Über das Verhältnis zwischen Innen- und Außenpolitik ist immer wieder kontrovers diskutiert worden. Beide können in ungefährer Konkordanz stehen, müssen das aber nicht. Die nachstalinistische Sowjetunion kann als Beleg für beides gelten: In der Gesamtperspektive bis zum Ende der Brežnev-Ära überwog das Bedürfnis, entsprechend der friedlichen Entwicklung im Innern zu einem Arrangement mit dem äußeren Gegner zu kommen. Kurz- und mittelfristig traten aber viele Faktoren hinzu, die zu erheblichen Schwankungen führten – darunter vorrangig Rivalitäten im ‹eigenen› sozialistischen Lager und die globale Systemkonkurrenz um Gefolgschaft in der ‹Dritten Welt›. Zwar gab es (vor Kuba) nur noch einen einzigen Konflikt, der die Welt wie in Korea an den Rand eines neuen globalen Krieges brachte. Aber Spannungen und krisenhafte Zuspitzungen blieben endemisch. Insofern vereinfacht die Vorstellung allzu sehr, dass der Kalte Krieg durch die «friedliche Koexistenz» ersetzt worden sei. Stattdessen griffen Phasen der Konfrontation und der Verständigung ineinander. Warum das so war, lässt sich im Rückblick besonders klar erkennen: Solange die Sowjetunion und ihre Satelliten existierten, gehörte der Gegensatz zur globalen Struktur. Er erlaubte die temporäre Annäherung der ‹Blöcke›, aber nicht ihre Aufhebung. ‹Kleine Schritte› waren möglich und nötig, weil ein großer nicht getan werden konnte.

Von selbst verstand sich, dass der Tod Stalins auch einen außenpolitischen Einschnitt bedeutete. Dies war umso eher der Fall, als die Wachablösung im Kreml ungefähr mit dem endgültigen Ende des Koreakriegs zusammenfiel. Als der Arbeiterprotest vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin ebenfalls glimpflich überstanden war, sah die neue Führung die Möglichkeit und Anlass, auch in dieser Hinsicht Kurskorrekturen vorzunehmen. Nach dem Patt im Fernen Osten und angesichts des Vorrangs innenpolitischer, vor allem wirtschaftlicher Fragen lag es nahe, ein Arrangement mit dem internationalen ‹Klassenfeind› zu suchen. So wie man die rigorose Kontrolle über das Geistesleben lockerte, rückte man vom Dogma des unausweichlichen globalen Zusammenpralls zwischen ‹Kapitalismus› und ‹Sozialismus› ab. Allerdings folgte daraus noch lange keine Verständigung mit den westlichen Mächten. Der Weg dorthin war steinig und wurde von Chruščev auch nicht ohne Verbündete beschritten. Es entsprach seinem Bemühen um die Wiederbelebung eines anderen, des ‹echten› Sozialismus, dass er zunächst versuchte, die Risse in der kommunistischen Welt zu kitten. In Peking räumte er Unstimmigkeiten fürs Erste unter anderem dadurch aus, dass er alten territorialen Wünschen entgegenkam (Rückgabe von Port Arthur, September 1954), und er wagte sich in die Höhle des Löwen, als er im Mai 1955 nach Belgrad flog, um das schmerzhafteste Schisma, den Bruch zwischen Stalin und Tito, zu überwinden. Solch neue Geschlossenheit sollte nicht nur die Attraktivität des globalen Sozialismus erhöhen, sondern zugleich der Stellung der Sowjetunion zugute kommen: Denn mit der Einheit des Weltsozialismus reparierte der neue Kremlherr auch den Führungsanspruch seines eigenen Staates. So gerüstet ließ er sich nicht nur auf die Freigabe und Neutralisierung Österreichs (Staatsvertrag vom 15. Mai 1955), sondern auch auf die erste Begegnung der Regierungschefs der Siegermächte seit Potsdam ein. Die Ergebnisse dieses Gipfeltreffens in Genf (Juli 1955) beschränkten sich indes weitgehend auf seinen symbolischen Wert. Chruščev und Bulganin (als formeller Ministerpräsident) lernten den amerikanischen Präsidenten D. D. Eisenhower und seinen neuen Außenminister J. F. Dulles kennen. Vor allem Letzterer soll einen bleibenden Eindruck hinterlassen und durch Unnachgiebigkeit maßgeblich zum negativen Urteil Chruščevs über die Möglichkeit einer Verständigung beigetragen haben. Die Großen Vier konnten sich einzig darauf einigen, nach fünf Jahren in Paris erneut zusammenzukommen. Dass diese Konferenz nicht stattfand, war oberflächlich sicher dem aufsehenerregenden Abschuss eines Aufklärungsflugzeugs (U-2) der USA über sowjetischem Territorium kurz vorher zu verdanken. Dessen ungeachtet fehlte auf allen Seiten auch der Wille, den Zwischenfall beizulegen.[1]

Zeigte schon dieses Resultat mehr faktische Kontinuität als Wandel, so galt dies für die ersten äußeren Auswirkungen der Entstalinisierung in besonderem Maße. Dazu trug weniger der Umstand bei, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen der Sowjetunion ähnlichen ideologischen Vorgaben folgen sollten wie der Aufbau von Wirtschaft, Gesellschaft, Staat und Kultur. Entscheidend war vielmehr der Zwangsexport des Sozialismus nach Ost- und Südosteuropa im Schlepptau der Roten Armee nach 1945. Weltkrieg und Kalter Krieg hatten den Stalinismus internationalisiert und die Grundlage dafür geschaffen, dass auch der Abschied von der unmittelbaren Vergangenheit (was sich deutlicher 1989–90 wiederholen sollte) keine innere Angelegenheit der Sowjetunion bleiben konnte. Dementsprechend gab Chruščevs ‹Geheimrede› auf dem 20. Parteitag auch in dieser Hinsicht den Startschuss. Die Botschaft, die von ihr ausging, wurde vor allem dort, wo es starken, nationsweiten autochthonen Widerstand gab, als Chance begriffen, sich zumindest aus der inneren Bedrückung durch den oktroyierten Sowjetsozialismus zu befreien.

In Polen war im März 1956 nach dem plötzlichen Tod des Vorsitzenden der kommunistischen Partei B. Bierut ein gleichgesinnter Nachfolger gekürt worden. Doch auch die persönliche Anwesenheit und Mithilfe Chruščevs, der schon damit dokumentierte, dass er die innere Lockerung nicht mit äußerem Machtverfall erkaufen wollte, vermochte diesem keine hinreichende Unterstützung zu verschaffen. Die Sympathie schon der Partei und erst recht anderer Bevölkerungskreise galt einem anderen Kommunisten, der kaum zufällig zu den Opfern Stalins zählte: W. Gomułka. Als sich die Versorgungslage im ganzen Land verschlechterte, allgemeine Unzufriedenheit um sich griff, die Industriearbeiter am 28. Juni 1956 in einen landesweiten Ausstand traten und nach blutigen Zusammenstößen mit der Polizei 44 Tote und über 300 Verletzte zu beklagen waren, wurde die Notwendigkeit eines Führungswechsels und Neuanfangs unübersehbar. Der sowjetische Ministerpräsident und sein Verteidigungsminister trafen ungebeten in Warschau ein, um die Notwendigkeit der Krisenbereinigung unter Wahrung der kommunistischen Herrschaft zu verdeutlichen. Angesichts solcher Drohungen setzte sich die ‹nationale› Fraktion in der kommunistischen Führung durch. Am Ende der ersten Oktoberwoche wurde eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnet, die allerdings von der gegnerischen Gruppe wieder in Frage gestellt wurde. Es bedurfte erst eines zweiten, ebenso überraschenden Besuchs von Chruščev selber am 19. Oktober, um den neuen ersten Mann in Warschau zu installieren. Als Gomułka seinen Triumph auf einer Massenveranstaltung fünf Tage später öffentlich verkündete, hatten die Gegner des Stalinismus auch in Polen gesiegt. Damit setzte sich innerhalb des Sowjetblocks zum ersten Mal eine Orientierung durch, die den landeseigenen Belangen nach jugoslawischer Art größeren Spielraum zugestand. Mit Unabhängigkeit von Moskau oder gar innerer Freiheit im Sinne eines anerkannten sozialen und politischen Pluralismus aber hatte sie nichts zu tun. Grundlage und Maßstab der fast fünfzehnjährigen Herrschaft Gomułkas blieb (neben der Duldung von Säulen polnisch-nationaler Eigenart wie der katholischen Kirche und einer relativen Offenheit des geistig-wissenschaftlichen Lebens) seine Fähigkeit, die Versorgung der Bevölkerung einigermaßen sicherzustellen. So war es nur konsequent, dass seine letzte Stunde schlug, als dies nicht mehr gelang. Es waren ähnliche Arbeiterstreiks, diesmal von der Danziger Werft ausgehend, die mit seiner Ablösung durch E. Gierek im Dezember 1970 die Endphase des kommunistischen Regimes in Polen vor der Notstandsdiktatur des Generals W. Jaruzelski (13. Dezember 1981) und dem friedlichen Übergang zur Demokratie im Jahre 1989 einleiteten.

Auch den ungarischen Aufstand im Herbst desselben Jahres 1956 wird man in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Beginn der Entstalinisierung in der Sowjetunion sehen müssen. Schon in den zurückliegenden Jahren hatte es Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Anhängern analoger Reformen gegeben. Paradoxerweise behauptete sich dabei mit dem Premierminister Mátyás Rákosi ein Mann des alten Geistes, dem es gelang, sich als Mittler in Szene zu setzen. Dessen ungeachtet zeigte sich schon in den ersten Wochen nach dem 20. Parteitag, dass dessen Signal in Budapest zumindest öffentlich stürmischer begrüßt wurde als in Warschau und Aktionen begründete, die breitere Kreise der Bevölkerung einbezogen. Im März wurden drei inhaftierte Gegner der alten Machthaber freigelassen, im Juni knapp 12.000 politische Gefangene entlassen. Die Lage spitzte sich zu, als Anfang Oktober die exhumierten Gebeine eines prominenten Opfers der ‹Säuberungen› Rákosis unter Anteilnahme vieler tausend Demonstranten beigesetzt wurden und eine Woche später sein als liberal geltender Hauptgegner Imre Nagy wieder in die Kommunistische Partei aufgenommen wurde. Am 23. Oktober kam es zu einem maßgeblich von Studenten und Intellektuellen getragenen offenen Aufstand, in dessen Gefolge Nagy die sowjetischen Oberherren davon zu überzeugen vermochte, er allein könne die Krise ohne ‹konterrevolutionäre› Veränderungen beilegen. So begann am 29. Oktober die erste und bis zum Zusammenbruch des Ostblocks 1989 einzige Woche politischer Freiheit im Nachkriegs-Ungarn. Freilich besiegelte der neue Premier, wie sich ex post herausstellte, schon am 1. November seinen eigenen Untergang, als er dem damaligen sowjetischen Botschafter in Budapest Andropov ankündigte, dass Ungarn aus dem 1955 geschlossenen Militärbündnis (Warschauer Pakt) austreten wolle. Diese (in Polen nie erwogene) Absicht überschritt die sowjetische Toleranzgrenze erheblich. Am 4. November rückten Panzer der Roten Armee auf Budapest vor und eroberten es nach heftigen Straßenschlachten am 11. November. Nagy wurde gestürzt und J. Kádár als nicht kompromittierter (von Rákosi sogar verfolgter) Kandidat von Moskaus Gnaden eingesetzt. Eine Viertelmillion Menschen emigrierte; Ungarn blieb ein Satellitenstaat, der in den nächsten Jahrzehnten zwar in vieler Hinsicht eigene Wege ging und bald als liberalster im ganzen Ostblock galt, aber weder demokratische Experimente wagte noch gar Anstalten zur Neutralität machte. So erreichte die (vor dem Abenteuer in Afghanistan Ende 1979) blutigste Intervention der Roten Armee nach dem Zweiten Weltkrieg sicher ihren Zweck. Dennoch wird man nicht von einem ungetrübten Sieg sprechen wollen: Chruščev verlor außenpolitisch endgültig den Nimbus eines Reformers; der ‹Geist von Genf› erlitt einen Schlag, von dem er sich nicht mehr erholte; und aller Welt wurde offenbar, dass die sozialistische Ordnung zumindest außerhalb der Sowjetunion nicht auf Zustimmung, sondern auf Gewalt beruhte.[2]

So hätte das Krisenjahr 1956 dem sowjetischen Staatschef eigentlich die Augen darüber öffnen können, wie zerbrechlich seine Macht über Osteuropa war. Allem Anschein nach verdrängte Chruščev diese Lektion, wenn er sie überhaupt verstand. Dabei halfen ihm der Triumph über seine innerparteilichen Widersacher im Juni 1957 und der erste unbemannte Raumflug am 4. Oktober 1957. Angesichts des weltweiten Aufsehens, das der Sputnik erregte, und der Bewunderung für die sowjetischen Trägerraketen, denen der Westen den Erfolg zuschrieb, brachte er eine neue Außenpolitik auf den Weg. Über ihren Inhalt herrscht im Kern Konsens: Einerseits sollte der internationale Klassenkampf endgültig «friedlicher Koexistenz» mit der anderen atomaren Supermacht und dem von ihr geführten kapitalistischen Westen weichen; andererseits meinte Chruščev, bei dieser Politik nicht nur im Bewusstsein der Anerkennung grundsätzlicher Gleichrangigkeit, sondern darüber hinaus von einer Position der Stärke agieren zu können. Daraus ergab sich eine eigentümliche Sprunghaftigkeit, um nicht zu sagen: Paradoxie, die bis heute rätselhaft geblieben ist. Man hat sie ebenso als Verknüpfung von Entgegenkommen und Drohung, von ‹Zuckerbrot› und ‹Peitsche›, wie als bewusste Täuschung gedeutet, die von der tatsächlichen militärischen Schwäche ablenken sollte. Was immer man für plausibler hält, beide Ziele wurden nicht erreicht. Chruščev unterschätzte den Widerstand gegen die faktische Aussöhnung mit dem Klassenfeind und überschätzte den Respekt vor der sowjetischen Schlagkraft samt der eigenen Fähigkeit zur Vorspiegelung falscher Tatsachen. Ohne klare Linie endete seine Außenpolitik im Konflikt mit einem wichtigen einstigen Verbündeten, der Volksrepublik China, und vor Kuba 1962 in der tiefsten Erniedrigung seines Landes seit dem Zweiten Weltkrieg.

Besonders undurchsichtig sind die Motive bis heute für das Berlin-Ultimatum vom 27. November 1958 geblieben, mit dem Chruščev zehn Jahre nach der Blockade durch Stalin eine neue Krise in der geteilten Stadt auslöste. Man mag vermuten, dass der endgültige Sieg über die Opposition im eigenen Land den nunmehrigen Partei und Regierungschef dazu animierte, der anderen Supermacht ihre Verwundbarkeit im Brennpunkt des Kalten Krieges zu demonstrieren. Im gleichen Akt ergab sich die Gelegenheit, der Bundesrepublik die Gefährlichkeit jeder Träumerei von (Mit)Verfügung über Atomwaffen zu verdeutlichen. Womöglich standen hinter der Aufforderung, ganz Berlin zu einem neutralen Gebilde unter der Kontrolle der vier Siegermächte zu machen, aber auch schon Befürchtungen über negative Auswirkungen des Wohlstandsgefälles zwischen West- und Ostberlin, das im Zuge des bundesdeutschen ‹Wirtschaftswunders› immer augenfälliger wurde. In jedem Falle führte die Note zu nichts. Die Westmächte und die Bundesrepublik lehnten jede Veränderung des Status der Stadt kategorisch ab – und das halbjährige Ultimatum verstrich geräusch- und folgenlos.

Obwohl ein Zusammenhang mit der nächsten, schwereren Krise um Berlin, dem Mauerbau vom 13. August 1961, naheliegt, sind manche zwischenzeitige Ereignisse zu bedenken, die ihr Eigengewicht verleihen. Von besonderer Bedeutung war dabei vor dem Hintergrund der antiamerikanischen Revolution in Kuba Ende 1959 der Präsidentschaftswechsel von Eisenhower zu J. F. Kennedy. Beides hilft das Risiko zu verstehen, das Chruščev auf Drängen der DDR zweifellos einging. Der Umsturz im eigenen ‹Hinterhof› traf die Vereinigten Staaten tief und gab zu nachgerade verzweifelten Bemühungen um Korrektur Anlass, die im Abenteuer einer Landung in der «Schweinebucht» (April 1961) gipfelten. Sicher enthüllten F. Castros Sieg und das klägliche Scheitern der Gegenoffensive empfindliche Schwächen der amerikanischen Außenpolitik und Sicherheitslage. Hinzu kam der Amtsantritt des jungen Demokraten. Nach dem republikanischen General und Weltkriegshelden war er geradezu ein Wunschkandidat der sowjetischen Führung. Allerdings zeigte sich schon bei der ersten Begegnung in Wien, mit der im Juni 1961 der Gipfel von Paris nachgeholt wurde, dass die Unerfahrenheit des jungen Präsidenten und die Liberalität seiner Berater nicht mit Nachgiebigkeit gleichzusetzen waren. Die Gespräche endeten ergebnislos und gaben Chruščev Anlass zu einem neuen Muskelspiel, indem er abermals auf die prekäre Lage Berlins hinwies. Die amerikanische Regierung antwortete mit der Ankündigung neuer Verteidigungsanstrengungen und Hilfszusagen für Berlin.

Wohl erst an dieser Stelle gelang es der DDR-Führung, ihrem langgehegten Wunsch Gehör zu verschaffen, die Grenze nach West-Berlin (und zur Bundesrepublik) abzuriegeln. Angesichts der harten Haltung der Vereinigten Staaten kam Chruščev zu der Einsicht, dass ihm der Bau einer Mauer helfen könne, das Gesicht zu wahren, ohne offen von seinem nach wie vor unbeantworteten Ultimatum abzurücken. Ob dazu auch Signale beitrugen, denen er entnehmen konnte, dass man in Washington entschlossen war, West-Berlin mit allen Mitteln zu verteidigen – nicht aber unbedingt den Zugang zum sowjetischen Sektor –, bleibt bis heute ungeklärt. So gab Chruščev sein Plazet, blieb aber in den Tagen nach dem 13. August sehr nervös. Erst als klar wurde, dass sich die Reaktion der Westmächte tatsächlich auf verbale Proteste beschränken würde, rieb er sich die Hände. Fraglos konnte er mit dem Ergebnis der Konfrontation zufrieden sein. Auch wenn der status quo, anders als drei Jahre zuvor erpresserisch gefordert, unverändert blieb, war es gelungen, ihn mit Zement und Stacheldraht zu befestigen. Denn dies war aus sowjetischer Sicht das entscheidende Resultat der Kraftprobe: Wie schon in Budapest akzeptierten die Westmächte die Aufteilung der Einflusssphären und den Eisernen Vorhang mitten durch Europa in dem Sinne endgültig, dass sie die jenseitigen Vorgänge als innere Angelegenheit betrachteten. Ein dritter Weltkrieg würde nicht mehr durch Veränderungen innerhalb der Blöcke, sondern allenfalls durch Konfrontation zwischen den Blöcken ausgelöst werden.[3]

Ihren unbestrittenen Höhepunkt erreichte die amerikanisch-sowjetische Konfrontation in der Kuba-Krise vom Herbst 1962. Ob sie tatsächlich an den Rand des Dritten Weltkriegs führte, wie spätere Chroniken meinten, muss allerdings der Spekulation überlassen bleiben. Sicher hatte sich die erste globale bewaffnete Auseinandersetzung im Juli 1914 aus einem nichtigeren Anlass entwickelt. Dazwischen lagen aber nicht nur ein halbes Jahrhundert und der schrecklichste Krieg aller Zeiten, sondern auch die Erfindung der Atombombe und das nukleare Patt. Dessen ungeachtet standen sich die beiden Supermächte so direkt gegenüber wie nie zuvor und nie danach. Unbestreitbar lag darin eine Qualität, die es rechtfertigt, diesen Zusammenprall als besonders gefährlich und als äußerste Zuspitzung des Kalten Krieges zu deuten, deren mögliche Sprengkraft die des Vietnamkriegs deutlich übertraf. Zu diesem Urteil wird man umso eher gelangen, als die sowjetische Rechtfertigung für die Entscheidung, auf Kuba atomare Raketen gegen die Vereinigten Staaten in Stellung zu bringen, nicht zu überzeugen vermag. Es ging ihr gewiss nicht nur und auch nicht primär um den Schutz Kubas vor einer (weiteren) amerikanischen Invasion. Vielmehr beschrieb Chruščev das Hauptmotiv in seinen Memoiren allem Anschein nach zutreffend: Die Sowjetunion habe gehofft, auf diese Weise das ‹herstellen› [sic!] zu können, «was der Westen gern das ‹Gleichgewicht der Kräfte›» nannte, und den Vereinigten Staaten «ein bißchen von ihrer eigenen Medizin» verabreichen zu können. Mithin suchte sie – unabhängig davon, ob man das implizierte Unterlegenheitsgefühl für aufrichtig hält oder nicht – ihre globale strategische Position zu verbessern und es dem Hauptfeind heimzuzahlen, dass er in der Türkei atomare Sprengköpfe unmittelbar an ihrer Grenze stationiert hatte.

Was danach geschah, ist bekannt und verdient in gesamtinterpretatorischer Perspektive vor allem zur Erläuterung des Ausgangs Beachtung. Der amerikanische Geheimdienst bemerkte die Vorgänge Ende August 1962. Im September, als sich der sowjetische Frachtverkehr nach Kuba weiter verdichtete, bemühte man sich hinter den Kulissen um Aufklärung und Beilegung. Die angesprochenen sowjetischen Amtsträger, darunter neben dem Botschafter in Washington auch Außenminister Gromyko, stritten die Geschehnisse jedoch rundweg ab. Am 4. Oktober fasste der Kongress einen prophylaktischen Beschluss über die Bereitstellung von 150.000 Mann für eine mögliche Invasion. Zugleich wurden Arbeitsgruppen eingesetzt, die alle politischen und militärischen Optionen prüfen sollten. Sie kamen offensichtlich zu dem Ergebnis, dass die atomare Schlagkraft der Vereinigten Staaten, alle Trägersysteme addiert, das sowjetische Potential deutlich übertraf, mächtige politische Verbündete wie die NATO, die UN und auch die Organisation der amerikanischen Staaten (OAS) hinter ihr standen und die Sowjetunion für keinen Nuklearkrieg gerüstet war. Anders gesagt, hielten sie die oft beschworene ‹Raketenlücke› für unerheblich und den sowjetischen Schachzug für eine leere Drohung. Vor diesem Hintergrund empfahlen sie eine militärische Blockade, die Kennedy am 22. Oktober öffentlich verkündete. Es folgten geheime Briefwechsel und Kontakte (über den Präsidentenbruder Robert Kennedy), die dem sowjetischen Partei- und Regierungschef noch einmal die Entschlossenheit der USA vor Augen führten. Chruščev lenkte schließlich mit dem Angebot ein, die Nuklearwaffen unter der Bedingung wieder aus Kuba abzuziehen, dass die Vereinigten Staaten auf eine Invasion Kubas verzichteten und ihrerseits zusagten, seit April in der Türkei installierte Jupiter-Raketen wieder zu entfernen (Brief vom 26. Oktober). Die amerikanische Regierung akzeptierte diese Wünsche, wobei sie beim zweiten durchsetzte, ihn erst vier Monate später vollziehen zu müssen. So lag denn vor der Weltöffentlichkeit klar zutage, dass Chruščev zu hoch gepokert – und verloren hatte. Nach der offenen Herausforderung, die neben militärstrategischen Vorteilen auch die politische Ausstrahlung auf die «Dritte Welt» im Auge hatte, bedeutete der Rückzug eine schlimme Blamage. Der Westen atmete auf, Castro reagierte verstimmt, die chinesische Regierung spottete, aber auch die sowjetische Elite war alles andere als glücklich: Nicht zuletzt diese Demütigung trug zum Sturz des einst ersehnten Reformers bei.[4]

Gerade für die Außenpolitik galt, dass der Machtwechsel im Kreml vom Oktober 1964 keine inhaltliche Neuorientierung brachte. Brežnev und Kosygin setzten Chruščevs ‹Generallinie› fort – allerdings ohne jenen impulsiven und hyperbolischen Aktionismus, der mehrfach zu erheblichen Diskrepanzen zwischen Anfangsforderungen und Resultaten geführt hatte. Insofern änderten die neuen Machthaber gerade auf diesem Gebiet eher den Stil als die Ziele. Dabei schloss die Politik nach wie vor beides ein: Konfrontation und Kooperation, und ließ sich in unterschiedlichen Phasen jeweils von der ein oder anderen Option leiten. Eine anfängliche Periode der Entspannung wich nach einer Übergangszeit, auch verursacht durch die zögerliche amerikanische Reaktion, der Verhärtung. Am Ende der Brežnev-Zeit stand im Zeichen des Afghanistan-Kriegs und des Amtsantritts von Ronald Reagan samt der von ihm unterstützten Strategic Defence Initiative (SDI) zweifellos eine Art neuer Kalter Krieg. Fast möchte man sagen, die Weltsituation hätte sich wiederholt – wenn es nicht grundsätzliche Unterschiede in der Verfassung beider Weltmächte und ihrer Verbündeten in Europa gegeben hätte. Wie sich zeigen sollte, hatte sich so viel verändert, dass die ‹neue Eiszeit› zu einem völlig anderen ‹Tauwetter› führte als im späten Stalinismus und danach.

Mehrere Faktoren begünstigten zunächst auf beiden Seiten das Bemühen um Verständigung. Zum einen verschärfte sich der sowjetisch-chinesische Konflikt weiter. Der Weltsozialismus sprach weniger denn je mit einer Zunge. Wenn man an den Titoismus und an die Vorgänge in Ungarn und Polen denkt, war dies nicht eigentlich neu. Unerhört aber war das Ausmaß der Feindschaft, das Gefechte um eine unbewohnte Insel im Grenzfluss Ussuri im März 1969 für alle Welt sichtbar machten. Zum anderen verstrickten sich die Vereinigten Staaten seit 1964 immer tiefer in den Krieg zwischen Nord- und Südvietnam mit gravierenden Auswirkungen auf die innere Politik und die äußere Manövrierfähigkeit. In mancher Hinsicht bietet sich ein Vergleich der ‹Hemmschuhe›, die beide zu tragen hatten, nachgerade an: Was für den einen die chinesische Herausforderung bedeutete, war dem anderen ein militärisches Engagement, das vom Stellvertreterkrieg zum Interventionskrieg mutierte, Hunderttausende von Opfern forderte und erst 1975 um den Preis einer faktischen Kapitulation und überstürzten Flucht zu Ende gebracht wurde.[5]

Vor diesem Hintergrund sind weitere Ereignisse und Entwicklungen zu sehen, die von beiden Seiten als Wegweiser zum Ausgleich interpretiert wurden. Dazu zählte ein Ereignis, das innenpolitisch und vordergründig ganz anders wirkte: die Invasion sowjetischer (und verbündeter) Truppen in die ČSSR. Wie ein gutes Jahrzehnt zuvor in Ungarn war der Sozialismus Stalinscher Prägung auch in der Tschechoslowakei in eine Sackgasse geraten. Unter dem Eindruck undogmatischer, in den meisten kommunistischen Parteien der westlichen Welt verbreiteter marxistischer Ideen («Eurokommunismus») entwickelten sich seit Anfang 1968 Reformvorstellungen, die das ererbte Ziel von Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit mit demokratischen Grundsätzen zu verbinden suchten. Die Sowjetführung beobachtete diesen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» äußerst skeptisch, zeigte sich aber eingedenk paralleler Unruhe in vielen ‹Bruderparteien› nicht nur des Westens zunächst duldsam. Zumindest war sie mit einem Personalwechsel in der Prager Führung einverstanden. Im Laufe des Sommers kam sie allerdings zu der Erkenntnis, dass die Reformen eine systemverändernde Qualität angenommen hatten und die Stabilität des Warschauer Paktes bedrohten. Zum zweiten Mal (wenn man den kurzen Arbeiteraufstand in Ost-Berlin beiseite lässt) drohte das Bemühen, die desolaten Resultate sowjetkommunistischer Politik zu korrigieren, den territorialen Kriegsgewinn und den status quo zu schmälern. Man darf davon ausgehen, dass neben dem Risiko möglicher Nachahmung des tschechischen Modells (etwa in Polen) vor allem diese Gefahr am 20. August Anlass zur militärischen Invasion gab. Allerdings soll die Entscheidung im Politbüro mit der knappsten denkbaren Mehrheit von einer Stimme gefallen sein, die dem Parteivorsitzenden gehörte (6:5). Den Panzern vorgeblicher Verbündeter hatten die ‹Abtrünnigen› nichts entgegenzusetzen. Der Widerstand blieb weitgehend ohnmächtig und passiv. Ein folgsamer Paladin, der den Parteichef A. Dubček ablöste, war schnell gefunden. Mit G. Husák und der Entfernung aller aktiven Sympathisanten aus öffentlichen Funktionen fand der «Prager Frühling» ein gewaltsames Ende. Bei alledem zeigte schon das Abstimmungsergebnis, dass die bald so genannte «Brežnev-Doktrin» der begrenzten Souveränität eine ultima ratio war, die ihren Ausnahmecharakter nicht verlieren durfte. Insofern widersprach sie zwar eklatant dem Inhalt von Entspannungspolitik, aber nicht der Einsicht in deren Zweckmäßigkeit. Im Gegenteil, schon um den außenpolitischen Schaden im Gefolge der Invasion zu begrenzen, schien es angezeigt, weiterhin auf ein Arrangement zu setzen.[6]

Dazu trug eine Veränderung maßgeblich bei, die geeignet war, die gesamtpolitische Lage in Deutschland und Mitteleuropa insgesamt nachhaltig zu verändern: die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition in Bonn. Mit ihr zog die neue Bundesregierung unter dem Kanzler W. Brandt letztlich die Konsequenz aus der Hinnahme sowohl des Mauerbaus vom 13. August 1961 als auch der Prager Invasion durch die Westmächte: Wenn der status quo, wie beide Ereignisse lehrten, von den Supermächten akzeptiert wurde, konnte es nur noch darum gehen, ihn bei faktischer Anerkennung erträglicher zu machen und auf diese Weise längerfristig zur Veränderung beizutragen. Die Prämisse dieser Strategie kam dem überragenden Ziel sowjetischer Außenpolitik sehr entgegen, ihre letzte Absicht sicher nicht. Da deren Erfüllung aber in weiter Ferne zu liegen schien – 1989 zeigte sich, dass diese Einschätzung trog – und auch die amerikanische Politik allem Anschein nach von der Einsicht ausging, dass die Teilung Europas auf absehbare Zeit weder politisch noch gar militärisch zu ändern war, ließ sich die sowjetische Führung alles in allem bereitwillig auf die neue Annäherung ein. Gespräche wurden bereits im Dezember 1969 aufgenommen. Neben dem unstrittigen Gewaltverzicht war dem Kreml besonders an der Festschreibung der bestehenden Grenzen einschließlich der deutsch-deutschen gelegen. Um eine friedliche Wiedervereinigung nicht zu torpedieren, wollte und konnte die Bundesregierung dem nicht zustimmen. Man einigte sich auf eine Kompromissformel («Unverletzlichkeit» statt «Unabänderbarkeit»), die eine völkerrechtliche Anerkennung der Viermächtehoheit auch über die DDR als Interpretationsmöglichkeit von deutscher Seite einschloss. Allerdings bedurfte es erst einer massiven Intervention des sowjetischen Außenministers, um den Widerstand der DDR zu brechen. Mit diesem Inhalt wurde am 12. August 1970 in Moskau ein Vertrag über die Normalisierung der Beziehungen unterzeichnet, der die Sowjetunion der Anerkennung der europäischen Nachkriegsgrenzen so nahe brachte wie nie zuvor und zugleich das Fundament für Entspannung und neue Mobilität im Verhältnis zwischen den Staaten nicht nur Europas legte. Das Pionierabkommen machte den Weg für analoge Vereinbarungen mit anderen Staaten des Ostblocks frei. Am 7. Dezember 1970 folgte der Warschauer Vertrag, der die (schon in Potsdam gesondert ausgewiesene) Oder-Neiße-Linie faktisch anerkannte; am 21. Dezember 1972 der deutsch-deutsche «Grundlagenvertrag», der zum Austausch «ständiger Vertretungen» führte und das Tor zu weiteren Vereinbarungen zwischen den beiden deutschen Staaten öffnete (Transitabkommen, Besuchsregelung etc.); und am 11. Dezember 1973 schließlich ein Vertrag mit der ČSSR.

Von selbst verstand sich, dass alle diese Regelungen eine korrespondierende Vereinbarung über Berlin voraussetzten. Dafür waren nach einhelliger Rechtsauffassung die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs zuständig, die bereits im März 1970 entsprechende Verhandlungen aufnahmen. Allerdings erwies sich ihre Kompromissfähigkeit als begrenzt. Die Sowjetunion verweigerte jede Anerkennung einer Zugehörigkeit der Westsektoren zur Bundesrepublik, während sie den Ostsektor weiterhin als Teil und Hauptstadt der DDR betrachtete. Worauf sie sich – gegen den Widerstand Ulbrichts, der am 3. Mai 1971 aufs Altenteil geschickt und durch E. Honecker ersetzt wurde – lediglich einließ, war eine Formulierung, die im westlichen Text als (politische, rechtliche und kulturelle) «Bindungen», im russischen als «Verbindungen» (svjazi) verkehrstechnisch-postalischer Art gedeutet wurde. Aufgrund dieser mangelnden Klarheit ließ das «Viermächteabkommen» vom 3. September 1971, wie sich in den folgenden Jahren häufig zeigen sollte, die Kernfrage letztlich offen. Dessen ungeachtet markierte es insofern einen entscheidenden Fortschritt, als es nicht nur die «Lebensfähigkeit» Berlins erheblich verbesserte, sondern darüber hinaus die entscheidende politische Voraussetzung für alle Ostverträge sowie insbesondere für das deutsch-deutsche Grundlagenabkommen bildete.[7]

Es hieße allerdings die Bedeutung Europas in der Weltpolitik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu überschätzen, wenn man nicht die grundsätzliche Parallelität der Beziehungen zwischen den beiden Supermächten erkennen und sie als Voraussetzung für die sozialliberale Ostpolitik werten würde. Die globale Entspannung aber hatte – neben den erwähnten jeweiligen Verwicklungen auf anderen Schauplätzen – (mindestens) noch eine weitere entscheidende Voraussetzung: die Veränderung des militärisch-strategischen Verhältnisses im Laufe der sechziger Jahre. Allem Anschein nach zog die sowjetische Führung einen doppelten Schluss aus der Kuba-Krise: Zum einen begab sie sich mit der Einrichtung einer direkten Fernsprechverbindung zwischen dem Kreml und dem Weißen Haus («Rotes Telefon») und dem ersten Abkommen zur Begrenzung oberirdischer Atomtests (1963) auf jenen Weg der Verständigung mit den Vereinigten Staaten, den Brežnev und Kosygin (unterbrochen von der Invasion in die ČSSR) fortsetzten; zum anderen rüstete sie (obwohl viele Planungen in die fünfziger Jahre zurückreichen) nun massiv auf, um eine Wiederholung des Debakels zu verhindern. Beides schloss sich in ihrer Wahrnehmung nicht aus. Vielmehr ging sie aus verschiedenen Gründen, unter denen das Trauma vom Juni 1941 nicht am geringsten wog, davon aus, dass sie nur aus einer Position der Stärke erfolgreich verhandeln könne, Aufrüstung in diesem Sinne Abrüstung erst ermögliche. Westlicher Kenntnis nach zog die Sowjetunion dabei in der Anzahl der Interkontinentalraketen, die auf dem Höhepunkt der Anstrengungen (1966–1969) um ca. 300 pro Jahr wuchs, an den Vereinigten Staaten vorbei. Diese behaupteten zwar ihr Übergewicht bei unterseebootgestützten Trägersystemen, mussten aber die grundsätzliche Parität anerkennen. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht: dass keine der beiden Supermächte die andere würde besiegen können, ohne selbst tödlich getroffen zu werden, begannen im November 1969 – fast zeitgleich mit der sozialliberalen deutschen Ostpolitik – die ersten Gespräche über eine Begrenzung der beiderseitigen strategischen Waffenarsenale.[8]

Bemerkenswerterweise waren es der (seit 1969 amtierende) republikanische Präsident Richard M. Nixon und sein gleichfalls als konservativ bekannter Sicherheitsberater und spätere Außenminister H. A. Kissinger, die den damit beginnenden Prozess der détente energisch vorantrieben. Sie akzeptierten auch den sowjetischen Wunsch nach einer separaten Vereinbarung über Abwehrraketen (ABM), bestanden aber auf der Einbeziehung offensiver Waffen. Nach zahlreichen Gesprächen konnte das Abkommen während des ersten Gipfeltreffens zwischen Nixon und Brežnev in Moskau Ende Mai 1972 unterzeichnet werden (SALT I). Wie schwierig die Verhandlungen waren, geht allein aus dem Umstand hervor, dass die Vereinbarung ausdrücklich als provisorisch bezeichnet und auf fünf Jahre befristet wurde. Man konnte sich lediglich auf Obergrenzen für die verschiedenen Waffensysteme einigen, die nicht nur hoch blieben, sondern auch die Modernisierung nicht ausschlossen. So war der ‹Geist› von Moskau, genau besehen, wichtiger als der militärische Inhalt des Abkommens. Hinzu kam, dass in der Besuchswoche eine Vielzahl weiterer Vereinbarungen getroffen wurde, von gesundheitspolitischen über die Zusammenarbeit beim Umweltschutz und den Kultur- und Wissenschaftsaustausch bis zum wichtigsten zivilen Dokument: einer Absichtserklärung zur engeren wirtschaftlichen Kooperation einschließlich der gegenseitigen Meistbegünstigung bei Importzöllen. Das beiderseitige Einvernehmen prägte auch noch den Gegenbesuch Brežnevs in Washington ein Jahr später, in dessen Verlauf elf Abmachungen, darunter eine Verpflichtung zur gegenseitigen Konsultation im Falle eines drohenden Nuklearkriegs, unter Dach und Fach gebracht wurden. Damit aber war der Zenit der bilateralen Gipfeldiplomatie erreicht.[9]

Was noch folgte, hatte seine Zeit in mancher Hinsicht schon überschritten – und erwies sich im Rückblick doch als außen- und innenpolitisch äußerst bedeutsam, wenn nicht entscheidend: die Helsinki-Konferenz und ihre Schlussakte vom 1. August 1975. Die Idee war alt und vielleicht der letzte Überhang stalinistischer internationaler Politik. Der längst vergessene Molotov hatte sie beim Außenministertreffen der vier Siegermächte zur Vorbereitung des Genfer Gipfels in Berlin 1954 geäußert. Danach war sie von der Sowjetunion gelegentlich wieder ins Spiel gebracht, aber erst von Brežnev in seiner Grundsatzrede auf dem 24. Parteitag 1971 mit höchster Priorität versehen worden. Die Sowjetunion versprach sich von solchen Verhandlungen letztlich noch immer das, wonach schon Stalin gestrebt hatte: die endgültige Anerkennung der Nachkriegsgrenzen. Deshalb ergab sich auch die innere Verknüpfung mit dem globalen Entspannungsprozess und der neuen deutschen Ostpolitik von selbst. Mit diesem Wunsch als faktischer Bedingung konfrontiert, sagten sowohl Brandt als auch Nixon 1972 ihre Unterstützung zu. Unter Einschluss der Vereinigten Staaten und Kanadas eröffneten Vertreter aller europäischer Staaten (mit Ausnahme Albaniens) am 3. Juli 1973 in der finnischen Hauptstadt eine Veranstaltung, die von allen internationalen Zusammenkünften der Nachkriegszeit einer Friedenskonferenz zweifellos am nächsten kam. Auf den ersten Blick konnte sich die Sowjetunion nach zwei Jahren am Ziel ihrer langjährigen Bemühungen sehen. In «Korb 1» der gemeinsamen Erklärung verpflichteten sich die Signatarstaaten in der Tat, alle Grenzen in Europa als «unverletzlich» zu betrachten und auf Versuche zur gewaltsamen Änderung zu verzichten. Allerdings bestanden die westlichen Staaten darauf, im «Korb 3» desselben Dokuments die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte unter Einschluss der freien Meinungsäußerung, der Presse- und Informationsfreiheit sowie der ungehinderten, auch grenzüberschreitenden Mobilität zu verankern. Da sie von einigen Vertretern des Ostblocks unterstützt wurden (und die amerikanische Annäherung an China seit 1972 ihre Wirkung nicht verfehlte), gab die sowjetische Regierung ihren Widerstand schließlich in der zu vermutenden Meinung auf, das Einklagen der verbrieften Rechte im Innern verhindern zu können. Dies sollte sich, wie gezeigt, als folgenschwerer Irrtum erweisen. Auch wenn der Zusammenbruch der Sowjetunion viele und wichtigere Ursachen hatte, liegt das Urteil über Gewinner und Verlierer im KSZE-Prozess auf der Hand. Die alten Herren im Kreml übersahen, dass das außenpolitische Hauptanliegen ihrer mittleren Jahre zu einer Zeit erfüllt wurde, als anderes längst wichtiger geworden war. Sie zahlten für ihre Sehnsucht von gestern einen Preis, der den Ertrag überstieg. Insofern entpuppte sich dieser Sieg auf längere Sicht als wahrhafter Pyrrhus-Sieg.[10]

Aber auch kurzfristig und sichtbar setzte Ernüchterung ein. Genau besehen hatte sie schon Oberhand gewonnen, als in Helsinki noch über das Schlussdokument gestritten wurde. Wer und was dabei die treibende Kraft war, gehört in besonderem Maße zu den offenen Interpretationsfragen, die von politisch-weltanschaulichen Grundpositionen kaum zu trennen sind. In den Vereinigten Staaten herrschte Unmut über die wirtschaftlichen Abmachungen. Um die Folgen der Missernte von 1972 zu lindern, kaufte die Sowjetunion große Mengen an Getreide, die sie aufgrund der (endgültig am 18. Oktober 1972 unterzeichneten) Handelsvereinbarung nicht nur zu einem äußerst günstigen Preis unter dem Weltmarktniveau erhielt, sondern auch noch mit Krediten der US-Regierung bezahlte. Im Endeffekt, so rechneten konservative Kritiker vor, habe der amerikanische Steuerzahler die kommunistische Vormacht subventioniert und es ihr erleichtert, die Bevölkerung bei Laune zu halten. «Entspannung» wurde (sichtbar am Wahlkampf 1976) zum Unwort und Synonym für moralische Schwäche. Wohin die Stimmung im Lande ging, zeigte die Bedingung, die der Kongress im Ratifizierungsverfahren für das Handelsabkommen an die Meistbegünstigung knüpfte: dass die Sowjetunion die Auswanderung der Juden und anderer diskriminierter Minderheiten erleichtere (Jackson-Vanik amendment). Umgekehrt gab solch unerwarteter Widerstand auch den sowjetischen Gegnern der Verständigung Auftrieb. Wenn der wirtschaftliche Gewinn so begrenzt blieb und mit Auflagen versehen wurde, die man als Einmischung in die inneren Angelegenheiten empfand, geriet die Bilanz ins Wanken: Die Sowjetunion interpretierte die Schlussakte von Helsinki als faktische Aufteilung der Welt, die Vereinigten Staaten mit dem Junktim zwischen Handel und Emigration offenbar nicht. Da auch der Vietnamkrieg zu Ende ging, der sowjetisch-chinesische Konflikt aber weiterschwelte, wurden die Stimmen im Politbüro lauter, die am Ertrag der détente zweifelten.

In diese Situation fiel die Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten J. Carter im November 1976. An seine Seite trat mit dem Politikwissenschaftler Z. Brzezinski ein Sicherheitsberater, der in Moskau (als einer der ‹Väter› der Totalitarismustheorie und Sohn polnischer Emigranten) im Ruf eines unverbesserlichen Kalten Kriegers stand. Was dessen Ernennung verhieß, wurde in sowjetischen Augen schnell Wirklichkeit. Die programmatische Parteinahme für die Wahrung der Menschenrechte auf dem gesamten Globus irritierte den Kreml zutiefst. Anstelle von Kooperation und Verständigung setzte die sowjetische Führung nun wieder verstärkt auf militärische Überlegenheit oder zumindest Parität. Zugleich bemühte sie sich mit neuer Kraft um Brückenköpfe in der «Dritten Welt», wo die Entspannung zum Teil auf Unverständnis gestoßen war und ihre Glaubwürdigkeit gelitten hatte. Dabei scheute sie, wie vor allem in Angola und am Horn von Afrika (Äthiopien, Somalia), nicht davor zurück, unmittelbar in die Kämpfe einzugreifen – zwar nicht mit eigenen Truppen, aber mit Hilfe kubanischer Söldner. Doch auch so rückte die Erneuerung substantieller Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten in noch weitere Ferne.[11]

Als die amerikanische Aufklärung dann auch noch die Aufstellung neuer Waffensysteme entdeckte, drängte die Carter-Regierung zu Gegenmaßnahmen. Die sowjetischen Militärs mochten in den neuen Mittelstreckenraketen SS-20 nur eine legitime Modernisierung und ausgleichende Antwort auf die Bedrohung durch überlegene westliche Kampfflugzeuge sehen. Die NATO-Staaten (einschließlich der Bundesrepublik) werteten sie dagegen als Veränderung des status quo. Angesichts der Tatsache, dass die 1973 in Wien aufgenommenen Gespräche über den Abbau der konventionellen Streitkräfte in Europa (MBFR) immer noch auf der Stelle traten, fassten sie am 12. Dezember 1979 einen «Doppelbeschluss», der trotz Verständigungsbereitschaft Festigkeit dokumentieren sollte: einerseits die Fortsetzung von Abrüstungsverhandlungen anzubieten, andererseits aber die Stationierung von Marschflugkörpern (Cruise missiles) und Mittelstreckenraketen neuesten Typs (Pershing II) vorzusehen. Dabei kam dem zweiten Teil der Entscheidung in der gegebenen Situation zweifellos größere Bedeutung zu. Das Bekenntnis zur Entspannung verdankte sich im Wesentlichen nur noch der Einsicht, dass es keine Alternative zu ihr gab. Vor allem in weiten Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit waren die Abkommen zur Rüstungsbegrenzung vollends in den Ruf geraten, nur die Überlegenheit der Sowjetunion festzuschreiben und eigenen Interessen zu schaden. Diesem Pessimismus entsprach das Schicksal von SALT II recht genau. Auf dem Höhepunkt der détente war die Fortsetzung der Gespräche beschlossen und begonnen worden. In Vladivostok hatte man sich 1974 noch auf ungefähre Grenzwerte für die abzubauende Vernichtungskapazität einigen können. Bei der Ausarbeitung der Einzelheiten aber, als es darum ging, Tragkapazitäten gegen Zielgenauigkeit und die Über- bzw. Unterlegenheit bei verschiedenen Waffensystemen auszutarieren, gerieten die Verhandlungen ins Stocken. Es bedurfte mehrerer Außenministertreffen, um sie wieder flottzumachen. Schließlich konnte der Vertrag im Juni 1979 aus Anlass der ersten und einzigen Gipfelbegegnung zwischen Carter und Brežnev in Wien auch noch unterzeichnet werden. Aber die Ratifizierung durch den amerikanischen Kongress blieb aus.[12]

Offiziell und zu einem erheblichen Teil sicher auch tatsächlich fiel SALT II dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan am 26./27. Dezember 1979 zum Opfer. Mit dieser ersten offenen Intervention in die Machtkämpfe eines fremden, formal souveränen Staates seit 1968 riss der Gesprächsfaden zwischen den Supermächten für einige Jahre endgültig ab. Was der Demokrat Carter nicht konnte und wollte, erklärte der Republikaner R. Reagan zum Programm: Mit seinem Amtsantritt Anfang 1981 gaben die Vereinigten Staaten einer neuen Runde der Aufrüstung in Gestalt des ‹Sternenkrieges› offen Priorität vor der Abrüstung. Insofern erscheint es gerechtfertigt, beide Ereignisse, die sowjetische Invasion und den Präsidentenwechsel in den Vereinigten Staaten, unter dem Gesichtspunkt der außenpolitischen Periodisierung zusammenzuziehen. Dabei verdient in historischer Perspektive Beachtung, dass sie überwiegend nur eine Entwicklung zum Eklat brachten, die sich längst vollzogen hatte. Die détente der siebziger Jahre war im Verhältnis zwischen den bedeutendsten Akteuren schon lange tot, bevor sie förmlich zu Grabe getragen wurde. Insofern markierte Reagans vielzitierte Charakterisierung der Sowjetunion als «Reich des Bösen» zwar eine neue ‹Qualität› der Feindseligkeit, aber keinen grundsätzlich neuen Tatbestand. Zugleich bleibt offen, ob man so weit gehen sollte, sie als Kampfparole eines neuen Kalten Krieges zu deuten. Das Verhältnis zwischen den Supermächten war auch in den folgenden Jahren überaus kühl. Aber in Europa sah die politische Gesamtlage anders aus. Im Gegensatz zu den fünfziger und frühen sechziger Jahren folgte der alte Kontinent den Vereinigten Staaten nur partiell. Obwohl niemand die abermalige Wende infolge der Perestrojka vorhersah, wiederholte sich die Geschichte auch in dieser Hinsicht nicht. Der neue Kalte Krieg war nicht der alte und vor allem: Er brachte, weil der Afghanistan-Krieg und die amerikanische Aufrüstung die innere Systemkrise der Sowjetunion zweifellos erheblich verschärften, völlig andere Ergebnisse hervor.[13]

Mit zunehmender Dauerhaftigkeit der Veränderungen im Sowjetsystem verbreitete sich unter den professionellen Beobachtern im Westen die Überzeugung, dass es neuer Überlegungen zu seiner Deutung und Erklärung bedürfe. Zwar markierte der Sturz Chruščevs einen weiteren Einschnitt, der auch interpretatorische Konsequenzen nach sich zog. Aber da er zugleich die Zweifel daran beseitigte, dass das Ende der Reformen keine Rückkehr zum Stalinismus bedeutete, bestätigte er die Notwendigkeit der Revision sogar. Nicht nur die Sowjetunion nach Stalin, auch ihre Verfassung, Struktur und Politik nach Chruščev ließen sich nicht mehr mit Hilfe des überkommenen Totalitarismusmodells erklären. Zumindest bedurfte dieses Modell, wenn man im Prinzip an ihm festhalten wollte, der Modifizierung. Entsprechende Diskussionen begannen nach dem 20. Parteitag der KPdSU und mündeten zu Beginn der sechziger Jahre in erste Neuvorschläge ein. Ihren Höhepunkt aber erreichten sie in der ersten Hälfte der Brežnev-Ära, als die Sowjetunion im Zenit ihrer inneren Kraft- und äußeren Machtentfaltung stand. Darüber hinaus waren allerdings, wie die zeitliche Situierung des Umdenkens andeutet, noch weitere Faktoren im Spiel. Die Antriebe kamen in gleichem Maße aus den betrachtenden Wissenschaften und Gesellschaften selbst. Der vielzitierte ‹Zeitgeist› sorgte auch in dieser Hinsicht für einen Wandel der Werte und Orientierungen. Sowohl die vorrangige Aufmerksamkeit für die Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts als auch die Wahrnehmung der Welt in antithetischen Blöcken ließ nach. An die Stelle der Suche nach Gegensätzen auf allgemeiner Ebene trat eine stärkere Beachtung der inneren Funktionsweise und Struktur der sozialistischen Länder, an die Stelle des globalen, bipolar angelegten Vergleichs die separate Analyse einzelner Politikfelder und Regionen. Zugleich blieb dabei die systematische Gesamtperspektive schon deshalb gewahrt, weil die einschlägigen Forschungen und Überlegungen nahezu ausschließlich – mit durchaus ambivalenten Folgen für die vorliegende Untersuchung – von Politik- und Sozialwissenschaftlern betrieben wurden. Mit veränderter Blickrichtung und neuen Einsichten bemühten vor allem sie sich um ein neues Verständnis des Wesens dieser eigentümlichen Ordnung, die sich selbst als «entwickelten Sozialismus» bezeichnete.

Dabei entsprach es dem Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis, dass konkurrierende Vorschläge unterschiedlicher methodischer und weltanschaulich-politischer Provenienz unterbreitet wurden, die kaum oder gar nicht miteinander zu verbinden waren. Vermutlich wird man den Status dieser Überlegungen am ehesten als Angebot heuristischer Modelle kennzeichnen können, zwischen denen nach Maßgabe der Plausibilität zu wählen und zu entscheiden ist. Auch wenn die Überlegungen den Anspruch erhoben, über bloße Partialerkenntnisse hinauszugehen, hat sich keine ungeteilten Konsens sichern können. Dafür blieben nicht nur die Zugänge allzu disparat. Hinzu kam und kommt, dass die Deutungen in der Regel von bestimmten Sektoren, Aspekten und Einzeluntersuchungen ausgingen, die sie besser zu erklären vermochten als andere. Insofern blieben und bleiben Präferenzen in der Regel nicht nur an außerwissenschaftliche Vorprägungen gebunden, sondern auch an subjektiv stark divergierende sachliche Interessen und Spezialisierungen.

Zur Charakterisierung der einzelnen Konzepte haben sich bestimmte Schlüsselbegriffe als hilfreich erwiesen. Als einer der Ersten hat A. G. Meyer bereits in den fünfziger Jahren versucht, dem vorherrschenden Modell seiner Zeit alternative Überlegungen entgegenzusetzen. Unzufrieden über die Allgemeinheit der zu Definitionskriterien totalitärer Herrschaft erhobenen Systemmerkmale, schlug er vor, die Sowjetunion als «große, komplexe Bürokratie» zu betrachten, die «in ihrer Struktur und Funktionsweise mit den riesigen Korporationen, Armeen, Regierungsinstitutionen und anderen Einrichtungen … des Westens» vergleichbar sei. Ähnlichkeiten sah er dabei in «vielen Organisationsprinzipien und Formen des Managements», vor allem der tief eingewurzelten «autoritären politischen Struktur», der unkontrollierten Herrschaft einer Machtelite, der Allgegenwart vorgegebener administrativer Reglements und der Auslieferung des Einzelnen an grundsätzlich anonyme Abläufe und Verfahrensweisen. Der Titel eines Diskussionsbeitrages fasste die Kernidee ebenso pointiert wie einprägsam zusammmen: «USSR, incorporated».

Diese Analogie schoss jedoch über das Ziel hinaus und schuf mehr Probleme als sie löste. Nicht nur waren und sind ‹westliche› Bürokratien zumindest hinsichtlich der Zugehörigkeit zu ihnen freiwillige Veranstaltungen; bei aller Eigengesetzlichkeit unterliegen sie in letzter Instanz auch der Kontrolle, sei es durch die Öffentlichkeit oder den Markt. Hinzu kam ein Einwand von sachlich größerem Gewicht: dass die neue Perspektive den Blick in ähnlicher, nur umgekehrter Weise einenge wie die alte. An die Stelle der ‹Herrschaftslastigkeit›, die man dem Totalitarismustheorem mit guten Gründen vorgeworfen hat, trat eine deutliche Tendenz zur Ausblendung zumindest individuell zurechenbarer Machtausübung. Auf der anderen Seite ist Meyers Anregung dennoch auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie traf nicht nur auf ein verbreitetes Unbehagen an der Einseitigkeit des hergebrachten Ansatzes, sondern wies neuen Überlegungen auch die Richtung: Trotz der evidenten Rückkehr Chruščevs zu personaler Herrschaft traten die Partei und Staatsbehörden einschließlich zahlreicher nachgeordneter Instanzen seit dem Tode Stalins so deutlich in den Vordergrund, dass sie nun als charakteristisches Merkmal der Sowjetordnung gelten konnten und eines zentralen Ortes in seiner Interpretation bedurften. Insofern begann die Theorie in Gestalt ‹korporativistischer› und administrationstheoretischer Überlegung die unbezweifelbare Veränderung der Realität aufzunehmen. Die Diktatur von Personen verwandelte sich in die Macht der Apparate.[1]

Als Variante dieses Vorschlags darf ein Konzept gelten, das den entscheidenden Wesenszug des Sowjetsystems im Organisationsmonopol der Kommunistischen Partei und ihrer Elite sah. T. H. Rigby vermied durch den Begriff der «monoorganizational society» schiefe Vergleiche mit westlichen Korporationen. Zugleich hob er dasselbe Merkmal hervor, das auch der bürokratietheoretische Ansatz hauptsächlich meinte: die Negierung nicht nur der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft, sondern auch der Grenzlinien zwischen den übrigen Sektoren der Gesamtordnung durch die uneingeschränkte Gestaltungsmacht der Partei. Deren Führung begriff sich nicht nur als ideologische Avantgarde, sondern setzte diesen Anspruch auch in Machtexklusivität um. Parteikader, Angehörige der vielzitierten nomenklatura, durchdrangen die Wirtschaft ebenso wie Gesellschaft und die Kultur. Ohne das Eigengewicht der Apparate und deren Durchsetzungskraft zu leugnen, gingen Rigby und andere davon aus, dass die letztinstanzliche Entscheidungs- und Kontrollbefugnis bei den höheren Gremien und Funktionären der Partei lag. Insofern bewahrte dieser Deutungsvorschlag auch eine Grundeinsicht des Totalitarismusmodells: die Machtkonzentration bei einer Organisation und deren nicht demokratisch legitimierter Spitze. Darin lag eine Kontinuität, die womöglich dazu beigetragen hat, dass die Interpretationsfigur einer monopolistisch organisierten Gesellschaft (im breiten soziologischen Sinn) einen weithin akzeptierten Platz jenseits der Kontroversen gefunden und sich bis zum Ende der Sowjetunion behauptet hat. Sie war und ist sowohl mit jenen Überlegungen vereinbar, die den Akzent auf die Entstehung mächtiger Institutionen und administrativer Hierarchien legen (von den Ministerien über das Militär bis zu industriellen Unternehmen und Branchenvereinigungen) als auch mit solchen, die das System von der zentralen Herrschaftsausübung und politischen Kontrolle her zu verstehen suchen.[2]

Auch ein weiterer Vorschlag, der sein Kennwort durch den Begriff der partizipatorischen Bürokratie erhielt, kann als Spielart des Korporativismus begriffen werden. Allerdings fügt er der besonderen Beachtung administrativ-‹bürokratischer› Herrschaft einen Aspekt hinzu, dem durchaus eine qualitative Dimension beizumessen ist. Im Bemühen um eine Präzisierung und zugleich Aktualisierung des Totalitarismusmodells nach Maßgabe der sowjetischen Zustände der sechziger Jahre vermisste R. V. Daniels die Berücksichtigung vor allem zweier Merkmale. Zum einen schlug er vor, dem eigenartigen Amalgam von obrigkeitlicher Bestimmung und formaler Wahl Rechnung zu tragen. Dies tat seiner Meinung nach weder die Vorstellung von der autoritär-diktatorischen Befehlsgewalt noch deren Leugnung. Als Lösung führte er die Formulierung vom «zirkulären Fluss der Macht» ein, die eben jene paradoxe Verbindung meinte: Auf der einen Seite wurden die Kandidaten für wichtige Ämter von der Parteiführung handverlesen; auf der anderen meinte man doch, den Statuten bzw. der Verfassung und dem demokratischen Anspruch durch die Wahl der solchermaßen faktisch schon ernannten Kandidaten formal Genüge leisten zu müssen. Dabei schloss der Begriffsvorschlag die Möglichkeit, vielleicht sogar die Wahrscheinlichkeit einer gewissen Einflussnahme von Seiten der unteren Gremien und Betroffenen ein: Nur so ‹floss die Macht› nicht nur von oben nach unten, sondern von dort – nicht nur als Akklamation bereits getroffener Entscheidungen – auch wieder zurück. In diesem Verständnis schloss die Idee vom ‹Kreislauf› der Macht die zweite Modifizierung schon ein. Mit vielen anderen Betrachtern wies Daniels darauf hin, dass keine «komplexe, moderne bürokratische Organisation» darauf verzichten könne, ein Mindestmaß an Wünschen und Informationen von unten aufzunehmen. Bei Strafe der eigenen Ineffizienz und letztlichen Funktionsunfähigkeit sind sie genötigt, Bedürfnisse und Interessen des Gesamtorganismus zu beachten. Nicht mehr Anweisungen qua Zwangsgewalt, so behauptete diese ‹kybernetische› Ergänzung, könnten komplexe Organisationen steuern, sondern nur noch Formen der Entscheidungsfindung, die verschiedenen Interessen gerecht würden und zumindest ein Moment der Überzeugung und Partizipation enthielten.[3]

Ungeachtet der Evidenz der – unter Sachkennern nicht neuen – Kerneinsicht warfen derartige Überlegungen ebenfalls manche Probleme auf. Im Licht der nachfolgenden Entwicklung wird man dem Begriff der Teilhabe mit Skepsis begegnen. Auch wenn das Adjektiv partizipatorisch nicht emphatisch gemeint war, schließt der Gedanke des ‹Machtkreislaufs› und des Mindestmaßes an ‹kybernetischer› Steuerung eine solche Deutung ein. Sicher lag sie in der damaligen Situation nahe, als die personale Diktatur endgültig überwunden schien, die sowjetische Wirtschaft noch Wachstumsraten verzeichnete und der Gesamtstaat dank seiner schieren Größe und militärischen Macht die Rolle einer zweiten Weltmacht noch ausfüllen konnte. Dennoch gab es auch außerhalb des überkommenen Totalitarismuskonzepts Alternativen, die einerseits die charakteristische bürokratische Struktur der nachstalinistischen Sowjetunion aufnahmen, andererseits die Imperative modernen Managements in geringem Maße erfüllt sahen und deutlich pessimistischer urteilten. So hat vor allem R. Löwenthal auf der Unvereinbarkeit beider Merkmale und Entwicklungen bestanden: Das Macht- und Gestaltungsmonopol einer einzigen Partei vertrug sich nicht mit der Notwendigkeit der Interessenartikulation einer zunehmend differenzierten Gesellschaft und Wirtschaft. Modernisierung und Industrialisierung schufen in dieser Sicht in Gestalt einer allgemeinen Steigerung der Komplexität, sei es durch höhere Bildung oder eine technisch aufwendigere Produktion, Bedürfnisse und Zwänge, denen nur eine pluralistische, auf Kompromiss gegründete politische Steuerung und Entscheidung Genüge tun konnte. Letztlich liegt dieser Überlegung die Annahme einer unauflöslichen Symbiose zwischen sozioökonomischer Differenzierung als unvermeidlichem Ausdruck wirtschaftlicher und allgemein infrastruktureller Modernisierung auf der einen Seite und demokratischer politischer Organisation, definiert als institutionalisierter Kompromiss unterschiedlicher Meinungen und Interessen, auf der anderen Seite zugrunde. Auch wenn diese Hypothese manche Merkmale der zeittypischen, überaus optimistischen und leicht ‹teleologischen› Annahme aufwies, die soziale Evolution steuere auf die industrialisierte demokratische Massenkonsumgesellschaft als natürlichen Endpunkt zu, darf sie eine erhebliche Erklärungskraft für sich in Anspruch nehmen. Die Perestrojka wurde nötig, um eben die inkriminierte Unvereinbarkeit zu beheben – mit dem Resultat, dass der zentrale Pfeiler entfernt wurde, auf dem das gesamte Gebäude ruhte.[4]

Spätestens diese Wendung ‹bürokratie›-zentrierter Deutungen des «entwickelten Sozialismus» illustrierte die enge Verzahnung einschlägiger Hypothesen mit dem Gedanken der Konvergenz beider Systeme. In der Tat könnte dieser Begriff am ehesten eine Art Dach für verschiedene Überlegungen zur Aktualisierung der theoretischen Beschreibung der Sowjetunion unter Chruščev und Brežnev bilden. Fast alle Vorschläge zur Ergänzung und Revision totalitaristischer Hypothesen griffen Elemente gewisser Entwicklungsähnlichkeiten zwischen Ost und West auf. Überwiegend standen sie im Kontext von Annahmen über notwendige Begleiterscheinungen der Industrialisierung und Modernisierung, denen systemneutrale Effekte zugeschrieben wurden. Allerdings unterschieden sich die Überlegungen erheblich hinsichtlich des Ausmaßes solcher Analogien. Überwiegend wurden nur partielle entdeckt. Darüber hinausgehende Behauptungen und Vorhersagen, die durchaus angestellt wurden, haben auch auf dem Höhepunkt solcher Szenarien keine breite Resonanz gefunden. Allzu groß und unüberwindbar schienen in allen Kernbereichen der Gesamtgesellschaft, von der Wirtschaft bis zur sozialen Schichtung und politischen Verfassung, die Unterschiede.

Weite Verbreitung fanden dagegen Vorschläge zu einer neuen Deutung des politischen Prozesses in der Sowjetunion. Gewiss entfernten sie sich am weitesten vom Totalitarismuskonzept. Was sie als charakteristisches Merkmal in den Vordergrund rückten, widersprach vor allem ihm diametral: die These, dass auch in der scheinbar monolithischen Herrschaftselite der Sowjetunion höchst unterschiedliche Wünsche anzutreffen waren, ohne deren Berücksichtigung keine Entscheidung getroffen werden konnte. «Interessengruppen» wurden entdeckt, deren Gegen- und Miteinander auch in der Sowjetunion die Politik maßgeblich bestimmten. Generäle und Manager, KGB und regionale Parteikader wurden nun mit einer Bedeutung ausgestattet, die sie zu eigenständigen Akteuren im Kampf um die Ressourcenverteilung oder innen- und außenpolitische Grundentscheidungen machte. Auch die sowjetische Politik erschien als Resultat von Interessenkonflikten, die einem ähnlichen «institutionellen Pluralismus» entsprangen, wie er in anderen Systemen anzutreffen war und als «Polyarchie» bezeichnet wurde.

Allerdings tut man gut daran, die Verfechter dieses Konzepts nicht über einen Kamm zu scheren. Mindestens zwei Orientierungen lassen sich deutlich unterscheiden. Die meisten Autoren begnügten sich mit der Feststellung und Beschreibung zahlreicher Gruppierungen und deren unterstellten oder nachweisbaren Wünschen. Dabei verstand es sich von selbst, dass politische Entscheidungen auch auf einen Ausgleich zwischen ihnen bedacht sein mussten, insofern sie, wie überall, auf Kompromissen und Konsens beruhten. Diese Position ließ sich zumindest im Prinzip mit ‹bürokratischen› Ansätzen vereinbaren. Dies galt sogar einschließlich des ‹organisationsmonopolistischen› Modells, da sich die jeweiligen Einzelinteressen durchaus im vorgegebenen, höheren Orts ‹zugelassenen› und ideologisch abgesegneten Rahmen bewegen konnten. Erst die Zuspitzung divergierender Interessen zum institutionalisierten Dauerkonflikt, ihre Aufwertung zu einem echten Pluralismus und die gleichzeitige Degradierung der politischen Entscheidung zur Vermittlung begründeten einen schwer überwindbaren Gegensatz sowohl zu totalitaristischen als auch zu korporatistischen Ansätzen. Besonders engagiert hat J. Hough für diese Auffassung und gegen die Verteidiger des überkommenen Modells gefochten. Dabei ging er so weit, Herrschaft auch in oligarchischer Gestalt fast völlig zu leugnen. Die «politischen Führer» fungierten in seiner Konzeption «im Wesentlichen … als Makler», deren Hauptaufgabe darin bestand, «Leute … auf einem Mittelgrund zusammenzubringen», um ihnen Gelegenheit zur Formulierung einer gemeinsamen Politik zu geben. Größer konnte der Gegensatz kaum sein: Genuine Macht im ‹anomischen› Sinne der Usurpation und letztlichen Schrankenlosigkeit verwandelte sich in den bloßen Ausgleich der Interessen rivalisierender Gruppen und Apparate. Sowjetische Politik hatte sich gleichsam normalisiert und zivilisiert – sie war vom bargaining und regularisierten Kompromiss demokratischer Art zwar qualitativ, aber kaum noch prinzipiell zu unterscheiden.[5]

Trotz des gleichlautenden Adjektivs sollte das Konzept des «bürokratischen Sozialismus» in seiner Absicht und Genese völlig unabhängig von korporatistischen Ansätzen amerikanischer Prägung gesehen werden. Nicht die spezifische Funktionsweise großer Verwaltungsapparate stand hier als Bezugspunkt Pate, sondern die marxistische Kritik an der stalinistischen Pervertierung behaupteter ursprünglicher demokratischer Absichten der Revolution und ihrer Ideologie. Die Analyse verfuhr im Kern machttheoretisch und interpretierte das Gesamtsystem als Gebilde einer selbsternannten und nicht mehr kontrollierten Parteielite. Allerdings unterlag die Herrschaft der ‹Kader› eigenen Regeln und Dispositionen, die sich in dieser Sicht gemeinsam mit anderen Besonderheiten des Gesamtsystems zu einem spezifischen Typus von Herrschaft und Gesellschaft einschließlich der Wirtschaft (die Kultur blieb weitgehend ausgespart) summierten. Den neuen Machthabern fehlte vor allem Positionssicherheit, da sie die staatlichen Ressourcen zwar unbeschränkt verwalten und nutzen, aber nicht in dauerhaften Besitz nehmen konnten. Sie mussten sich in besonderer Weise legitimieren und dabei vor allem die sozioökonomische Modernisierung als raison d’être des Gesamtsystems beachten. In der Anerkennung der Prägekraft dieser Aufgabe lag – neben der zentralen Bedeutung der Apparate – eine weitere ‹Schnittstelle› zu den übrigen skizzierten Deutungsvorschlägen. Allerdings betonte der «bürokratische Sozialismus» auch in dieser Hinsicht seine Eigenständigkeit: Er wollte entschieden nicht – wie die meisten Vorschläge aus dem Umkreis der amerikanischen comparative politics der 1950er Jahre – als Variante von Entwicklungsregimen der «Dritten Welt» begriffen werden. Vielmehr ging er davon aus, dass der Sozialismus, was immer im Einzelnen darunter verstanden wurde, eigene und keine fremden Ziele verfolgte.[6]

In Kenntnis des Endes der Brežnev-Ära und der Sowjetordnung insgesamt kann die Frage nicht ausbleiben, welche der skizzierten Deutungen auch die spätere Entwicklung verständlich macht. Dabei gilt einerseits, dass post hoc nicht propter hoc werden darf. Andererseits zwingt der Rückblick zu neuem Nachdenken, verbunden mit der Möglichkeit, aus der Distanz stark Zeitgebundenes von weniger Temporärem zu trennen. In dieser Perspektive wird man nicht umhin können, sowohl diejenigen Erklärungsangebote zu verwerfen, die den eigenständigen Anspruch des Sowjetsystems ernst genommen haben, als auch diejenigen, die von einer tendenziellen Konvergenz der Systeme, in welchem Maße auch immer, ausgegangen sind. Die Akzeptierung der sowjetischen Selbstwahrnehmung als System sui generis war dabei nicht mit Kritiklosigkeit gleichzusetzen. Den sozialistischen Anspruch hat inhaltlich kein Beobachter von Rang geteilt. Aber schon die Konstruktion eines separaten Typus muss im Rückblick darauf geprüft werden, ob sie die zunehmende Lähmung dieser Ordnung wenn nicht vorausgesehen – Prophetie ist keine Sache der Wissenschaft –, so doch als Möglichkeit mitbedacht hat. Dabei zeigt sich, dass vor allem die Modelle aus den sechziger und frühen siebziger Jahren, die unter dem Eindruck verwandter Strukturmerkmale in Ost und West standen, ihre Überzeugungskraft weitgehend eingebüßt haben. Eine Ausnahme bilden lediglich jene, die dem dilemmatischen Charakter der Entwicklung nicht nur am Rande, sondern in ihrem Kern Rechnung trugen. Wie man es auch dreht und wendet – in der ein oder anderen Form hat sich der Grundgedanke bewahrheitet, dass die Erfordernisse funktionaler Effizienz zunehmend komplexer Organisationen und technisch anspruchsvollerer Produktion auf Dauer nicht mit der monopolistischen Herrschaft einer Einheitspartei und noch weniger mit zentraler Anweisungs- und Planungskompetenz in ihrem Auftrag zu vereinbaren waren. In diesem Sinne gerieten die unausweichlichen Begleiterscheinungen der sozioökonomischen Modernisierung im Sinne ‹kybernetischer› Steuerungs- und Informationsprozesse in einen wachsenden Widerspruch zur anachronistischen monistischen politischen Verfassung. Der Gedanke drängt sich nachgerade auf, dass sich ein altes Problem der russischen Geschichte in neuer Variante wiederholte: Auch die revolutionäre Gärung seit der Jahrhundertwende, der die Sowjetordnung ihre Entstehung verdankte, wurzelte nicht zuletzt in mangelnder oder verspäteter Kompatibilität zwischen sozioökonomischem Fortschritt und autokratischer Herrschaft.[7]

Jedoch schließt diese Sicht die Anerkennung assimilatorischer Tendenzen ein. Wer die Probleme sozialistischer Systeme im genannten Dilemma ortet, setzt Entwicklungen voraus, die im Kern auch westliche Gesellschaften erfassten, hier aber andere Reaktionen und Folgen hervorriefen. Insofern bewahren die meisten ‹Entdeckungen› professioneller Beobachter in der Chruščev- und Brežnev-Ära durchaus ihre Gültigkeit. Fraglos haben ‹Korporativisten› zu Recht auf die wachsende Macht der Sowjetapparate hingewiesen. Zweifellos haben sich in einer Gesamtordnung, deren Institutionen nach dem Tode Stalins weitgehend unbehelligt wachsen konnten, mächtige Interessengruppen gebildet, die umso eher auf die Verteilung der Reichtümer im Lande und die grundlegenden politischen Weichenstellungen Einfluss zu nehmen suchten, als diese zentral stattfand. Und ebenso steht außer Frage, dass die Sowjetunion nach der Behebung der schlimmsten Kriegsschäden in eine neue Phase sozioökonomischer Modernisierung eintrat, die auch sie – bei allen bleibenden regionalen und sektoralen Unterschieden – zumindest mit drei langfristigen Veränderungen konfrontierte: mit der Urbanisierung, der Anhebung der Massenqualifikation (‹Bildungsexplosion›) und der Industrialisierung im einfachen Sinne des Rückgangs sowohl des Anteils landwirtschaftlicher Beschäftigung als auch agrarischer Wertschöpfung. Alle diese Vorgänge blieben nicht ohne Rückwirkungen auf den politischen Prozess und die politisch-soziale Gesamtverfassung.

Insofern sollte man sich vor der verbreiteten Täuschung hüten, der Zusammenbruch der Sowjetunion habe die Grundannahmen des Totalitarismusmodells bestätigt. Alle genannten Veränderungen der sowjetischen Makro-Struktur standen außerhalb der ursprünglichen Form dieser Deutung und wurden von ihr ignoriert. Die vergleichende Kernabsicht zog eine statische Sicht nach sich, die auch eine destabilisierende Evolution bis hin zum Zerfall ausblendete. Wenn einige Anhänger dieses Ansatzes später Elemente industriegesellschaftlicher Konvergenzbefunde aufnahmen und einen wachsenden Gegensatz zwischen dem ideologisch begründeten Totalitätsanspruch und den Imperativen der ökonomischen Modernisierung feststellten, so verließen sie die ursprüngliche Deutung und betraten den Boden der ‹Dilemma›-Hypothese. Zur weiteren Förderung der Erklärungskraft dieses Amalgams sollte man noch einen Schritt weitergehen und auch Aspekte des Interessengruppenansatzes einfügen. Bei aller Berechtigung der Kritik an der ‹Entmächtigung› politischer Entscheidungen zur bloßen Vermittlung steht die wachsende Bedeutung großer Apparate in der nachstalinistischen Sowjetunion außer Frage. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass sich ihre Stabilität während der letzten Brežnev-Jahre, als Wirtschaftskrise, Aufrüstung, wachsende Legitimationsdefizite, abnehmende internationale Konkurrenzfähigkeit und innere Kritik längst an ihren Grundfesten rüttelten, vor allem dem Zusammenwirken besonders einflussreicher ‹Interessen› – von der Parteiführung über die Armee und den KGB bis zu den Managern der Schlüsselindustrien – verdankte. In diesem Sinne käme damit auch das korporativistisch-bürokratische Denkmodell zum Tragen. Sicher bedeutete Chruščevs Sturz einen «Sieg der Sekretäre» (Z. Brzezinski). Aber zu seinen Voraussetzungen gehörte, wie derselbe Kommentar aus totalitaristischer Sicht erkannte, das Versprechen, nicht nur die personale Herrschaft Chruščevs wieder durch eine oligarchische zu ersetzen, sondern eben diese ‹Interessen› in Gestalt der Anliegen der nomenklatura stärker und regelmäßig zu beachten. Deshalb trifft die Bezeichnung des neuen Regimes als eines «konsultativen Autoritarismus», wenn das Adjektiv weit genug von der Konnotation einer Gleichrangigkeit der Beteiligten entfernt und das Substantiv nahe genug an eine nicht individuell ausgeübte Diktatur angenähert wird, ebenso zu wie die Formulierung von der «bürokratischen Versteinerung».

Somit schälen sich vor allem folgende Kennzeichen der politischen und sozioökonomischen Verfassung des «entwickelten Sozialismus» heraus, über die ungeachtet sonstiger Divergenzen zwischen den verschiedenen Deutungsvorschlägen weitgehend Konsens besteht: die Hegemonie der Partei bei der Festsetzung sowohl der Regimeziele als auch des Rahmens zulässiger Artikulation eigener, eventuell abweichender Forderungen nach Maßgabe der von ihr interpretierten monopolistischen Ideologie; die Existenz verschiedener institutionalisierter Interessen ohne echten Pluralismus; der Verzicht auf Massenterror bei durchaus drakonischer Einzelbestrafung von Dissidenten; und die wachsende Sichtbarkeit eines sozioökonomischen Modernisierungsprozesses in Richtung auf eine industriegesellschaftliche Gesamtverfassung. Dabei mag die schwierige, in vieler Hinsicht definitionsabhängige Frage offenbleiben, ob die Parteifunktionäre – und von welcher Ebene an – tatsächlich eine «neue Klasse» bildeten, die den Staat gleichsam besaß, andererseits auf die Erblichkeit dieses ‹Eigentums› verzichten musste. Außer Frage steht, dass diese Verfügungsgewalt über die Partei erworben und in deren Namen ausgeübt wurde. Somit bietet sich zur Kennzeichnung des Sowjetregimes auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung unter Brežnev als Konvergenz unterschiedlicher faktischer Befunde und theoretischer Vorschläge der letzten Jahrzehnte eine Verbindung im Wesentlichen zweier Überlegungen an: des Konzepts der ‹monopolistisch organisierten Gesellschaft› und der Denkfigur eines wachsenden Widerspruchs zwischen einer solchen politisch-sozialen Struktur und den unausweichlichen Folgen eben jenes wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, der letztlich Ursprung, Antrieb und Ziel der gesamten Sowjetordnung war und blieb.[8]