Im Morgengrauen des 22. Juni 1941 überquerten deutsche Flugzeuge und Panzer die sowjetische Westgrenze. Damit begann ein Feldzug, der zum blutigsten des gesamten Kriegsgeschehens wurde. Die großdeutsche Führung eröffnete eine zweite Front, die maßgeblich dazu beitrug, das Reich und seine Bevölkerung zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert in die Katastrophe zu stürzen. Aber nicht nur der Angreifer musste teuer für seine Eroberungslust bezahlen. Auch wenn Leid nicht gegen Leid aufgerechnet werden kann, spricht alles dafür, dass sein Opfer noch weit schlimmer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die materiellen Zerstörungen waren enorm, die Verluste an Menschen – neben den Toten auch die ungezählten Invaliden und Verletzten, Witwen und Waisen, Ruinierten und aus der Bahn Geworfenen – überschritten alle Vorstellungskraft. Weil der erste totale, ideologisch begründeter Vernichtung dienende Krieg der Weltgeschichte auf sowjetischem Boden stattfand und drei grauenvolle Jahre lang nicht wieder vor die Staatsgrenzen zurückgetrieben werden konnte, musste die Sowjetbevölkerung (darunter nicht zuletzt Juden) neben Polen und Jugoslawen einen besonders hohen Blutzoll zahlen und besonders harte Entbehrungen erdulden. Dennoch behaupteten sich nicht nur Land und Leute, sondern auch Staat und Regime. Die Frage ist deshalb immer wieder gestellt worden, wie die Wende und dieser Ausgang zu verstehen seien. Gerade unter nichtmilitärischen Gesichtspunkten war und ist der Erklärungsbedarf vor dem Hintergrund der dramatischen und in vieler Hinsicht prekären Vorkriegsentwicklung groß.

Der Überfall in den ersten Stunden eines strahlenden Frühsommersonntags traf die zivile und militärische Spitze der Sowjetunion aus den genannten Gründen völlig unvorbereitet. Weder die Grenztruppen waren in Alarmbereitschaft versetzt, noch andere Maßnahmen für den Ernstfall ergriffen worden. Deshalb bleibt es für den Kriegsbeginn zweitrangig, wie das Stärkeverhältnis zwischen Angreifern und Verteidigern genau beschaffen war. Erst mit Blick auf die weiteren Ereignisse verdienen die verschiedenen Zahlen, die genannt wurden, größere Aufmerksamkeit. Wie so oft kommen die einen zu hohen Schätzungen, um das offensive Potential der Roten Armee zu dokumentieren, die anderen zu niedrigen, um die Unausweichlichkeit anfänglicher Niederlagen zu begründen. Die Wahrheit liegt in diesem Falle, soweit sie denn feststellbar ist, offenbar nicht in der Mitte. Vielmehr dürfte erwiesen sein, dass die Unterlegenheit der unmittelbar einsatzfähigen sowjetischen Verbände geringer war als vielfach angenommen und ein nennenswerter technischer Rückstand auch zu Beginn der Kampfhandlungen nicht auszumachen ist. Das Oberkommando der Wehrmacht schickte mindestens 3,6 Mio. Soldaten ins Feld (einschließlich ca. 600.000 Verbündeter); sie trafen in den Grenzregionen auf ca. 2,9 Mio. Soldaten der Roten Armee und verschiedener Grenztruppen. Die deutschen Divisionen drangen mit 3648 Panzern und Sturmgeschützen, 7146 Geschützen und 2510 Flugzeugen ein; den Verteidigern standen 14–15.000 Panzer, mindestens 34.695 Geschütze und 8000–9000 Kampfflugzeuge zur Verfügung. Auch wenn die meisten veraltet waren, mussten die deutschen Generäle bald mit Bestürzung feststellen, dass die modernen Kriegsgeräte den deutschen gleichwertig oder sogar überlegen waren. Die Stahlplatten der seit Anfang 1941 in Serie produzierten, bald berühmten T-34 und KV-Panzer widerstanden allem deutschen Beschuss; umgekehrt erwiesen sich einige neue sowjetische Abwehrwaffen (Katjuša, ‹Stalinorgel›) als äußerst wirkungsvoll. Hinzu kam, dass die Sowjetunion schon bis zum 1. Juli 5,3 Mio. Mann zu den Waffen rufen und ihre anfängliche numerische Schwäche mehr als kompensieren konnte. Alles in allem scheinen daher drei zusammenfassende Formulierungen am Platz: Zum einen waren die sowjetischen Fronttruppen besser ausgerüstet und nach kurzer Zeit auch personell stärker als vom OKW erwartet und lange Zeit von der sowjetischen und westlichen Geschichtswissenschaft behauptet. Zum anderen darf man zum Zeitpunkt des Überfalls, als die sowjetischen ‹Wunderwaffen› nur in relativ geringer Zahl zur Verfügung standen, dennoch von einer technischen Überlegenheit der Angreifer ausgehen. Bei alledem gilt aber drittens nach wie vor, dass vor allem in der ersten Kriegsphase weniger die Masse und Qualität von Soldaten und Waffen den Ausschlag gaben als die militärstrategischen Operationen auf beiden Seiten. Was auf sowjetischer Seite versagte, war die Führung, nicht das Material.[1]

So vergingen kostbare Stunden, bis die Angegriffenen reagierten. Stalin hielt auch die ersten konkreten Meldungen für irrig und das Vordringen der Wehrmacht, als der Tatbestand nicht mehr zu leugnen war, für ein Missverständnis. Selbst als ihm Molotov die bittere Wahrheit kurz nach der offiziellen Kriegserklärung durch den deutschen Botschafter um halb sechs in der Frühe mitteilte, gab er keine Anweisung zu entschlossenen Gegenmaßnahmen. Zwar befahl die «Direktive Nr. 2» um 7.15 Uhr, den Feind «mit allen Mitteln» zurückzuschlagen; aber die Truppen sollten dabei den Fuß nicht über die Grenze setzen. Immer noch hoffte der Diktator auf eine Beilegung des Konflikts. Er brauchte den ganzen Tag, um sich Gewissheit zu verschaffen und den schlimmsten Schock zu überwinden. Erst am Abend, um 22.15 Uhr, erging die «Direktive Nr. 3», die den bedingungslosen Gegenangriff befahl und nunmehr zu verwirklichen suchte, was der militärische Einsatzplan eigentlich vorsah: den Kampf in Feindesland zu tragen.[2]

Um diese Zeit war freilich schon so viel Terrain verloren, dass der Angriffsbefehl nur kontraproduktiv wirken konnte. Denn die völlige Verkennung der deutschen Absicht bis zur letzten Minute verursachte Schäden, die nicht mehr gutzumachen waren. Dies galt insbesondere für die Folgen der deutschen Luftüberlegenheit. Der Wehrmachtsführung war bewusst, dass sie angesichts der enormen demographischen und natürlichen Ressourcen des Gegners gut beraten war, schnelle Vorstöße an mehreren Fronten einer Dauerschlacht von Mensch und Material vorzuziehen. Dabei betrachtete man die – im Vergleich zum übrigen Europa – völlig neue Dimension des Raumes als leicht überwindbares Hindernis. Auch die Weite der russischen Provinz sollte in einem ‹Blitzkrieg› erobert werden. Ein Rest von Realitätssinn zeigte sich immerhin darin, dass man nicht bis zum Ural vordringen, sondern an einer Frontlinie haltmachen wollte, von der aus die neuen Industrieanlagen in Magnitogorsk und anderen Orten hätten bombardiert werden können. Für eine Strategie dieser Art war die Beherrschung des Luftraums unabdingbar. Sicher gehört der Erfolg, den die Angreifer in dieser Hinsicht erzielten, zu den wichtigsten Voraussetzungen ihres Siegeszugs im ersten Vierteljahr. Schon am Mittag des 22. Juni waren etwa 1200 sowjetische Flugzeuge, die ungetarnt auf den Flugplätzen standen, zerstört.

Auf dem freien Feld, das dieser Keulenhieb hinterließ, kamen die drei mit starken Panzereinheiten auf Moskau, Leningrad und Kiev vorstoßenden deutschen Heeresgruppen zügig voran. Der unvorbereitete Gegenangriff, den die «Direktive Nr. 3» befahl, scheiterte kläglich. Anfang Juli fiel Minsk, Anfang August nach einer Schlacht, die 426.000 Offiziere und Soldaten in deutsche Gefangenschaft brachte, Smolensk. Noch erfolgreicher wurde der Südkeil bis zur Umfassung Kievs vorangetrieben. Stalin beging einen seiner schwersten militärstrategischen Fehler, als er sich dem Rückzug aus dem abschnürungsgefährdeten Frontbereich so lange widersetzte, bis es nur noch wenigen gelang, den Ring zu durchbrechen. Der «Kampf um die Ukraine» endete in der letzten Septemberwoche und kostete die Verteidiger weitere 492.000 Mann. Die deutschen Truppen rückten auf Rostov am Don vor. Auch wenn sie das ‹Tor zum Kaukasus› Ende November nur für eine Woche nehmen konnten, gingen sie nicht weit davon entfernt in Stellung. Trotz der Gegenwehr, die auch hier nicht ausblieb, hatte die Heeresgruppe Nord wohl am wenigsten Schlachten zu bestehen, bis sie im August vor Leningrad stand. Schon Anfang September entschied Hitler – um die Millionenbevölkerung nicht ernähren zu müssen –, auf eine Eroberung zu verzichten und die Stadt auszuhungern. Jene «900 Tage» währende Tragödie begann, die zu den schlimmsten des Krieges zählte, Menschen vor Hunger, Kälte und Entkräftung auf offener Straße zusammenbrechen ließ, mindestens 630.000 Opfer forderte und besonders tiefe Wunden ins kollektive Gedächtnis grub. Andererseits hätte es wohl gar kein Überleben gegeben, wenn es den sowjetischen Truppen nicht gelungen wäre, im Osten eine ‹Straße› über das Eis des Ladogasees freizuhalten und die völlige Abschließung zu verhindern. Schließlich gelang es den Invasoren auch noch, zu Beginn des Angriffs auf Moskau in der Doppelschlacht bei Vjaz’ma und Brjansk einen letzten großen Triumph zu erzielen, der 673.000 Rotarmisten, über 1200 Panzer und mehr als 5400 Geschütze in ihre Gewalt brachte. Insgesamt ergaben sich der Wehrmacht im ersten Halbjahr des Ostfeldzugs etwa drei Millionen sowjetische Uniformträger. Da auch große Mengen an Waffen und Geräten zerstört oder erbeutet wurden, schienen Hitler und seine gewaltige Kriegsmaschine im Herbst 1941 abermals vor einem schnellen Sieg zu stehen.[3]

Doch diese Erwartung trog. Bei allen Triumphen hatten auch die deutschen Verbände Verluste erlitten und an Kraft eingebüßt. Die scheinbar Unbezwingbaren hatten sich zwar nicht zu Tode, aber müde gesiegt. Ihre Lage wurde in dem Maße bedrohlich, wie die Zeit verrann. Jeder Tag half den Verteidigern, ihre Reihen aufzufüllen, und schadete den Angreifern, die auf eine andere Jahreszeit nicht vorbereitet waren. Nüchterne Beobachter erkannten daher, dass im Herbst oder Winter eine wichtige Vorentscheidung fallen musste. Abzusehen war auch, wo das geschehen würde – im Kampf um die Hauptstadt. Denn obwohl die Wehrmacht auch in den Norden und Süden vorrückte, lag auf der Hand, dass eine völlige Unterwerfung, wenn überhaupt, nur durch die Eroberung des politischen Zentrums zu erreichen war. Russland müsse, wie Hitler schon bei der Verkündung seines fatalen Entschlusses im Juli 1940 festgestellt hatte, ‹in einem Zuge› niedergeworfen und Moskau dem Erdboden gleichgemacht werden.[4]

Die Operation «Taifun», die dies auf den Weg bringen sollte, begann am 30. September. Der sowjetische Kommandostab hatte um diese Zeit einigermaßen zu sich gefunden und eine mehrfach gestaffelte Verteidigungsfront aufgebaut. Hinzu kam ein plötzlicher Wetterumschlag, der Schlamm und Schnee brachte und sowohl den Vormarsch als auch die Versorgung der ‹Keilspitzen› außerordentlich erschwerte. Dennoch drangen die deutschen Panzerspitzen bis in die unmittelbare Nähe der Hauptstadt vor. Als am 14. Oktober Kalinin (das alte und heutige Tver) fiel, brachen in Moskau Verwirrung und Panik aus. Man begann, Ministerien nach Kujbyšev (Samara) an der Wolga zu evakuieren; die Stadt leerte sich, und ihre Aufgabe schien ernsthaft bevorzustehen. Stalin verschwand aus der Öffentlichkeit, auch wenn er Moskau offenbar nicht verließ, meldete sich aber am 19. zurück und stellte mit der Verhängung des Belagerungszustands die äußere Ruhe wieder her. Inzwischen scheint verbürgt, dass er in diesen Tagen sogar an eine Kapitulation dachte und Berija «für den äußersten Fall» den Auftrag gab, Hitlers Bedingungen für ein ‹zweites Brest› zu erkunden. Freilich bestand nur kurze Zeit Anlass dazu. Der deutsche Angriff blieb Ende Oktober stecken. Angesichts der beunruhigenden Perspektive, das riesige Heer ohne zureichende Vorkehrungen überwintern lassen zu müssen, gab das Oberkommando der Wehrmacht jedoch nicht auf. Allen Widrigkeiten zum Trotz begann Mitte November eine zweite Offensive. Am 23. kam eine Panzergruppe von Norden her bis auf vierzig Kilometer an die Stadtmitte heran. Dann wendete sich das Blatt endgültig. Bittere Kälte, gegen die zerschlissene Sommeruniformen nicht zu schützen vermochten, und mangelhafte Versorgung brachten die Moral der Soldaten auf einen Tiefpunkt. Der unerwartet heftige Widerstand der Roten Armee, durch frische Kräfte aus dem Osten verstärkt, tat ein Übriges. Am 5. Dezember ging er in eine Gegenoffensive über, die zwar das Ziel der Umzingelung des deutschen Keils verfehlte, aber durchaus Erfolge brachte. Die betroffenen Wehrmachtsverbände mussten die Frontlinie bis Anfang Januar um 100 bis 250 Kilometer nach Westen zurückverlegen. Nach Vorhaltungen der Generäle blieb Hitler schließlich keine andere Wahl, als den Befehl zu geben, «Winterstellung» zu beziehen (15.1.). Dies lief entgegen aller ursprünglichen Planung auf einen nur mühsam kaschierten, wenn auch halbwegs geordneten Rückzug hinaus. Die neue, für einige Zeit stabile Front kreuzte, von Novgorod nach Süden reichend, die Linie zwischen Moskau und Smolensk auf halber Strecke und ‹beulte› sich erst im Süden wieder weiter östlich bis zum Don aus. Wie viel die Angreifer damit bereits verloren hatten, ist bis heute offen. Unbestritten aber war der «Blitzkrieg» gescheitert und die Fortsetzung des Kampfes unausweichlich geworden. So gesehen spricht vieles dafür, dass im Matsch und Frost vor Moskau auch bereits der Anfang vom katastrophalen Ende des deutschen Ostfeldzuges begann.[5]

Dessen ungeachtet wies die Bilanz des ersten Kriegsjahres insgesamt einen klaren Triumph der Invasoren aus. Deutsche Panzer und Truppen waren tief in sowjetisches Gebiet vorgedrungen und kontrollierten ein riesiges Territorium. Trotz der Verteidigung Moskaus blieb die Lage der Sowjetunion prekär. Die Frage ist deshalb nicht verstummt, wie es so weit kommen und die Wehrmacht überhaupt bis vor die Tore der drei größten Städte gelangen konnte. Von der sowjetischen Geschichtswissenschaft waren im Wesentlichen apologetische Hinweise auf die Perfidie des Aggressors und die Überlegenheit der deutschen Kriegsmaschinerie zu hören. Nur unter Chruščev konnten Gegenargumente geäußert werden, die im bekanntesten Fall (von A. Nekrič) nach seinem Sturz eine umgehende Maßregelung zur Folge hatten. Was hier zusammengetragen wurde, entsprach und entspricht weitgehend der nicht- und nachsowjetischen Forschungsmeinung. Dabei wird abermals deutlich, dass die ohnehin geringe rüstungstechnische und personelle Unterlegenheit der Roten Armee nicht entscheidend war. Stattdessen fällt die ganze Last der Verantwortung für das Debakel des ersten Kriegsjahres auf Stalin und die institutionellen und mentalen Folgen der von ihm geschaffenen Herrschaftsordnung. Der aller Kritik enthobene Sowjetführer irrte sich nicht nur im Charakter Hitlers, er hielt auch zu lange an der verfehlten Doktrin der Vorwärtsverteidigung fest. Die Vermutung liegt nahe, dass sich dahinter auch die Befürchtung mangelnder Loyalität der Bevölkerung in den westlichen Reichsteilen (einschließlich der kurz zuvor annektierten baltischen Staaten) verbarg. Vor allem aber forderte nun der ‹Armeeterror› seinen eigentlichen Tribut. Die fatalen Folgen der Hinrichtung fast der gesamten Generalität konnten in der kurzen Zeit bis zum deutschen Angriff nicht wieder gutgemacht werden. Begabte Strategen, die Stalin notfalls auch widersprachen, mussten erst heranwachsen, Zuständigkeiten und Befehlsstränge im Innern erst wiederhergestellt werden. Die sowjetische Verteidigung war in den ersten Monaten kopf- und orientierungslos. Statt angemessen zu reagieren, suchte sie in Durchhalteappellen und der Androhung drakonischer Strafen (wie dem Befehl Nr. 270 vom 16. 8. 1941, der Gefangenschaft mit Verrat gleichsetzte) einschließlich der Sippenhaft Zuflucht. Erst allmählich vermochte sie sich zu organisieren. Die Ernennung des späteren Kriegshelden G. K. Žukov zum Oberbefehlshaber der Westfront Mitte Oktober markierte dabei eine wichtige Zäsur. Stalin erwies sich zwar als lernfähig; aber das Land zahlte für seine vergangenen Untaten und die Errichtung eines inflexiblen, auf die Meinungen eines einzigen Mannes zugeschnittenen diktatorischen Systems einen unnötig hohen Preis.[6]

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das Jahr vom Sommer 1942 bis zum Sommer 1943 die Peripetie nicht nur des Russlandfeldzuges, sondern des europäischen Krieges überhaupt brachte. Beide Dimensionen und Geschehensräume hingen unauflöslich miteinander zusammen: Der Kampf wurde, wie der Generalstabschef Franz Halder notierte, ‹im Osten entschieden›. Auch Hitler maß den kommenden Ereignissen schicksalhafte Bedeutung zu. Im Frühjahr und Sommer 1942 sollte nachgeholt werden, was der ‹General Winter› vor Moskau verhindert hatte – die «bolschewistischen Horden» durch die Einnahme Leningrads im Norden, vor allem aber durch eine kraftvolle Offensive im Süden und den Vorstoß zum Kaukasus endgültig niederzuringen (Weisung Nr. 41 vom 15. 4.). Auch die Verteidiger erwarteten einen neuen Ansturm, allerdings an der falschen Stelle. Stalin glaubte fest an die Wiederholung des Versuchs, nach Moskau vorzustoßen. Dass Hitler den Süden zum hauptsächlichen Aufmarschfeld erkor und dadurch seine bereits merklich geschwächten Armeen noch weiter auseinanderzog, als das ohnehin der Fall war, wollte er trotz entsprechenden Meldungen seiner Geheimdienste nicht wahrhaben. Abermals unterstellte er seinem Gegenspieler zu viel militärstrategische Rationalität und verkannte die Hybris, die den deutschen Diktator sogar zu Gedankenspielen über einen Vorstoß bis an den Indischen Ozean verleitete. Zugleich unterschätzte Stalin das Ausmaß der deutschen Energieknappheit: Ohne das Erdöl von Majkop und Baku fürchtete Hitler, und darin pflichtete ihm die Wehrmachtsführung bei, schon in naher Zukunft militärisch bewegungsunfähig zu sein.[7]

So begannen in einer personell und materiell bereits schwierigen Lage im Frühjahr 1942 die vorbereitenden Operationen für den großen Durchbruch. Im Mai wurde die Halbinsel Kerč (auf der Krim) eingenommen, im Juni/Juli die hartnäckig verteidigte Seefestung Sevastopol’. Ebenfalls im Mai trugen die deutschen Panzerverbände bei Char’kov einen neuerlichen Sieg davon, der den Weg freimachte für die Eroberung des Donecbeckens, des bedeutendsten Kohlereviers diesseits des Ural. Erstaunlich rasch fiel zu Beginn der eigentlichen Südoffensive («Operation Blau») am 23./24. Juli schließlich Rostov am Don. Deutsche Verbände besetzten die nordkaukasischen Ölfelder und stießen bis zum Herbst weiter nach Südosten vor. Die Situation wurde für die sowjetischen Truppen so verzweifelt, dass Stalin abermals Anlass sah, zum Kampf bis auf den letzten Blutstropfen aufzurufen. «Keinen Schritt zurück» lautete der Kernsatz des Befehls Nr. 227 vom 28. Juli, der einen neuen Höhepunkt der Androhung erbarmungsloser Härte gegen ‹Verräter› und ‹Defaitisten› jedweder Art markierte. Allerdings beließ es die Führung nicht bei Appellen und Strafen. Zugleich begann eine Reorganisation, die die Arbeiter- und Bauernarmee durch neue Garderegimenter, die Stiftung von Tapferkeitsorden und die abermalige Abschaffung der Politkommissare im Oktober ein weiteres großes Stück an die hierarchisch-elitäre Struktur der monarchischen Vergangenheit annäherte.

Wenngleich sichtbare sowjetische Erfolge noch ausblieben, hielt auch der zweite deutsche Höhenflug nicht lange an. Spätestens im September konnte Hitler in seinem ukrainischen Hauptquartier Vinnica die Einsicht nicht länger verdrängen, dass die ehrgeizigen Ziele des Jahres nicht zu erreichen waren. Er selbst hatte noch einmal maßgeblich dazu beigetragen, als er am 23. Juli entgegen der ursprünglichen Planung befahl, auf Rostov und Stalingrad gleichzeitig zu marschieren, und damit den Vorstoß spaltete. So zogen sich die Gewitterwolken zusammen: Die ohnehin wenig ergiebigen Ölförderanlagen von Majkop waren so gründlich zerstört worden, dass sie sich in der verfügbaren Zeit nicht reparieren ließen. Der Vormarsch auf Baku musste am Nordhang des Kaukasusgebirges abgebrochen werden. Die Verluste waren hoch (200.000 Mann allein im August) und wurden auch durch die weit größere Zahl sowjetischer Kriegsgefangener (625.000) nicht wettgemacht, da der Roten Armee kaum erschöpfbare Reserven zur Verfügung standen. Vor allem aber ließ sich die 6. Armee seit September in einen erbitterten Stellungskrieg um Stalingrad verwickeln. Hier an der Wolga kam die Front mit fatalen Folgen endgültig zum Stehen. Die Wolga, Lebensader Russlands und symbolisch-metaphorischer Bezugspunkt patriotischer Empfindungen, wurde im mehrfachen Wortsinn zum Grenzfluss.[8]

Dabei nahmen sich die Ereignisse zunächst nicht so düster aus. Auch wenn besonnene Strategen den Vorstoß für ebenso nutzlos wie riskant hielten, war die Katastrophe nicht unausweichlich. Im September verbuchten die deutschen Truppen durchaus Erfolge. Beim Kampf um jedes größere Gebäude drängten sie die Verteidiger bis auf einen kleinen Brückenkopf am Westufer zurück. Symbolisch dafür war die Vertreibung des russischen Hauptquartiers aus dem Univermag, dem größten Kaufhaus im Stadtzentrum, in dem beide Seiten ihren Führungsstab unterbringen wollten. Aber trotz aller Anstrengungen und hoher Verluste, trotz massiver Luftbombardements, die die ausgetrocknete Stadt in ein Flammenmeer verwandelten und die Zerstörung bis an den Rand der angekündigten ‹Ausradierung› vorantrieben (zu 85 %), gelang die befohlene «Inbesitznahme» nicht. Im Oktober machten sich im Gegenteil Erschöpfung und Verschleiß deutlich bemerkbar. Nur drei einspurige Bahnlinien verbanden die Front mit dem Hinterland. Munition, Treibstoff, Kleidung und Nahrung für 300.000 Soldaten mit Panzern, schweren Waffen und 100.000 Zugpferden konnten mit den wenigen einsetzbaren Zügen nicht mehr im nötigen Umfang herangeschafft werden. Erst recht reichte die Transportkapazität nicht aus, um Vorräte anzulegen. Schon vor dem Beginn des sowjetischen Gegenangriffs war die Versorgungslage «äußerst angespannt und in vielerlei Hinsicht katastrophal». Alles sprach dafür, den vorgeschobenen ‹Truppenkeil› zurückzunehmen und sicherere Stellungen für Operationen im folgenden Jahr zu beziehen. Auch der Hinweis darauf, dass eine Frontbegradigung die vielköpfigen, ins nördliche Kaukasusgebiet eingedrungenen Verbände aufs Höchste gefährden würde, vermochte nicht zu überzeugen – unterstellte er doch eine Kampffähigkeit, die nicht mehr gegeben war. Größere Plausibilität kam dem Argument zu, dass selbst in den Ruinen der Stadt bessere Winterquartiere zu finden seien als in der eisigen Steppe. Auch das aber rechtfertigte keineswegs die leichtfertige Opferung einer ganzen Armee.[9]

Denn darauf lief die Weisung, trotz aller Nachschubprobleme und der bevorstehenden Kälte auszuharren, letztlich hinaus. Selbst Hitler rechnete nach eigenem Bekunden durchaus mit einer Wiederholung jenes ‹Standard-Angriffs› über den Don in Richtung auf Rostov, mit dem die Rote Armee Stalingrad im Bürgerkrieg 1920 von ihren ‹weißen› Gegnern zurückerobert hatte. Und auch die Spionageabteilung Fremde Heere Ost hielt sich mit Hinweisen auf große sowjetische Reserven und Warnungen vor einem Zangengriff nicht zurück. Sie mochte bemerkt haben, dass die Vorbereitungen für eine solche Operation längst getroffen wurden. Schon am 12. September flogen Žukov, inzwischen Stellvertreter des Oberkommandierenden (Stalin), und der Generalstabschef A. M. Vasilevskij, die beide in den Tagen höchster Not mit der Entsetzung Stalingrads beauftragt worden waren, nach Moskau, um dem Diktator den ebenso gewagten wie vielversprechenden Plan einer Einschließung der gesamten in Stalingrad kämpfenden deutschen Truppen vorzutragen. Das Unternehmen Uranus hatte begonnen. Seit Oktober wurden Armeen und sonstige Verbände umgruppiert, aufgefrischt und neu ausgerüstet. Dabei bewegte man, oft nur nachts und ohne Beleuchtung, erhebliche Massen an Menschen und Material. Allein an der Stalingrad-Front wurden knapp 384.000 Soldaten mit gut 6000 Geschützen und 650 Panzern in Stellung gebracht; hinzu kamen je 293.000 und 339.000 Mann mit gleichwertiger Ausrüstung an der Südwest- sowie an der Don-Front. Alle neu bezogenen Positionen gerieten am Morgen des 19. November in Bewegung, als schweres Artilleriefeuer auf die überraschten deutschen Truppen niederging und schnelle Panzereinheiten von Norden und Süden die Trennlinien durchbrachen, um sich gut fünfzig Kilometer westlich der belagerten Stadt zu treffen. Infanterie- und sonstige Einheiten stießen nach. Am 22. November wurde der Ring geschlossen, der berüchtigte «Kessel» von Stalingrad war gebildet.

Es wäre verfehlt, diesen ersten großen Offensiverfolg der sowjetischen Truppen bereits als definitive Entscheidung zu verstehen. Die Umzingelung bedeutete noch nicht, dass General Paulus und seine 6. Armee zum Untergang verurteilt gewesen wären. Ein Ausbruch erschien noch möglich und anfangs auch chancenreich. Paulus bat seinen «Führer» daher am Abend des 22. November per Funk um die Genehmigung eines solchen Versuchs, wenngleich nur als ultima ratio. Doch statt der gewünschten «Handlungsfreiheit» im Notfall erhielt er den Befehl, auszuharren und bis zur letzten Patrone zu kämpfen. Hitler weigerte sich, die drohende Katastrophe zur Kenntnis zu nehmen. Ob er tatsächlich an die Möglichkeit einer Sprengung des Kessels durch den raschen Vorstoß von Panzertruppen aus dem Süden glaubte, bleibt letztlich unerheblich; in jedem Fall war der Wunsch, nicht aber eine nüchterne Lagebeurteilung Urheber des Gedankens. Gleiches gilt für die Annahme des renommierten Strategen und eilends neu ernannten Oberbefehlshabers der Don-Front, Generalfeldmarschall E. von Manstein, eine leidliche Versorgung der Eingeschlossenen aus der Luft sei durchführbar. Beide Hoffnungen zerplatzten. Mitte Dezember scheiterte die ohnehin verspätete Befreiungsoperation Wintergewitter kläglich. Zugleich wurden taugliche Flugzeuge seltener und gegnerische Störmanöver gefährlicher. Im Vorgefühl des Erfolges stießen die sowjetischen Truppen nach und drückten den Kessel zusammen. Spätestens Weihnachten war das Schicksal der nun selbst Angegriffenen entschieden. Mit fünfzehn Kubikmetern Treibstoff für die ganze Armee, kaum Munition und hundert Gramm Brot pro Mann und Tag war an ernsthafte Verteidigung oder gar an einen Ausbruch nicht mehr zu denken. Der Sturm, zu dem die Belagerer Anfang Januar übergingen, konnte nur noch sinnloses «Heldentum» hervorbringen. In einem verzweifelten Funkspruch vom 22. Januar brachte Paulus – immer noch verschlüsselt – die Möglichkeit einer Einstellung des aussichtslosen Kampfes ins Spiel. Hitler aber beließ es bei der Beförderung des Bittenden zum Feldmarschall und der lapidaren Feststellung, eine Kapitulation komme schon «vom Standpunkt der Ehre» aus nicht in Frage. Verblendet und gewissenlos hielt er am Wahn vom deutschen Helden und dessen Bereitschaft zum Märtyrertod fest. Der Avancierte und seine Kommandeure dachten anders. Sie ergaben sich am 31. Januar, zwei Tage später legten die letzten Kämpfer die Waffen nieder. 108.000 Soldaten gerieten in Gefangenschaft (von denen später nur 6000 nach Deutschland zurückkehrten), 146.000 waren – laut sowjetischer Zählung – gefallen. Durch eine Reihe kapitaler Fehler hatte Hitler, dem keiner der obersten Generäle nachdrücklich widersprach, eine ganze Armee in den Untergang getrieben.

Schon Zeitgenossen konnte die Bedeutung dieses Debakels kaum entgehen. Die deutsche Propaganda hatte die Schlacht um Stalingrad wochenlang zum Symbol des ‹Endsiegs› stilisiert. Umgekehrt versäumte die sowjetische Führung nicht, ihren ersten großen Triumph gebührend zu feiern. Militärisch bestand aber noch kein Grund zum Aufatmen. Die Wehrmacht hatte eine Schlacht verloren, nicht den Krieg. Deshalb hat die Meinung manches für sich, dass die Wirkung der Ereignisse, positiv wie negativ, vor allem im Psychologischen lag: Eine «neue glitzernde Rote Armee», beladen mit Orden, überschüttet mit Ehrungen und strotzend vor Selbstbewusstsein, erhob sich aus den Trümmern von Stalingrad. Dem tat der – seinerzeit verschwiegene – Umstand wenig Abbruch, dass die Sieger gewiss keinen geringeren, wahrscheinlich sogar einen höheren Blutzoll gezahlt hatten als die Verlierer.[10]

Nach diesem schweren Rückschlag bemühten sich die deutschen Generäle nicht ohne Erfolg zu retten, was zu retten war. Wenngleich die Front überall ins Wanken geriet, gelang es ihnen ein halbes Jahr lang, ein ungefähres Gleichgewicht zu erhalten. Dabei galt es zunächst, eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern, da der Fall von Stalingrad die gesamte Kaukasusfront bedrohte. Erneut widersetzte sich Hitler anfangs einem Rückzug, den das Oberste Heereskommando eiligst empfahl. Allerdings musste er nach dem endgültigen Scheitern des Versuchs, die 6. Armee zu befreien, einlenken. In den letzten Dezembertagen 1942 konnten die vordersten Verbände im Kaukasus mit der Umkehr beginnen. Immer noch war aber eine Frontlinie vorgesehen, die weit im Süden lag und Majkop einschloss. Erst in der zweiten Januarhälfte, als die Katastrophe von Stalingrad längst nicht mehr aufzuhalten war, fand sich der «Führer» bereit, die Räumung der Gebiete jenseits von Rostov zu erlauben. In Majkop ließen deutsche Ingenieure kostbares Bohrgestänge zurück und verschlossen die Quellen wieder, die sie gerade zu öffnen begonnen hatten. Das große strategische Ziel Hitlers, die Rohstoffbasis für die weitere Kriegführung nicht nur im Osten zu sichern, war verfehlt worden.

Weitere Rückschläge folgten im Frontabschnitt zwischen dem Don und Moskau. Ende Januar fiel Voronež, Anfang Februar Kursk und am 17. Februar, als spektakulärste deutsche Niederlage nach Stalingrad, Char’kov. Die Westfront war schon im November und Dezember, ungefähr parallel zur sowjetischen Offensive gegen die 6. Armee, in Bewegung geraten. Besonders der ‹Bogen› bei Ržev entlang dem Oberlauf der Wolga lud zu Vorstößen in den ‹Rücken› der feindlichen Stellungen geradezu ein. Zwar behaupteten sich die deutschen Verbände im Winter erstaunlich zäh. Dennoch zwang die Notwendigkeit, mit den Kräften hauszuhalten, zu einer Frontbegradigung, die der Gegenseite im März 1943 einen erheblichen territorialen Gewinn einbrachte. Und auch im Norden konnte die Wehrmacht ihre Position nicht behaupten. Ein Vorstoß der Verteidiger ins Hinterland von Schlüsselburg, dem Eingangstor zum Neva-Delta am Ladogasee, zwang sie zur Räumung der Stadt. Dadurch wurde der deutsche Ring um Leningrad nach 506-tägiger Blockade am 18. Januar 1943 gesprengt. Die zweitgrößte Stadt des Reiches konnte wieder auf dem Landweg versorgt werden, auch wenn die Belagerung noch ein knappes Jahr andauerte. Bei alledem reichten die sowjetischen Kräfte nicht aus, um die deutsche Front schon ganz aufzurollen. Im März konnte Manstein bei Char’kov sogar zum Gegenangriff übergehen und den letzten nennenswerten Sieg in Russland erkämpfen. Alles in allem hielten sich die Frontkorrekturen im Norden und in der Mitte daher in Grenzen. Im Süden mussten Don und Wolga zwar aufgegeben werden; die Wehrmacht stand aber immer noch weit im Osten der Ukraine am Donec. Statt von Leningrad bis Astrachan’ verlief die gesamte Ostfront nun ungefähr vom Westufer der Neva vor der alten Hauptstadt bis Taganrog am Schwarzen Meer. Diese Westverschiebung war nach zwei Jahren Flucht und Rückzug ein enormer Erfolg für die Verteidiger und gab ihnen mächtig Auftrieb. Aber ob sie bereits eine militärische Vorentscheidung bedeutete, musste sich erst noch zeigen.[11]

Das klärte sich während des Sommers 1943 im Zusammenhang mit den Panzerschlachten bei Kursk und Orel, den letzten ihrer Art im Osten. Seit dem Frühjahr hatten Hitler, Manstein und andere führende Generäle über eine neue große Offensive zur Stabilisierung der Gesamtlage beraten. Die Wahl fiel auf den nach Westen vorspringenden Frontbogen vor Kursk, den man von Norden und Süden her ‹begradigen› wollte. Mehrfach wurde diese Operation Zitadelle verschoben, um genügend schwere Panzer und ausreichend Truppen heranbringen zu können. Schließlich begann der Vorstoß am 5. Juli mit der Absicht, die unverminderte Schlagkraft der Wehrmacht zu demonstrieren und den Nimbus ihrer Unbezwingbarkeit wiederherzustellen. Die Rechnung ging indes nicht auf. Die Rote Armee hatte sich bestens vorbereitet. Schon im März war Žukov von einer Inspektionsreise mit der Erkenntnis zurückgekehrt, dass der zu erwartende Sommerangriff nicht mehr im Süden stattfinden werde, da die deutschen Kräfte für einen weiteren Versuch, die kaukasischen Ölquellen zu erobern, nicht ausreichten. Vielmehr seien Vorstöße an der Zentral-, der Voronež- und der Südwestfront zu erwarten. Zu den Gegenmaßnahmen, die aufgrund dessen getroffen wurden, gehörte seit April die Anlage tief gestaffelter Verteidigungslinien. Hinzu kamen die Neuformierung der Truppen und ihre Ausstattung mit effizienten Waffen, darunter mehr schweren Panzern als zuvor. Solche Anstrengungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Die deutschen Panzer kamen nach wenigen Kilometern zum Stehen. Im Süden wurden sie in eine der blutigsten Schlachten des ganzen Krieges verwickelt, in der 70.000 deutsche Soldaten gefallen und fast 3000 Panzer vernichtet worden sein sollen. Wenngleich andere Vorstöße durchaus erfolgreich verliefen, war der Offensive zumindest der Schneid genommen, als Hitler die gesamte Operation am 13. Juli abbrach. Vermutlich bewog ihn dazu auch die Landung amerikanischer und britischer Truppen auf Sizilien am 10. Juli, da er der Standfestigkeit des italienischen Verbündeten nicht traute und einige Armeen aus dem Osten abziehen wollte. Unerwarteter Widerstand und externe Ereignisse kamen zusammen.

Eher für das Übergewicht lokaler Ursachen spricht allerdings, dass der sowjetische Oberbefehlshaber im Kursker Nordbogen (und der gesamten Zentralfront), der spätere Marschall K. K. Rokossovskij, schon am Abend des 14. Juli beschließen konnte, zum Gegenschlag auszuholen. Starke Panzerverbände drangen in das (nördlich von Kursk gelegene) Gebiet bei Orel vor, um diese ostwärts gerichtete ‹Ausbeulung› der deutschen Front einzudrücken. Vor allem aber griff man am 17. Juli im Süden an. Zwischen Char’kov und Taganrog lag die eigentliche Schwachstelle der deutschen Front; hier mussten viel zu geringe Kräfte eine viel zu lange Linie halten. Die Wehrmacht hatte der «ersten sowjetischen Sommeroffensive» (Ziemke), die damit zwischen Weißrussland und dem Azovschen bzw. Schwarzen Meer begann, nicht viel entgegenzusetzen. Schon numerisch war sie inzwischen ins Hintertreffen geraten. Gut 2,6 Mio. Rotarmisten in den Frontabschnitten Mitte, Voronež, Steppe, Südwest und Süd mit 51.200 Geschützen und Mörsern, 2400 Panzern und Sturmgeschützen standen etwa 2 Mio. deutsche Soldaten mit 2000 Panzern gegenüber. Als wichtiger aber erwies sich, dass Mensch und Material nach zwei Kriegsjahren stark gelitten hatten. Beider Kampfkraft bzw. Einsatzfähigkeit stand deutlicher hinter der gegnerischen zurück, als die bloßen Zahlen suggerieren. Auch die 2000 amerikanischen Panzer, 2500 britischen Flugzeuge und anderes Kriegsgerät, die 1942 aufgrund eines Abkommens vom Dezember 1941 nach dem lend-lease-act an die Sowjetunion geliefert wurden, mochten zum Erfolg beigetragen haben. In jedem Fall mussten sich die deutschen Truppen auf breiter Front zurückziehen. Im Oktober war die Dnepr-Linie erreicht, die Hitler zur Abschirmung der Ukraine halten wollte («Ostwall»). Doch auch dieser Befehl war bald Makulatur. Bei Jahresende 1943 lag Kiev schon weit hinter der Front. Der unaufhaltsame Vormarsch der Sowjetarmee hatte begonnen; der Jäger war endgültig zum Gejagten geworden.[12]

In vieler Hinsicht brachten die letzten siebzehn Monate des «Tausendjährigen Reiches» militärisch gesehen nur noch den Vollzug der Peripetie, die sich im Vorjahr ereignet hatte. Die ersten Siegesfeiern in den Straßen Moskaus nach der Abwehr der deutschen Panzer bei Kursk erwiesen sich als berechtigt. Zwar musste der Triumph bis zuletzt teuer erkauft werden, aber er war der sowjetischen Armee nicht mehr zu nehmen. Ein Schlag folgte dem anderen. Mitte Januar wurde Leningrad endgültig befreit. Die Offensive, in deren Verlauf das geschah, schob die Front in ihrem Nordteil bis zum Ostufer des Peipussees auf eine Linie vor, die ungefähr von Narva bis Vitebsk verlief. Etwa gleichzeitig versuchten sowjetische Truppen im Süden, den deutschen Brückenkopf im Dnepr-Knie bei Krivoj Rog abzuschneiden. Eine Einkesselung gelang zwar nicht; aber der Rückzug aus diesem rohstoffreichen Gebiet wurde unausweichlich. Im März und April führte die große «Schlammoffensive» zum Entsatz von Odessa und verschiedenen Städten im Inland und schob die Grenze des sowjetischen Territoriums wieder bis an den Dnjestr und Pruth sowie weiter nördlich bis an die Karpaten und den polnischen Südosten vor. Im Mai wurde, unter erheblichen deutschen Verlusten, die Krim erobert, im Juni Karelien. Die größte Niederlage erlitt die Wehrmacht jedoch in der Sommerschlacht um Weißrussland. Kaum zufällig am 22. Juni (dem dritten Jahrestag des Unternehmens Barbarossa) begonnen, versetzte sie der deutschen Verteidigungsfähigkeit durch die Einkesselung großer Teile der Heeresgruppe Mitte bei Minsk und den Verlust (Tod oder Gefangenschaft) von rund 350.000 Mann einen Schlag, von dem sie sich nicht mehr erholte. Zugleich öffnete sie der Roten Armee, die bereits Ende August vor Warschau und – nach entsprechenden Bewegungen im Norden – unweit der ostpreußischen Grenze stand, das Tor nach Mitteleuropa. Im Herbst und frühen Winter rückten vor allem die südlichen russischen Verbände vor und besetzten Rumänien und Ungarn. Nachdem amerikanische und englische Soldaten bereits am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet waren und endlich die von Stalin immer wieder angemahnte «zweite Front» eröffnet hatten, war das Terrain für den Schlussakt zumindest des europäischen Krieges bereitet: den Sturm auf Mitteldeutschland und Berlin.

Diese Offensive begann Mitte Januar 1945 an der Weichsel. Gegen Monatsende hatte sie in Form eines abgeflachten Keils, der bei Frankfurt auf Berlin zeigte, im Süden bis nach Mähren und Ungarn ‹zurückhing› und im Norden Pommern und Westpreußen gleichfalls noch aussparte, bereits die Oder erreicht. Im Februar und März zog die Front im Norden bis Stettin nach; im Süden wurde Wien eingenommen, so dass bei einer Zangenbewegung auf die Zitadelle des nationalsozialistischen Eroberungsstaates kein ‹Rückenstoß› mehr drohte. Der Kampf um Berlin, von den inzwischen ruhmreichen Marschällen Žukov, I. S. Konev und Rokossovskij geführt, begann am 16. April und endete mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945. Knapp vier Jahre nach dem Überfall auf den Bündnispartner ging ein Photo um die Welt, das Geschichte machte: Ein sowjetischer Soldat hisst die rote Fahne auf dem Dach des Reichstags. Nicht Moskau, sondern Berlin lag in Schutt und Asche.[13]

Zu den höchst ambivalenten Folgen dieses Sieges – von denen noch oft die Rede sein wird – gehörte der Umstand, dass er ein Regime stabilisierte, dem nicht an der Wahrheit, sondern an seiner Legitimation und Verherrlichung gelegen war. Der Krieg wurde zur Legende, die propagandistischen Zwecken diente, nicht der Rekonstruktion von Tatbeständen. Vor allem (wenn auch sicher nicht allein) damit hängt zusammen, dass der Beitrag der Partisanen zum schwer errungenen Sieg über das Deutsche Reich bis heute unklar ist. Die sowjetische Forschungs- und Memoirenliteratur hat ihn bis in die jüngste Zeit hinein hoch veranschlagt, die westliche Geschichtsschreibung ist skeptisch geblieben. Gerade sie hat deutlich gemacht, dass man auch in dieser Hinsicht vom weitgehenden Mangel jedweder Vorbereitungen ausgehen darf. Die Milizidee aus revolutionären Tagen war längst in Vergessenheit geraten. Ein ‹Volk in Waffen› war der Parteidiktatur eine ebenso unangenehme Vorstellung wie die tatsächliche Verwirklichung der Räteidee. Ein Übriges tat die Strategie der Vorwärtsverteidigung. Um den Feind vor den eigenen Grenzen zu bekämpfen, brauchte man keine irregulären Hilfstruppen. So gab es im Juni 1941 kein Netz geheimer Stützpunkte, mit dessen Hilfe sich die Partisanen hätten organisieren können. Erst der unerwartete Überfall zwang zu entsprechenden Maßnahmen.

Für alle hörbar rief Stalin am 3. Juli 1941 in einer Rundfunkrede, mit der er sein langes Schweigen brach, auch zum irregulären Widerstand auf. In den besetzten Gebieten, deren Existenz er einräumen musste, sollten Untergrundkämpfer «zu Pferd und zu Fuß» mobilisiert werden, um Brücken, Eisenbahnschienen, Telegraphenleitungen und andere Nachschubwege zu zerstören und den Feind zu schlagen, wo immer sich die Gelegenheit bot. Genauere Anweisungen gab das ZK in einer Art Ausführungsbestimmung am 18. Juli. Trotz dieser offiziellen Ermunterung darf man jedoch davon ausgehen, dass sich die Bewegung im ersten Kriegsjahr nur langsam ausbreitete. Dies hatte sowohl mit ihrem soziopolitischen Charakter als auch mit dem Regime zu tun. Anfangs gelang es vor allem versprengten Rotarmisten, sich in den Wäldern zu verstecken. Zu ihnen gesellten sich Funktionsträger von Partei und Staat in den überrollten Gebieten, die mit schlimmsten Strafen rechnen mussten. Da die Partei ihre Tore bald nach Kriegsbeginn weit für die Armee öffnete, rekrutierten sich die Partisanen großenteils aus Kommunisten und anderen mit dem Regime eng verbundenen Gruppen. Dies galt besonders für die Führungsebene, die fast ausschließlich aus registrierten Bolschewiki bestand. Dagegen hielt sich die einfache, bäuerliche Bevölkerung fern. Sie misstraute dem Regime nach wie vor und trug ihm die gewaltsame Errichtung der Kolchosordnung nach.

Erst im zweiten Kriegsjahr, vor allem seit Herbst 1942, entfaltete der Partisanenkampf seine volle Kraft. Allerdings bleibt umstritten, wie viele sich dabei aktiv engagierten. Die sowjetischen Angaben von 700.000 bis 1,3 Mio. zuzüglich einer erheblichen Reserve sind mit Vorsicht zu betrachten. Zugleich mag die deutsche Angabe von einer halben Million untertrieben sein. Ins Reich realitätsferner Zweckbehauptungen gehören auch die meisten Erfolgsmeldungen. Dass anderthalb Millionen deutsche Soldaten durch Partisanen starben, darf als Legende gelten. Auch die Bindung von ca. einer Viertelmillion deutscher Soldaten durch den Zwang, die Transportwege zu schützen, kann nicht allein den Untergrundkämpfern gutgeschrieben werden. Partisanen konnten überhaupt nur in bestimmten Regionen operieren, vor allem in den Wäldern Weißrusslands, der Nordukraine und der Regionen um Brjansk und Orel, wo sie sicheres Versteck fanden. Die wichtigste Leistung der Partisanenbewegung dürfte deshalb nicht auf militärischer Ebene, sondern auf politischer zu suchen sein: Die Freischärler repräsentierten die Staatsmacht hinter der Frontlinie. Sie hielten in gleichsam exterritorialen Zonen der besetzten Gebiete die Erinnerung an das Regime wach und handelten in dessen Namen. So gesehen sorgten sie für politische Kontinuität.

Bei alledem gelang es den Partisanen nie wirklich, die Bauern für sich zu gewinnen. Im Gouvernement Orel rechnete man nach der Befreiung im Sommer 1943 ca. 31 % zur Dorfbevölkerung, 38,7 % zur Arbeiterschaft und 30,2 % zu den Angestellten und Funktionären (bei einer Gesamtzahl von 26.000). Allem Anschein nach stieg der bäuerliche Anteil im folgenden Jahr an, während die Zahl der Arbeiter und Kommunisten relativ sank. Einer der wichtigsten Gründe dafür war in der ebenso unklugen wie blutigen deutschen Besatzungspolitik zu suchen. Die neuen Herren taten nichts, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen, sondern im Gegenteil alles, um sie dem eigentlich ungeliebten eigenen Regime in die Arme zu treiben. Sie behielten das Kolchossystem bei, nahmen Zwangsarbeiter mit, mordeten wahllos und misshandelten die Einwohner als ‹ostische Untermenschen›. Diese gezielte Unterjochung, die dem rassistischen Charakter des Vernichtungskrieges entsprach, verfehlte ihre Wirkung nicht. Auf der anderen Seite reichte selbst sie nicht aus, um das Regime unter den Bauern populär zu machen. Die Partisanen fanden zwar Zulauf, aber unerschütterliche, Risiko für Leib und Leben nicht scheuende Unterstützung der breiten Bevölkerung vermochten sie nicht zu gewinnen.[14]

Offener denn je ist auch die Frage der sowjetischen Kriegsverluste und der Verantwortung für womöglich unnötige Opfer. Stalin hatte sieben Millionen genannt und wenig Glauben gefunden. Lange Jahrzehnte wiederholte man daher im Wesentlichen eine Angabe, die sich in einem (1961 veröffentlichten) Brief Chruščevs an den schwedischen Ministerpräsidenten Tage Erlander fand. «Über zwanzig Millionen Menschen», hieß es darin, seien im Krieg auf sowjetischem Boden umgekommen. Dabei interpretierte man die Aussage so, dass Soldaten und Zivilpersonen je etwa die Hälfte der Toten ausgemacht hätten. Erst die Glasnost’ hat die Geheimhaltung beseitigt, die über die einschlägigen Dokumente verhängt war. Von offizieller Seite wurden zwei Kommissionen mit der Aufgabe betraut, die Verluste zu prüfen. Nach deren Ergebnissen summierte sich die Zahl der gefallenen, gefangenen und an den Folgen schwerer Verwundungen verstorbenen Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte – einschließlich des fernöstlichen Kriegsschauplatzes, der allerdings in dieser Hinsicht nicht ins Gewicht fiel – auf 8,668 Mio. Hinzu kamen etwa 18 Mio. Invaliden, Verletzte und Erkrankte. Das jüngste Standardwerk über die Bevölkerung der Sowjetunion bestätigt diese Größenordnung; sein Endergebnis von 9,17 Mio. «unwiederbringlicher Verluste» darf auf absehbare Zeit als autoritativ gelten.[15]

Freilich fehlt die Zivilbevölkerung in diesen Angaben. Der demographische Gesamtschaden war erheblich größer. Die umsichtigste und überwiegend anerkannte Neuberechnung macht folgende Bilanz auf. Die nach dem Hitler-Stalin-Pakt annektierten Gebiete eingerechnet, betrug die Gesamtbevölkerung auf sowjetischem Territorium Mitte 1941 schätzungsweise 196,7 Mio. Menschen. Ende 1945 zählte man 170,5 Mio., entsprechend einem Verlust von 26 Mio. Zu fast demselben Ergebnis führt eine weitere Rechnung. Von den 1945 noch Lebenden (170,5 Mio.) waren 159,5 Mio. bereits vor dem deutschen Überfall geboren worden. In den folgenden viereinhalb Jahren starben 37,2 Mio.; bei normaler Mortalität (Maßstab 1940) wären 11,9 Mio. Tote zu beklagen gewesen; daraus ergibt sich eine «zusätzliche» Sterblichkeit von 25,3 Mio. Nach dem 22. Juni 1941 wurden 15,7–16,4 Mio. Kinder geboren, von denen ca. 4,6 Mio. bis Ende 1945 starben; gemäß der Mortalität von 1940 wären 3,3 Mio. gestorben, so dass sich eine Differenz «zusätzlicher» Todesfälle von 1,3 Mio. ergibt. Die «zusätzlichen» Toten beider Gruppen (25,3 Mio. und 1,3 Mio.) addieren sich auf 26,6 Mio. 19 Mio. davon waren Männer, 7,2 Mio. Frauen – mit gravierenden und lang andauernden Folgen nicht nur für die soziale und demographische, sondern auch für die ökonomische Entwicklung des Landes. Wenn man auch noch die kriegsbedingt Ungeborenen einbezieht, was spekulativ und schwierig, aber nicht unbegründet ist, ergibt sich ein Gesamtverlust der Bevölkerung von 40 Mio., nach einigen Schätzungen sogar von 45–48 Mio. Menschen. Alle Berechnungen stimmen darin überein, dass mindestens 15 Mio. der tatsächlich vorzeitig Verstorbenen auf die Zivilbevölkerung entfielen. Einige der größten Opfergruppen sind bekannt: Die SS und die ‹Einsatzgruppen› ermordeten oder deportierten ca. 2,5 Mio. Juden; 800.000 Menschen starben in Leningrad, ca. 622.000 im Gulag, und die Todesrate unter den ca. 3 Mio. Angehörigen nichtrussischer Nationalitäten, die Stalin in Viehwaggons nach Osten bringen ließ, war ebenfalls sehr hoch. Dennoch bleiben ca. 10 Mio. Menschen, die durch andere Kriegseinwirkungen starben, vor allem an Krankheit, Hunger, Kälte und Erschöpfung. Ein solcher Blutzoll war ungeheuer und übertrifft wohl alle vergleichbaren traurigen Bilanzen der Weltgeschichte.[16]

Nicht zuletzt die neuen demographischen Befunde schließen dabei die Annahme ein, dass die enormen Verluste vor allem 1941, aber auch noch 1942 durch Fehler und Versäumnisse der Regierung in erheblichem Maße mitverursacht wurden. Wie die gesamte Reinterpretation des «Großen Vaterländischen Krieges» verweisen sie auf einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Kriegführung, Politik und Herrschaftsverfassung. Damit bestätigen sie, was die westliche Geschichtsschreibung seit langem betonte: dass Stalin und seine parteigestützte Diktatur die Sowjetunion, anders als es die Legende wollte, auch im Krieg teuer zu stehen kamen. Vergleichende Schätzungen der ‹Verlustquote› haben ergeben, dass auf einen gefallenen deutschen Soldaten mehrere – laut einigen Berechnungen bis zu vier – sowjetische kamen. Auch der Schluss, der daraus zu ziehen wäre, ist schon vor Jahrzehnten gezogen worden: dass die Sowjetregierung bedenkenlos mit den ihr anvertrauten Menschen umging. Ob ein Hügel zu erstürmen oder eine Stellung zu verteidigen war – die Operation wurde ohne nennenswerte Rücksicht auf Verluste durchgeführt. Noch die Eroberung Berlins ließ man sich entschieden mehr Opfer kosten, als die hoffnungslose Lage der Stadt und des Reiches erfordert hätte. Sicher ging auch die deutsche Diktatur nicht eben schonend mit ihren Soldaten um. Angesichts des «totalen Kriegs», den sie in ganz Europa führte, hatte sie aber früh gute Gründe, auf ihre Ressourcen zu achten. Von solchen Zwängen frei, tat Stalin dies allem Anschein nach nicht in gleichem Maße. Über Hybris, sinnlose Durchhalteparolen und strategische Irrtümer hinaus gehörte die Unterschätzung der sowjetischen Reserven an Soldaten und Waffen zu den folgenschwersten Fehlkalkulationen Hitlers und seiner Generäle. Der bolschewistische Staat vermochte letztlich viermal mehr Soldaten zu mobilisieren, als die deutsche Aufklärung für möglich gehalten hatte (30,6 Mio. gegenüber 7,5–8 Mio.). Zusammen mit der Rüstungsproduktion, die ebenfalls leistungsfähiger war als erwartet, entschied vor allem dieser Umstand den Krieg. Sicher fiel auch ins Gewicht, dass Stalin aus seinen anfänglichen Fehlern lernte. Aber er konnte sich dieses Verfahren gleichsam auch ‹leisten›. Denn das Lehrgeld zahlte die Bevölkerung in Gestalt ungeheuren Leids, das ihr eine Obrigkeit abverlangte, die es gewohnt war, Ziele ohne Rücksicht auf Kosten und Opfer gewaltsam durchzusetzen.[17]

In allen Staaten haben moderne Kriege tiefgreifende Auswirkungen auf die innere Struktur gehabt. Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wurden in stärkerem Maße als zuvor in den Krieg einbezogen. Die Nation als Ganze rang um Sieg oder Niederlage und hatte alle ihre Kräfte auf diese Aufgabe zu konzentrieren. So wie der Friede zur Normalität wurde, geriet der Krieg zum Synonym der schlimmsten aller denkbaren existentiellen Bedrohungen. Dies traf umso eher zu, als parallel dazu Ideologien als psychisch-ideologische Triebkräfte an Bedeutung gewannen und die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung verwischten. Kein bis dahin geführter Feldzug war (wenn man die Religionskriege der Frühen Neuzeit beiseite lässt) in so hohem Maße weltanschaulich motiviert wie das Unternehmen Barbarossa, keiner richtete sich mit so erbarmungsloser Härte und mörderischer Brutalität auch gegen die nichtkämpfenden Einwohner. Der Überfall auf die UdSSR wurde zum Kreuzzug gegen ‹jüdischen Bolschewismus› und ‹slavisches Untermenschentum›, dem eine ausgeprägte Tendenz zu besonderer Schonungslosigkeit innewohnte. Schon deshalb mussten auch die Anstrengungen zum Widerstand nichtmilitärischer Art besonders groß sein.

Ob Stalin diese neue Dimension der ausgebrochenen ‹Völkerschlacht› begriff, als er anderthalb lange Wochen schwieg und es dem Außenminister überließ, die Nachricht über den Kriegsbeginn zu verkünden, muss nach wie vor offen bleiben. Als verbürgt darf lediglich gelten, dass ihn eine «tiefe Erschütterung» lähmte – ob von Anfang an oder in dem Maße, wie die völlige Wehrlosigkeit der Roten Armee unübersehbar wurde, macht letztlich keinen Unterschied. Erst am 3. Juli fand der rote «Führer» zu einer Fassung zurück, die es ihm ermöglichte, sich selbst über Rundfunk an die Bevölkerung zu wenden. In dieser ersten Kriegsrede schlug er ähnliche Töne an wie zwölf Tage vorher Molotov. Er begrüßte die «Genossen», aber auch die «Bürger», «Brüder und Schwestern» und die «Kämpfer» der Armee und Flotte. Er rief alle «Völker der Sowjetunion» auf, sich der «Tollwut» des Faschismus entgegenzuwerfen, und er nannte das höchste Gut, das sie mit allen Kräften verteidigen sollten: nicht den Sozialismus, sondern den mit Schweiß getränkten «Boden», die «Heimat». Auch Stalin gab nun vor, nur noch Patrioten zu kennen, ganz gleich wie sie es mit dem Bolschewismus hielten. Es ist klar, worauf diese propagandistische Kehrtwende zielte – alle sollten sich dem Aggressor entgegenwerfen und jede Not für ein Ziel auf sich nehmen: die «Zerschmetterung des Feindes».[1]

Trotz des Schweigens stand indes keine Minute außer Zweifel, wo die Entscheidung über die Schicksalsfragen des Staates weiterhin lag. Zwar wirkte Stalin in den ersten zehn Kriegstagen phasenweise «völlig erschöpft»; insbesondere nach dem Fall von Minsk am 28. Juni war er offenbar auch mental tief getroffen. Aber das Land erlebte keine Autoritätskrise und kein Interregnum im genaueren Sinn. Die ersten 24 Stunden vergingen als permanente Krisensitzung, in deren Verlauf Experten und Verantwortliche der verschiedensten Organisationen von Staat, Armee, Wirtschaft und Gesellschaft herangezogen wurden. Anderntags wurde das «Hauptquartier» (stavka) des Oberkommandos der Armee eingerichtet, dem neben Stalin unter dem formalen Vorsitz des neuen Verteidigungskommissars (seit dem finnisch-sowjetischen ‹Winterkrieg›) S. K. Timošenko der Generalstabschef des Heeres Žukov, der ehemalige Verteidigungskommissar Vorošilov, der hochangesehene Bürgerkriegsgeneral Budënnyj (einer der ganz wenigen namhaften Überlebenden des Terrors) und der Marinekommissar N. G. Kuznecov angehörten. Am 10. Juli rückte Stalin auch formell zum Vorsitzenden dieses (leicht umbenannten) Gremiums auf; am 19. übernahm er das Verteidigungsressort, so dass sein förmliches Avancement zum Oberkommandierenden aller Streitkräfte am 8. August faktisch schon vollzogen war. Gewiss zeigen diese Veränderungen, dass die höchste militärische Entscheidungsebene erst noch effizient organisiert werden musste. Man kann auch nicht ausschließen, dass Stalin mit der Möglichkeit eines Sturzes als Strafe für seine fatale Fehleinschätzung rechnete. Aber nichts dergleichen geschah. Der Schock löste weder Machtkämpfe noch eine Erschütterung des Regimes aus. Die Stellung des Diktators stand nicht zur Disposition; sein Wort galt nach wie vor.[2]

Zügig wurde auch die Anpassung der staatlich-zivilen Entscheidungsprozeduren und Institutionen vorgenommen. Dabei konnte man auf einschlägige Erfahrungen aus der Bürgerkriegszeit zurückgreifen. Im Kern wählte man dieselbe Strategie, die sich ohnehin anbot: Ein Höchstmaß an organisatorischer Zentralisierung und Bündelung der Kompetenzen in wenigen handlungsfähigen Gremien sollte die gewaltige Aufgabe lösen helfen, alle Kräfte in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zum Zwecke der Verteidigung nicht nur zu mobilisieren, sondern auch effektiv zu nutzen. Außerordentliche Organe drängten die regulären zunehmend und abermals beiseite. Dabei half der Umstand, dass der Weg, der bis dahin zurückzulegen blieb, kurz war – kürzer wohl als 1918. Nach dem Terror gab es niemanden mehr, der Stalins alleinige Herrschaft im mindesten beschränkt hätte. Von ihm beauftragt zu werden wog schwerer als die reguläre Machtfülle eines Amtes. Seine Rückendeckung stärkte oder schwächte eine Position. Insofern delegierte er ohnehin einen Teil seiner außerordentlichen Zuständigkeiten auf die verschiedenen Hausmeier. Vieles spricht dafür, dass der «Führerstaat» den regulären Staat, soweit davon in der Sowjetunion überhaupt die Rede sein konnte, in noch stärkerem Maße ersetzt hatte als im «Dritten Reich». Weil kein Rechtsstaat zu beseitigen war, fiel es den Mächtigen in Moskau leicht, Sonderorgane zu schaffen und sie mit umfassenden Vollmachten auszustatten. Andererseits könnte man auch sagen, dass sie eines solchen Notstandsregimes weniger bedurften, weil die Ausnahme ohnehin die Norm war.

Jedenfalls wurde frühzeitig, am 30. Juni 1941, eine Art Kriegskabinett gebildet. Diesem «Staatlichen Verteidigungskomitee» (GKO) gehörten nur fünf Personen an: Stalin, Berija, Molotov, Malenkov und Vorošilov. Wenn man die Namen ‹deuten› will, liegt die Vermutung nahe, dass neben dem Diktator, der gleichsam das Ganze vertrat, Repräsentanten der Geheimpolizei (Berija), Regierung (Molotov), Partei (Malenkov) und Armee (Vorošilov) berufen wurden. Homines novi waren auch die Jüngeren nicht mehr. Vielmehr zählten sie als Profiteure des Terrors seit den letzten Vorkriegsjahren (einige auch schon länger) zur engsten Umgebung Stalins und nahmen als nächste Berater – in welchem Maße, bleibt bis auf Weiteres offen – an den Herrschaftsgeschäften teil. Deshalb sollte man auch den Umstand, dass die Idee zur Einrichtung des GKO nicht von Stalin kam, sondern aus seiner Umgebung an ihn herangetragen wurde, nicht als Ausdruck von Opposition werten. Das GKO wurde nicht eigentlich neu geschaffen, sondern ein bereits existenter politischer Führungskreis unter seinem Namen formalisiert. Auch dies verband die neue Notstandsregierung mit der ersten, dem «Rat für Arbeit und Verteidigung», von 1918. An ihrem grundsätzlichen Charakter änderte die Kooptation Mikojans, Kaganovičs und des Wirtschaftsexperten N. A. Voznesenskij im Februar 1942 sowie des Funktionärs N. A. Bulganin im November 1944 nichts. Das GKO blieb ein Zirkel von wenigen Auserlesenen, der seine unbegrenzte Machtfülle im ganzen Land ohne Konkurrenz und Kontrolle nutzen konnte.

Der Überschaubarkeit entsprach ein informeller, von bürokratischen Prozeduren befreiter Arbeitsstil. Das GKO versammelte sich ohne längere Vorankündigung bei Bedarf, oft ohne vorher festgelegte Tagesordnung und ohne schriftliche Fixierung seiner Verhandlungen. Zugleich hatten die Beschlüsse Gesetzeskraft. Mehr noch: da jeder Rechtsschutz fehlte und der NKVD bereitstand, ihnen Nachdruck zu verschaffen, nahmen sie die absolute Verbindlichkeit von Befehlen an. Kaum weniger Geltungsanspruch kam den Anweisungen der Bevollmächtigten und von siebzig Lokalkomitees zu, die an der Front eingerichtet wurden und dem zentralen GKO halfen, seine Aufgaben zu erfüllen. Im Endeffekt entstand eine eigene Hierarchie außerordentlicher Instanzen, deren Entscheidungsbefugnisse sich über sämtliche Bereiche von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft erstreckten. Sie sogen alle entscheidenden Kompetenzen auf und begründeten die kommissarovščina der Bürgerkriegsjahre neu.

Wichtigstes Medium dieser weiteren Stärkung autoritärer Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen war die Personalisierung. Von Stalin abgesehen, übernahm jedes Mitglied des GKO einen Aufgabenbereich in unbeschränkter Breite, aber auch voller Verantwortlichkeit. Molotov fiel die Aufgabe zu, den Ausstoß von Panzern drastisch zu erhöhen; Malenkov wurde in analoger Absicht mit der Koordination der Flugzeugindustrie betraut; Voznesenskij befehligte die Produktion von Waffen und Munition; Mikojan hatte für die Beschaffung von Lebensmitteln, Treibstoff, Bekleidung und sonstigen Ausrüstungsgegenständen zu sorgen; Kaganovič erhielt die Oberaufsicht über den Schienentransport; Berija und Vorošilov kümmerten sich um ihre angestammten Obliegenheiten. Jeder richtete einen eigenen Stab ein und schickte seine Bevollmächtigten vor Ort. Zugleich konnte er auf die Zuarbeit der regionalen und lokalen Filialen von Partei und Staat rechnen. Da fast alle GKO-Mitglieder auch dem Politbüro (regulär oder als Kandidaten) angehörten, ergab sich überdies eine ausgeprägte Ämterhäufung. In mancher Hinsicht nahm die Durchbrechung bürokratischer Herrschaft (nicht etwa deren Perfektionierung im Sinne der trotzkistischen Deutung des Stalinismus) ein neues Ausmaß an. Nicht nur die Einmannleitung wurde unter dem Druck des Krieges auf die Spitze getrieben, sondern auch das Führerprinzip. Dies verwischte die ohnehin undeutliche Grenze zwischen Staats- und Parteigremien weiter. Nicht funktionale Trennung der Aufgaben und Kompetenzen im Dienste größtmöglicher Sachangemessenheit erschien als Aufgabe der Stunde, sondern Konzentration und Verkürzung der Entscheidungen. In dem Maße aber, in dem die irreguläre Machtfülle zunahm, wuchs auch die Gefahr von Willkür und Fehlentscheidungen.[3]

Zur weiteren Auflösung der ordentlichen Hierarchie trug die Evakuierung wichtiger höchster Behörden bei. So wie sich die Regierung im Spätsommer 1918 durch den Umzug von Petrograd nach Moskau dem möglichen Zugriff deutscher Truppen entzogen hatte, so beschloss man Anfang Oktober 1941, die Schaltstellen der Staatsverwaltung ins Hinterland auszulagern. Die Wahl fiel auf verschiedene Gouvernementshauptstädte an der Wolga (Kujbyšev [Samara], Kazan, Gor’kij [Nižnij Novgorod]) und im Ural. Alle schienen einerseits weit außerhalb deutscher Reichweite, andererseits noch nahe genug an Zentralrussland zu liegen, wo sich nach wie vor die größten Ressourcen des Reiches (darunter die meisten Einwohner) befanden und der Krieg entschieden wurde. ZK, Gosplan und Außenministerium fanden dabei in Kujbyšev Unterschlupf. Nicht zuletzt dank der Tätigkeit Voznesenskijs, des ‹Wirtschaftsgenerals› dieser Jahre, und der unschätzbaren Bedeutung der Rüstungs- und Industrieproduktion für den Krieg, avancierte diese alte Handels- und Gewerbesiedlung gleichsam zur Verwaltungs- und Koordinationszentrale des Reiches. Die meisten der evakuierten Ämter kehrten erst im Sommer 1943 nach Moskau zurück. Da Stalin und seine engste Umgebung aber in der Hauptstadt blieben, wurden die strategischen Entscheidungen nach wie vor im Kreml oder auf Stalins Datscha in Kuncevo getroffen, wo die Sprengsätze wieder entfernt wurden, die Berija für den Fall der Fälle schon hatte anbringen lassen. In vieler Hinsicht war diese geographische Trennung symbolisch: Weit entfernt und hoch oben fielen die Beschlüsse, die ohne Widerrede und Kontrolle im ganzen Land (wie auch immer) befolgt wurden.[4]

Aus diesen Gründen büßten auch die obersten ordentlichen Gremien ihre Macht weitgehend ein. Der Rat der Volkskommissare unterlag fortan nicht nur der Anordnungsgewalt des GKO, sondern musste sich auch damit abfinden, dass ihm alle rüstungs- und verteidigungsrelevanten Zuständigkeiten entzogen wurden. Vor allem die Industriekommissariate, die den größeren Teil der inzwischen 43 Ressorts ausmachten, hatten tiefgreifende Veränderungen hinzunehmen. Die Zerstreuung über verschiedene Standorte im europäischen Osten tat ein Übriges; sie schwächte die Regierung weiter, indem sie ihren Kommunikations- und Arbeitszusammenhang zerschnitt. Zum einzigen funktionsfähigen und räumlichen Zentrum wurde auch für diese Bereiche der kleine Kreis höchster Entscheidungsträger, der in Moskau um Stalin ausharrte.

Ähnlich, aber gleichsam auf höherem Niveau, erging es den Parteiorganen. Gesamtstaatliche Plenarversammlungen fanden gar nicht oder nur sporadisch statt. Der Parteitag kam nach seiner 18. Sitzung im März 1939 erst wieder im Oktober 1952 zusammen. Parteikonferenzen wurden seit Februar 1941 zu Lebzeiten Stalins nicht mehr einberufen; und das ZK tagte nach Kriegsbeginn nur einmal Ende Januar 1944 (eine Sitzung, zu der sich die Teilnehmer im Oktober 1941 bereits versammelt hatten, wurde kurz vor Beginn wieder abgesagt). Auch zu diesem Verzicht auf die letzten Reste formaldemokratischer Prozeduren trug die partielle Räumung Moskaus bei. Teile des ZK-Apparates samt einem der Sekretäre (Andreev) mussten ebenfalls die Reise nach Kujbyšev antreten, wo sie sich zwar – trotz des unerwarteten Vorstoßes der Wehrmacht nach Stalingrad – in Sicherheit, aber auch fernab vom Geschehen befanden. In der Hauptstadt blieb das Gremium, das neben Stalin noch die größte Macht ausübte: das Politbüro. Hier machten sich inzwischen die Jungen, die Angehörigen der eigentlichen stalinistischen Generation, deutlicher bemerkbar. Der 18. Parteitag hatte Ždanov und Chruščev zu Vollmitgliedern, das ZK im Anschluss an die 18. Parteikonferenz zwei Jahre später Voznesenskij, Malenkov und A. S. Ščerbakov zu Kandidaten gewählt. Als Sekretäre des ZK fungierten unter der Direktion Stalins dessen alter Gefolgsmann Andreev, der sich um die Landwirtschaft kümmerte, Ždanov, der vor allem für Kultur und Ideologie zuständig war, und Malenkov, der als Leiter der Kaderverwaltung eine Schlüsselstellung übernahm. So mochte es kein Zufall gewesen sein, dass Letzterer neben dem unentbehrlichen Wirtschaftsfachmann Voznesenskij auch in das allerhöchste Gremium, das GKO, aufgenommen wurde. Da nur Bulganin, ein Mann des Regierungsapparates, aus dem Rahmen fiel, darf man in den neun oder zehn Personen, die sowohl dem Politbüro als auch dem GKO angehörten, die erste Garde der sowjetischen Machthaber unterhalb Stalins während des Zweiten Weltkriegs sehen. Aus diesem Kreis ragten wiederum zwei oder drei, Molotov, Berija und bald auch Žukov hervor, die anscheinend sein besonderes Vertrauen genossen. Umso ferner standen der größere Teil der ZK-Mitglieder und/oder Volkskommissare sowie die nachgeordneten Generäle dem Zentrum, nach der Evakuierung zum Teil auch räumlich. Sie, die Mehrheit der dreißig Funktionäre, die eine neuere Studie zur damaligen Herrschaftselite rechnet, entschieden nicht, sondern führten aus.[5]

Doch auch die ganz Mächtigen und Gefürchteten waren machtlos und furchtsam gegenüber dem Diktator, der als Einziger allen genannten Gremien angehörte. Stalin zwang seiner Umgebung nicht nur seinen eigenen Arbeits- und Lebensrhythmus auf, der die Nacht zum Tage machte. Er bestimmte nicht nur nach Gutdünken, wen er zu Beratungen heranzog. Er traf auch in allen wichtigen Angelegenheiten die letzte Entscheidung, duldete (mit der gelegentlichen Ausnahme Žukovs) keinen Widerspruch und erließ nicht selten Anordnungen mit der Unterschrift der zuständigen Kommissare, ohne diese vorher zu befragen. Oft fielen schicksalsschwere Beschlüsse im informellen Kreis nach dem Abendessen in Stalins Datscha. Förmliche Verfahren waren weniger denn je nötig. Sitzungen und Herrenabende gingen ebenso nahtlos ineinander über wie amtliche und private Handlungen des neuen Autokraten.[6]

Auf der anderen Seite waren die vielen ‹kleinen Stalins› vor Ort nicht nur Empfänger, sondern auch Exekutoren der Befehle. Wie alle lokalen Verwalter leiteten sie ihre Macht aus der Stellvertretung der Obrigkeit ab, konnten die Aktivitäten dabei aber oft mit eigenen Interessen verbinden. Beauftragte des GKO und anderer Sonderorgane gehorchten nicht nur, sondern herrschten selber. Gerade in der Ausnahmesituation schuf die Zentralisierung der Entscheidungen auch eine wachsende Abhängigkeit von denen, die sie ausführten. Daher wurden die Beziehungen zwischen zentraler und lokaler Herrschaft im Krieg nicht ausschließlich durch die absolute Dominanz Ersterer geprägt; eher konnte die Verbindung von obrigkeitlicher Anweisung und «lokaler Autonomie» als charakteristisch gelten.[7]

Denn es steht außer Frage, dass der Zweite Weltkrieg für die Kommunistische Partei (immer noch VKP(b) genannt) eine Zeit tiefgreifender Veränderungen und neuer Chancen zugleich war. Die Führung wandte sich in der katastrophalen Lage, in der sie sich über Nacht sah, naturgemäß vor allem an die Stütze von Staat und Gesellschaft. Die «Avantgarde» sollte Farbe bekennen und sich an allen Fronten hervortun, der militärischen ebenso wie der politischen und wirtschaftlichen. Ihre Aufgabe war es, die Masse der Bevölkerung, deren Hilfe man nun dringender denn je seit dem Bürgerkrieg benötigte, enger an die bolschewistische Monopolorganisation zu binden. Dazu mussten die Bolschewiki vorbildlich sein, an der Front kämpfen, die Verteidigung organisieren und im Hinterland die Fundamente des Sieges legen. In der Tat darf man vermuten, dass sich der alte Traum der sozialistischen Intelligenz in stärkerem Maße erfüllte als zuvor: Weil Partei und Staat an den tief verwurzelten Patriotismus zu appellieren vermochten, weil der Aggressor eindeutig war und seine Politik in den besetzten Gebieten eine Kooperation auf Dauer unmöglich machte, stellte sich trotz Diktatur, Rechtlosigkeit und Terror eine seit der Revolution nicht mehr gekannte und nie mehr wiederkehrende Nähe zwischen Regierung und Volk, Partei und Gesellschaft, Herrschenden und Beherrschten her, die als elementare Voraussetzung für den letztlichen Sieg gelten kann.[8]

Was neu und anders war, lässt sich am ehesten an der Entwicklung der Mitgliederstruktur ablesen. Zunächst erlebte die Partei eine ähnliche Auszehrung wie Dorf und Stadt. In Gestalt der Bauern, Arbeiter und Angestellten rief man nicht zuletzt eingeschriebene Kommunisten zu den Waffen. In der zweiten Jahreshälfte 1941 belief sich deren Zahl auf etwa 1,1 Mio., von denen 100.000 durch örtliche Komitees ausgewählt, die übrigen auf dem Wege normaler Gestellungsbefehle eingezogen wurden. Von den vier Millionen Mitgliedern, von denen man zur Zeit des deutschen Überfalls ausgehen kann, blieben bis Jahresende etwa drei Millionen. Schon früh bemühte sich die Parteiführung, diesen Aderlass auszugleichen. Da eine Schonung ihrer Klientel bei der Vaterlandsverteidigung nicht in Frage kam, lag die Lösung nahe, den Beitritt zu erleichtern. Desgleichen verstand es sich in der gegebenen Situation von selbst, dass die alles beherrschende Aufgabe der Stunde dabei bedacht wurde. So beschloss man bereits am 19. August 1941, prämierte Frontkämpfer ohne Probejahr und Bürgen zu akzeptieren. Im Dezember folgte die Entscheidung, jedem fronterfahrenen Soldaten schon nach dreimonatiger Kandidatenzeit die volle Mitgliedschaft zu gewähren. Vor allem diese Regelung erwies sich als erfolgreich. Insgesamt nahm man zwischen 1941 und 1945 die enorme Zahl von 8,4 Mio. Mitgliedern und Kandidaten auf (zum Vergleich: 1936–1940 nur 3, 2 Mio.), davon knapp 80 % aus der Armee. Auf diese Weise erholte sich die Partei numerisch schnell von den Kriegsverlusten, um nach der Wende von Stalingrad den Vorkriegsstand hinter sich zu lassen und die höchste Marke seit der Revolution zu erreichen.[9]