arbeiterschaft vor, nicht als partiell vergleichbare Potenz.[25]

Die Troika verlagerte nun den Akzent dieser Überlegungen auf die internationale Ebene. Aus einem revolutionstheoretischen Modell zur Erklärung von Besonderheiten der innerrussischen Lage wurde die vermeintliche These von der Unmöglichkeit der sowjetischen Selbstbehauptung ohne äußere Unterstützung. Zwar hat Trotzki selber seinen Gedanken eine deutliche Wende dieser Art gegeben; aber ihre Ausformulierung fand erst später als Reaktion auf die Kampagne seiner Gegner statt. Insofern beklagte sich Trotzki zu Recht darüber, dass man sie aus ihrem historischen Kontext reiße und Schindluder mit ihnen treibe. Vor allem Stalin setzte sich an die Spitze derer, die in der Polemik gegen die internationalistische «Phrase» zu erkennen gaben, worum es eigentlich ging: um die Möglichkeit des «Sozialismus in einem Lande». In einem programmatischen Aufsatz vom Dezember 1924 definierte er den «Trotzkismus» geradezu durch die Missachtung der beiden «Besonderheiten» der Oktoberrevolution: zum einen des Bündnisses zwischen Proletariat und «werktätiger» Bauernschaft als ‹Klassenbasis›, zum anderen der Tatsache, «dass die Diktatur des Proletariats bei uns verankert wurde als Ergebnis des Sieges des Sozialismus in einem, kapitalistisch wenig entwickelten Lande, während in den anderen, kapitalistisch entwickelteren Ländern der Kapitalismus weiterbestehen blieb». Weil Trotzki die Bauern nach menschewistischer Art einfach ‹vergessen› habe, sei ihm die Stärke der innerrussischen sozialistischen Kräfte nicht hinreichend klar geworden. Lenin habe dagegen richtig vorhergesehen, dass «der Durchbruch» dort erfolgen werde, «wo die Kette der imperialistischen Front am schwächsten» sei. Es war Stalin, der den Leninschen Überlegungen diese klare Zuspitzung gab. Der Oktoberputsch avancierte endgültig von einem Sonderfall zur Erfüllung der historischen Gesetzmäßigkeit. Sie bedurfte keiner Hilfe von außen, sondern gewährte dem Sozialismus «im Ozean der imperialistischen Länder» im Gegenteil eine erste «Heimstätte». Deutlicher noch als Lenin schlug Stalin damit eine Brücke zwischen russischem Selbstbewusstsein und dem Aufbau einer neuen Gesellschaft, zwischen Nationalismus und Sozialismus; diese Verbindung sollte sich als zukunftsträchtig erweisen.[26]

Der auch darauf gestützte Sieg fiel umso leichter, als Trotzki einmal mehr darauf verzichtete zu kämpfen. Zwar war es nicht ihm anzulasten, dass eine Replik auf die Kritik an den Lehren des Oktober ungedruckt blieb. Aber er setzte sich gegen dieses Publikationsverbot auch nicht heftig zur Wehr. Abermals überfiel ihn Ende November das mysteriöse Fieber vom Vorjahr. Auch wenn er den Kreml diesmal nicht verließ, sah er den nächsten Etappen seiner Entmachtung ebenso tatenlos zu wie im Sanatorium von Suchumi. Mehr noch, ähnlich wie auf dem 13. Parteitag gab er Mitte Januar 1925, von seinem Krankenbett aus, eine Erklärung ab, die nur als Unterwerfung zu verstehen war. Zutreffend bezeichnete er darin die Theorie der «permanenten Revolution» als Gegenstand der «Parteigeschichtsforschung», der nichts zur Klärung aktueller Fragen beitragen könne. Zugleich verwahrte er sich gegen den Vorwurf, den «Leninismus» revidieren zu wollen, und beteuerte beinahe devot, keine Sonderrolle zu beanspruchen, sondern wie jeder einfache Parteisoldat für alle Aufgaben zur Verfügung zu stehen, die das ZK ihm zuweise.

Das ZK honorierte diese Kapitulation nicht. Es bestand auf Sanktionen. Uneinigkeit herrschte nur über deren Art und Ausmaß. Das Leningrader Parteikomitee um Trotzkis Intimfeind Zinov’ev forderte schon zu dieser Zeit seinen Parteiausschluss. Als sich dafür keine Mehrheit fand, milderte Kamenev den Antrag auf Entfernung aus dem Politbüro ab. Auch bei dieser Strafe war vielen Genossen – darunter Stalin – noch so unwohl, dass sie dagegen stimmten. Einmütig angenommen wurde schließlich seine Absetzung als Kriegskommissar mit Wirkung vom 26. Januar 1925. Trotzki protestierte nicht. Glaubt man seinen Memoiren, so verspürte er sogar eine «innere Erleichterung», weil damit eine Ursache vieler Verleumdungen entfallen sei. So wenig diese Begründung zu überzeugen vermag, so treffend bezeichnete sie seine Verfassung: Trotzki war müde und gab seine Sache verloren.[27]

Den Höhepunkt und bereits die Entscheidung brachte auch in diesem Konflikt ein Parteitag: der 14., der mit halbjähriger Verspätung im Dezember 1925 stattfand. Welcher Machtwechsel sich inzwischen vollzogen hatte, war schon an der äußeren Rollenverteilung abzulesen. Erstmals hielt Stalin im Namen des ZK das Hauptreferat. Zugleich wurde die Spaltung der Führung sichtbar: Ebenfalls zum ersten Mal folgte ihm ein «Korreferat», das Zinov’ev für die Leningrader Opposition vortrug. Offensichtlich operierte Stalin aber schon im Bewusstsein ungefährdeter Herrschaft. Er stellte sich nicht nur den Vorwürfen, sondern antwortete mit jener herablassend-pseudoargumentativen Exegese angeblich verbindlicher Grundsätze, die sich nur leisten kann, wer sich seiner Gefolgschaft sicher ist. Den Vorwurf des verkappten Kapitalismus wies er mit dem Hinweis darauf zurück, dass es in der Sowjetunion auch unter den Bedingungen der NĖP angesichts der Verstaatlichung der Großindustrie keine unterdrückende Klasse mehr gebe. Und auf die Frage nach der angemessenen Politik gegenüber den «Mittelbauern» antwortete er mit der Warnung vor zwei «Gefahren», der Unterschätzung und der Überschätzung der «Kulaken». Die einzig richtige Haltung bestehe in der Fortsetzung der Leninschen Politik eines Bündnisses unter der wachsamen Führung des «Proletariats» und bei andauernder Förderung der Industrie. Ähnlich fadenscheinig wand sich Stalin aus dem damit verbundenen theoretischen Dilemma des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande heraus: Sicher würde «Hilfe aus dem Westen» dazu beitragen, «die Gegensätze … zwischen den kapitalistischen und den sozialistischen Elementen … rascher» zu überwinden. Aber wenn sie ausbleibe, könne das sowjetische Volk, durch «Lenins Schule» gestählt, die Probleme auch «aus eigener Kraft» meistern. Wenn die Zuhörer solchen Aufrufen «stürmischen, lang anhaltenden Beifall» spendeten und sich zur «Ovation» erhoben, so zeugte das nicht nur von der Vorsorge des Generalsekretärs bei der Delegiertenwahl, sondern auch von aufrichtiger Begeisterung. Stalin traf eine verbreitete Aufbruchsstimmung und appellierte nicht ohne demagogisches Gespür an den Willen, sich gegen alle Widerstände im In- und Ausland aus der Misere von Zerstörung und Rückständigkeit zu befreien. Abermals erwies sich dieses Rezept als äußerst wirksam.

Dem hatte Zinov’ev wohl Argumente entgegenzusetzen, aber keine Ziele, die eine emotionale Identifikation ermöglicht hätten. Noch deutlicher als Trotzki stand er als bloßer Zweifler, der sich überdies noch vorwerfen lassen musste, seinen eigenen, kaum verhallten Worten zu widersprechen, vor dem Auditorium. Zwar waren auch seine Einwände geeignet, bei älteren Parteimitgliedern Nachdenklichkeit hervorzurufen. Sie konnten der Skepsis gegenüber den «NĖP-Leuten» und der Warnung, die Weltrevolution und die Arbeiterschaft nicht zu vergessen, nur beipflichten. Aber zum einen waren solche Gedanken nicht neu, zum anderen hatten sie den Nachteil, zu abstrakt zu sein und weder den sichtbaren Erfolgen der NĖP noch den Ambitionen einer sich verändernden Partei Rechnung zu tragen.

Manches spricht für die Vermutung, dass dieses Unverständnis beim zweiten Hauptanliegen der neuen Opposition geringer war. In einer eindrucksvollen Rede scheute sich Kamenev nicht, den Trotzkischen Bürokratismusvorwurf vehement zu erneuern. Wegen ihres prophetischen Gehalts sind die Worte oft wiederholt worden, die Opposition lehne es ab, «eine Theorie ‹des Führers›» und «einen Führer zu schaffen». Sie wende sich gegen die Überordnung des Parteisekretariats über das Politbüro und die Ersetzung gemeinsamer Leitung durch die Allmacht einer Einzelperson. Als Kamenev auch noch seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, «dass Genosse Stalin nicht in der Lage» sei, «die Rolle einer vereinenden Kraft der bolschewistischen Führung auszufüllen», war für die Delegierten das Maß voll. Der persönliche Angriff auf den Generalsekretär provozierte lärmenden Protest, der in Hurra-Rufe des ganzen Saales überging. Auch hier schwang aufrichtige Überzeugung mit. Nicht nur aus Furcht akzeptierten die Delegierten, dass Stalin sich zum Sprecher der ‹schweigenden› Mehrheit gegen ‹Sonderlinge› und ‹Nonkonformisten› aufschwang. Dabei verstieg er sich zu den nachmals ebenfalls oft in Erinnerung gerufenen Worten: «Ihr wollt das Blut von Bucharin? Wir werden Euch sein Blut nicht geben, das sollt Ihr wissen.» Mit gutem Grund ließ er diese Sätze 1938 aus dem Protokoll streichen.[29]

Schon angesichts der Begeisterungsstürme für Stalin konnten die Beschlüsse des Kongresses nicht überraschen. Kamenev stand auf verlorenem Posten, als er Änderungsvorschläge zum Resolutionsentwurf über den Bericht des ZK vortrug. Der entscheidende Text wurde mit 559 gegen 65 Stimmen angenommen. Doch der abermals Gestärkte begnügte sich nicht mit einem Votum. Es gehörte schon damals zu seinen politischen Methoden, sicher zu gehen. In den ersten Tagen des neuen Jahres (1926) traf seine rechte Hand im Parteisekretariat, Vjačeslav M. Molotov, an der Spitze einer ganzen Gruppe treuer Gefolgsleute in Leningrad ein. Die Emissäre entfalteten eine lebhafte Agitation in den Betrieben und unteren Parteizellen. Binnen kurzem gelang es ihnen, Versammlungen einzuberufen und die Sekretäre abwählen zu lassen. Bereits Ende Januar war Zinov’evs Hausmacht gebrochen. Den Schlussakkord setzte im Februar eine Gouvernementskonferenz, die dem Hauptredner Bucharin folgte und den in Moskau vorformulierten Resolutionen zustimmte. Auch wenn Molotovs Kommando latente Unzufriedenheit mit Zinov’evs Herrschaftsstil nutzen konnte, verdiente die Methode dieser schnellen Eroberung Beachtung: Es waren die einfachen Parteimitglieder, die den Versicherungen der Führung am ehesten Gehör schenkten. Eben die von der Opposition (auch der neuen) zu natürlichen Garanten eines echten, ‹demokratischen› Sozialismus verklärten Arbeiter erwiesen sich als die willfährigsten Gehilfen der zentralen Herrschaft.

Schließlich blieben auch personelle Umbesetzungen nicht aus. Kamenev wurde vom Vollmitglied im Politbüro zum Kandidaten zurückgestuft. Zinov’ev behielt zwar seinen Sitz, verlor aber durch die Erweiterung des Gremiums auf neun Mitglieder an Einfluss. Alle drei Neulinge waren ergebene Diener ihres Herrn: neben Kalinin und Molotov der spätere langjährige Militärkommissar K. E. Vorošilov. In der Regierung gab es weniger Änderungen. Nur Kamenev musste sein Amt als Stellvertretender Vorsitzender des SNK dem ebenfalls stalintreuen Leiter der innerparteilichen Kontrollkommission (CKK) V. V. Kujbyšev überlassen. Alldem schaute einer zu, als ob ihn die Vorgänge nichts angingen: Trotzki. Schon im Frühjahr 1925, als erste Risse im Triumvirat sichtbar wurden, ließ er die Gelegenheit ungenutzt verstreichen. Als sein amerikanischer Sympathisant Max Eastman Lenins «Testament» veröffentlichte, dementierte er dessen Existenz in einer verwirrenden Erklärung, die er später dem Druck des Politbüros zuschrieb. Und als es auf dem 14. Parteitag zur offenen Konfrontation kam, ergriff er, obwohl anwesend und gesund, nicht ein einziges Mal das Wort. Sicher verband ihn wenig mit den Anführern der neuen Opposition. Aber ein nüchternes politisches Kalkül hätte geboten, darüber hinwegzusehen und die Situation im Interesse der Sache zu nutzen. Es lag wohl abermals ein Moment des Eskapismus darin, dass Trotzki stattdessen Moskau im April erneut für längere Zeit verließ, um seine geheimnisvolle, inzwischen nicht mehr akute Krankheit behandeln zu lassen.[30]

Dabei bemühten sich die Kritiker diesmal auch darum, ihre Vorstöße organisatorisch zu fundieren. Sie veranlassten Sympathisanten in verschiedenen größeren Städten, sich zu Komitees zusammenzuschließen. Sie versandten Broschüren und sonstige Materialien. Und sie veranstalteten geheime Versammlungen, da sich ihre Redner nicht mehr öffentlich äußern konnten. Als eines der ersten größeren Treffen dieser Art, das wie zu zarischen Zeiten in einem Wald vor den Toren Moskaus stattfinden musste, an die Parteispitze verraten wurde, scheint diese begriffen zu haben, was sich anbahnte. Sie leitete umgehend ein Untersuchungsverfahren ein und bereitete für das nächste ZK-Plenum Mitte Juli Strafmaßnahmen vor. Auch die neue Opposition rüstete sich für die erste Kraftprobe, indem sie mit einer Plattform an die Parteiöffentlichkeit trat. Sachlich enthielt die Erklärung der 13 nichts Neues. Sie hatte den positiven Effekt, den Zusammenschluss der Kritiker und ihre neue Stärke unübersehbar zu machen. Aber sie erzeugte auch den taktischen Nachteil, dass sich erstmals seit 1923 wieder eine «Fraktion» in der Partei offen zu erkennen gab.[31]

Das ZK versäumte denn auch nicht, die wirksame Waffe des einschlägigen Verbots aus Lenins Tagen in Anschlag zu bringen. Nach heftiger Diskussion wurde eine Resolution verabschiedet, die Zinov’ev als ersten prominenten Mitkämpfer Lenins aus dem Politbüro ausschloss. Trotzki blieb ungeschoren. Womöglich genügte es Stalin, dass fünf treue Gefolgsleute auf einen Schlag zu Kandidaten des Politbüros befördert wurden, darunter sein georgischer Landsmann G. K. («Sergo») Ordžonikidze, der neue Parteichef von Leningrad S. M.Kirov, A. I. Mikojan, der dem Gremium noch unter Chruščev angehörte, und als vielfach einsetzbarer ‹Feuerwehrmann› L. M. Kaganovič.

Doch die Opposition gab noch längst nicht auf. Im Gegenteil, vielleicht im Bewusstsein ihrer bedrängten Lage forderte sie die Parteiführung durch eine regelrechte Kampagne heraus. Ende September erschienen gleich mehrere prominente Gegner, darunter Trotzki, Zinov’ev, Kamenev und Radek, im Moskauer Flugzeugwerk, um einer Versammlung dortiger Parteimitglieder ihre Ansichten darzulegen. Anfang Oktober wiederholte Zinov’ev einen solchen Auftritt in der bolschewistischen Hochburg der Revolutionstage, den Leningrader Putilov-Werken. Die Resonanz war allerdings kläglich. Er musste Hohn und Spott über sich ergehen lassen und konnte, der offiziellen Darstellung zufolge, ganze 25 von 1400 Stimmen für seine Resolution gewinnen. Dies mag zu einem irritierenden ‹Waffenstillstand› beigetragen haben, auf den sich unter anderem Trotzki, Zinov’ev und Kamenev am 16. Oktober einließen. In einer gedruckten Erklärung bekannten sie sich öffentlich schuldig, die Parteidisziplin verletzt und eine unerlaubte Fraktion gebildet zu haben. Nach dem entschlossenen Kampf der vergangenen Wochen reagierten viele Anhänger auf diesen Kurswechsel mit Bestürzung. Sie mochten sich damit trösten, dass die «Kapitulation» nicht von Dauer war. Keine Woche nach ihrer Unterzeichnung kam es im Politbüro zu einem Eklat. Als trotz der Unterwerfung beschlossen wurde, der bevorstehenden 15. Parteikonferenz Thesen zur Verurteilung der Opposition aus Stalins Feder vorzulegen, bezeichnete ein erzürnter Trotzki diesen als «Totengräber der Revolution». Damit waren die Brücken endgültig abgebrochen. Stalin, der persönliche Angriffe nicht vergaß, setzte fortan auf Vernichtung, wenn auch noch nicht im physischen Sinn. Als das ZK wenige Tage nach diesem Vorfall zusammentrat (23.–26. Oktober), erteilte es auf Antrag Stalins und Molotovs dem «trotzkistisch-zinov’evistischen Block», wie man bereits formulierte, eine Rüge und schloss Trotzki aus dem Politbüro aus. Kamenev verlor seinen Kandidatenrang und Zinov’ev sein Amt als Vorsitzender des Exekutivbüros der Komintern. Trotzkis Platz im Politbüro übernahm Kujbyšev, der zugleich Vorsitzender des VSNCh wurde. An Zinov’evs Stelle führte fortan Bucharin die Komintern.

Die 15. Parteikonferenz, die sich unmittelbar anschloss, bildete ein willkommenes Forum, um das Scherbengericht vor den Augen der Delegierten aus der ganzen Union zu Ende zu führen. Stalin konnte seine Thesen zu einer ausführlichen und höchst polemischen Abrechnung ausweiten. Dabei besaß er ein plausibles Argument darin, dass die «neue Opposition» gestern noch heftig miteinander gestritten habe und offensichtlich ein «unverhohlener prinzipienloser Kuhhandel» vorliege. Im Mittelpunkt seiner Angriffe stand erneut der Vorwurf, die Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande zu leugnen. Auch diese Anschuldigung erfuhr nun, ohne dass neue Begründungen vorgebracht wurden, eine Zuspitzung zur Kardinalsünde: Der «Trotzkismus» behaupte letztlich, dass die russische Umwälzung «an und für sich, dem Wesen der Sache nach, keine sozialistische Revolution» gewesen sei und diese Dignität erst durch die «Weltrevolution» erreichen könne. Er leugne damit die Grundlagen des Oktober und des neuen Staates. Trotzki entgegnete mit einer flammenden Rede, in der sein alter kämpferischer Elan noch einmal aufflackerte. Obwohl die Delegierten ihm zuhörten und seine Redezeit mehrfach verlängerten, trugen Stalin und Bucharin, der ihm an Hohn und Schärfe nicht nachstand, einen ungefährdeten Sieg davon.[32]

So mochte es im Winter 1926/27 scheinen, als sei auch die Vereinigte Opposition besiegt. Doch die Stille entpuppte sich als sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Im Frühjahr 1927 gab ein auswärtiges Ereignis den Gegnern der Parteiführung wieder Gelegenheit, auf den Plan zu treten: das Massaker, das der General Tschiang Kai Tschek am 12. April unter den Kommunisten von Schanghai und Nanking anrichtete, obwohl die von ihm geführte national-demokratische Kuomintang-Partei eine formelle Allianz mit der chinesischen KP geschlossen hatte. Spätestens seit der Niederlage der deutschen Kommunisten im Herbst 1923 bestand eine enge Verbindung zwischen den innerrussischen Kämpfen und der Kominterntaktik. In dem Maße, wie die Weltrevolution auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, wuchs das Gewicht des Landes und der Partei, die als Einzige vorangegangen waren. Wer im bolschewistischen Politbüro unterlag, hatte auch in der Kominternführung keinen festen Boden mehr unter den Füßen. In dieser Verzahnung von nationaler und internationaler sozialistischer Strategie hatte die Linke zumeist einen radikaleren, revolutionären Kurs auf den verschiedenen Schauplätzen des globalen Klassenkampfes gefordert. Die Konzentration auf den «Sozialismus in einem Lande» dagegen ging einher mit einer gemäßigteren, teilweise für Bündnisse mit nationalen Befreiungsbewegungen offenen Taktik. Eben diese ‹versöhnlerische› Politik der ‹Einheitsfront› sah die Opposition durch den Überfall Tschiangs endgültig diskrediert. Stalin und Bucharin trugen nicht nur Mitschuld am Märtyrertod unbewaffneter Arbeiter: Was international in die Katastrophe führte, konnte auch im Innern nicht zum Vorteil gereichen: Die Opposition «hob den Kopf» (Trotzki).

Die Schüsse im fernen China gaben den Kritikern einen solchen Auftrieb, dass sie eine neue Plattform vorzulegen wagten und dafür mehr Unterschriften sammeln konnten als je zuvor. Nicht zufällig begann die «Erklärung der 84» mit Thesen über die Ursache für die «ungeheure Niederlage» im internationalen Kampf gegen den Imperialismus. Sie versäumte aber nicht, den Bogen zu den inneren Missständen zu schlagen. Denn die Wurzeln des Übels waren gemäß der linken Diagnose nicht nur dieselben, sondern auch die alten: die Abkehr vom ‹Klassenstandpunkt› und ‹proletarischen› Kurs Lenins zugunsten von Kompromissen mit verschiedensten ‹kleinbürgerlichen› Überhängen der alten kapitalistisch-imperialistischen Ordnung. Weniger der Inhalt dieses Manifests gab daher dem Streit eine neue Dynamik als das Faktum seiner Veröffentlichung in einer gespannten Situation. Fraglos hatte die Komintern eine empfindliche Niederlage erlitten; Konsequenzen konnten auf Dauer nicht ausbleiben. Offen zutage lag aber auch, dass die Opposition ein weiteres Mal gegen das Fraktionsverbot verstoßen hatte. Hinzu kam schließlich, nur einen Tag nach der Übersendung der Deklaration an das Politbüro, ein zweiter schwerer außenpolitischer Rückschlag: Großbritannien brach am 27. Mai die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab, die drei Jahre zuvor vom ersten Labour-Kabinett aufgenommen worden waren und einen Durchbruch markiert hatten. Zwar kam der Schritt nicht überraschend. Zum einen regierten die Konservativen wieder. Zum anderen und vor allem hatten sowjetische Sympathiekundgebungen für den großen Streik der englischen Bergarbeiter im Vorjahr starke Spannungen verursacht. Dennoch wirkte das fait accompli wie ein Schock. Kriegsfurcht – wie begründet auch immer – verbreitete sich und schürte die Gegensätze.[33]

Als die Parteiführung den ‹trotzkistischen› Wirtschaftsfachmann I. T. Smilga nach bewährtem Rezept auf einen neuen Posten im sehr fernen Osten (Chabarovsk) versetzte, kam es zu einer oppositionellen Demonstration, auf der Trotzki und Zinov’ev öffentlich sprachen (am 9. Juni). Zur Rechenschaft gezogen, bewies Trotzki Mut und stellte die provozierende Frage, wann denn die selbsternannten Richter der Russischen Revolution ihre Gegner auf die Guillotine zu bringen gedächten. Die Antwort gab er selber: Sie stünden im Begriff, es im «thermidorianischen Kapitel» zu tun. Wenig später setzte Trotzki auf diesen Klotz noch einen groben Keil. In einem Brief an Ordžonikidze, Stalins neuen Mann an der Spitze der CKK, verglich er die eigenen Reihen mit Clemenceau und seinen Anhängern, die während des Ersten Weltkriegs ebenfalls aus der Opposition heraus die kompromissbereite Regierung angegriffen hätten und von der Geschichte gerechtfertigt worden seien. Die Analogie kam einer Ohrfeige für die Parteiführung gleich und wurde auch so verstanden. Während der nächsten Plenarsitzung des ZK gingen die Wogen hoch. Die ungewöhnliche Länge der Zusammenkunft (29. 7.–9. 8.) spiegelte die Verbissenheit, mit der gestritten wurde, zeugte aber auch von der neuen Stärke der Opposition. Immerhin ist bemerkenswert, dass sich die Parteiführung zu einem Kompromiss bereitfand. Zwar verwies ihre Entschließung zu Recht – hier rächte sich dieser Kniefall – auf das Versprechen vom Vorjahr, sich aller Blockbildung zu enthalten. Zugleich verwahrte sie sich gegen die ‹Clemenceau-These› sowie den Vorwurf der thermidorianischen Entartung und warf ihren Urhebern vor, die bolschewistische Partei samt der Komintern spalten zu wollen. Aber sie zog die Drohung des Ausschlusses aus dem ZK ausdrücklich zurück und beließ es bei einer strengen Verwarnung.[34]

Dennoch konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass der Bann weiterhin über den Kritikern schwebte. Da eine Verständigung ausgeschlossen schien, musste eine endgültige Entscheidung fallen. Seit dem Herbst verbreitete sich die Erwartung, dass der 15., für Dezember anberaumte Parteitag sie treffen würde. Tatsächlich aber spitzte sich der Konflikt so schnell zu, dass sie schon vorher fiel. Als Vorbereitung auf diesen Endkampf fasste die Opposition ihren Standpunkt noch einmal in einer umfangreichen Plattform zusammen und legte sie dem Politbüro am 8. September mit der Aufforderung zur Veröffentlichung vor. Die Parteiführung wies dieses Ansinnen als Versuch der Legalisierung einer Fraktion zurück. Ihr Gegenstoß ließ nicht lange auf sich warten: Zum ersten Mal griff die Geheimpolizei (zu dieser Zeit OGPU genannt) massiv in die Auseinandersetzung ein und hob die Druckerei der Opposition aus. Trotzki durfte zwar noch eine leidenschaftliche Rede vor dem Kominternbüro halten. Diese hinderte das Gremium aber nicht daran, ihn dennoch auszuschließen.

Das herannahende zehnjährige Revolutionsjubiläum am 7. November tat ein Übriges, um den Konflikt zu schüren. Da mit oppositionellen Demonstrationen zu rechnen war, nutzte die Parteiführung die gemeinsame Plenarsitzung des ZK und der CKK vom 21.–23. Oktober zum Vernichtungsschlag. Vergeblich beschwerte sich Trotzki in einer Rede, während der man sogar ein Glas nach ihm warf, über die «Fälschungsfabrik», die «Tag und Nacht in zwei Schichten» arbeite, um den Popanz des «Trotzkismus» zu fabrizieren. Vergeblich verteidigte er die Drucklegung der Plattform mit dem Hinweis darauf, dass sich das Politbüro geweigert habe, sie der Parteiöffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Vergeblich sprach er offen von Gerüchten über baldige Erschießungen und die Vorbereitung eines «Thermidor», des Tags «der Vernichtung der Revolution». Stalin brauchte sich keine große Mühe bei der Begründung seines Ausschlussantrags zu geben. Er konnte es sich sogar leisten, Lenins «Testament», von dem die Opposition nun endlich Gebrauch machte, offen anzusprechen und zu seinen Gunsten zu deuten. Dabei erinnerte er nicht nur – formal korrekt – an sein Demissionsangebot und die einmütige Bitte des 13. Parteitags zu bleiben. Er gab dem unmissverständlichen Leninschen Vorwurf der «Grobheit» selbst eine geradezu dreiste Wendung ins Positive: «Ja», er sei «grob gegen diejenigen, die grob und verräterisch die Partei» zersetzten und spalteten. Dies sagte er vor Funktionären, denen kein Schauer mehr über den Rücken lief, weil sie selbst fürs Grobe zuständig waren und nicht daran dachten, dass aus Tätern Opfer werden könnten. Willfährig beschloss das ZK, Trotzki und Zinov’ev wegen wiederholten parteischädigenden Verhaltens nun aus seinen Reihen zu verbannen.[35]

Den Ausgestoßenen blieb die Hoffnung auf den ersten ‹runden› Jahrestag der Revolution. Zahlreiche Demonstrationen und Reden waren vorbereitet. Die Opposition beschloss, sich mit eigenen Parolen zu beteiligen. Sie wollte gegen ‹Kulaken, NĖP-Leute und Bürokraten› aufrufen und für die ‹Erfüllung von Lenins Testament› werben. Allerdings hatte sie die Rechnung ohne Stalin gemacht. Offenbar hatte die Polizei Anweisung, entschieden und hart gegen ungenehmigte Demonstrationen vorzugehen. Trotzki zufolge kamen ihr dabei sogar «offen faschistische Elemente» zu Hilfe. Unbequeme Spruchbänder wurden zerrissen, ihre Träger verprügelt, Redner eingeschüchtert. Allerdings wären die Büttel des Parteidiktators machtlos gewesen, hätte sich die Hoffnung der Opposition auf die Unterstützung der ‹Massen› erfüllt. Diese aber blieb abermals aus. Auch Trotzki gestand ein, dass der letzte öffentliche Auftritt der Opposition in einer großen Enttäuschung endete.[36]

Danach war die Niederlage nicht mehr aufzuhalten. Der 15. Parteitag, der im Dezember tagte (2.–19.), bildete kein Forum mehr, das den Kritikern auch nur zugehört hätte. Das Parteisekretariat hatte die Zusammensetzung durch «sogenannte Wahlen zu den Ortskonferenzen» zuverlässiger gesteuert als je zuvor. Trotzki war nicht einmal anwesend. Was der Kongress hauptsächlich tun sollte, war von Beginn an klar. Auf Vorschlag der Parteiführung bildete er eine Sonderkommission, der aufgetragen wurde, das Verhalten der Opposition zu prüfen und eine Verfahrensempfehlung auszuarbeiten. Zu welchem Ergebnis die Juroren kommen würden, nahm Stalin schon am zweiten Sitzungstag im Rechenschaftsbericht des ZK vorweg. Nach der abermaligen Wiederholung der bekannten Vorwürfe schloss er mit einem Ultimatum, das an Deutlichkeit nicht zu wünschen ließ: «Man fragt nach den Bedingungen. Wir stellen nur eine Bedingung: Die Opposition muss völlig die Waffen strecken, sowohl in ideologischer als auch in organisatorischer Beziehung … Entweder sie nimmt das an, oder sie verlässt die Partei. Geht sie aber nicht selber, dann werden wir sie hinausjagen.»[37]

Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Unter ihrem Druck zerbrach das oppositionelle Zweckbündnis. Bereits am vierten Sitzungstag trat Kamenev ans Rednerpult, um für sich und seine Gesinnungsfreunde ein glimpfliches Urteil zu erbitten. Er sagte die restlose Einstellung aller nicht genehmigten Aktivitäten zu. Auch wenn er an einigen Sachaussagen festhielt, kam seine Rede einer bedingungslosen Kapitulation gleich. Dem Auditorium war auch dies nicht genug. Wenig machte den Wandel in der Partei so deutlich wie die Tatsache, dass dieser verdiente Altbolschewik und Mitstreiter Lenins von Stalins apparatčiki ausgepfiffen wurde. Pausenlose Zwischenrufe warfen ihm falsche Reue vor und verlangten eine überzeugende Lossagung vom «Menschewismus». Auch der von Kamenev unlängst noch geschmähte «Führer» meinte, die Zinov’evisten machten es sich zu leicht. Erwartungsgemäß schloss sich die Sonderkommission dem ebenso an wie der Kongress insgesamt. Dieser folgte dem Vorschlag, 75 namentlich genannte «Trotzkisten» sowie 23 Anhänger der (immer noch bestehenden) Demokratischen Zentralisten aus der Partei zu entfernen. Zugleich wurde die Reue der Zinov’ev-Anhänger erhört. Die Versammlung wollte zwar kein Generalpardon für die Unterzeichner einer entsprechenden Petition erteilen. Aber sie stellte es dem ZK und der CKK – nicht ohne die demütigende Auflage einer halbjährigen Wartefrist, tadellosen Benehmens und individueller Prüfung – anheim, die Bittsteller wiederaufzunehmen.[38]

Es wäre zu kurz gegriffen, wollte man diese Unterwerfung bloßem Opportunismus zuschreiben. Ähnliche Konflikte während der Stalinschen Schauprozesse verweisen darauf, dass sich die Betroffenen in einem Dilemma wähnten, aus dem sie keinen anderen Ausweg sahen. Wohl aufrichtig sprach Kamenev angesichts des zu erwartenden Ausschlusses von der Alternative zweier «Wege»: entweder eine andere «Partei» zu gründen oder zu bereuen. Die erste Möglichkeit aber scheide aus; sie sei «verderblich für die Revolution», «verboten» durch «das ganze System unserer Anschauungen». Hier lag in der Tat die tiefere Ursache für eine fundamentale Schwäche der Opposition: Sie konnte sich keine andere Partei des Sozialismus vorstellen. Politischer Pluralismus war ihr fremd. Nicht auszuschließen ist, dass eine taktische Überlegung hinzukam. Demnach hätten die Zinov’evisten in der Partei größere Handlungsmöglichkeiten gesehen als außerhalb. Selbst wenn sich diese verständnisvolle Deutung erhärten ließe, muss sie dem Einwand begegnen, dass die Unterwerfung auch den Verzicht auf Agitation und Gruppenbildung einschloss. Kein Oppositioneller durfte ernsthaft hoffen, angesichts fortdauernden Argwohns noch in seinem Sinne Einfluss auf die Partei nehmen zu können.[39]

Die Anhänger Trotzkis kamen gar nicht erst in die Verlegenheit, darüber nachdenken zu müssen. Zwar unternahmen auch sie noch einen Verständigungsversuch. Auch sie erklärten, sich der Parteidisziplin beugen zu wollen. Zugleich hielten sie aber an ihren inhaltlichen Positionen fest. In den Augen der Parteiführung blieben sie verstockte Häretiker. Der Bann wurde weder aufgehoben noch gelockert, sondern im Gegenteil noch verschärft: Anfang Januar 1928 mussten die prominenten Dissidenten Moskau verlassen. Erst als die Geheimpolizei Trotzkis Ankunft in Alma Ata meldete, fühlte sich das Politbüro sicher.[40]

Solch tiefsitzende Furcht, in der sich immer noch ein Abglanz der potentiellen Macht des Opfers spiegelte, wirft erneut die entscheidende Frage auf, wie Trotzkis tiefer Fall in so kurzer Zeit zu erklären ist. Die Reihe der Antworten beginnt mit den persönlichen Eigenschaften. Trotzki war selbstbewusst bis zur Arroganz. Er wusste um seine intellektuelle und rhetorische Brillanz und ließ sie andere spüren. Er konnte schroff und abweisend sein. Er mied Kumpanei und Stammtischgeselligkeit. Zugleich fehlte ihm der Sinn für die politische Bedeutung solcher inoffizieller Kommunikation. Erst im Rückblick erkannte er, dass er sich durch seinen einzelgängerischen Elitarismus abgesondert, sich Feinde geschaffen und von Gruppenbildungen hinter den Kulissen ausgeschlossen hatte. Seine Verachtung für ‹kleinbürgerliche› Kungelei mochte ihn ehren, aber sie war fatal in einer Zeit, in der um Lenins Nachfolge gestritten wurde und Koalitionen zwischen den Aspiranten entschieden.

Mit den persönlichen Schwächen hingen politische zusammen. Trotzki besaß wenig Sinn für die Chancen und Imperative von Situationen. Selbst wenn er 1923/24 tatsächlich krank gewesen sein sollte, ließ er sich kaum verständliche Versäumnisse zuschulden kommen. Er zögerte zur Unzeit, schwieg, wo er hätte reden müssen, lenkte ein, ohne die Tragfähigkeit der Kompromisse zu prüfen, griff Gegner an, die Freunde werden konnten, und wachte erst auf, als es zu spät war. Obwohl er sich selber als Administrator hervorgetan hatte und wusste, wie Hierarchien funktionieren, unterschätzte er die Macht des Apparates kolossal. Darin liegt eines der größten Rätsel seiner Person und seines politischen Verhaltens: Er glaubte an die Kraft der Argumente, obwohl er die überlegene Gewalt von Organisationen und Strukturen allzu gut kannte.

Hinzu kam, dass für ihn allem Anschein nach Ähnliches galt wie für Zinov’ev und Kamenev: Auch er konnte sich ein politisches Leben außerhalb der Partei nicht vorstellen. Wenn er sich mehrfach mit der herrschenden Gruppe arrangierte, so beugte er sich dem Leninschen ‹Fraktionsverbot› nicht nur aus taktischen Gründen, sondern auch aus Überzeugung. Wie alle Mitstreiter blieb Trotzki ein Gefangener seiner ideologischen Grundannahmen. Ohne Bolschewismus konnte es keinen Sozialismus, ohne Sozialismus keine erstrebenswerte Zukunft geben. Die bedingungslose Loyalität, die Stalin manipulativ perfektionierte, galt auch für die Opposition: Die Partei wurde zur Kirche, extra partiam nulla salus. Wenn sich aber deshalb eine neue Partei verbot und die alte ihn ausschloss, blieb wenig Raum für wirksame Kritik.

Umgekehrt wird man Stalin zumindest in dieser Periode nicht gerecht und seinen Aufstieg nicht verstehen, wenn man ihn nur als Bürokraten und Machtmenschen sieht. Stalin war nicht zuletzt ein raffinierter und wendiger Taktiker. Er dachte voraus, hielt sich Auswege offen und handelte, wenn die Gelegenheit gekommen war. Dabei blieb er, wenn nötig, im Hintergrund und wartete seine Zeit ab. Trotzki sah im Stalinismus unter anderem den Triumph der Mittelmäßigkeit. Das traf in mancher Hinsicht zu, aber nicht für den künftigen Diktator selbst. Wer dessen Reden liest, begreift, dass Stalin nicht über den Scharfsinn Trotzkis verfügte, aber über die Raffinesse und Verschlagenheit eines tüchtigen Geschäftsmannes. Trotzki hat auch dies bemerkt, aber nicht beherzigt. Stalin war nicht «mittelmäßig», sondern verkörperte und repräsentierte die ‹Mittelmäßigkeit›, die – weniger polemisch – unter sozialen und funktionalen Gesichtspunkten besser als neue, aufwärtsorientierte, überwiegend, aber keineswegs ausschließlich aus kleinen Verhältnissen stammende administrativ-technische Elite zu kennzeichnen war.

Eben deshalb verweist der Ausgang des Diadochenkampfes über subjektive Momente hinaus auf objektive Veränderungen. Stalin erlangte die Herrschaft über den Apparat nicht nur, weil er die Sekretäre einsetzte, sondern weil er sie zugleich repräsentierte. Trotzki erkannte treffend – und wertete dies zu Recht an anderer Stelle als tiefste Ursache des «Thermidor» –, dass die «Stimmung» im Lande sich veränderte und mit ihr der Charakter der Partei. Die «Ideen» des Oktober verloren ihren Einfluss sowohl auf die Massen als auch auf «das Bewusstsein jener Parteischicht, die unmittelbar die Macht über das Land ausübte». Die bolschewistische Führung wechselte ihr Gesicht. Aus den Vorkämpfern der Revolution wurden deren Verwalter. Ein neuer «Typus» drängte in den Vordergrund: Wer sich der Partei zur Zarenzeit angeschlossen hatte, nahm für seine Ideale gravierende Nachteile bis hin zur Aufgabe der bürgerlichen Existenz in Kauf. Wer nach dem Ende des Bürgerkriegs eintrat, gewann Macht, Prestige und Einkommen; er sicherte sein Dasein, statt es zu riskieren. Trotzki bemerkte diesen Wandel und deutete ihn als Aspekt des Übergangs von der ‹Bewegung› zum ‹Regime›. Aber er verstand nicht, dass sich daraus auch neue Bedürfnisse und Ziele ergaben, dass neue Aufgaben neue Leute und neue Leute einen neuen Stil verlangten. Für den friedlichen Aufbau brauchte man keine Volkstribune und heilsgewissen Retter, sondern pragmatische Organisatoren und ‹Künstler des Machbaren›. Nach einem Jahrzehnt von Krieg und Elend war nicht nur die Notwendigkeit einer materiellen Erholung unabweisbar, sondern auch das subjektive Verlangen nach persönlichem Erfolg und praktischer Teilhabe am Aufbau der besseren Zukunft. Ob zu Recht oder nicht, Stalins Programm des «Sozialismus in einem Lande» wurde als Konzession an dieses Bedürfnis verstanden, die linke Hoffnung auf die Weltrevolution und der Ruf nach einer forcierten Industrialisierung dagegen als Quelle neuer Umwälzungen und Unruhe. Es traf daher nur die halbe Wahrheit, wenn Trotzki den Sieg Stalins, des Apparats und der Mehrheitsfraktion als Abgleiten in die konterrevolutionäre Diktatur deutete. Die andere Hälfte hätte in der Einsicht bestanden, dass der Wandel unvermeidlich und die ‹permanente Revolution›, genau besehen, ein Selbstwiderspruch war.[41]