Dass Brežnev nicht mehr allzu lange amtieren würde, blieb niemandem verborgen, der mehr als nur Standphotos von ihm sah. Eingeweihte wussten von dem schweren Schlaganfall, der ihn 1976 getroffen und dauerhafte Schäden hinterlassen hatte. Wer mit der zensierten Berichterstattung vorliebnehmen musste, konnte sich seinen eigenen Reim auf die Bilder eines Mannes machen, der kaum noch abzulesen vermochte, was man ihm selbst für beiläufigste Äußerungen aufschrieb. Dies hätte bloßer Stoff für den Volksspott bleiben können, wenn es in der Sowjetunion eine geregelte Gewaltenteilung oder eine tatsächliche kollektive Führung gegeben hätte. Die zentralistische Herrschaftsstruktur aber sorgte dafür, dass ungeachtet der Existenz durchsetzungsfähiger ‹korporierter› Interessen wenig ohne den Generalsekretär geschah. Hinzu kam, dass auch das Politbüro stark überaltert und weder physisch noch geistig in der Lage war, den Ausfall Brežnevs zu kompensieren. So trieb die zweite Weltmacht zumindest kraft-, wenn nicht steuerungslos vor sich hin. Wo ein reguläres Verfahren zur Ablösung der politischen Führung fehlte, konnte ein Wechsel nur durch eine Verschwörung (von der Art der Absetzung Chruščevs im Oktober 1964) oder nach dem Tod des ersten Mannes vollzogen werden. Wie in den letzten Jahren Stalins und sozusagen verfassungskonform grundsätzlich in vormodernen Monarchien, wartete das Land auf einen biologisch erzwungenen Neuanfang.
Dabei mag es offenbleiben, ob das Fortleben Brežnevs den Problemdruck erhöhte oder nicht. Spätestens seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre waren die hauptsächlichen Fehlentwicklungen erkennbar, die jeder neue Mann an der Staatsspitze zu korrigieren hatte. An erster Stelle stand die ökonomische Misere. Wer immer das höchste Amt übernehmen würde, musste den anscheinend unaufhaltsamen Niedergang der industriellen Produktion bremsen. Aufs Engste verband sich damit die weiterhin drängende Aufgabe, die Versorgung der Bevölkerung sowohl mit Nahrungsmitteln als auch mit nichtagrarischen Konsumgütern zu verbessern. In mancher Hinsicht war ihre Lösung noch schwieriger geworden. Da die Krise hauptsächlich auf das Versiegen des Reservoirs an qualifizierten Arbeitskräften bei unverändert vorrangiger Versorgung der Rüstungsindustrie mit allen knappen Ressourcen zurückging, blieben zur Behebung im Wesentlichen nur zwei Wege: die Produktivität zu steigern oder die Prioritäten zu ändern. Letzteres war angesichts des großen Gewichts der Armee und der involvierten Industrien im gesamten politischen Kräftespiel außerordentlich schwer. Die Barrieren erhöhten sich noch, als die Aufstellung der SS-20-Raketen und der ‹Doppelbeschluss› der NATO eine neue Runde des Wettrüstens einleiteten und die Sowjetunion im Dezember 1979 den fatalen Entschluss fasste, sich in den afghanischen Bürgerkrieg einzumischen. Andererseits setzte die effektivere Nutzung von Rohstoffen und Arbeitskräften bessere Maschinen und allgemein das voraus, was der sowjetischen Wirtschaft am meisten fehlte: eine zeitgemäße Technologie und das Kapital, sie anzuwenden.[1]
Insofern gab es für die anstehende Reform von vornherein nur die Alternative, im Keim zu ersticken oder die gegebenen Grenzen der Wirtschaftsordnung – soweit sie überhaupt zu markieren waren – zu überschreiten. Wie sich zeigen sollte, geschah beides. Brežnevs erster Nachfolger Andropov bemühte sich um das, was man als autoritäre, in jedem Fall strikt systemimmanente Lösung bezeichnen könnte. Die Bereitschaft zur Beseitigung des Übels fand ihre Grenze dort, wo Grundpfeiler der bestehenden Ordnung angetastet wurden. Vor allem das Machtmonopol der Partei und die uneingeschränkte Kontrolle aller gesellschaftlichen öffentlichen Regungen durch die von ihr beherrschten staatlichen Instanzen standen in keiner Weise zur Disposition. Freilich hatte diese Vorsicht ihren Preis. Sie erlaubte bestenfalls langsame Fortschritte und mutete der Bevölkerung nicht nur zu, die überkommene Unfreiheit weiterhin zu ertragen, sondern sich außerdem mit der Erfüllung ihrer materiellen Wünsche zu gedulden. Erst Michail Sergeevič Gorbačev kam zu der Einsicht, dass der Sowjetordnung so viel Zeit nicht mehr blieb. Er suchte nach Rezepten für schnelle Erfolge und nahm das Risiko in Kauf – wenn er es denn erkannte –, die politische und sozioökonomische Verfassung der Gesellschaft (im umfassenden Sinn) tiefgreifend, wenn auch nicht ohne gedachte Einschränkung, zu verändern. Eine schnelle Anhebung des Lebensniveaus für die Mehrheit der Bevölkerung schien ihm nur durch die Einbeziehung des ‹subjektiven Faktors› möglich zu sein. Die Menschen mussten zu größerem Engagement und zu Eigeninitiative bewegt werden. Dabei war klar, dass materielle Anreize nicht ausreichen würden: Die innere Verbindung zwischen Leistung und Freiheit – in welchem Ausmaß auch immer – war von Anfang an mitgedacht.
Damit erhielt das, was als Perestrojka – auf Deutsch etwa «Umbau, Umgestaltung» – in die Geschichte einging und zum Anfang des Endes der Sowjetunion wurde, eine andere Dimension als alle vorangegangenen Reformen. Nicht nur der Stalinismus im Sinne zentraler Kommandowirtschaft und bürokratisch-obrigkeitlicher Lenkung aller gesellschaftlich-politischen Bewegungen stand zur Disposition. Auch die Leninschen Grundlagen des Staates, die Ergebnisse des Oktober 1917 selbst, gerieten bald ins Kreuzfeuer der Kritik – stellte sich doch heraus, dass ihr Verhältnis zur Freiheit durchaus prekär war. Dies wiederum hob das Problem auf jene prinzipielle Ebene, auf die es gehörte. Immer deutlicher wurde, dass sich dem Regime eine ‹Gretchenfrage› stellte: die nach dem Fortbestand seiner eigenen Legitimation. Die Revolutionäre von einst waren angetreten, das Land auf nichtkapitalistischem Wege durchaus in der vorrangig materiellen Bedeutung der Erschließung seiner reichen Ressourcen und der Hebung des Lebensstandards zu modernisieren. Als die Extensität dieses Prozesses auf unüberwindbare Barrieren stieß und immer deutlicher wurde, dass nur wachsende Intensität weiteren Fortschritt verbürgen konnte, trat die Notwendigkeit zutage, das nachzuholen, was der extensive Weg auszuklammern erlaubt hatte: ökonomische und allgemein politische Bewegungsfreiheit zu gewähren. So ließ sich das Dilemma, das dem zweiten Reformversuch der Nachkriegszeit zum Verhängnis wurde, genauer als wachsende Kluft zwischen sozioökonomischer Modernisierung und politischer Partizipation beschreiben. Die Perestrojka wurde zum Test der Möglichkeit, beide Vorgänge voneinander zu trennen. Wie frühere Versuche einer obrigkeitlichen Reform (Alexanders II. in den 1860er Jahren oder das verspätet-halbherzige ‹konstitutionalistische Experiment› nach 1905), an die sie in der Tat erinnert, hat sie ihn nicht bestanden. Dazu trug der unerwartete und schnelle Aufschwung separatistischer national-regionaler Bewegungen maßgeblich bei. Als die Demokratisierung, wenn überhaupt, nur noch um den Preis eines Abbruchs der gesamten Transformation aufzuhalten war, gab er der zerfallenden Zentralgewalt den Gnadenstoß. Die bekannte These Tocquevilles bewahrheitete sich, dass ein Regime dann besonders gefährdet ist, wenn es sich aus dem Sumpf zu befreien versucht, in den es sich gebracht hat.
Wann die Diadochenkämpfe hinter den Kulissen begannen, bleibt bislang im Dunkeln. Man darf jedoch davon ausgehen, dass sie schon zu Lebzeiten des Generalsekretärs ausbrachen. Dafür sprechen zum einen systembedingte Gründe in Verbindung mit Brežnevs Alter und langer Amtszeit. Nach mehr als anderthalb Jahrzehnten an der Spitze von Partei und Staat, einer Spanne, die nur Stalin übertroffen hatte, lag es auf der Hand, dass mit dem Tod des Generalsekretärs eine ganze Epoche zu Ende gehen würde. Hinzu kam das erwähnte Resultat der Politik ‹stabiler Kader›: Als Chruščev auf dem 22. Parteitag 1961 den eigentlichen Bruch mit der Vergangenheit vollzog, installierte er ein ZK, dessen Mitglieder zu 27 % über fünfzig Jahre alt waren; als diese Generation mit seinem Zögling Brežnev abtrat, hatte sich dieser Anteil auf 94 % erhöht. Ein Personalwechsel stand an, der eine ähnliche Dimension anzunehmen versprach wie beim Aufstieg und Niedergang des schrecklichen Diktators. Zum anderen drangen Vorgänge nach außen, die schon von professionellen Beobachtern jener Tage als Indizien für Machtverschiebungen gedeutet wurden. Ein entscheidendes Datum war dabei der Tod der ‹grauen Eminenz› Suslov im Januar 1982. Er scheint den Untergang der alten Ära gleichsam symbolisiert und den Beginn der Auseinandersetzungen um die Nachfolge eingeleitet zu haben. Kaum zufällig wurde im März Anklage gegen Freunde von Brežnevs Tochter wegen Schmuggel und Korruption erhoben. Im Mai wählte das ZK nicht Brežnevs Vertrauten Konstantin U. Černenko zum Nachfolger Suslovs als Sekretär für Fragen der Ideologie, sondern den KGB-Chef Andropov. Im August folgten weitere Maßnahmen gegen politische und private Gefolgsleute des Generalsekretärs. So waren manche Weichen schon gestellt, als der erste Mann im Staate am 10. November 1982 starb. Bereits am nächsten Tag wurde Andropov zum Vorsitzenden des Trauerkomitees bestimmt und am 12. November förmlich zum neuen Generalsekretär des KPdSU gewählt. Im März 1983 avancierte er auch zum Vorsitzenden des Verteidigungsrats und übernahm im Juni dieselbe Funktion im Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR. Damit hatte er in wenigen Monaten alle Ämter in seine Hand gebracht, für deren Vereinigung Brežnev dreizehn Jahre gebraucht hatte. Offenbar drangen keine nennenswerten Kräfte auf eine kollektive Führung wie bei Chruščevs Sturz. Der gebotene und erwünschte Wandel war anderer Art. Er bezog sich auf den Inhalt vor allem der inneren Politik, nicht auf die Form der Machtausübung. Im Gegenteil, der Eindruck scheint überwogen zu haben, dass die Probleme des Landes ohne Konzentration aller Befugnisse in einer Hand nicht zu lösen seien.[2]
Freilich holten die personalpolitischen Versäumnisse Brežnevs auch seine ersten Nachfolger in gewisser Weise ein. Andropov war mit 68 Jahren der älteste Generalsekretär, der je in dieses Amt gewählt wurde. Überdies litt er bekanntermaßen an Herzproblemen. Sicher hätte er bedeutend länger amtieren können als die sechzehn Monate, die ihm vergönnt waren. Aber eine kurze Wirkungszeit lag eher im Bereich des Wahrscheinlichen als das Gegenteil. Dessen ungeachtet bestellte das Politbüro keinen Verlegenheits- oder Übergangskandidaten. Andropov brachte viele Vorzüge mit, die ihn für die höchste Position im Sowjetstaat qualifizierten. Er verfügte nicht nur über eine lange, sondern auch über eine vergleichsweise vielfältige politische Erfahrung. In den bewegten fünfziger Jahren diente er als Botschafter in Ungarn (1953–57) und konnte sich seine eigenen Gedanken über die Ursachen des Budapester Aufstandes machen. Eine Dekade später hielt er von Moskau aus Kontakt zu den außersowjetischen Bruderparteien und dürfte in dieser Funktion auch mit verschiedenen häretischen Gedanken des ‹Eurokommunismus› in Berührung gekommen sein. Vor allem aber rückte er 1967 an die Spitze des KGB auf, eine Funktion, die ihm 1973 auch Sitz und Stimme im Politbüro eintrug. Gewiss war diese Karriere nicht ohne Zustimmung Brežnevs möglich. Zugleich spricht vieles für die Annahme, dass sich Andropov zum einen dank seiner gefürchteten Hausmacht eine erhebliche Unabhängigkeit bewahrte und zum anderen eher von Suslov gefördert wurde. Da er darüber hinaus den großen und schwer beherrschbaren Geheimdienst fest im Griff hatte und als intelligent galt, erschien er in mehrfacher Hinsicht als idealer Kandidat. Er verband gleichsam die hauptsächlichen Eigenschaften, die man nach dem Ende einer zunehmend in Immobilismus versunkenen Ära vom neuen ersten Mann erwartete: Kontinuität dank Erfahrung und Dienstalter, zugleich aber Innovationsbereitschaft dank deutlicher Distanz zur Klientel Brežnevs und Aufmerksamkeit gegenüber der Stimmung und der wahren Situation im Lande.
Die Kürze seiner Amtszeit verdeckt den Tatbestand, dass Andropov beiden Erwartungen durchaus gerecht wurde. Zupackend ging er gegen die Missstände vor, die er als Hauptursachen der wirtschaftlichen Lähmung der letzten Jahre wertete – gegen Vetternwirtschaft, Schlendrian, Betrug und Unfähigkeit. Dabei scheute er auch vor drakonischen Maßnahmen nicht zurück. Der Korruption überführt, wurde der Leiter des größten Moskauer Lebensmittelgeschäfts sogar hingerichtet. Der Generalsekretär kehrte mit eisernem Besen, nach Art des KGB, wie man bald kommentierte. Nicht genug damit, machte Andropov aber auch ein ‹Angebot›. Er führte in Grenzen eine neue Offenheit ein. Erstmals wurde die Tagesordnung des Politbüros in der Pravda publiziert. Petitionen und Beschwerden fanden größere Aufmerksamkeit, und der Generalsekretär selber kümmerte sich bei Betriebsbesichtigungen wieder demonstrativ um die Sorgen der kleinen Leute. Es lag auf der Hand, was solche Taten und Gesten signalisieren sollten: dass die Partei ihrem Drohnendasein abschwöre und sich an ihre Aufgabe erinnere, dem Wohle des Volkes zu dienen. In diesem Sinn versuchte schon Andropov, zu den Tugenden der sowjetischen Frühzeit (in offizieller Sicht) zurückzukehren.
Freilich hätte Andropov die Lektionen eines langen Parteilebens nicht verstanden, wenn ihm nicht bewusst gewesen wäre, dass jede neue Politik unter dem Deckmantel ideologischer und struktureller Kontinuität personeller Veränderungen bedurfte. Alle vorherigen Generalsekretäre hatten dies beherzigt und ihr Amt dazu genutzt, ergebene Gefolgsleute in entscheidende Positionen zu bringen. Auch Andropov setzte einen solchen Personalwechsel in Gang. Wie sich zeigen sollte, stellte er vor allem damit wichtige Weichen für die turbulenten Ereignisse der folgenden Jahre. Denn bei aller Würdigung der außerordentlichen Durchsetzungsfähigkeit Gorbačevs verdient der Umstand größere Beachtung als bisher, dass der ‹Elitentausch› schon unter Andropov begann. Einige der entscheidenden Akteure des kommenden Dramas traten seit dem ZK-Plenum vom November 1982 unter seiner Ägide ins Rampenlicht der großen Politik: Nikolaj I. Ryžkov, später langjähriger Premierminister unter Gorbačev, rückte vom Gosplan ins Zentralsekretariat der Partei auf, E. K. Ligačev, anfangs Mitstreiter, danach wichtigster Gegner der Perestrojka, avancierte vom Ersten Sekretär der Gebietsorganisation im sibirischen Tomsk zum ZK-Sekretär für Kaderfragen; und auch Gorbačev selber tat einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg an die Spitze, da ihn Andropov allem Anschein nach zu seinem Kronprinzen erkor. Er hielt die Verbindung zum Politbüro, als der Generalsekretär im November 1983 wegen Nierenversagens für längere Zeit ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Damit stand Gorbačev im unmittelbaren Vorzimmer der Macht. Trotzdem kam der Tod seines Mentors, der am 9. Februar 1984 starb, ohne die Klinik wieder verlassen zu haben, zu früh.
Denn in den Augen der meisten seiner Kollegen im höchsten Machtzirkel hatte Gorbačev noch einen wesentlichen Makel: Er war (1931 geboren) zu jung und gehörte der Parteiführung noch nicht lang genug (erst seit 1978) an. Demgegenüber konnte sich sein hauptsächlicher Rivale, der schon gegen Andropov angetreten war, überzeugend auf Anciennität berufen. Hinzu kam, dass Černenko die halbjährige Abwesenheit des Generalsekretärs genutzt zu haben scheint, um die Mitstreiter des verstorbenen Suslov für sich zu gewinnen. Desgleichen wird man nicht ausschließen können, dass der reformerische Elan mancher oberster Kommunisten nach den ersten Erfahrungen mit einer Erneuerungspolitik, die auf alte Seilschaften keine Rücksicht nahm, schon nachgelassen hatte. In jedem Falle bildete die jahrzehntelange Nähe Černenkos zu Brežnev kein Hindernis mehr. Auch das fortgeschrittene Alter des Kandidaten – mit 72 Jahren gebührte nun ihm die Palme der Seniorität – und seine redehemmende Kurzatmigkeit (Folge eines Lungenemphysems) hielten die Parteihierarchen nicht davon ab, ihn schon am Tage nach Andropovs Tod zu nominieren. Allerdings kam es diesmal zu einem förmlichen Kompromiss. Die Anhänger Andropovs und Befürworter einer Reform im Politbüro waren offenbar so stark, dass sie dem greisen Vorsitzenden einen Vertreter an die Seite zu stellen vermochten, der ihre Interessen wahrnahm und bald auch die Politbürositzungen leitete: Gorbačev. Angesichts der Energie, Raffinesse und Brillanz, die dieser dabei bewies, wird man daran zweifeln dürfen, dass der nominelle Generalsekretär auch der tatsächliche war. Allerdings kam es gar nicht erst zur Kraftprobe. Bereits gegen Ende seines ersten Amtsjahres erkrankte Černenko so schwer, dass er seine Geschäfte nicht mehr wahrzunehmen vermochte. Die innenpolitische Lage hatte sich wenig verändert, als er am 10. März 1985 starb.[3]
In der Rückblende steht die Wahl Gorbačevs nachgerade unter dem Diktat der Frage, wie es überhaupt zu dem kommen konnte, was zum Anfang vom Ende der Sowjetunion und des sozialistischen Ostblocks insgesamt wurde. Man wird die Antwort vor allem in der Verbindung zweier Faktoren zu suchen haben, die bei den meisten historischen Weichenstellungen zusammenkommen und nicht alternativ, sondern komplementär gesehen werden sollten: der Person und der vielzitierten ‹Umstände›. Zum einen bot sich Gorbačev durch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten an. Er überragte alle Mitbewerber nicht nur an intellektueller Beweglichkeit und rhetorischem Talent, sondern auch an taktisch-strategischem Geschick und administrativer Durchsetzungsfähigkeit. Offenbar beherrschte er die Kunst, die eigenen Ziele dem jeweils Erreichbaren anzugleichen und Apparate wie Personen in die gewünschte Richtung zu bewegen, mit traumhafter Sicherheit. Anders ist sein kometenhafter Aufstieg aus kleinen Verhältnissen kaum zu erklären. Dem Sohn eines einfachen ‹Traktoristen› aus der Region Stavropol’ im kaukasischen Vorland gelang es Anfang der fünfziger Jahre, zum Jurastudium an der ersten Universität des Landes (der Moskauer) zugelassen zu werden. Nach einem Abschluss mit Auszeichnung kehrte er nach Stavropol’ zurück, um im Komsomol, danach in der Parteiorganisation im Eiltempo Stufe um Stufe bis hinauf zum Ersten Sekretär zu erklimmen. Sicher genoss er dabei wirkungsvolle Protektion. Vor allem der Parteichef des oblast’ Stavropol’ F. D. Kulakov förderte ihn nach Kräften. Insofern stand ihm auch das Glück des Tüchtigen in Gestalt einer ebenfalls ungewöhnlichen Karriere dieses Mentors zur Seite, der 1970 zum ZK-Sekretär für Landwirtschaft ernannt wurde und dessen regionale Funktion er übernahm. Als Kulakov 1978 starb, folgte ihm Gorbačev auch im letztgenannten Amt. Dafür bedurfte er breiterer Unterstützung. Insofern erscheinen die Vermutungen plausibel, Gorbačev habe auch von dem glücklichen Umstand profitiert, dass seine Heimatregion zwischen Schwarzem Meer und Kaukasus ein begehrter Urlaubsort der Parteiprominenz war und er mehrfach Gelegenheit hatte, Andropov und Suslov (dessen Laufbahn im Übrigen ebenfalls in Stavropol’ begonnen hatte) begrüßen zu können. Doch dürfte dieser Zufall jemandem nur als zusätzlicher Steigbügel gedient haben, der vor allem durch seine Begabung auf sich aufmerksam machte. Diese brachte ihn bereits 1979 als Kandidat und im Oktober 1980 als Vollmitglied ins Politbüro. Bemerkenswerterweise konnten ihm selbst schwere Rückschläge der Landwirtschaft, für die er immerhin zuständig war, nichts anhaben. Seine Wendigkeit, vielleicht auch seine schiere Dynamik und geistige Überlegenheit hatten zur Folge, dass sie ihm offenbar nicht angerechnet wurden. Bei alledem verfügte Gorbačev zusätzlich über eine Eigenschaft, die im grauen Einerlei der Parteiverwalter besonders auffiel: über Charisma und eine öffentlichkeitswirksame Persönlichkeit. Was bald vor allem die mediengeleitete westliche Welt faszinierte, stach auch in der Sowjetunion ins Auge. Gorbačev war der einzige Funktionär, der sich trotz dreißigjähriger Tätigkeit im Apparat sowohl mental als auch in seinem Habitus eine erstaunliche Frische bewahrt hatte. Als erster sowjetischer Politiker von Rang seit den zwanziger Jahren wirkte er nicht wie die Verkörperung eines Aktenvorgangs, sondern lebendig und gewinnend.
Doch hätten selbst solch ungewöhnliche Eigenschaften allein nicht ausgereicht, um die Waagschale bei der schicksalhaften Entscheidung über die Nachfolge Černenkos zu seinen Gunsten zu senken. Hinzu kam die schwer bestimmbare Gunst der Stunde. Das Regime drohte zu ersticken. Die Wirtschaft hatte 1983 zwar kurzfristig wieder Tritt gefasst, aber auch der laufende (11.) Fünfjahresplan konnte bei weitem nicht erfüllt werden. Ideologische Beteuerungen boten eher Anlass zu Hohn und Spott, als dass sie zu größerem Engagement und Vertrauen beigetragen hätten. Das Politbüro stand vor dem Scherbenhaufen der Brežnevschen Personalpolitik. ‹Stabile Kader› hatten sich als senile erwiesen. Nun schlug die Stunde der Jungen. Die Behauptung ist nicht allzu gewagt, dass Gorbačev ohne das schnelle Ableben seiner beiden Vorgänger und ohne das verbreitete Bewusstsein einer tiefen Krise, aber auch ohne sein herausragendes Talent kaum gewählt worden wäre. Der Sturz Chruščevs war im Oktober 1964 dem Bedürfnis nach Ruhe entsprungen, die Bestellung Gorbačevs verdankte sich der Einsicht in die Unaufschiebbarkeit von Reformen. Insofern vermag auch die These zu überzeugen, dass die Perestrojka ebenso wenig vom Himmel fiel wie die meisten historischen Erscheinungen. Soziale und mentale, mit der Hebung des allgemeinen Qualifikationsniveaus, der Entstehung neuer Berufsfelder, der wachsenden internationalen kommunikativen Verflechtung sowie nicht zuletzt mit dem allgemeinen Generationswechsel zusammenhängende Veränderungen hatten sie seit den siebziger Jahren vorbereitet. Nicht nur in der Intelligenz, sondern auch in der regionalen Parteielite gab es breite Zustimmung für einen wirklichen Neuanfang. So verliert Gorbačevs Wahl im Rückblick viel von ihrem sensationellen, unerwarteten Charakter. Dem trug das Ergebnis der förmlichen Abstimmung am 11. März 1985 Rechnung; allem Anschein nach fiel die Entscheidung – was vorherige kontroverse Debatten nicht ausschließt – einmütig. Schon ihre zügige Durchführung einen Tag nach Černenkos Tod zeigte jedoch an, dass der Ausgang zu den wahrscheinlichen Ergebnissen zählte. Dem Vernehmen nach soll ausgerechnet Gromyko, dienstältester Außenminister der Welt und Personifizierung des verknöcherten Bürokraten spätstalinistischer Prägung, den neuen Mann mit den ungewollt prophetischen Worten empfohlen haben, Gorbačev habe ein ‹gewinnendes Lächeln›, aber ‹eiserne Zähne›.[4]
Zum Verständnis seines Votums trägt die Erinnerung daran bei, dass niemand zu diesem Zeitpunkt den umstürzenden Charakter voraussehen konnte, den die Reform annehmen würde. Man erwartete von Gorbačev einschneidende Maßnahmen, aber keine systemsprengenden. Auch seine Wahlhelfer, darunter ein so konservativer Mann wie Ligačev, wollten die Stabilisierung der bestehenden Ordnung, nicht ihren grundsätzlichen Wandel oder gar Sturz. Bis dahin hatten Gorbačevs Reden und Taten auch keinen Anlass zu solchen Befürchtungen gegeben. Vielleicht wollte er anfangs selber gar nicht mehr. Er wurde als Schützling Andropovs gewählt, den er verehrte. Weiterhin war die Reform als obrigkeitliche gedacht, nicht als Initiative von unten. Genau besehen hielt Gorbačev an diesem Charakter der bald von ihm so getauften Perestrojka bis zuletzt fest. Was sich allerdings wesentlich änderte, waren die Mittel, die er ergriff, um die Sowjetunion als zweite Weltmacht ins nächste Jahrtausend zu bringen. Dabei setzte ein Prozess ein, den man sowohl mit Bezug auf das Konzept Gorbačevs als auch mit Blick auf die Resonanz in der aktiven Bevölkerung als kumulative Radikalisierung bezeichnen kann. Auch ohne eine Zwangsläufigkeit in sie hineinzulesen, wird man eine Triebkraft ausmachen können, die ihr zumindest die Energie (bei offener Richtung) lieferte: den inhärenten Selbstwiderspruch einer obrigkeitlichen Reform, die auf der einen Seite die Eigeninitiative der Bevölkerung zu wecken suchte, auf der anderen Seite aber darauf achten musste, die erwünschte Dynamik in konforme Bahnen zu lenken. Mit Blick auf dieses Paradox bietet es sich an, Etappen der Perestrojka zu unterscheiden, die eine knappe Zusammenfassung zu strukturieren vermögen. Plausibel erscheinen folgende:[5]
Eine erste Phase erstreckte sich von Gorbačevs Wahl (März 1985) bis Ende 1986. Sie stand ganz im Zeichen wirtschaftlicher Reformprojekte. Dabei stellte sich der neue Generalsekretär bewusst in die Nachfolge Andropovs. Diese Kontinuität verlieh ihm in der – stets kritischen – Anfangszeit ein hohes Maß an Unangreifbarkeit. Gegen Maßnahmen zur Stärkung der Disziplin konnte niemand seine Stimme erheben. Symbolisch wurde die Kampagne wider «Trunkenheit und Alkoholismus». Mit gutem Grund galt der ökonomische und soziale Schaden dieses Lasters als so erheblich, dass sich sogar das ZK damit befasste. Überdies war es vergleichsweise einfach, den Appellen Nachdruck zu verleihen. Ladenzeiten und Verkaufsstellen ließen sich ebenso leicht verringern wie die staatliche Produktion hochprozentiger Getränke. Nur stellte sich schnell heraus, dass die Bevölkerung von tief verwurzelten Gewohnheiten nicht lassen wollte und einmal mehr Mittel und Wege fand, die obrigkeitlichen Verbote zu umgehen. Bekanntlich verschwand der letzte Zucker aus den staatlichen Regalen, weil er für die Heimdestillation von Wodka gebraucht wurde. Und als sich auch das Loch im Staatshaushalt sichtbar vergrößerte, weil die Einnahmen aus dem Alkoholverkauf zurückgingen, wurde der Feldzug abgeblasen. Obwohl er ebenso kläglich scheiterte wie manche anderen vor ihm (dass der Staat die Trunksucht nicht wirksam bekämpfen konnte, weil er unentbehrlichen Gewinn aus ihr zog, war ein altes Problem der russischen Geschichte), verdient er im Rückblick insofern besondere Aufmerksamkeit, als er Schatten auf Kommendes vorauswarf: Mit der ökonomischen Sanierung stand und fiel die Perestrojka; was dem ‹Mineralsekretär› (wie der Volksmund umgehend spottete) geschah, ereilte auch den Präsidenten – ein Fiasko.[6]
Gorbačev wäre indes nicht der Visionär gewesen, der er auch war, wenn er der Reform nicht schon von Anfang an seine eigene Handschrift verliehen hätte. Was man zum Zeitpunkt seiner Wahl von seinen Ideen wusste, war nicht viel, hätte aber aufhorchen lassen können. Zwar beschränkte sich seine bedeutendste, am 10. Dezember 1984 gehaltene Rede ebenfalls im Wesentlichen auf die besonders drängenden wirtschaftlichen Probleme. Hier prägte er zum ersten Mal den Schlüsselbegriff der ersten Reformphase, als er von der «Hauptaufgabe unserer Tage» sprach, «eine wesentliche Beschleunigung des ökonomischen und sozialen Fortschritts zu erreichen». Aber nicht nur in der Konnotation dieser Formulierung ging er über oft repetierte Phrasen hinaus. Neu waren vor allem nachfolgende Überlegungen über das «lebendige Schöpfertum des Volkes» als «Wesen des Sozialismus». Gorbačev stellte die Kernfrage, wie man «das Interesse … von Millionen» wecken und «sie von der Notwendigkeit der tatkräftigen Verwirklichung der vorgesehenen Umgestaltungen» überzeugen könne. Hierin ging er nicht nur über seinen Vorvorgänger hinaus, sondern hierin lag auch ein qualitativer Sprung der Reformkonzeption: Gorbačev verstand, dass der Wirtschaftsmisere letztlich nur durch eine Veränderung der Motivation aller beizukommen war. Noch zog er daraus keine Schlüsse, die der unbeschränkten Macht von Partei und Staat hätten gefährlich werden können. Aber er wies sozusagen systemkonform auf die Notwendigkeit hin, den «Faktor Mensch» zu aktivieren.[7]
Nach seiner Wahl wagte sich Gorbačev weiter vor. Das unrühmliche Ende der Anti-Alkohol-Kampagne schadete seinem Ansehen vielleicht auch deshalb kaum, weil er so rasch über diese ‹Ouvertüre› hinwegschritt. Die Gelegenheit, bei der das Programm vorzustellen war, stand fest: beim nächsten, dem 27. Parteitag, der statutengemäß im Frühjahr 1986 zusammentreten sollte. Gorbačev nutzte diese Bühne wirkungsvoll. Äußerlich folgte sein langes Referat (114 Druckseiten) zwar noch in vielem den endlos-langweiligen Rechenschaftsberichten seiner Amtsvorgänger. Auch inhaltlich gab er sich große Mühe, zumindest die Kontinuität zum Konzept der «Beschleunigung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung» zu wahren, wie es vom ZK im April des Vorjahres gebilligt worden war. Wer auf Nebentöne achtete, erkannte aber schon in der zunehmenden Betonung qualitativer Gesichtspunkte, dass er anderes, Neues meinte. Dies wurde vollends klar, als Gorbačev seine Einsicht in die immanente Verbindung von ökonomischer Reform und Massenpartizipation, offener und politisch brisanter als zuvor, wiederholte. Um das «lebendige Schöpfertum» des Volkes zu wecken, setzte er die «weitere Demokratisierung der Gesellschaft» auf die Tagesordnung. Klar benannte er auch den Weg, der sich nach seiner Meinung dafür anbot: Die Sowjets, insbesondere die lokalen und regionalen, waren zu reaktivieren. Zu Recht erinnerte er daran, dass sie von den Revolutionären der ersten Stunde als Instrumente einer besseren, unmittelbaren Beteiligung der Massen am politischen Entscheidungsprozess gegründet worden waren. Spätestens an dieser Stelle wurde deutlich, wohin Gorbačev strebte: zu den Anfängen der Sowjetunion in der Hoffnung auf eine Revitalisierung des ‹Sozialismus›.[8]
Allerdings tat der neue Generalsekretär noch mehr. Er hatte nicht nur ein Konzept, sondern wusste aus seiner langen Parteikarriere auch, dass man für die Umsetzung neuer Ideen neue Leute brauchte. Vielleicht noch stärker als die Grundgedanken der frühen Perestrojka (die so sensationell noch nicht waren) haben die Tatkraft und das Geschick Aufsehen erregt, mit denen Gorbačev zu Werke ging, um seine Gegner auszumanövrieren. So gründlich hatte noch kein Generalsekretär der Nachkriegszeit die Repräsentanten des alten Regimes in kurzer Zeit aus allen wichtigen Ämtern entfernt. Allerdings kam ihm dabei die zentralistische Herrschaftsstruktur entgegen. Bei allem Gespür für die Schwächen erklärter und möglicher Widersacher bediente er sich eben jener demokratisch nicht legitimierbaren Kompetenzfülle, die er wenige Jahre später in der Erkenntnis abzubauen bereit war, dass die Initiative der Gesellschaft nicht zuletzt an ihr erstickte. Zu Beginn aber – dies sollte man nicht aus den Augen verlieren – brauchte er sie, um sich endgültig durchsetzen und sein Transformationsprogramm überhaupt in Gang bringen zu können. Auch dieses Verfahren gehört zur Definition einer Reform von oben. So nutzte Gorbačev schon das nächste ZK-Plenum nach seiner Wahl im April 1985, um seinen Rückhalt im Politbüro zu festigen. Drei weitere Schützlinge Andropovs stiegen zu Vollmitgliedern auf: der Vorsitzende des KGB V. M. Čebrikov aus dem Kandidatenstatus, die ZK-Sekretäre Ligačev und Ryžkov auf dem ungewöhnlichen direkten Weg aus ihrer alten Position (die sie behielten). Im Juli bat sein vermutlicher Hauptrivale G. V. Romanov – auch er 1983 durch Andropov vom Leningrader Parteichef zum einflussreichen Doppelmitglied des ZK-Sekretariats und des Politbüro befördert – «aus gesundheitlichen Gründen» um seine Demission. Für ihn rückte der georgische Parteichef Ėduard A. Ševardnadze zunächst als Kandidat nach. Zugleich wählte das ZK den Parteisekretär von Sverdlovsk (heute wieder Ekaterinburg) Boris Nikolaevič Jelzin – auf Empfehlung von Ligačev, aber mit Billigung Gorbačevs – und den Nachfolger Romanovs in Leningrad L. N. Zajkov zu neuen Sekretären. Anderntags lobte der Oberste Sowjet den greisen Gromyko ins formal höchste, aber politisch einflusslose Amt des Vorsitzenden seines Präsidiums fort; das Außenministerium übernahm – dies sicher eine der glücklichsten Entscheidungen – Ševardnadze. Im September musste der achtzigjähre Tichonov (Nachfolger Kosygins) als Vorsitzender des Ministerrats seinen Hut nehmen, um bald auch aus dem Politbüro auszuscheiden; ihn ersetzte Ryžkov. Mitte Februar schließlich ‹akzeptierte› das ZK auch die Rücktrittsgesuche der letzten Brežnev-Anhänger im Politbüro. Der Moskauer Parteichef Grišin, den Jelzin nach Korruptionsvorwürfen schon im Vormonat abgelöst hatte, musste sich aufs Altenteil zurückziehen.
Umfangreichere Revirements im ZK bedurften der Zustimmung des Parteitags. Der 27. Kongress wählte fünf neue Sekretäre, darunter A. N. Jakovlev und V. A. Medvedev, beide nicht zufällig Wissenschaftler und ehemalige Rektoren bekannter Akademieinstitute. Sie repräsentierten jene Intelligenz, die den Generalsekretär unterstützte, und hatten in den folgenden Jahren neben seinen engsten Beratern A. S. Černjaev und G. Ch. Šachnazarov entscheidenden Anteil an der Weiterentwicklung der Perestrojka. Darüber hinaus wurden ca. 40 % der ZK-Mitglieder selber ersetzt, vielfach durch Neulinge, die nicht handverlesen waren. Und auch die Ersten Parteisekretäre der Gebiete (oblast’) vergaß Gorbačev nicht. Bis zum November 1986 wurden 57 von 157 dieser «Präfekten» ausgewechselt, die für die Umsetzung der zentralen Anweisungen wohl wichtiger waren als die ZK-Mitglieder. Nimmt man noch das Revirement im Ministerrat hinzu, das allein im ersten Jahr seiner Amtszeit (März 1985 bis Februar 1986) etwa ein Drittel der Angehörigen dieses Gremiums erfasste, so ergibt sich ein Ausmaß an Personalaustausch, das in der Geschichte der Sowjetunion seit dem ‹Großen Terror› seinesgleichen suchte. Dennoch: Auch dieses Resultat bedeutete nicht, dass Gorbačev nun bereits aller Gegner ledig gewesen wäre. Im Gegenteil, wenn zwei Fünftel der ZK-Mitglieder zum ersten Mal gewählt wurden, dann blieben drei Fünftel aus Brežnevs Zeit übrig. Gleiches galt für die restlichen hundert Ersten Sekretäre. Sie bildeten mit anderen – darunter wohl der Mehrzahl der Generäle und höheren KGB-Funktionäre – eine Bastion der alten Ordnung, die Gorbačev nicht einzunehmen vermochte und die konservativen Kräften auf absehbare Zeit einen nicht zu unterschätzenden Rückhalt gab.[9]
Eine zweite Phase dauerte von Ende 1986 bis Mitte 1988 und stand im Zeichen von Glasnost’. Die neue Vokabel, eine von Gorbačevs suggestiven und medienwirksamen Wortschöpfungen, war in ihrem positiven Gehalt ebenso aussagekräftig wie in dem, was sie vermied. «Transparenz» oder «Öffentlichkeit», wie man wörtlich übersetzen müsste, schloss zwar die Zulassung von Meinungsvielfalt ein, weil sie nur auf diesem Wege hergestellt werden konnte. Dennoch wich der Begriff einer Nähe zu «Freiheit» oder «Demokratie» nicht zufällig aus. Der Anklang an westliche politische Konzepte hätte ebenso desavouierend gewirkt wie ein allzu radikaler Gestus. Vereinbarkeit mit der gegebenen Grundordnung blieb das oberste Gebot, dem sich auch die Perestrojka terminologisch unterwarf (hätte man den «Umbau» doch ebenso gut «Reform» nennen können). Glasnost’ signalisierte die Abkehr von undurchsichtiger Klüngelei und einen neuen Stil; zugleich strahlte der Begriff aufgrund seines unpolitischen Charakters aber auch das beruhigende Signal aus, dass die bestehende Verfassung nicht tangiert werde. Insofern verweist der (wenig bekannte) Umstand, dass Glasnost’ schon zu den Parolen des ‹Tauwetters› nach dem Tod Nikolaus’ I. 1856 gehörte, bei aller Distanz der Zeiten und Verhältnisse auf eine inhaltliche Gemeinsamkeit: Beide Male ging es um einen kontrollierten Wandel nach Maßgabe einer veränderungswilligen Obrigkeit, nicht um einen vollständigen Neuanfang.
Allerdings deutete schon die Tatsache des Übergangs zu einer neuen Etappe der Perestrojka auf einen wesentlichen Unterschied hin. Mit der Glasnost’ wurde nicht nur ein weiterer, sondern der erste entscheidende Schritt getan, der über bloße ökonomische Reformen hinausführte. Genau besehen, markierte sie bereits das jenseitige Ufer des Rubikon, das den Weg zu einem anderen System eröffnete. Gorbačevs Vorstellungen endeten nicht mehr an der Grenze der bestehenden Ordnung; vielmehr ließ er diese bewusst hinter sich, um mit seiner grundlegenden Einsicht ernst machen zu können: dass wirtschaftliche Leistung auf Dauer nicht ohne politische Bewegungsfreiheit zu sichern war. Damit aber rief er unvermeidlich den Widerstand derjenigen hervor, die zwar nicht mehr so weitermachen wollten wie unter Brežnev, aber an den Grundfesten der überkommenen Ordnung nicht zu rütteln wagten. Zum Sprecher dieser Orientierung wurde Ligačev, der als ZK-Sekretär für Ideologie- und Kaderfragen in der ungeschriebenen Parteihierarchie den zweiten Platz nach Gorbačev einnahm. Es war kein Zufall, dass sich die beiden Schützlinge Andropovs und einstigen Verbündeten in dieser zweiten Phase der Perestrojka zerstritten und der Unterlegene, Ligačev, mit der faktischen Degradierung zum ZK-Sekretär für Landwirtschaft (seit Ende September 1988) den Platz räumen musste. Durch die Ausrufung von Glasnost’ zeigte Gorbačev, dass er nicht nur lernfähig, sondern auch bereit war, den Sprung ins Ungewisse zu wagen. Dieser Mut ehrte ihn und festigte seine Glaubwürdigkeit im In- und Ausland nachhaltig. Zugleich schuf er sich vor allem dadurch Feinde. Wenn man einen Zeitpunkt angeben kann, an dem die Polarisierung der sowjetisch-russischen Gesellschaft und politischen Öffentlichkeit begann, so lag er näher bei den Anfängen der Glasnost’ als der Perestrojka im Sinne der gesamten Gorbačev-Ära.
Über die Notwendigkeit von Glasnost’ hatte Gorbačev schon seit seinem Amtsantritt gesprochen. Allerdings hatte er dabei allein die Tätigkeit von Partei und Staat im Blick. Deutlich weiter zog er die Grenzen des Begriffs schon, als er vor den Delegierten des 27. Parteitages betonte, Kommunisten bräuchten ‹unter allen Umständen die Wahrheit›. Auch wenn er sich dabei wie viele andere vor ihm auf Lenin berief, war der neue Akzent unüberhörbar: Pravda sollte ihren Wortsinn wiedergewinnen. Dennoch fand der Aufruf erst breite Resonanz, als ihn ein symbolischer Akt untermauerte: Im Dezember 1986 durfte Sacharov nach Moskau zurückkehren. Gorbačev ließ es sich nicht nehmen, den berühmtesten Dissidenten höchstpersönlich per Telefon (das zu diesem Zweck eigens installiert wurde) davon zu informieren. Der Generalsekretär selbst, so war diese Geste zu lesen, hob die von seinem langjährigen Amtsvorgänger verfügte Ausgrenzung der Opposition auf und lud sie ein, an der Erneuerung des Staates teilzunehmen. Wenig später, am 11. Februar 1987, hielt er schließlich jene Rede vor Journalisten und Wissenschaftlern, in der die bald geflügelten Worte fielen, dass es an der Zeit sei, die «weißen Flecken» in der sowjetischen Geschichte zu beseitigen. Die Medien reagierten sofort. In kürzester Zeit entstand eine Meinungsvielfalt, die man nicht nur in der westlichen Welt für unmöglich gehalten hatte. Nicht länger bestimmte die Partei, worüber Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten durften. Glasnost’ befreite die publizistische und sonstige Öffentlichkeit von der zentnerschweren Bürde des obrigkeitlichen Ideologiemonopols, das zu den konstitutiven Prinzipien nicht erst des Stalinschen, sondern schon des Leninschen Staates gehört hatte. Aus dieser ursprünglichen Symbiose von bolschewistischem Regime und geistig-weltanschaulichem Herrschaftsanspruch ist der ungeheure Eindruck zu erklären, den der Verzicht auf die staatliche Kontrolle über die Massenkommunikation hervorrief. Die Partei gab in ihrer Gestalt das erste wirklich wichtige Machtmittel aus der Hand. Dabei darf man die Lebhaftigkeit des Echos als Zeichen des Umstandes werten, dass die Zeit dafür reif war: Die Intelligenz wartete auf Gedankenfreiheit. Insofern gelang Gorbačev abermals ein geschickter Schachzug, der ihm die Unterstützung der Meinungselite sicherte und seiner Reform eine neue, nun weit über die Wirtschaft hinausgehende Dynamik verlieh.
So unbestimmt wie der Begriff war der Inhalt der neuen Politik. Dies hatte sicher auch damit zu tun, dass Glasnost’ in praktischer Hinsicht eher einen Verzicht auf bisherige Usancen, in diesem Sinne ein ‹negatives› Prinzip, formulierte als ‹positive› Inhalte für eine konkrete Politik. Glasnost’ wurde zu dem, was die Angesprochenen aus ihr machten. Gerade sie war ein Prozess – mit allen Unwägbarkeiten, die sich aus dem offenen Ende ergaben. Die erste, politisch sicher bedeutendste Auswirkung bestand in der Entfaltung einer bemerkenswerten Meinungsfreiheit. Alte Zeitungen änderten ihren Charakter bis zur Unkenntlichkeit. Das galt sowohl für die Pravda, die als Parteiorgan den Direktiven der neuen ‹Chefideologen› im ZK-Sekretariat Jakovlev und Medvedev unterworfen wurde, als auch für die Izvestija (Nachrichten), die als Mitteilungsblatt des Obersten Sowjet – dies ihre Entstehung und andauernde Affiliation – zum Forum unterschiedlicher Anschauungen und Interessen wurde, oder die Zeitschrift Ogonek (Feuerchen), der die Palme besonderer Aufmüpfigkeit gebührte. Eine so unbedeutende Lokalzeitung wie die Moskovskie Novosti (Moskauer Nachrichten) wurde nachgerade neu geboren und verwandelte sich in die Verkörperung der Glasnost’, die in ihrer Unabhängigkeit und kritischen Distanz auch gegenüber der ‹Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit›, der Perestrojka, dem Ideal der alleinigen Verpflichtung auf Wahrheit, Redlichkeit und Niveau besonders nahe kam. Daneben schossen neue Zeitungen und Zeitschriften wie Pilze aus dem Boden, darunter Sprachrohre der entstehenden privatwirtschaftlichen Elite ebenso wie allgemeinorientierte, unter denen Argumenty i fakty (Argumente und Fakten) mit einer Auflage von 33 Mio. Anfang 1990 besonders weite Verbreitung fand. Ohne neues Pressegesetz (das erst im Juni 1990 verabschiedet wurde) und die förmliche Aufhebung der Zensur eroberte sich die Presse den Freiraum, den sie für nötig hielt. Plötzlich ‹gab› es wieder Erscheinungen, von denen jahrzehntelang nicht die Rede sein durfte – Unfälle, Kriminalität, Probleme und unterschiedliche Standpunkte. Die Sowjetunion wurde zu einem normalen Land, wenn auch zu einem solchen mit besonders vielen Missständen und einem enormen, manche Anhänger des Alten überfordernden Nachholbedarf an Aufklärung.
Im Grundsatz Ähnliches ereignete sich in Rundfunk und Fernsehen. Hier ließ sich das Novum gleichsam in nuce auch am Vordringen einer bestimmten Sendungsart ablesen: Direktübertragungen von Diskussionen oder ansonsten nicht planbaren Veranstaltungen – einschließlich von Konferenzschaltungen etwa in die Vereinigten Staaten – hielten Einzug ins Programm. Allerdings nahmen die Reformer diese Medien zugleich schärfer ins Visier. Funk und Fernsehen wirkten breiter als die gleichsam durch den Zwang zur Lektüre ‹gefilterten› Druckerzeugnisse. Insofern trat die prinzipielle Ambivalenz der Perestrojka als Reform von oben in diesem Bereich deutlicher zutage. Denn die neue Transparenz diente fraglos auch der Eigenwerbung. Sie war kein Selbstzweck und sollte nicht aus dem Ruder laufen. Freiheit und Instrumentalisierung ließen sich aber nicht dauerhaft vereinbaren. Autonom wie im Ideal war die neue Öffentlichkeit noch lange nicht; dazu fehlte ein entsprechendes politisches und sozioökonomisches Umfeld.[10]
Für die Intelligenz, aber vielleicht nicht nur für sie, dürfte eine weitere Folge der Glasnost’ von gleichrangiger Bedeutung gewesen sein. Die neuen Möglichkeiten der Meinungsäußerung und Recherche galten nicht zuletzt ‹rückwirkend› mit Blick auf die Geschichte. Gorbačev hatte ausdrücklich dazu aufgerufen, auch die Wahrheit der Vergangenheit aufzuspüren. Zwar hielt er sich selber dabei noch auffallend zurück. Trotz neuer Nuancen wiederholte seine Rede zum siebzigsten Jahrestag des ‹Roten Oktober› Anfang November 1987 in den Passagen über die Stalinzeit alle wesentlichen Fälschungen des offiziösen Geschichtsbildes. Die Zwangskollektivierung blieb in gleicher Weise eine notwendige Etappe auf dem Weg zur sozialistischen Gesellschaft wie die Brachialindustrialisierung, und beide wurden immer noch durch den Sieg über den deutschen Aggressor gerechtfertigt. Solche Konformität hinderte den Generalsekretär aber nicht daran, die Diskussion über diese schicksalhafte Zeit freizugeben. Was nun, zunächst aus Schubladen, später mehr und mehr aus freigegebenen Akten, ans Licht der Öffentlichkeit kam, war für sowjetische Leser nichts weniger als eine Sensation. Der Stalinsche Terror durfte erstmals (wieder) so genannt werden, Lager und Zwangsarbeit wurden beschrieben, wie das bis dahin nur in der Untergrundliteratur geschehen war, Berechnungen über Opferzahlen, die Schwindel erregten, waren schwarz auf weiß nachzulesen, die Notwendigkeit der Zwangskollektivierung wurde in Frage gestellt und mit ihr jene entscheidende Weichenstellung im parteiinternen Kampf gegen die sog. rechte Opposition, die Stalins Aufstieg vollendet hatte.
Auch partei- und regierungsoffiziell konnte man sich bei aller Rücksichtnahme auf Anhänger der alten Ordnung der Notwendigkeit nicht entziehen, besonders schlimme Geschichtsklitterungen zu korrigieren. Sie fanden vor allem in der Rehabilitierung zahlreicher Opfer Stalins ihren Niederschlag. So erhielten Gesichter, die auf bekannten Gruppenphotos aus der sowjetischen Frühzeit zu weißen Masken retuschiert worden waren, wieder konkrete Züge und einen Namen. Programmatischen Charakter besaß dabei die Wiederaufnahme Bucharins, der als Leninanhänger, Stalingegner und Befürworter der NĖP zum unerklärten Helden der Perestrojka geworden war, in den Schoß der Partei (am 2. Februar 1988). Aber auch Rykov, Tomskij und Kamenev wurden aus ihrer unfreiwilligen Anonymität befreit. Von den bedeutenden Revolutionären der frühen Jahre musste allein Trotzki länger warten. Er stellte auch die Perestrojka vor besonders schwierige Probleme: Zwar wollte man ihn strafrechtlich ohne Weiteres freisprechen, aber die «permanente Revolution» passte ebenso wenig zu Gorbačevs Versöhnungskurs wie die «ursprüngliche sozialistische Akkumulation» zu seiner Wirtschaftspolitik. So bezeichnet die Tätigkeit der Rehabilitierungskommission unter Jakovlevs Leitung den Grundcharakter von Glasnost’ recht genau: Bis zum August 1988 wurden 636 Opfer Stalins – darunter auch solche außerhalb des ‹Großen Terrors› – von allen Vorwürfen gereinigt, aber an die Fundamente der bestehenden Ordnung rührte man dabei nicht. So wie hochrangige Parteipolitiker noch an der Rechtmäßigkeit der Annexion der baltischen Republiken im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes festhielten (um diese nicht freigeben zu müssen), so blieb die Notwendigkeit des ‹Aufbaus des Sozialismus› offiziell sakrosankt. Der Stalinismus war für Kritik freigegeben, nicht die Sowjetunion.[11]
Literatur, Film und die anderen schönen Künste wurden von der neuen Freiheit nicht ausgenommen. Im Gegenteil, ihre Schöpfer entsprachen der Erwartung, qua Profession die lange (wenn auch nicht von allen) geforderten Chancen noch entschiedener zu nutzen als weniger auf Kreativität und Originalität angewiesene Intellektuelle. Verbotene Autoren wurden wieder gedruckt, darunter neben Pasternak und einer ganzen Plejade frühsowjetischer Schriftsteller auch Emigranten wie V. V. Nabokov und ausländische Autoren generell (Orwells 1984). Neue Romane erschienen, die vor allem die Stalinzeit künstlerisch zu gestalten suchten (A. Rybakov, Kinder des Arbat). Filme konnten gezeigt werden, die dasselbe, alles beherrschende Thema nicht weniger wirkungsvoll darstellten (T. E. Abuladze, Die Reue) und ihren Teil zur Bewältigung einer Vergangenheit beitrugen, die schon deshalb nicht vergehen konnte, weil die Sowjetordnung als solche mit ihr unauflöslich verwoben war. Nicht zuletzt die personelle Erneuerung der entsprechenden Verbandsvorstände machte deutlich, dass auch in der Kunst eine neue Ära begann. Überzeugte Vorkämpfer geistiger Freiheit lösten die alten Funktionäre ab. Freilich brauchte dieser Wandel seine Zeit. Noch im Herbst 1988 verhinderte eine Weisung des ZK (von Medvedev) die geplante Veröffentlichung der schonungslosesten Aufdeckung stalinistischer Gräuel, von Solženicyns Gulag Archipelago. Erst im folgenden Jahr wurde auch diese letzte Grenze überschritten.[12]
Obwohl die neue Öffentlichkeit und Meinungsvielfalt als charakteristisches Merkmal der zweiten Phase der Perestrojka gelten können, ließ Gorbačev die Wirtschaft nicht aus dem Blick. Sie hatte am Anfang der Reform gestanden und behielt weiterhin ihre grundlegende Bedeutung. Dabei mag offenbleiben, ob sich der Generalsekretär dieser Tatsache stets voll bewusst blieb. Sicher lag die Versuchung nahe, auf anderen Feldern schnellere Erfolge zu suchen. Von vornherein stand fest, dass es nicht nur eines längeren Atems bedurfte, sondern auch besonders hartnäckiger Widerstand zu überwinden war, um Produktion und Arbeitseffizienz zu steigern. Hier, bei der Suche nach neuen, wirksamen Rezepten zur Heilung des schleichenden Krebsleidens des ‹entfalteten Sozialismus› stand zuerst – vor allen Gedanken an eine Beschneidung des Parteimonopols – eine schmerzhafte Entscheidung bevor: in welchem Maße Privateigentum zugelassen werden sollte. Sie war besonders schwierig und heikel, weil ihr prinzipielle Bedeutung zukam. Mit dem Verzicht des Staates auf den Besitz aller Produktionsmittel brach der hauptsächliche Stützpfeiler der stalinistischen Wirtschafts- und Sozialordnung zusammen, von der das Herrschaftssystem kaum zu trennen war. Wer privates Unternehmertum wieder tolerieren wollte, ging endgültig vor die große Wende von 1929 zurück. Viele altgediente Partei- und Staatsfunktionäre mochten darüber hinaus fürchten, dass auch die Leninsche Ordnung nicht unberührt bleiben würde. Für sie lag es nahe, schon den Anfängen zu wehren. Die quälende und letztlich vergebliche Debatte über diese Frage hat vor allem darin ihre Wurzel.
Schon solche Implikationen mochten für Gorbačev Anlass zur Vorsicht sein. Seine wirtschaftspolitischen Maßnahmen in der zweiten Phase der Perestrojka galten vor allem zwei Zielen: der Aufstellung des nächsten (12.) Fünfjahresplanes für die Jahre 1986–90 und ersten grundsätzlichen Veränderungen. Natürlich sollte auch die grundsätzliche Fortschreibung hergebrachter Verfahren und Methoden neue Akzente setzen. Dabei hatte sich die Ausgangslage nicht verbessert. Trotz einer gewissen Erholung in den Jahren 1983/84 dauerte der langfristige Wachstumsschwund weiter an. Andropovs Disziplinkampagne verhinderte nicht, dass der jährliche Zuwachs mit 2,5–3,0 % (nach sowjetischen Kriterien) deutlich hinter der Zielmarke des 11., noch von Brežnev auf den Weg gebrachten Fünfjahresplans zurückblieb. Gorbačev wollte und musste dies um den Preis seiner Glaubwürdigkeit ändern. Daraus dürfte die mehrfache Intervention zu erklären sein, die er trotz des Umstandes für nötig hielt, dass der neue Fünfjahresplan Teil langfristiger, bis zum Jahre 2000 reichender Überlegungen war. Er setzte die Anhebung der Eckwerte und die Beschleunigung des vorgesehenen Wachstums durch. Damit zerstörte er aber auch die ungefähre Balance zwischen den einzelnen Sektoren, von der die Erfüllbarkeit eines jeden Planes in erster Linie abhing. Dies war umso eher der Fall, als der Generalsekretär gemäß dem Rezept seiner wichtigsten Wirtschaftsberater jener Jahre auf eine deutliche Steigerung der Investitionen als Grundlage höherer Produktion und besserer Versorgung der Bevölkerung in den kommenden Jahren drängte. Was A. G. Aganbegjan und andere Experten – vornehmlich aus dem Umkreis der Akademie der Wissenschaften in Novosibirsk, die zu einer Art ‹Denkfabrik› der frühen Perestrojka wurde – vorschlugen, leuchtete sicher unmittelbar ein, trug aber kurzfristig nur zur Verschärfung des Hauptproblems bei: Die ohnehin zu geringen Finanzmittel konnten nur einmal verwendet werden, entweder für die überfällige technologische Erneuerung der Produktionsanlagen oder für mehr Konsumgüter und höhere Löhne. Angesichts dessen bemühte sich Gorbačev, fast möchte man sagen: seiner Natur und vor allem seiner politischen Taktik gemäß, um einen Kompromiss. Er wiederholte, was schon viele Generalsekretäre vor ihm versprochen hatten, dass der Konsum nicht zu kurz kommen sollte, hörte aber auch auf den Rat der Fachleute. Im Ergebnis blieb der Realitätssinn dennoch weitgehend auf der Strecke. Ein Jahreswachstum der Industrieproduktion um 4,1 % war im Durchschnitt sicher ebenso wenig zu erreichen wie eine Steigerung der Arbeitsproduktivität um 4,4 % und – angesichts der besonders desolaten Voraussetzungen – der landwirtschaftlichen Bruttoerzeugung um 2,8 % (jeweils pro Jahr).[13]
Da half auch die Entlastung nicht, die Gorbačevs «neues Denken» in der Außenpolitik brachte. Idealistisch begründet und mit griffigen Metaphern (wie der Rede vom ‹gemeinsamen europäischen Haus›) propagiert, diente sie zugleich einem handfesten inneren Zweck. Vermutlich ging beides Hand in Hand: Der Generalsekretär wollte die Welt sicherer machen und aufrichtig zum Ende des neuen Kalten Krieges beitragen, der mit dem faktischen Scheitern von SALT II ausgebrochen war. Auf der anderen Seite aber sprachen «das rückläufige Wirtschaftswachstum, der technologische Abstand zu den entwickelten Industriestaaten» und «die niedrige Lebensqualität der Menschen» in der Sowjetunion in der Tat «für sich». Angesichts des Umstandes, dass die Militärausgaben nicht 16 %, sondern 40 % des Staatshaushaltes verschlangen, wie die neue Mannschaft mit Entsetzen feststellte, war der ‹Umbau› ohne außenpolitische Flankierung undenkbar. Nicht zuletzt damit dürfte die Eile zu erklären sein, mit der Gorbačev noch im Herbst 1985 bei seinem ersten Gipfeltreffen mit dem amerikanischen Präsidenten Reagan in Genf zu Werke ging. Und auch die schwierige Begegnung von Reykjavik ein Jahr später, die trotz der Uneinigkeit über SDI zum «Durchbruch» wurde, kam auf seine Initiative zustande. Der äußere Erfolg ließ nicht auf sich warten: Bei Gorbačevs erstem Besuch in den Vereinigten Staaten im Dezember 1987 konnte in der Tat ein Vertrag unterzeichnet werden, der erstmals eine ganze Waffengattung – die SS-20-Raketen auf sowjetischer Seite und die Pershing-Raketen und Marschflugkörper auf amerikanischer – beseitigte (INF-Vertrag). Die Sowjetunion rüstete ab und begann mit der Konversion ihrer Produktionsstätten für dringend benötigte zivile Güter. Auf diese Weise hatte die Welt der Perestrojka für die Überwindung der Konfrontation zwischen den Supermächten und den Militärblöcken zu danken. Auch die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Wiedervereinigung sowie vor allem zum Verbleib des gesamtdeutschen Staates in der NATO war ohne sie und die Annäherung in zahlreichen west-östlichen Gipfelgesprächen nicht denkbar. Aber eines blieb aus: spürbarer Nutzen der Entspannung für die innere Lage und vor allem die wirtschaftliche Entwicklung im Lande selbst. So gesehen erfüllte sich ein, wenn nicht der ‹Urgedanke› der außenpolitischen Perestrojka nicht.[14]
Umso eher musste Gorbačev erste Schritte auf dem dornigen Weg eines Umbaus der Wirtschaftsstruktur wagen. Ihr gemeinsames Merkmal lässt sich in einer Absicht zusammenfassen: wieder Elemente eines Marktes zuzulassen, um die Konkurrenz als Triebkraft für Leistung zu nutzen. Damit avancierte, ob ausgesprochen oder nicht, eben jener Mechanismus zum Heilmittel, in dem Marx und die Gründerväter der Sowjetunion die Krankheit geortet hatten. Selbstbehauptungszwang und teilweise privater Eigennutz traten an die Stelle des bis dahin geheiligten Kollektivprinzips, das auf dem Weg der ‹mehrfachen Substitution› (der Masse durch die Partei und der Partei durch deren Führung) zur Oligarchie verkommen und an der Teilnahmslosigkeit der ihm Unterworfenen gescheitert war. Freilich ging Gorbačev gerade in dieser Hinsicht vorsichtig zu Werke. Er hielt es für überlebensnotwendig, die Reform auf solche Änderungen zu beschränken, die mit den Leninschen Grundsätzen vereinbar waren oder dafür ausgegeben werden konnten. Nicht zufällig stammten beide von ihm hauptsächliche ergriffene Maßnahmen aus dem Repertoir der NĖP.
Zum einen führte er die «wirtschaftliche Rechnungsführung» (chozraščet) wieder ein. Staatsunternehmen sollten aus der unmittelbaren Abhängigkeit von den Ministerien und zentralen Planungsinstanzen entlassen werden. Ihnen wurden nicht länger bestimmte Rohstoffmengen zugewiesen und Produktionsziele samt Verkaufspreisen vorgegeben. Vielmehr sollten sie sich durch Verhandlungen mit den Lieferanten beschaffen, was sie brauchten, und die Preise nach eigener Kalkulation festlegen. Alleiniger ‹Käufer› blieb natürlich der Staat, überwiegend in Gestalt anderer Unternehmen. Immerhin aber sollten die ‹Anbieter› große Teile des Gewinns nach ihren Vorstellungen verwenden dürfen. Bei Verlusten durften sie die Löhne reduzieren und schlimmstenfalls sogar Arbeiter entlassen. Als Herzstück dieses Programms transferierte ein «Gesetz über die Staatsunternehmen» vom Juni 1987 60 % derselben zum Beginn des nächsten Jahres in den neuen Status; der Rest sollte Anfang 1989 folgen. Theoretisch mochte dies ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur angestrebten ‹sozialistischen Marktwirtschaft› als Verbindung von Staatseigentum und Konkurrenz sein. Faktisch hingen die Betriebe aber weiterhin am finanziellen Tropf des Staates und an seinen Aufträgen. Überdies waren viele Betriebe bankrott, durften aber aus sozialen und politischen Gründen nicht schließen. Die «wirtschaftliche Rechnungsführung» war höchstens in der Lage, einige Symptome der Krankheit zu beseitigen, nicht aber die Ursachen.
Zum anderen griff Gorbačev auch darin auf die ökonomische Mischform der NĖP zurück, dass er private Kleinbetriebe zuließ. In Gestalt der sog. Kooperativen erblickte das kapitalistische Privatunternehmertum nach fast sechzig Jahren wieder das Licht der sowjetischen Welt. Allerdings mag man diese ersten Keime einer nichtsozialistischen und nichtstaatlichen Wirtschaft kaum mit einem solchen Adjektiv belegen. Allzu eng waren die Grenzen dessen gezogen, was das «Gesetz über individuelle Arbeitsaktivität» vom 19. November 1986 (mit Wirkung von 1. Mai 1987) erlaubte. Nur Familienmitglieder sollten «Kooperativen» gründen dürfen. Diese blieben auf das Angebot von Dienstleistungen (Restaurants, Friseure, Handwerker) sowie die Herstellung alltäglicher Konsumgüter (Bäcker u.a.) beschränkt und wurden überdies hoch besteuert. Erst ein neues Gesetz vom 26. Mai 1988 ging deutlich darüber hinaus. Es stellte kollektiv-private Unternehmen mit staatlichen gleich, erlaubte ihnen auch den Außenhandel und beseitigte Gewinn- und Kapitalobergrenzen. Wenn auch diese Initiative nicht den gewünschten Effekt hatte, so lag die Ursache weniger im Mangel an Resonanz. Vielmehr machten nicht nur Ausländer, sondern auch bemerkenswert zahlreiche Sowjetbürger von den neuen Möglichkeiten Gebrauch. Nur gründeten sie ganz überwiegend Handelsgesellschaften, Banken, Börsen und andere Einrichtungen, die Waren verteilten, aber nicht produzierten. Für den Aufbau oder die Übernahme von Industriebetrieben fehlte nicht nur das Geld, sondern auch eine angemessene Umgebung (Zulieferer, Märkte usw.). Angesichts dessen mochte solcher ‹Kooperativ-Kapitalismus› als Experiment und Vorschau auf die Zukunft dienen. Zur wirtschaftlichen Sanierung aber taugte er zumindest kurzfristig nicht. Auch die neue Qualitätskontrolle (gospriemka) beseitigte das Übel nur theoretisch. Praktisch bewirkte sie wenig, weil zu viele Schlupflöcher blieben. So spricht vieles für die weithin geteilte Meinung, dass Gorbačev kostbare Zeit vertat und wirtschaftlich nicht zuletzt am eigenen Zögern scheiterte. Er hob den Deckel gleichsam einen Spaltbreit an, wollte aber den bösen Geist auf keinen Fall aus dem Topf lassen. Als er größere Courage zeigte, war es zu spät.[15]
Was an der Wirtschaft zu beobachten war, galt für die Reformmaßnahmen dieser Jahre insgesamt. In seiner zweiten Phase näherte sich der ‹Umbau› zwar den Stützpfeilern des Gebäudes, ließ sie aber noch weitgehend intakt. Genau besehen, waren der Glasnost’ ganz ähnliche Grenzen gezogen wie der ökonomischen Sanierung. Wenngleich sie die Freiheit des Wortes in bemerkenswertem Maße wiederherstellte, blieb eines weitgehend tabu: Lenin und die Revolution von 1917. Dies konnte kaum anders sein, weil mit der Vergangenheit auch die Legitimität des Staates ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Je finsterer die Gestalt des terroristischen Diktators wurde, desto heller musste Lenins Stern leuchten, wenn sich das Regime nicht selbst als historischen Irrtum bezeichnen wollte. Der Oktoberumsturz war die letzte Quelle, aus der nicht nur seine Gegenwart, sondern vor allem auch die anvisierte, bessere Zukunft zu rechtfertigen war. In der alten Ordnung groß geworden, wollte Gorbačev sie ändern, nicht abschaffen. Zu seinem Leidwesen verschaffte die neue Öffentlichkeit aber auch anderen, radikaleren Stimmen Gehör. Insofern brachte die Perestrojka spätestens in dieser Phase ihre eigenen Gegner hervor. Neben Reformsozialisten traten marktwirtschaftliche Demokraten und autoritäre Nationalisten. Erstmals wurde eine Dynamik sichtbar, die Gorbačev nicht vorhergesehen hatte und nicht wollte. Ein Selbstlauf begann, der die seltene Möglichkeit einer Art historischer Umkehr eröffnete (selbstredend keiner Rückkehr, als habe es die Sowjetunion nie gegeben): Die Kinder begannen, ‹die Revolution zu fressen›.[16]
Um die Mitte des Jahres 1988 wurden Veränderungen auf den Weg gebracht, die es im Rückblick rechtfertigen, sie als Beginn einer dritten, bis zum Herbst 1990 dauernden Phase der Perestrojka zu bezeichnen. Den Wendepunkt markierte dabei, wenn man ein konkretes Ereignis benennen will, die 19. Parteikonferenz Ende Juni. Schon die Notwendigkeit einer solchen Veranstaltung – mehr als eine Plenarsitzung des ZK, weniger als ein Parteitag – deutete auf die Absicht einschneidender Maßnahmen hin. Wie immer der Stellenwert von Glasnost’ in der Konzeption der Perestrojka ausgesehen haben mag, sie sollte weder politische noch ökonomische Reformen ersetzen. Den vielen Ankündigungen mussten Taten folgen. Um die wachsende Kluft zwischen geistiger und politischer Liberalisierung zu schließen, bot sich im Wesentlichen ein Weg an: die energische Demokratisierung. Dabei konnte den Vordenkern dieser Strategie nicht verborgen bleiben, welche Risiken ein Scheitern barg. Innerhalb der gegebenen Ordnung war in diesem Fall keine Rettung mehr zu erwarten.
Systemimmanent lag das aussichtsreichste Rezept auf der Hand. Auch in dieser Hinsicht sollte sich der Sowjetstaat zu seinen Anfängen zurückwenden. Es war bezeichnend, dass die Parole immer noch und wieder lautete: alle Macht den Räten. In diesem Sinne fasste die 19. Parteikonferenz zwecks «Vertiefung der Perestrojka», «Reform des politischen Systems» und «weiteren Demokratisierung der Partei und Gesellschaft» zwei Leitbeschlüsse. Zum einen verordnete sie der eigenen Organisation eine Reform an Haupt und Gliedern, die vor allem auf dem Wege einer «Berichts- und Wahlkampagne» durchgeführt werden sollte. Zum anderen billigte sie die Schaffung einer neuen obersten gesetzgebenden Versammlung, die aus allgemeinen, im April 1989 abzuhaltenden Wahlen hervorgehen sollte. Einzelheiten des Wahlmodus, der Zusammensetzung des neuen Gremiums und seiner Aufgaben sollte der Oberste Sowjet in Verbindung mit den dazu notwendigen Verfassungsänderungen festlegen. Beide Gremien dürften nicht geahnt haben, dass sie sich mit dieser Zustimmung selbst überflüssig machten. Sie hoben ein Organ aus der Taufe, das die bisherige höchste Körperschaft im Staate nicht nur ersetzen, sondern durch die tatsächliche Ausübung der Legislative auch das Machtmonopol der Partei in Frage stellen musste.
Angesichts dessen verdient der Umstand größte Beachtung, dass es Gorbačev problemlos gelang, eine solche Neuerung durchzusetzen. Sicher nutzte er dabei seine ungeheuren Kompetenzen, die durch seine Wahl zum Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets anstelle des nunmehr aus allen Ämtern entlassenen Gromyko am 1. Oktober 1988 noch wuchsen. Aber es war alles andere als selbstverständlich (wie nicht zuletzt die Zukunft zeigen sollte), dass die Fügsamkeit sowohl über die Bindung an die alte, jahrzehntelang als Vollendung aller historischen Verfassungsformen gepriesene Ordnung siegte als auch über das Eigeninteresse. Hinzu kam, dass aufmerksamen Genossen nicht entging, was Gorbačev auf Empfehlung seiner engsten Berater mit dieser Weichenstellung auch vorbereitete: die Verlagerung seiner Macht von der Partei auf den Staat. Der Generalsekretär wollte zum Präsidenten neuer Art werden, weil sich die Partei zum einen als größter Bremsklotz für die Perestrojka erwies und weil sie zum anderen in der gegebenen Gestalt als Inhaberin des Machtmonopols in keiner wirklich demokratischen, auf Gewaltenteilung beruhenden politischen Verfassung Platz finden konnte.[17]
Als institutioneller Ausdruck einer Reform von oben war der Volksdeputiertenkongress, wie er mit basisdemokratischem Beiklang (und Anspielung auf die Oktoberrevolution) genannt wurde, notwendigerweise ein Organ des Übergangs. Dies kam zum einen im Wahlmodus zum Ausdruck. Von 2250 Mitgliedern sollten nur 1500 durch den Urnengang der Bevölkerung bestimmt werden. Das restliche Drittel erhielt aufgrund bloßer Nominierung durch «gesellschaftliche Organisationen» Sitz und Stimme. Es verstand sich von selbst, dass Letztere als Einrichtungen des alten Staates ganz überwiegend von Parteimitgliedern beherrscht wurden. Insofern führten die Kontingente, die nach Maßgabe ihrer Größe und Bedeutung an die Berechtigten vergeben wurden, in die Irre. Von einigen Deputierten der Akademie der Wissenschaften abgesehen, die nach langem Widerstand schließlich auch Sacharov benannte, dürften alle 750 Angehörigen dieses Drittels im Besitz eines Parteibuchs gewesen sein. Aber auch die Legitimation der beiden gewählten Drittel ließ zu wünschen übrig. Nicht von ungefähr monierten Kritiker, dass die Bestimmungen und die Praxis der Wahl geeignet waren, Irritationen hervorzurufen. Manche sahen in den Bedingungen für eine Kandidatur gezielte Versuche zum Ausschluss möglicher Dissidenten. Vor allem aber war eine Grundvoraussetzung jeder demokratischen Abstimmung in vielen Kreisen des riesigen Territoriums nicht gegeben: die Konkurrenz zwischen mehreren Bewerbern. Jeder zehnte Abgeordnete ging am 26. März 1989 – trotz des ersten weitgehend unbehinderten, offenen und vom Fernsehen zum Teil direkt übertragenen Wahlkampfs in der Geschichte der Sowjetunion überhaupt – nicht aus den erwünschten «alternativen Wahlen» hervor.[18]
Doch nicht nur die Zusammensetzung des Gremiums war als Konzession an die alte Ordnung und Indiz für seinen Kompromisscharakter zu verstehen. Ähnliches galt für seine Zweiteilung und schiere Größe. Denn auch der neue Kongress war äußerlich ein Sowjet, der gemäß der alten Begründung aus der Revolutionszeit unmittelbare Demokratie durch möglichst viele ‹Laien-Deputierte› institutionalisieren sollte. Die Wirklichkeit überholte diese Reminiszenz allerdings bald. Faktisch wandelte sich der Volksdeputiertenkongress zum ersten Repräsentativorgan der Sowjetunion, das seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion auch tatsächlich ausübte. Naturgemäß fiel diese Aufgabe nicht der riesigen Plenarversammlung zu. Diese trat, wie alle Sowjetkongresse, nur kurzfristig, zweimal im Jahr für je zwei Wochen, zusammen, so dass sie zu wenig mehr in der Lage war, als vorgefertigte Resolutionen zu verabschieden. Gleich in seiner ersten Sitzungsperiode (25. 5. – 9. 6. 1989) wählte der Kongress als ständige Kommission einen Obersten Sowjet aus 542 Mitgliedern, die je zur Hälfte von den Unionsrepubliken und Autonomen Regionen gestellt bzw. in einer bestimmten Relation zur Einwohnerzahl von der Bevölkerung gewählt wurden. Auch dies war kein Novum, sondern entsprach sowohl in Gestalt der Einsetzung eines permanenten Gremiums als auch der Zweiteilung in eine Unions- und eine Nationalitätenkammer der alten Verfassung. Was dem neuen Obersten Sowjet dennoch eine völlig neue Qualität gab, waren seine Befugnisse und die Art ihrer Wahrnehmung. Zum Teil ergaben sich diese aus dem Zwang der Situation. So wie der Volksdeputiertenkongress als Duplikat des alten Obersten Sowjets erschien, so wirkte der neue Oberste Sowjet wie eine bloße Dopplung des alten Präsidiums des Obersten Sowjets. Um beide Organe voneinander zu unterscheiden, bedurfte es einer unübersehbaren Verdeutlichung der vermehrten Zuständigkeit der neuen Einrichtung. Der Volksdeputiertenkongress zögerte mit einer solchen Klärung nicht und verlieh sich selbst das exklusive Recht, alle vom alten Obersten Sowjet – der dafür gemäß der geltenden Verfassung weiterhin zuständig blieb – verabschiedeten Gesetze zu kontrollieren und zu verändern. Die Hauptarbeit fiel dabei 23 ständigen Ausschüssen zu, zu denen aus Gründen der Sachkompetenz auch solche Abgeordnete zugelassen wurden, die nicht in den Obersten Sowjet gewählt worden waren. Radikale Demokraten forderten daher, dass alle 2250 Deputierten ihrem neuen Amt ausschließlich nachgehen sollten. Allerdings setzten sie sich mit dieser Maximalforderung nicht durch. Es war sicher schon teuer genug, wenn der Kongress am 26. Mai 1989 beschloss, dass die 542 Mitglieder des (neuen) Obersten Sowjets im Regelfall ihren alten Beruf aufgeben und sich mit ihrer gesamten Arbeitskraft dank einer entsprechenden staatlichen Vergütung der Deputiertentätigkeit widmen sollten. Damit verwandelte sich der neue Oberste Sowjet in ein Parlament von Berufspolitikern. Erst die Perestrojka öffnete den Weg zu einem denkwürdigen Eingeständnis: dass die Uridee der Räte zumindest auf der höchsten Ebene nicht mehr taugte, weil die Aufgaben zu schwierig geworden waren, als dass man sie noch ehrenamtlich hätte wahrnehmen können. Im Sommer 1917 hatte Lenin (in «Staat und Revolution») prototypisch jede «Köchin» an der Staatslenkung beteiligen wollen; 1989 meinte der Volksdeputiertenkongress, dass die Köchin ihre Funktion als Abgeordnete zum Beruf erheben und aufhören müsse, Köchin zu sein. Klarer konnte man den Rätestaat politisch kaum ad acta legen.
Volksdeputiertenkongress und Oberster Sowjet haben in den gut zwei Jahren ihrer Existenz wenig spektakuläre Entscheidungen getroffen, aber ungemein viel bewegt. Die Veranstaltung veränderte den politischen Prozess durch ihre bloße Existenz von Grund auf. Unter prinzipiellen Gesichtspunkten, die auch der potentiellen Funktion der Körperschaft Rechnung tragen, braucht man das Adjektiv «revolutionär» nicht zu scheuen. Die wichtigsten Aspekte dieses Gesamteffekts seien herausgegriffen. Ungeheuer musste der Eindruck sein, den die Live-Übertragung aller Debatten im Fernsehen auf die Bevölkerung machte. Diese völlig neue Offenheit in einem Lande beinahe immerwährender Zensur setzte sich nach dem sensationellen Wahlkampf vom März fort. Ende Mai konnten die sowjetischen Fernsehzuschauer zum ersten Male Sacharov frei sprechen und argumentieren hören. Sie erlebten, wie der KGB attackiert wurde oder wie Jelzin (der im Übrigen bei den Wahlen zum Obersten Sowjet durchfiel und erst durch den Verzicht eines anderen nachrücken konnte) mit polternder Heftigkeit die Privilegien der nomenklatura geißelte und eine grundlegende Demokratisierung des öffentlich-politischen Lebens samt des Übergangs zur Marktwirtschaft forderte. Diese Reden und Auftritte mit herber Kritik nicht nur am vergangenen Sozialismus, sondern auch an der Perestrojka waren nur möglich dank einer weiteren neuen Errungenschaft: der Immunität. Wie westliche Parlamentarier genossen die Mitglieder des Volksdeputiertenkongresses und des Obersten Sowjets den besonderen Schutz der Straf- und Verfolgungsfreiheit für ihre Äußerungen, wenn er nicht durch einen gesonderten Beschluss aufgehoben wurde. Bewahrt blieb bei alledem nur ein Merkmal des Rätegedankens – die Mandatsgebundenheit. Die Abgeordneten sollten Aufträge ihrer Wähler erfüllen, nicht allein, wie es zu den Grundsätzen des westlichen Parlamentarismus gehört, ihrem Gewissen und eigener Einsicht folgen. Freilich spricht manches dafür, dass die Kluft zwischen Theorie und Praxis beim imperativen Mandat der institutionell nicht gebundenen Volksdeputierten noch größer war als in umgekehrter Form bei der freien Entscheidung westlicher Parlamentarier angesichts von Parteizugehörigkeit und Fraktionsdisziplin.[19]
Denn dies war eine zweite, nicht minder bedeutsame Wirkung des Kongresses, dass er die Verpflichtung der Deputierten gegenüber der KPdSU weiter reduzierte und eine organisatorische Differenzierung der politischen Meinungen förderte, die als Genese einer Parteienlandschaft bezeichnet zu werden verdient. Dem Buchstaben nach ganz überwiegend Kommunisten, hatten sich viele längst aus dem Prokrustesbett der alles beherrschenden Organisation befreit. Zwar entstand spätestens seit Beginn der Glasnost’ – wenn man nicht schon die Dissidentenzirkel einschließen möchte – ein dichtes Netz «informeller» Gruppen (Ende 1987 ca. 30.000) politisch Gleichgesinnter (neformaly). Darüber hinaus hatten sich einzelne neue Parteien wie der «Demokratische Bund» im Mai 1988 gebildet. Aber erst im Wahlkampf und in den Debatten des Kongresses ‹aggregierten› sich verwandte Orientierungen zu festeren Zusammenschlüssen. Es bedurfte der katalytischen Funktion von Abstimmungen und Koalitionen, um diesen nächsten Schritt anzustoßen. Führende Oppositionelle um Jelzin, Sacharov und den Ökonomen G. Ch. Popov (bald Moskauer Oberbürgermeister) nutzten sie bereits zu Beginn der ersten Sitzungsperiode im Mai 1989, als sie etwa 400 der 2250 Delegierten zu einer «Interregionalen Gruppe» mit dem gemeinsamen Anliegen zusammenführten, durchgreifende demokratische Reformen voranzutreiben. Als Antwort darauf schlossen sich die Befürworter einer nationalkonservativen und antiwestlichen Politik (die im Grunde auch den demokratischen Pluralismus ablehnten, dem sie ihre Handlungsfreiheit verdankten) im Oktober 1989 zur «Russischen Volksfront» zusammen. Neben der Kommunistischen Partei hatten sich damit, grob gesehen, die Lager herausgebildet, aus denen in den folgenden Jahren auf gesamtstaatlicher Ebene eine Vielzahl – Anfang 1990 gut zwanzig, Ende 1991 über 300 – zumeist kleinerer Parteien mit den verschiedensten Schattierungen der Grundorientierung hervorgehen sollten. Allerdings kam im Maße des Zerfalls der Sowjetunion ein weiteres und entscheidendes Spektrum hinzu: verschiedene nationale ‹Fronten› in den nichtrussischen Republiken, die ihre temporäre Einheit im Wesentlichen durch eine gemeinsame ‹äußere› Forderung erreichten – die Trennung vom letzten Vielvölkerreich der zivilisierten Welt. Bei alledem kam das Parteiensystem über erste Anfänge nicht hinaus. Gerade seine Zersplitterung spiegelte das hauptsächliche Defizit, das über den Untergang des Gesamtstaates hinaus erhalten blieb: das Fehlen eines sozialen Fundaments, das annähernd klare und abgrenzbare Interessen hätte hervorbringen und bloße Meinungsgruppen in größere, solide Organisationen überführen können.[20]
Allerdings reichte schon der rudimentäre politische Pluralismus aus, um das Monopol der KPdSU ins Wanken zu bringen. In diesem Resultat des Versuchs, das «lebendige Schöpfertum» des Volkes zu wecken, trat für die Anhänger der alten Ordnung wohl am schmerzlichsten zutage, dass eine neue Zeit angebrochen war. Aber auch aus neutraler Perspektive verdient die formelle Beseitigung der kommunistischen Alleinherrschaft besondere Beachtung. Sie beendete, was mit den Verboten anderer Parteien bald nach dem Oktoberumsturz begonnen hatte, und brach den zentralen Eckpfeiler aus der Gesamtordnung heraus. So gut wie alle nichtsympathisierenden Interpretationen des Sowjetregimes, totalitaristische ebenso wie revisionistische, stimmen darin überein, dass der kommunistische Exklusivanspruch auf die Organisation des politischen Willens und die kontrollierende Lenkung aller öffentlichen und kollektiven Lebensäußerungen der Menschen als elementares Bauprinzip des gesamten von ihm repräsentierten Herrschafts- und Gesellschaftstypus zu gelten hat. Wenn dem so war, ergibt sich die Bedeutung der Zulassung des politischen Pluralismus von selbst. Gorbačev dürfte dies bewusst gewesen sein; ungewöhnlich starr beharrte er aber auf dem Alten und geriet zunehmend in die Position desjenigen, der die Geister nicht mehr bändigen konnte, die er selbst gerufen hatte. Mehrfach bezeichnete er Forderungen nach Aufhebung des Parteimonopols als Unsinn und verurteilte sie (wie auf einer Plenarversammlung des ZK im Januar 1989) noch, als er den Führungsanspruch der KPdSU schon nicht mehr für gottgegeben erklärte. Der Widerspruch wird nicht nur verständlich, wenn man taktische Überlegungen in Rechnung stellt. Er könnte auch einen Lernprozess des Generalsekretärs selber spiegeln: In der Partei aufgewachsen, hatte er das Land mit ihrer Hilfe reformieren wollen; ihr Widerstand enttäuschte ihn, so dass er ihr die belebende Konkurrenz alternativer Wahlen zum Volksdeputiertenkongress verschrieb. Diese erste freie Abstimmung seit November 1917 brachte indes nicht nur den verstockten fortgesetzten Unwillen der Partei zum Vorschein, sondern auch ihre mangelnde Popularität bei der Bevölkerung. Als der Kongress dem politischen Differenzierungsprozess einen weiteren, nachhaltigen Schub gab, brachen die Dämme endgültig. Die Alleinherrschaft der KPdSU war nicht mehr zu retten. Angesichts dessen versuchte Gorbačev, wohl auch in der Hoffnung, dadurch die Chancen für einen Neuanfang zu verbessern, den Rückzug in geordnete Bahnen zu lenken. Bemerkenswerterweise gelang es ihm Anfang Februar 1990, die Zustimmung des ZK für einen Akt zu gewinnen, der auf die eigene Marginalisierung hinauslief. Umso einmütiger konnte der eilends zu seiner dritten, außerordentlichen Sitzung zusammengerufene Volksdeputiertenkongress am 13. März 1990 den säkularen Beschluss fassen, Artikel 6, der die alleinige Führungsrolle der KPdSU festschrieb, aus der (mit den übrigen Änderungen nach wie vor gültigen) Verfassung von 1977 zu streichen und die Gründung anderer Parteien zuzulassen.
Diese späte, im Rückblick wird man sagen dürfen: allzu späte Konsequenz aus der Wandlungsresistenz der Monopolpartei brachte nicht zuletzt für Gorbačev tiefgreifende Veränderungen mit sich. Die wichtigste hatte schon bei der geistigen Geburt des Volksdeputiertenkongresses Pate gestanden: Der Generalsekretär brauchte eine neue Machtbasis. Als Vorsitzender einer Partei unter anderen verlor er alle Rechte über seine Organisation hinaus. Auch die geringen Befugnisse der Präsidentschaft des Obersten Sowjets alter und neuer Art reichten nicht aus. So bereiteten Gorbačev und seine Berater eine neue Position dieses Namens vor, die sich von den bestehenden einerseits durch die direkte und allgemeine Wahl seitens der Bevölkerung, andererseits durch umfassende Vollmachten nach französischem oder amerikanischem Vorbild unterscheiden sollte. Nur eine starke staatliche Exekutive, so lautete die dahinterstehende Einsicht, sei in der Lage, das Land zu neuen Ufern zu führen. Dasselbe ZK-Plenum, das die Abschaffung des Artikels 6 billigte, gab daher grünes Licht für die Einführung eines neuen Präsidentenamtes. Dessen Inhaber durfte nicht nur den Regierungschef und jeden einzelnen Minister ernennen, sondern konnte auch den Notstand verhängen und mittels präsidialer Dekrete regieren. Allerdings behielt der Kongress formal in letzter Instanz die Oberhand. Notstand und Präsidialregiment bedurften seiner Zustimmung und sein Veto in allen Fragen war für den Präsidenten bindend. Gorbačev ließ sich auf diese Beschränkung ein. Dafür erreichte er im Gegenzug das Zugeständnis, dass ihm die Notwendigkeit einer unmittelbaren Legitimation durch die Bevölkerung erspart blieb. So wurde der erste «exekutive Präsident» der Sowjetunion ohne Gegenkandidaten ausnahmsweise am 14. März 1990 von derselben dritten, außerordentlichen Zusammenkunft der Volksdeputierten gewählt. Auch das Abstimmungsergebnis machte weder dem neuen Amt noch Gorbačev Ehre: Nur 59,2 % von 2245 Anwesenden gaben ihr Plazet. Formal rückte er dennoch zum mächtigsten Politiker des Landes seit Lenin auf. Auch die Perestrojka erhielt damit eine neue Legitimation: Aus einer Parteiangelegenheit verwandelte sie sich in eine Veranstaltung des Staates.[21]
Nicht zuletzt diese Rochade wäre ohne weitere personelle Umbesetzungen kaum möglich gewesen. Bei aller Neigung zur Vision vergaß Gorbačev auch in der letzten Phase seiner Reform die machtpolitischen Lektionen seiner Lehrjahre nicht. Als die Perestrojka in ihre erste Vertrauenskrise geriet, weil die ökonomischen Resultate immer sichtbarer hinter den Erwartungen und Versprechungen zurückblieben, glaubte er die Zeit gekommen, um weitere Gegner auszuschalten. Mit dem Argument, dass nun konsequentes Handeln geboten sei, gelang es ihm, seinen ärgsten Widersacher Ligačev aus der Position eines Ideologiesekretärs in das Amt eines Landwirtschaftssekretärs fortzuloben. Die neue, schwierige Aufgabe, an der alle seine Vorgänger letztlich gescheitert waren, nahm dem ‹Beförderten› nicht nur den faktischen Rang eines zweiten Mannes in der Partei, sondern band seine Energie auch nahezu vollständig. Zugleich beschloss dieselbe außerordentliche Sitzung des ZK am 30. September 1988, Ligačevs verwaiste Position an Gorbačevs Vertrauten Medvedev zu übergeben, Jakovlev als ‹Vordenker› der Reform mit der Zuständigkeit für die Außenpolitik zu versehen und den KGB-Chef Čebrikov durch V. A. Krjučkov zu ersetzen. Als der Oberste Sowjet anderntags auch Gromyko noch in den Ruhestand schickte, war dem Generalsekretär ein abermaliger Befreiungsschlag im Zentrum der Macht gelungen. Dazu trug die Fortsetzung des Elitentauschs auf regionaler und lokaler Ebene durch die Neuwahl der Parteikomitees Ende 1988 nicht unerheblich bei: 60 % der Ortssekretäre und 50 % der Gebiets-«Präfekten» traten ihre Ämter erstmals an.
Allerdings entzog sich das formal höchste Plenargremium, das ZK, weiterhin seiner Kontrolle. Auch wenn es dem Politbüro ‹gewohnheitsrechtlich› untergeben war, konnte die Mehrheit aus Würdenträgern der Brežnev-Ära, die sich auf dem 27. Parteitag 1986 behauptet hatte, der Perestrojka zumindest passiven Widerstand entgegensetzen. Schon die 19. Parteikonferenz hatte im Frühsommer 1988 die Rückkehr zum Chruščevschen Rotationsprinzip (von 1961) beschlossen; fortan sollte auf jedem Parteitag ein Drittel der ZK-Mitglieder neu gewählt werden. Um dies auch umzusetzen, ersann Gorbačev ein ebenso ungewöhnliches wie raffiniertes Verfahren, das den Betroffenen als eine Art Staatsstreich erscheinen musste: Er ließ eine Liste aller Mitglieder anlegen, die bereits aus ihren Ämtern (meist als Minister oder regionale Parteisekretäre) ausgeschieden oder überhaupt fortgeschrittenen Alters waren, und legte ihnen dringend nahe zurückzutreten. Aufgrund dieses faktischen Zwangs gaben 98 «überflüssige Leute» (davon 24 Kandidaten) im April 1989 («Plenum der langen Messer») ihr Mandat zurück. Eine solche Massendemission suchte in der gesamten Sowjetgeschichte ihresgleichen; sie verkleinerte das Gesamtgremium von 458 auf 360 und die Zahl der Vollmitglieder (Neuaufnahmen hinzugerechnet) von 307 auf 251 (die niedrigste Zahl seit den sechziger Jahren). Desgleichen trugen die erwähnten Ereignisse des folgenden Jahres dazu bei, Gorbačev personell freie Hand zu geben. Dabei änderten sich allerdings die Rahmenbedingungen durch die Einberufung des Volksdeputiertenkongresses als tatsächlicher Legislative fundamental. Der Wechsel in zentralen Ämtern verlor an Bedeutung, weil die Inhaber weniger Macht besaßen. Andererseits blieb es erheblich, dass Gorbačev mit dem Präsidentenamt neuer Art auch einen Präsidentenrat ins Leben rief, der ihm bei der Formulierung und Durchsetzung seiner Politik zur Seite stehen sollte. Diesem neuen Gremium gehörten ex officio der Vorsitzende des Obersten Sowjets, der Premier-, Außen- und Verteidigungsminister sowie die Vorsitzenden des KGB und Gosplan an, die alle von ihm ernannt wurden. Die übrigen zehn Mitglieder konnte er frei berufen. Faktisch entstand damit eine zweite, der ‹eigenen Kanzlei› der Zaren um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unähnliche Regierung.
Aber auch in der Partei machte Gorbačev weiter reinen Tisch. Als Generalsekretär, der er noch war, sorgte er nicht nur für die Vorverlegung des turnusmäßig erst 1991 fälligen 28. Parteitages auf die erste Julihälfte 1990, sondern auch für eine weitere personelle Erneuerung ihres konstitutiven Organs. Diese letzte ordentliche Zusammenkunft von Repräsentanten der KPdSU entsandte nicht weniger als 412 neue Vollmitglieder ins ZK, von denen ihm nur 14,1 % schon angehört und nur 15,5 % zuvor Ämter auf gesamtstaatlicher Ebene ausgeübt hatten. Allerdings kam die Rosskur zu spät. Als der neue, kurz zuvor zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der RSFSR gewählte national-demokratische Hoffnungsträger Jelzin seinen Austritt aus der Partei erklärte und den großen Tagungssaal im Kreml in einem demonstrativen Auszug verließ, musste jedermann begreifen, dass die alte Partei aufgehört hatte zu bestehen. Vom Fernsehen in denkwürdigen Bildern übertragen, vollzog diese Geste sozusagen vor aller Welt die Tilgung des Artikels 6: Die KPdSU war nicht mehr der Staat und auch nicht mehr Russland – wo im Juni eine eigene, bis dahin anders als in den anderen Sowjetrepubliken nicht existente Kommunistische Partei gegründet worden war –, sondern im Prinzip nur eine politische Partei unter anderen, auch wenn diese erst im Entstehen begriffen waren.[22]
Dennoch waren es weder die gesamtpolitische Entwicklung noch die mangelnde Gefolgschaft der Partei, die der Perestrojka zum Verhängnis wurden. Die Vorgänge, an denen Gorbačev letztlich scheiterte, zeichneten sich kaum zufällig dadurch aus, dass sie sich zumindest seiner kurzfristigen Einwirkung entzogen: Zum einen konnte er den wirtschaftlichen Niedergang nicht bremsen, zum anderen setzte die Agonie der gesamtstaatlichen Autorität in den Unionsrepubliken national oder einfach regional orientierte sezessionistische Kräfte frei, mit denen er nicht gerechnet hatte. Was dabei Ursache und Wirkung war, ist umstritten. Manches spricht dafür, dass die Alternative von falschen Voraussetzungen ausgeht und das Problem eines von ‹Henne und Ei› war.
In jedem Falle bezweifelt niemand, dass die Perestrojka ihre ursprüngliche Kernabsicht verfehlte: Die Kurve der wirtschaftlichen Leistungskraft der Sowjetunion zeigte weiter abwärts. Nach einer gewissen Erholung in den ersten Jahren, vor allem 1988, verstärkte sich die negative Tendenz bis zum absoluten Rückgang. Im sechsten Jahr der Reformen, 1990, wiesen buchstäblich alle wichtigen Indikatoren ein Minus aus. Im ersten Quartal 1991 kam es noch schlimmer, der Sturz wurde zum freien Fall (vgl. Tab. 62). Auch wenn der Ausstoß an Konsumgütern noch stieg, führte die Abnahme der landwirtschaftlichen Erzeugung zu einer unaufhaltsamen Verschlechterung der Versorgung. Wo es bei niedriger Produktion durch Verteilungsprobleme schon länger zu Engpässen gekommen war, stellte sich nun permanenter Mangel ein. Vor allem außerhalb der nach wie vor privilegierten Hauptstädte fehlten die elementarsten Gebrauchs- und Verbrauchsgüter. Das Politbüro selbst gestand Ende 1989 ein, dass Schulbücher, Bleistifte, Batterien, Nadeln, Rasierklingen, Teekannen, Schuhe und anderes mehr aus den Regalen der staatlichen Einzelhandelsgeschäfte verschwunden seien. Doch hätte die Bevölkerung ohne diese Gegenstände wohl noch auskommen können. Die Wirklichkeit sah weit trostloser aus. In der Provinz gab es weder Fleisch noch Milch. Im Winter 1990/91 fürchtete man eine Hungersnot, die zu Hilfssendungen aus dem Ausland (nicht zuletzt aus Deutschland, das auf diese Weise seinen Dank für den Fall der Berliner Mauer bezeugte) Anlass gab. Laut offizieller Verlautbarung aus derselben Zeit fehlten 1000 von 1200 Gegenständen des statistischen Musterwarenkorbs. Die freigegebenen Spalten der Zeitungen füllten sich mit Klagen nach Art der Drohung einer Hausfrau aus der Moskauer Region, ihr mangels Waschmittel schmutziges Bettzeug an das zuständige Ministerium zu schicken. Der sowjetische Normalbürger musste den Eindruck gewinnen, vom Regen in die Traufe geraten zu sein: Die Perestrojka hatte die Misere deutlich verschärft, nicht behoben.[23]