Im Rückblick aus der Distanz von einem Vierteljahrhundert steht eines umso klarer fest: Die Übergangszeit, die unter den Nachfolgern Brežnevs begann, war auch nach der Auflösung der Sowjetunion nicht abgeschlossen. Dem Zusammenbruch der alten Ordnung folgte der Aufbau einer neuen. Beides brauchte seine Zeit. Beides war in allen Sphären von Staat und Gesellschaft mit fundamentalen Veränderungen der politischen und sozioökonomischen Struktur, aber auch der propagierten Werte verbunden. Beides brachte ein Maß an Politisierung, Mobilisierung und Polarisierung mit sich, das dicht an den Rand offener Unruhen führte und – zumindest in der neuesten Geschichte – zu den typischen Symptomen eines tiefgreifenden Umbruchs gehört. Insofern ging die Perestrojka zwar im Sinne ihres Erfinders zu Ende, aber in der Wortbedeutung setzte sie sich fort. Politisch nahm der ‹Überhang› die Gestalt einer neuen ‹Doppelherrschaft› zwischen dem Volksdeputiertenkongress und dem Präsidenten der Russischen Föderation an. Alles spricht dafür, den Abschluss des gesamten ‹Umbaus› auf die Lösung dieses geradezu paradigmatischen Konflikts in der zweiten, blutigen Auseinandersetzung der Transformationsjahre am 3. und 4. Oktober 1993 zu datieren und dabei die nachfolgenden ersten Wahlen zum neuen Parlament samt dem Volksentscheid über eine neue Verfassung der Russischen Föderation am 12. Dezember desselben Jahres einzubeziehen.
Historische Parallelen zum Untergang des Zarenreiches im Februaraufstand 1917 und zum Gründungsakt Sowjetrusslands im Staatsstreich vom Oktober 1917 liegen nahe. Aber sie sind sachlich irreführend und in der funktionalen Parallelität oberflächlich, da die erste «Doppelherrschaft» nicht in der Koexistenz alter und neuer Machtorgane bestand und die beiden Oktoberunruhen einander hinsichtlich der Legitimität ihres Ergebnisses genau widersprachen. Bedenkenswert erscheint dagegen der Vorschlag, den Gesamtprozess in den Rang einer Revolution zu erheben. Folgt man einer verbreiteten Zählung (die immer auch Deutung ist), wäre nach den Ereignissen von 1905/06, vom Februar und Oktober 1917 sowie von 1929/30 von der «fünften russischen Revolution» zu sprechen. Dabei gründet diese Kennzeichnung (ohne nähere definitorische Festlegung) auf der evidenten, außerordentlichen historischen ‹Wirkungsmacht›, die den Vorgängen eigen war. Schon weil die alte Ordnung den Anspruch erhob, alle Lebensbereiche der Gesellschaft zu durchdringen, brachte ihr Untergang die Notwendigkeit und Chance eines grundlegenden Neuanfangs hervor. Auch wenn noch lange darüber gestritten werden mag, wie viel Ererbtes, sichtbar oder latent, trotz allem fortlebte und wie viel Wandel tatsächlich stattfand, bleibt das prinzipielle Urteil über die Dimension des Umbruchs unberührt. Der Systemwechsel, der zwischen 1985 und 1993 (mit Vorläufern seit 1982) auf dem Territorium des Zarenreichs und der Sowjetunion stattfand, war ein Jahrhundertereignis. Außer Zweifel steht auch, unter welchen Parolen große Teile der gesamtstaatlichen und regionalen Eliten, auf die Mehrheit der Bevölkerung (bei durchaus starken Gegenkräften auf allen Ebenen) gestützt, mit der Vergangenheit brachen: im Namen von Demokratie, Marktwirtschaft, neuer nationaler Identität und der Hoffnung auf ein besseres Leben durch politische Freiheit und ökonomische Effizienz. Offen bleibt dagegen die Frage, wie weit das Land auf diesem Weg vorankam und warum, so wird man aus heutiger Sicht hinzufügen, die Konsolidierung nach der Jahrtausendwende mehr und mehr in die alte Tradition des starken Staates mit ausgeprägt autoritären Zügen abglitt. Die wichtigsten Etappen und Merkmale dieser Geburt der «zweiten russischen Republik» (nach dem Februarregime 1917) und ihrer obrigkeitlichen Perversion seien hier knapp skizziert.[1]
Als die Perestrojka im Gefolge des misslungenen Putsches vom August 1991 ihr faktisches Ende fand, gab es in Russland zwei institutionalisierte politische Gewalten. Auf der einen Seite stand der Volksdeputiertenkongress, der nach dem Muster des sowjetischen Volksdeputiertenkongresses im März 1990 gewählt worden war. Auch wenn er eine deutlich höhere demokratische Legitimation für sich in Anspruch nehmen konnte als dieser, weil die Stimmzettel fast überall mehrere Kandidaten enthielten, leitete er seine rechtliche Stellung und Gestalt letztlich aus der Brežnev-Verfassung von 1977 ab. Der russische Volksdeputiertenkongress war ein Sowjet und kein Parlament, durch entsprechende Änderungen zwar modifiziert, aber in der zweiteiligen Struktur aus temporärer Vollversammlung und Oberstem Sowjet als permanenter Exekutive doch als solcher deutlich erkennbar. Auf der anderen Seite gab es einen Präsidenten, der seinem Amt eine neue Basis gegeben hatte. Ebenfalls direkt gewählt, verfügte er nach demokratischen Maßstäben nicht nur über eine höhere Berechtigung zur Kompetenzausübung als ein indirekt bestimmter, sondern auch über eine neue Unabhängigkeit: Er handelte nicht länger im Namen des Deputiertenkongresses und des Obersten Sowjets, musste ihm auch nicht mehr angehören, sondern agierte aus eigener, ihm vom Volk ad personam verliehener Vollmacht. Bei alledem repräsentierten beide Organe das ‹neue Russland› als ‹wiedergeborenen›, selbständigen Staat. Auch wenn beide gleichsam aus unterschiedlichen Phasen der Transformation stammten, waren sie anfangs durch diese und andere Gemeinsamkeiten verbunden. Schon deshalb ist es abwegig, eine Art Zwangsläufigkeit in den Konflikt hineinzulesen. Die Auseinandersetzung war möglich und aufgrund gleichartiger Legitimation auch strukturell angelegt, aber keinesfalls vorprogrammiert.
Es entsprach auch nicht nur dem Selbstverständnis des Präsidenten und seinem Wählerauftrag, dass er entschiedene Reformmaßnahmen ergriff. Was Jelzin populistisch und radikal von Gorbačev einklagte, fand zunächst die Billigung des Volksdeputiertenkongresses. Der Versammlung war noch bewusst, dass sie ihn, wenn auch mit knapper Mehrheit, ein Jahr zuvor, Ende Mai 1990, zu ihrem Vorsitzenden bestellt hatte. Andererseits blieb offen, wie die neue Ordnung im Einzelnen aussehen sollte. Hierin unterschied sich das neue, postsowjetische Russland vom Untergang des Ancien Régime 1917, dass – entgegen dem Votum einer kleinen radikaldemokratischen Minderheit – keine Konstituierende Versammlung einberufen wurde, die eine Verfassung ausgearbeitet und Übergangsrichtlinien festgelegt hätte. Dabei liegt es nahe, diesen Umstand mit der erstaunlichen Gewaltlosigkeit des Umbruchs in Beziehung zu setzen. Im Vergleich zu analogen Vorgängen verhielt sich die russische Bevölkerung nachgerade diszipliniert. Beide Beobachtungen lassen sich trotz aller Polarisierung (unter anderem) durch ein erhebliches Maß an Konsens über die Funktionsuntüchtigkeit der alten Ordnung erklären, aber auch durch weitgehende personelle Kontinuität, die das neue Regime zumindest mit der Perestrojka verband. In der Person Jelzins und fast seiner gesamten Umgebung reichen die Wurzeln sogar deutlich weiter zurück. Schon diese Faktoren, zu denen trotz aller Demonstrationen in den Hauptstädten auch ein tradierter Vertrauensvorschuss für starke Persönlichkeiten gehörte, summierten sich zu einem entscheidenden Resultat: Die konkrete Ausgestaltung der neuen Herrschaftsform blieb in erheblichem Maße der Praxis und den Vorstellungen des ersten Präsidenten überlassen.[2]
Dies war umso eher der Fall, als Jelzins ohnehin starke Stellung im entscheidenden Bereich noch weiter gefestigt wurde. Unter dem Eindruck des Putsches und der Notwendigkeit raschen Handelns gewährte ihm der Deputiertenkongress am 1. November 1991 Sondervollmachten für den Übergang zur Marktwirtschaft. Dieser Beschluss bildete die Grundlage für die Regierung durch eigene Dekrete, zu der Jelzin sich mit zunehmendem Widerstand des Volksdeputiertenkongresses genötigt sah. Von Anfang an lag die Macht bei der Exekutive; die Legislative, die das Brandmal der Herkunft aus dem alten Regime nicht tilgen konnte, wurde kaum gefragt. Statt sich in ein Parlament zu verwandeln, betrieben Oberster Sowjet und Volksdeputiertenkongress Obstruktion und brachten den latenten Struktur- und Verfassungskonflikt zum offenen Ausbruch. Zugleich gaben sie dem Präsidenten dadurch Anlass, schnell und ausschließlich den Weg zu beschreiten, den er ohnehin einzuschlagen geneigt war: die Reform im Alleingang, d.h. von oben, durchzusetzen.
Bezeichnend für diese frühe Bevorzugung eines Präsidialsystems war die Bedeutung, die dem Aufbau eines entsprechenden Apparates zukam. Entscheidend wurde, was in der Umgebung Jelzins geschah. Auch hier liegt die Kontinuität zu den letzten Jahren des alten Regimes offen zutage: Jelzin setzte fort, was Gorbačev im Sommer 1989 mit der Schaffung des Präsidentenamtes als neuer Machtgrundlage begonnen hatte. So stand der «Staatsrat», der ihm zunächst assistieren und seine Verordnungen ausarbeiten sollte, funktional in der Nachfolge des Gorbačevschen Präsidialrates. Dasselbe galt für den «Konsultativrat», der den kurzlebigen Vorgänger bald ersetzte. Und auch der «Sicherheitsrat», der im Juni/Juli 1992 per Dekret größere Zuständigkeiten erhielt und zum wichtigsten Organ unterhalb des Präsidenten aufstieg, ließ diese Herkunft noch klar erkennen. Gerade seine Karriere verdeutlicht überdies die unmittelbare Verwurzelung in der Präsidentenmacht und die Dienstbarkeit im Kampf gegen den Deputiertenkongress: Jelzin wertete den Sicherheitsrat als Reaktion auf eine erste Einschränkung derjenigen seiner Befugnisse auf, die der Zustimmung des Kongresses bedurften (er hatte im April vom Amt des Premierministers, das er anfangs in Personalunion versah, zurücktreten müssen), und benutzte ihn gleichsam als institutionelle Demonstration der Unabhängigkeit des Präsidenten. Es ist schwierig, eine Art ratio der organisatorischen Veränderungen in der Umgebung seines Amtes zu entdecken. Wenn es eine gab, so dürfte sie zum einen in der Schaffung eigener Fachbehörden zur Vorbereitung von Verordnungen und Gesetzen zu sehen sein, zum anderen in der Einrichtung beratender Gremien mit der deutlichen Tendenz, sie in ihrer Zusammensetzung der Entscheidung des Präsidenten zu unterwerfen und die Zahl der ex officio-Mitglieder gering zu halten. Als Folge der starken Position und weitreichenden Kompetenzen des Präsidenten entstand auf diese Weise letztlich ein Duplikat der hohen politischen Stäbe der Ministerien. Auch Analogien zum Sekretariat des ZK der KPdSU oder zur zarischen «Kanzlei Seiner Allerhöchsten Majestät» wurden in durchaus kritischer Absicht hergestellt.
Jelzin gab solchen Vergleichen umso mehr Nahrung, als er eine deutliche Neigung erkennen ließ, die engsten Berater aus dem Kreis seiner langjährigen Weggenossen zu wählen. Auch dies lag in der gegebenen Situation der Konfrontation und des Umbruchs nahe. Natürlich brauchte der Inhaber des Amtes, von dem der staatliche Neuaufbau letztlich abhing, zuverlässige und erprobte Helfer. Loyalität und Kompetenz aber fand er im Wesentlichen dort, wo er selbst jahrzehntelang gewirkt hatte und bis zum Ersten Parteisekretär aufgestiegen war – in seiner Heimatregion Sverdlovsk (heute wieder Ekaterinburg) im Ural. Von außen erschien das Resultat dieses verständlichen Verfahrens aber völlig anders: als Fortsetzung des Nepotismus, dessen institutionalisierte Form soeben überwunden worden war. Wenn der faktisch zweitmächtigste Mann, Sekretär des ersten Staatsrats, anfangs Stellvertretender Ministerpräsident, danach auch ohne Portefeuille engster Berater des Präsidenten, G. E. Burbulis, aus Sverdlovsk kam (wo er Geschichte des Marxismus-Leninismus gelehrt hatte), wenn der Sekretär des Konsultativrates Ju. V. Petrov Parteichef der Stadt gewesen war und wenn der Leiter seines persönlichen Sekretariats O. I. Lobov dort zuvor das Amt eines Stellvertretenden Parteichefs versehen hatte, so brauchte sich niemand über die abschätzige Rede von der «Sverdlovsk-» oder «Ural-Mafia» zu wundern. Noch schwerer wog jedoch, dass sich die Bevorzugung ergebener Berater aus alten Tagen auf ungute Weise mit persönlicher Schroffheit verband und jüngere Weggefährten verprellte. Vieles deutet darauf hin, dass der populäre General und Afghanistan-Kämpfer A. V. Ruckoj, den Jelzin während des Wahlkampfes im Frühjahr 1991 aus taktischen Gründen als Stellvertreter nominiert hatte, bald nach dem Triumph von der eingeschworenen Mannschaft aus Sverdlovsk mit Billigung des Präsidenten von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen wurde. Ähnliches dürfte R. I. Chasbulatov widerfahren sein, der im August 1991 an der Seite Jelzins das Weiße Haus an der Moskwa verteidigt und mit dessen Hilfe das seit Jelzins Direktwahl vakante Amt eines Präsidenten des russischen Volksdeputiertenkongresses (zugleich des Obersten Sowjets) übernommen hatte. Allerdings trugen in diesem Fall auch andere Ereignisse und großenteils sehr negativ bewertete Charaktereigenschaften Chasbulatovs, dem man übergroße Eitelkeit und – weil er ohne Ministeramt blieb – unbefriedigten Geltungsdrang nachsagte, zu einem tiefen Zerwürfnis bei. Es verlieh der politischen Auseinandersetzung jene Unerbittlichkeit, die einen Kompromiss ausschloss und zur gewaltsamen Entscheidung zwang.
Infolge des präsidialen Übergewichts veränderte sich der Status der Regierung nicht grundlegend. Auch hier lebte die unmittelbare Vergangenheit zunächst weiter. Rechtlich galt die alte Regelung fort, dass der Präsident (neuer Art) den «Ministerrat» ernannte, dieser aber der Bestätigung durch den Volksdeputiertenkongress bedurfte und ihm rechenschaftspflichtig war. Dem entsprach eine faktische Richtlinienkompetenz des Präsidenten, die das Kabinett zum ausführenden Organ degradierte. In der gegebenen Übergangs- und Ausnahmesituation fand diese Abhängigkeit in der erwähnten Doppelfunktion Jelzins einen besonders prägnanten Ausdruck: Der Präsident war zugleich Premierminister. Allerdings dauerte dieser Zustand kein halbes Jahr. Schon zum Zeitpunkt der sechsten Zusammenkunft des (russischen) Volksdeputiertenkongresses in der ersten Aprilhälfte 1992 hatten sich die Kontrahenten so zerstritten, dass Jelzin taktische Zugeständnisse machen musste. Er verzichtete auf das Amt des Premierministers, opferte seinen Stellvertreter in dieser Funktion, Burbulis, und entließ den talentierten jungen Ökonomen Egor T. Gajdar, vormals Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft und (neben G. A. Javlinskij und dem Namensträger) Ko-Autor des Šatalin-Plans, als Finanzminister. Dessen ungeachtet hielt Jelzin an den Eckpunkten seines Programms fest. Im Zuge eines größeren Revirements wagte er es sogar, den eben entlassenen Gajdar, der die vom Kongress bekämpfte Politik geradezu verkörperte, am 15. Juni 1992 zum Premierminister zu ernennen. Zugleich nahm er allerdings zwei Repräsentanten der alten Staatsindustrie, Viktor S. Černomyrdin und V. F. Šumejko, die schon unter Brežnev gedient hatten, ins Kabinett auf. Damit hatte Jelzin, ob geplant oder nicht, für kommende Manöver vorgesorgt. Als er bei der nächsten Kraftprobe mit dem feindseligen Kongress, der Anfang Dezember 1992 zum siebten Mal zusammenkam, Gajdar nicht mehr halten konnte, schlug er Černomyrdin für das Amt des Premierministers vor. Dieser wurde als Fürsprecher eines gedrosselten wirtschaftlichen Wandels mit großer Mehrheit gewählt. Schon ein halbes Jahr vor dem Entscheidungskampf rückte Jelzin damit vom radikalen Reformkurs ab und signalisierte Kompromissbereitschaft. Er selber blieb zwar nicht unbeschädigt, aber aufgrund der starken Position seines Amtes unangefochten. Eben dies entsprach der Kernabsicht des Präsidialsystems, das er mit Überzeugung praktizierte: Die Regierung hatte für die Politik geradezustehen und musste eventuell zurücktreten, wenn der Widerstand zu groß wurde; der Präsident setzte sie zwar ein und stützte sie, befand sich aber gleichsam ein Stück weit hinter der Frontlinie und konnte bei seiner höheren Legitimation und festgelegten Amtszeit Zuflucht suchen.[3]
Unter den zahlreichen Grundsatzfragen, die beim Neuaufbau heftig umstritten waren, stand die Wirtschaftspolitik an erster Stelle. Sie schlug nicht nur unmittelbar auf den Alltag und das Lebensniveau der Bevölkerung durch, sondern verband sich darüber hinaus mit seinem strukturellen Ziel. Sicher konnte man auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichem Tempo zur Marktwirtschaft gelangen. Aber zugleich lag auf der Hand, dass manche Wege auch willkommene Umwege waren, die nicht unbedingt zum selben Endpunkt führten. Diese Verzahnung von Methode und Zweck wird man in Rechnung stellen müssen, um den Stellenwert auch scheinbar nebensächlicher Details der Wirtschaftspolitik in den ersten beiden Jahren der neuen Ära verstehen zu können. Nicht nur in der Theorie lagen zur Stunde Null (die aber nur in begrenztem Maße eine war) mehrere Strategien und Optionen vor. Zum einen wäre eine angepasste Version der letzten Pläne der Perestrojka denkbar gewesen; allerdings kehrten die bekannten Ökonomen, die sich für Gorbačev engagiert hatten – von Aganbegjan bis Šatalin –, überwiegend in die Wissenschaft zurück. Daneben gab es das radikaldemokratische Lager um Javlinskij und Gajdar, das für einen sofortigen Übergang zur Marktwirtschaft plädierte. Eine dritte Richtung trat für die Fortsetzung der alten Staatswirtschaft ein und verband sich mit nationalen Kräften, die einer Verwestlichung auch aus anderen Gründen skeptisch gegenüberstanden. Eine vierte Gruppe schließlich akzeptierte die Notwendigkeit des Übergangs im Prinzip, warnte aber vor einer sofortigen Aussetzung der staatlichen Subventionen, um die Schlüsselindustrien einschließlich der militärischen nicht zu gefährden.
In der Aufbruchsstimmung nach dem Untergang der alten Ordnung kamen zaghafte Schritte nicht in Betracht. Die alten Konzepte waren gescheitert oder kompromittiert. Insofern enthielt die Situation eine Präferenz für radikale Schritte. Dies galt nicht zuletzt für Jelzin, der nach seiner scharfen Kritik an Gorbačevs Zögerlichkeit kaum anders konnte, als das Hauptübel der alten Ordnung, die zentrale Kommandowirtschaft, frontal anzugreifen. Dass ihm der Volksdeputiertenkongress eben dafür Sondervollmachten gewährte, belegt den breiten einschlägigen Konsens, der zu dieser Zeit noch herrschte. Offen mag bleiben, in welchem Maße daneben ausländische Ratgeber um den US-amerikanischen ‹monetaristischen› Ökonomen J. Sachs und Druck von Seiten des Internationalen Währungsfonds, dem Russland im April 1992 beitrat und der neben den USA mit Krediten half, eine Rolle spielten. Auch der inländische Fachmann stand bereit, der geeignet schien, das Programm politisch durchzusetzen: Gajdar. Mit seinem Namen verbanden sich daher die wichtigsten einschlägigen Sofortmaßnahmen dieses neoliberalen Brachialkurses im Geist des «Washington Consensus»: die Preise freizugeben, die Subventionen für die Staatsbetriebe zu kürzen, den Staatshaushalt ohne Hilfe der Notenpresse zu konsolidieren, die industrielle und landwirtschaftliche Produktion zu privatisieren und alle Produktions- und Handelshemmnisse zu deregulieren, um das Land für den Weltmarkt zu öffnen. Dahinter stand die Erwartung, dass hohe Preise den großen Kaufkraftüberhang abschöpfen, die Inflation ersticken und die private Produktion durch verlockende Gewinnchancen so animieren würden, dass sich mittelfristig das angestrebte Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage als Garant marktgerechter Preise einstellen werde.
Theoretisch mochte dieser «ökonomische Romantizismus» überzeugen. Praktisch verursachte er tiefgreifende soziale Erschütterungen, die vom mittellosen Staat kaum aufzufangen waren. Insofern trug gerade die Schocktherapie – von Kritikern als Schock ohne Therapie bezeichnet – zur Frontenbildung bei. Ob sie nötig war, wird unter Historikern und Ökonomen noch lange kontrovers sein. In jedem Fall tröstete der versprochene mittelfristige Gewinn nicht über die kurzfristige Not hinweg: Im gesamten Jahr 1992 explodierten die Preise (um 2600 %!), die Industrieproduktion fiel um 20 % und das gesamte Bruttosozialprodukt zwischen 1990 und 1995 um 50 %. Auch wenn der Internationale Währungsfonds hohe Kredite gewährte und ausländisches Kapital trotz unsicherer Zukunftsaussichten zögerlich ins Land kam, war die Bilanz besorgniserregend. Die massenhafte Verarmung der Bevölkerung sprang ins Auge. Das Wort von der ‹Lateinamerikanisierung› machte die Runde. Zwar blieben Streiks, anders als 1989/90, aus. Die Bevölkerung stellte ihre erprobte Leidensfähigkeit einmal mehr durch erstaunliche Ruhe – vielleicht aus Erschöpfung nach der vorangegangenen Mobilisierung – unter Beweis. Dennoch erscheint das Urteil im Rückblick gerechtfertigt, dass dieser ökonomische Rigorismus die Grenzen der vielzitierten ‹Kunst des Möglichen› überschritt. Jelzin trug dem Rechnung, als er Pragmatiker alten Schlages ins Kabinett holte und die «Jungs in rosa Hosen», wie sein Stellvertreter Ruckoj die theoretischen Marktwirtschaftler verspottet hatte, beiseite drängte. Zwar dürfte Černomyrdin die Hoffnungen seiner konservativen Sympathisanten überwiegend enttäuscht haben; er erwies sich als loyal und setzte die Politik der Umwandlung der überkommenen staatlichen Planwirtschaft in eine marktgesteuerte Ordnung fort. Aber er mäßigte das Tempo, hielt die Großbetriebe (darunter die militärischen und die rohstoffgewinnenden) durch abermalige Subventionen am Leben und konnte 1995 erstmals seit der Wende in Gestalt der Preisstabilisierung und eines neuen Wirtschaftswachstums Erfolge verbuchen. Nach einem Jahr des Stillstands 1996, verursacht sowohl durch den Wahlkampf für die erste Bestellung des Präsidenten nach der neuen Verfassung als auch durch die schwere Herzerkrankung Jelzins, ließen die Daten des Jahres 1997 erkennen, dass die Erholung anhielt.[4]
Auch ein weiteres, in vieler Hinsicht sogar das Kernstück der Wirtschaftsreform, die Privatisierung, führte zu einem durchaus ambivalenten Ergebnis. Für die Industrie wählte man unter mehreren diskutierten Optionen in bewusster Abgrenzung von Resten sozialistischer Ideen die demokratischste: Alle Bürger und nicht nur die Arbeitskollektive sollten in den Genuss von Anteilen am ehemaligen staatlichen Monopoleigentum kommen und die Möglichkeit haben, von ihm zu profitieren. Das neue Russland brauche «Millionen von Eigentümern und keine Handvoll von Millionären», formulierte Jelzin plastisch. Unter dem Vorsitz seines engen Vertrauten A. B. Čubajs ermittelte eine eigens eingerichtete Kommission den Gesamtwert des industriellen und kommerziellen Vermögens in der Russischen Föderation und dividierte ihn durch die Zahl ihrer Einwohner. Wie immer man im Einzelnen rechnete, bleibt unklar. Jedenfalls ergab sich eine Summe, die sich aus pragmatischen Gründen auf 10.000 Rubel festlegen ließ. Somit erhielten alle Bürger des Landes, «vom Säugling bis zum Greis», zum 1. Oktober 1992 einen Coupon (voucher) dieses Werts. Die Empfänger konnten ihn verkaufen, sich den Gegenwert auf ihrem Bankkonto gutschreiben lassen oder Aktien eines der Unternehmen erwerben. Nur eines durften sie nicht – sie bei einer Bank gegen Bargeld eintauschen, weil dies den Staat überfordert hätte.[5]
Die Idee, dem Volk tatsächlich auszuhändigen, was ihm nominell schon immer gehörte, war ehrenwert und ließ sich politisch mit Aussicht auf propagandistische Wirksamkeit an den Wähler bringen. Die Wirklichkeit sah indes anders aus. Angesichts der Möglichkeit zum Weiterverkauf war vorhersehbar, dass die Streuung des Eigentums nicht von Dauer sein würde. Dazu trugen die konkreten Modalitäten der Privatisierung erheblich bei. Von den drei angebotenen Varianten wählten drei Viertel der Betriebe diejenige, die auch die größte politische Zustimmung fand, sowohl im (inzwischen gegründeten) Unternehmerverband als auch im Obersten Sowjet unter Einschluss der Kommunisten. Sie sah vor, 51 % der ausgegebenen Aktien für die Belegschaft zu reservieren, bevor der Rest der Öffentlichkeit angeboten wurde. In der Realität lief dies, was der Regierung bewusst war und was sie hinnahm, auf eine «Kapitulation vor den Direktoren» hinaus. Denn vielen der alten Manager, die das Potential ihrer Betriebe am besten abschätzen konnten, gelang es, ihre Beschäftigten durch Überredung oder Druck zum Verkauf ihrer Anteilsscheine zu bewegen und sich selbst in den Besitz der Mehrheit zu bringen. Nicht nur die Unkenntnis der Arbeiter (in einem Land, in dem die Funktionsweise einer Marktwirtschaft nach gut siebzig Jahren Sozialismus völlig in Vergessenheit geraten war) half ihnen dabei, sondern auch der rapide Wertverlust der Voucher infolge der dramatischen Inflation; nicht wenige tauschten sie für ein paar Flaschen Wodka ein.[6]
Hinzu kam ein weiterer, wichtiger Umstand. Die Privatisierung stand nicht am Anfang, sondern eher am Ende der ökonomischen Transformation. Bereits Gorbačev hatte die Staatsbetriebe 1987 weitgehend aus der zentralen Kontrolle entlassen und die Gründung von Kooperativen erlaubt. Wendige Manager und sonstig Findig-Aktive hatten die neuen Möglichkeiten genutzt und eigene Unternehmen, darunter nicht zuletzt Banken gegründet. Sie hatten ein Grundkapital zusammengetragen und standen – zusammen mit manchen Geschäftemachern aus der faktisch geduldeten Schattenwirtschaft (und wohl auch aus der Unterwelt) – bereit, Voucher und Aktien zu kaufen, wo immer möglich. Im Resultat ergab sich ein ökonomisch wenig förderlicher und politisch höchst unerwünschter Effekt: Hauptprofiteur der Privatisierung war die vermeintlich entthronte nomenklatura. Von einigen unternehmerisch fraglos höchst agilen Parvenus abgesehen, verwandelten sich die alten Herren in die neuen. Kein Volk von Eigentümern entstand, sondern eine schmale Schicht ‹neuer Russen›, von denen einige auch bald enorme Reichtümer anhäuften. Ein solches Ergebnis schien eher geeignet, tief verwurzelte Vorurteile gegen ‹den› Kapitalismus zu nähren, als sie zu zerstören. Zumindest leistete die Voucher-Privatisierung, die im Sommer 1994 (als erste und Hauptphase des Gesamtprozesses) zu Ende ging, nicht, was das demokratische Russland politisch und gesellschaftlich am dringendsten gebraucht hätte: den Grundstein für Kleineigentum und eine neue Mittelschicht zu legen.
Das galt erst recht für die Überführung von Grund und Boden in Privatbesitz. Auch dieser schwierigen Aufgabe hat sich Jelzin früh gestellt. Schon am 27. Dezember 1991 verfügte er den verbindlichen Übergang von Kolchosen und Sowchosen in neue Rechtsformen. Dekrete vom März und Juni 1992 sowie vor allem vom Oktober 1993 erweiterten und präzisierten dies durch die ausdrückliche Erlaubnis, Agrarland als verbrieftes Privateigentum mit allen Rechten der Verpachtung, Beleihung und des Weiterverkaufs zu erwerben. In historischer Perspektive markierten solche Maßnahmen den zweiten Versuch – nach den sog. Stolypinschen Reformen von 1906 –, in Russland ein lebensfähiges, marktproduzierendes Bauerntum zu schaffen. Allerdings zeigte sich bald, dass die Hindernisse seit der Perestrojka nicht abgenommen hatten. Im Gegenteil, zum einen fehlte es nach wie vor an unternehmerischen Kenntnissen und Initiative. Zum anderen und vor allem aber zeigten sich nun die negativen Auswirkungen der ersten Privatisierungsversuche Gorbačevs sowie der Wirtschaftskrise seiner letzten Regierungsjahre in voller Deutlichkeit. Agrarprodukte fanden keinen Absatz mehr, der Markt war zusammengebrochen – mit der Folge eines drastischen Rückgangs der Viehhaltung, dessen Ausmaß kaum hinter der Massenschlachtung angesichts der Zwangskollektivierung von 1929–31 zurückstand,[7] und eines beklagenswerten Zustands der umgetauften Kolchosen. Die allermeisten waren faktisch bankrott und hielten sich nur mühsam über Wasser. So konnte es nicht verwundern, dass die Privatisierung des Grund und Bodens nur langsam vorankam. Mitte der 1990er Jahre zählte man lediglich etwa 280.000 «kommerzielle Farmen», deren Land gegen Ende des Jahrtausends ca. 7 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche ausmachte.[8] Die alte Wunde der russischen Wirtschaft schwärte nicht nur weiter, sie hatte sich sogar deutlich verschlimmert. Dieser Befund schlägt umso eher zu Buche, als die Russische Föderation statistisch zwar als Industrieland galt, aber so groß war, dass weite Regionen primär agrarisch geprägt waren und blieben.[9]
Bei alledem stand außer Frage, dass der Konflikt zwischen Präsident und Volksdeputiertenkongress gelöst werden musste. Jelzins Konzession in Gestalt der Opferung Gajdars (der ganz aus der Regierung ausschied) und der Berufung Černomyrdins in das Amt des Premiers half ihm zwar aus der Sackgasse, beseitigte aber die Konfrontation nicht. Der Streit galt der künftigen Verfassung in einer Schlüsselperiode des Aufbaus, an deren Ende eine neue dauerhafte und konsensfähige Ordnung der politischen Gewalt stehen musste. So hätte seine einzige friedliche Lösung in einem Kompromiss bei deren Ausarbeitung gelegen. Daran aber war nicht mehr zu denken. Was mit der Einsetzung einer Kommission Mitte Juni 1990 kurz nach der Souveränitätserklärung hoffnungsvoll begonnen hatte, endete in einem ausweglosen Duell. Dabei wäre es zu einfach, den Verlierern nur unlautere Motive zu unterstellen. Bei allen Vorbehalten gegen die Person Chasbulatovs und die egoistische Sorge um Privilegien, die viele Volksdeputierte beherrscht haben mag, sollte der autoritäre Grundzug des Jelzinschen Konzepts nicht übersehen werden. Der Präsident und seine Umgebung gingen von Anfang an davon aus, dass Russland mit starker Hand regiert werden müsse. Sicher gab es angesichts der nicht eben demokratischen Tradition vor und nach dem Sozialismus gute Gründe für diese Prämisse. Auf der anderen Seite will aber auch das Argument bedacht sein, dass dadurch ein Zirkel perpetuiert wurde, der eben das verhinderte, was eigentlich erwünscht war. Zwischen dem Anspruch des Deputiertenkongresses, die Macht beim neu zu gründenden Parlament als Grundstein für eine parlamentarische Demokratie zu konzentrieren, und der Präferenz des Präsidenten für eine dominante Exekutive ließ sich unter den gegebenen Umständen nicht vermitteln.[10]
In Kenntnis der nachfolgenden Ereignisse erscheint spätestens der Streit um den Ministerpräsidenten auf der siebten Zusammenkunft des Volksdeputiertenkongresses Anfang Dezember 1992 als jene Etappe, jenseits derer die Ereignisse auf eine gewaltsame Lösung zuliefen. Denn hinter Jelzins Manövern verbarg sich die schiere Not der Ohnmacht im verfassungslosen Zustand. Der Kongress hatte die erwähnten Sondervollmachten für ein Jahr gewährt; diese Frist war am 1. Dezember abgelaufen. Angesichts der völlig veränderten Lage musste der Präsident damit rechnen, seiner Befugnisse nach und nach beraubt zu werden. Sein Kapital bestand in seinem Mandat, seinem Apparat und der Uneinigkeit seiner Gegner. Aber die Zeit arbeitete gegen ihn. Dennoch war Jelzin klug genug, weiter mit dem Kongress zu verhandeln. Auch hier muss offen bleiben, in welchem Maße er eine militärische Kraftprobe mit unberechenbarem Ausgang scheute und in welchem Maße er sozusagen taktisch handelte, um angesichts der Tragweite einer solchen Auseinandersetzung dem Vorwurf vorzubeugen, Verständigungschancen nicht genutzt zu haben. Im März 1993 einigte er sich sogar mit seinem Erzfeind Chasbulatov auf vorgezogene Wahlen für ein neues Parlament und das Präsidentenamt im Herbst. Diesmal aber kündigten die Abgeordneten (die sich damit selbst entlassen hätten) ihrem Vorsitzenden die Gefolgschaft auf und lehnten die Vereinbarung ab. Zugleich machten sie immer massiver gegen Jelzin Front, indem sie ihm die Sondervollmachten tatsächlich weitestgehend entzogen. Der Präsident suchte seine Stellung durch ein Referendum zu retten, das den Wählern die Aufgabe übertrug, eine Entscheidung über den Vorrang des einen oder anderen Organs zu fällen. Trotz mancher Warnungen, die Kampagne werde das Land endgültig zerreißen, konnte die Abstimmung am 25. April 1993 friedlich und ordnungsgemäß durchgeführt werden. Jelzin erhielt die Bestätigung, die er brauchte; selbst die schmerzhafte Wirtschaftspolitik wurde gutgeheißen. Dennoch klärte das Referendum die Situation nicht: Die Fragen waren nach langen Verhandlungen so entschärft worden, dass sie keine Alternativen mehr formulierten. So zog sich die Konfrontation weiter hin und nahm mehr und mehr den Charakter einer gegenseitigen Blockade an.
Als Jelzin schließlich den entscheidenden Schritt zu ihrer Aufhebung tat, konnte niemand überrascht sein, aber jeder erschrak angesichts der Unwägbarkeit des Ausgangs. Per Dekret löste der Präsident am 21. September 1993 den Volksdeputiertenkongress und den Obersten Sowjet auf. Zweifellos verstieß dieser Akt gegen die gültige Verfassung. Jelzin konnte sich lediglich darauf berufen, zum Präsidenten neuer Art gewählt worden zu sein, der nicht Teil der alten Verfassung war und geradezu den Auftrag erhalten hatte, deren Reste zu beseitigen. Nur eine wirkliche, akzeptierte Konstitutierende Versammlung – eine im Juni einberufene Konferenz verdiente diesen Namen nicht, weil sie nur noch Korrekturempfehlungen geben konnte – hätte den Konflikt in verfassungsrechtlich einwandfreier Form lösen und Blutvergießen vermeiden können. So aber war der gordische Knoten nur in einer Weise zu durchschlagen, die rechtlich einem Staatsstreich gleichkam – und das sozialistische Regime endgültig so beendete, wie es begonnen hatte.
Erneut wird man sich hüten, die folgende gewaltsame Auseinandersetzung für unvermeidlich zu erklären. Aber sie war nach einem solchen Akt wahrscheinlich. Nicht zuletzt Jelzin hatte dies vorausgesehen und den entscheidenden, im staatsrechtlichen Sinne eigentlich revolutionären Akt von langer Hand vorbereitet. Dafür spricht ein Dekret vom 27. September, das die regionalen Verwaltungen der Russischen Föderation dem Ministerrat in Moskau unterstellte – war es doch wahrscheinlich, dass die Haltung der Gebietsregierungen von erheblicher Bedeutung sein würde. Dennoch kam die Eskalation der Gewalt am 3. und 4. Oktober 1993 unerwartet. Dass sich auch die Gegenseite vorbereitet und – bezeichnend für die hinter ihr stehenden Kräfte – ausgebildete Kämpfer für einen regelrechten Militärputsch aus dem ganzen Land zusammengezogen hatte, war offensichtlich eine böse Überraschung. Die Eroberung des Moskauer Bürgermeisteramtes und der blutige Sturm auf die Fernsehstation Ostankino durch die Verbände des «Weißen Hauses» am 3. Oktober machten den Einsatz von Panzern und schweren Waffen nötig. Eigentlich hätten dazu vor Ort befindliche Sondereinheiten des Innenministeriums ausgereicht. Jelzin entschied sich jedoch dafür, die reguläre Armee um Hilfe zu bitten. Ca. 1300 Mann wurden aus der Umgebung nach Moskau beordert, wo sie gegen 22.30 Uhr eintrafen. Allem Anschein nach gab es aber noch keinen Einsatzbefehl. Erst um dieselbe Zeit fällte eine Generalsversammlung im Verteidigungsministerium in Anwesenheit des Präsidenten den definitiven Beschluss, das Weiße Haus mit Gewalt zu nehmen. Die Beschießung begann am Morgen des 4. Oktober. Am Abend brannte jenes Gebäude, das zwei Jahre vorher zum Symbol des Widerstandes gegen die Putschisten und der Hoffnung auf ein neues, demokratisches Russland geworden war. Als Chasbulatov und Ruckoj mit erhobenen Händen auf die Straße traten, ging die «fünfte russische Revolution» zu Ende. Trotz der Befriedigung, die der Präsident über den Ausgang empfinden mochte, hatte er keinen Grund zu wirklicher Freude. Der Sieg war teuer erkauft – mit dem Leben von 145 Demonstranten, die in den «blutigsten Straßenkämpfen seit der Oktoberrevolution» 1917 zu Tode kamen, und mit einer Bringschuld gegenüber dem rettenden Helfer, der Armee.[11]
Dem ersten Schritt musste, schon um seiner Rechtfertigung willen, der zweite folgen. Jelzin hatte die Auseinandersetzung im Namen einer neuen Verfassung und ihr entsprechender Neuwahlen gesucht. Diese fanden am 12. Dezember 1993 statt und wurden mit einem Volksentscheid über die (im Vorgriff angewandte) Verfassung verbunden. Die Russische Föderation sollte fortan neben dem Präsidenten von einer zweikammerigen «Bundesversammlung» regiert werden. In den «Föderationsrat» entsandten die 89 «Föderationssubjekte» (Republiken, Regionen [kraj], oblasti, große Städte u.a.) «je einen Vertreter der exekutiven und legislativen Gewalt»; für die erste, auf zwei Jahre verkürzte Legislaturperiode wurde er ausnahmsweise gewählt. Die «Staatsduma» (programmatisch erneut mit einem altrussischen Begriff für «Rat» benannt, den auch das vorrevolutionäre Parlament der Jahre 1906–1917 getragen hatte), bestehend aus 450 Abgeordneten, setzte sich nach einem «gemischten Wahlrecht» zusammen: Eine Hälfte wurde in Wahlkreisen – analog zum deutschen Wahlrecht – direkt, die andere gemäß dem proportionalen Stimmenanteil für die Partei- bzw. Wählervereinigungslisten gewählt. Für die Direktkandidatur waren mindestens ein Prozent der Stimmen eines Wahlkreises nötig. Parteien und Wahlblöcke mussten 100.000 Unterschriften vorweisen, um antreten, Listen mindestens 5 % der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen, um in die Duma einziehen zu können; direkt gewählte Abgeordnete zogen in jedem Fall ein.
Für die Zukunft entscheidend war indes die Verteilung der Macht zwischen Exekutive und Legislative. Sie entsprach nach dem Ausgang der Kraftprobe ganz und gar Jelzins Wünschen, dessen Entwurf der Bevölkerung im Wesentlichen unverändert vorgelegt wurde. Demnach verankerte die neue Verfassung ein Präsidialsystem, das zwar wie das französische oder polnische eine eigene Regierung vorsah, aber in der Machtfülle des Präsidenten durchaus jene ‹ersatzmonarchischen› Elemente aufweist, die man dem amerikanischen nachsagt. Der Präsident leitet die Kabinettssitzungen, bestimmt die Grundlinien der Innen- und Außenpolitik, kann Gesetzesvorlagen in die Duma einbringen, ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, wacht über die Einhaltung der Verfassung, beraumt die Wahlen an und kann die Bevölkerung zu einem Referendum aufrufen. Er darf die Staatsduma – allerdings nicht den Föderationsrat – auflösen. Dazu ist er berechtigt, wenn diese dem Premier oder der Regierung das Misstrauen ausspricht und dies, falls der Präsident keine Umbildung vornimmt, binnen dreier Monate wiederholt; er ist dazu verpflichtet, wenn die Duma seinen Kandidaten für das Amt des Premierministers dreimal ablehnt. Dementsprechend geringer fielen die Rechte der Staatsduma und des Föderationsrats aus. Die Duma beschließt mit einfacher Mehrheit alle Gesetze, kann mit zwei Dritteln ihrer Mitglieder ein Veto des Föderationsrats überstimmen und ebenfalls mit zwei Dritteln ihrer Stimmen einen Einspruch des Präsidenten zurückweisen, kann der Regierung das Misstrauen aussprechen, sie aber nicht absetzen, kann ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten anstrengen und mit Zweidrittelmehrheit (zusammen mit drei Vierteln der Stimmen des Föderationsrates) eine Verfassungsänderung vornehmen. Der Föderationsrat beschließt mit der Mehrheit seiner Mitglieder ebenfalls alle Gesetzesvorlagen, hat wie die Duma und der Präsident Initiativrecht, muss die Verhängung des Ausnahmezustandes durch den Präsidenten bestätigen, entscheidet über den Einsatz russischer Truppen im Ausland, führt ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten durch und ernennt die höchsten Richter auf Vorschlag des Präsidenten. Beide Häuser zusammen können den Präsidenten mit einer Zweidrittelmehrheit zwingen, ein von ihm abgelehntes Gesetz zu unterzeichnen. Dem in allen Demokratien praktizierten Grundsatz der Gewaltenteilung folgend, sieht die neue russische Verfassung die Unabhängigkeit der Justiz vor. Richter werden für unabsetzbar und unverletzlich erklärt, Sondergerichte ausdrücklich ausgeschlossen. Alle Verhandlungen müssen öffentlich sein. Für die verbindliche Auslegung der Verfassung ist ein Verfassungsgericht zuständig. Sehr knapp ist im ansonsten umfangreichen Verfassungstext der Abschnitt über die «örtliche Selbstverwaltung» geraten. Immerhin werden die grundsätzliche Selbstbestimmung und demokratische Funktionsweise der entsprechenden Gremien festgeschrieben. Im Übrigen geben sich die souveränen «Subjekte» ihre eigenen Verfassungen. Ein gesondertes, langes Kapitel widmet die Verfassung schließlich den «Rechten und Freiheiten des Menschen und Bürgers», die inhaltlich den analogen Passagen aller demokratischen Verfassungen seit der Amerikanischen Revolution entsprechen und erstmals Eingang in ein russisches Staatsgrundgesetz fanden.[12]
Der Urnengang vom 12. Dezember 1993 markierte einen der großen Wendepunkte der Geschichte Russlands im 20. Jahrhunderts. Erstmals seit November 1917 konnte die Bevölkerung wieder eine Vertretung nach dem demokratischen Grundsatz der freien, gleichen, allgemeinen und direkten Stimmabgabe wählen. Und erstmals überhaupt hatte Russland ein Parlament, das weder aus purer Not auf Abruf konzediert worden war (wie die beiden ersten Dumen von 1906–07) noch durch ein Kurienwahlrecht in seiner Repräsentativität stark eingeschränkt wurde (wie die 3. und 4. Duma von 1907 und 1912), noch ein Überbleibsel einer inzwischen gestürzten politischen Ordnung war (wie die Konstituierende Versammlung nach dem «Roten Oktober»). Vielmehr bildete die Duma neben dem 1991 direkt gewählten Präsidenten die zweite Säule der neuen Verfassung. Ihre einzige Beschränkung bestand in einer verkürzten Sitzungsperiode von zwei Jahren, die der Tatsache Rechnung trug, dass über die Verfassung definitiv erst zeitgleich entschieden wurde. Rein formal gesehen verlief die Wahl ordnungsgemäß. Die Wahlbeteiligung von 54,8 % bei 105 Mio. Wahlberechtigten (vgl. Tabelle 63) lag zwar deutlich unter den Erwartungen, reichte aber aus, um Zweifel an der Legitimität der neuen Ordnung abzuweisen.
Größere Probleme bereitete in dieser Hinsicht das Referendum über die Verfassung. Wohl stimmten ihr laut amtlicher Zählung 58,4 % der Wähler zu. Aber zum einen war der Präsident gar nicht befugt, ein Referendum anzuberaumen; zum anderen hielt sich hartnäckig das Gerücht, das zur Gültigkeit erforderliche Quorum der Hälfte aller 105 Mio. Wahlberechtigten sei in Wahrheit verfehlt und die offizielle Angabe von 54,8 % nachgebessert worden. So erblickte auch das neue, demokratische Russland mit einem Geburtsfehler das Licht der Welt: Nur 30,7 % der Wahlberechtigten votierten für seine Gründungsurkunde, und ein Präsident hob es aus der Taufe, dessen Legitimation, dies zu tun, ebenso umstritten war wie sein gewaltsames Vorgehen gegen das «Weiße Haus» Anfang Oktober.[13]
Auch wenn die Dumawahl formal nicht zu beanstanden war, verstärkte sie die Defekte erheblich, die der neuen russischen Demokratie von Anfang an zu schaffen machten. Denn zum einen versetzte ihr das Ergebnis einen regelrechten Schlag. Noch im April hatte ein Referendum eine – wenn auch knappe – Mehrheit für Jelzin und seine Sozial- und Wirtschaftspolitik erbracht. Nun strafte der souveräne Wähler den Präsidenten, der zwar nicht zur Wahl stand, dessen Sympathien aber kein Geheimnis waren, regelrecht ab. 140 (!) Gruppen und Grüppchen erhielten das Recht zur Aufstellung von Listen; die Wahlkommission ließ dreizehn Listen mit Vertretern von elf Parteien und sieben Bewegungen zu, die sich zu dreizehn Blöcken zusammenschlossen. Diese verteilten sich bei allen Unterschieden in etwa auf drei Lager: das demokratische, den Präsidenten unterstützende; das nationalistisch-kommunistische mit der KPRF, der russischen Nachfolgeorganisation der KPdSU, sowie einer neuen rechtsextremen Partei, der LDPR; und das zentristische, stark von einstigen und neuen Unternehmensdirektoren geprägte. Bei 105 Mio. Wahlberechtigten und einer Wahlbeteiligung von nur 54,8 % (laut offiziellem Ergebnis vom 25. Dezember, vgl. Tabelle 63) entfielen auf die drei Parteien des demokratischen Blocks ganze 30 % der Stimmen – die meisten davon auf Russlands Wahl, die der ehemalige Premierminister Gajdar anführte –, auf die vier Parteien des zentristischen Blocks 23,6 % und auf die drei Parteien des nationalistisch-kommunistischen Blocks 36,7 %, darunter der Löwenanteil mit 22,9 % auf die «Liberaldemokraten» V. V. Žirinovskijs, der unerwartet als Sieger aus den Wahlen hervorging. So führte kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die Wähler gegen die neue Ordnung und stattdessen für nationalistische Parolen zur Wiederherstellung alter Größe sowie für die Repräsentanten des untergegangenen Regimes votiert hatten. Vermutlich wurde die Fernsehübertragung der Auszählung in den frühen Morgenstunden nicht wegen «technischer Probleme» abgebrochen, sondern angesichts des blamablen Ergebnisses. Und der amerikanische Vizepräsident Al Gore, der eigens eingeladen worden war, konnte keiner Feier des neuen freien Russland den Glanz der führenden Macht der westlichen Demokratien verleihen, sondern musste irritiert unverrichteter Dinge die Heimreise antreten.[14]
Tabelle 63: Wahlen zur russischen Staatsduma 1993–2016
Parteien |
% |
Sitze Partei |
Sitze direkt |
gesamt |
LDPR |
23,0 |
59 |
11 |
70 |
Russlands Wahl |
15,4 |
40 |
56 |
96 |
KPRF |
12,5 |
32 |
33 |
65 |
Russische Frauen |
8,1 |
21 |
4 |
25 |
Agrarische Partei Russlands |
7,8 |
21 |
26 |
47 |
Jabloko |
7.8 |
20 |
13 |
33 |
Partei der russischen Einheit |
6,7 |
18 |
9 |
27 |
Wahlberechtigte |
106 Mio. |
|||
Wahlbeteiligung |
54,8 % |
Parteien |
% |
Sitze Partei |
Sitze direkt |
gesamt |
KPRF |
22,3 |
99 |
58 |
157 |
LDPR |
11,2 |
50 |
1 |
51 |
Unser Haus Russland |
10,2 |
45 |
10 |
55 |
Russlands Wahl |
3,9 |
0 |
9 |
9 |
Jabloko |
6,9 |
31 |
14 |
45 |
Wahlberechtigt |
104 Mio. |
|||
Wahlbeteiligung |
64,4% |
Parteien |
% |
Sitze Partei |
Sitze direkt |
gesamt |
KPRF |
24,3 |
67 |
43 |
110 |
Einigkeit (Edinstvo) |
23,3 |
64 |
10 |
74 |
Vaterland – Gesamtrussland (Otecˇestvo-Vsja Rossija) |
10,2 |
37 |
29 |
66 |
Jabloko |
5,9 |
16 |
5 |
21 |
LDPR |
6,0 |
17 |
0 |
17 |
Wahlberechtigte |
106 Mio. |
|||
Wahlbeteiligung |
61,8 % |
Parteien |
% |
Sitze Partei |
Sitze direkt |
gesamt |
Vereintes Russland |
37,6 |
120 |
102 |
222 |
KPRF |
12,6 |
40 |
11 |
51 |
Heimat (Rodina) |
9,0 |
29 |
8 |
37 |
Jabloko |
4,3 |
4 |
4 |
|
Wahlberechtigte |
106 Mio. |
|||
Wahlbeteiligung |
55,7 % |
Parteien |
% |
Sitze |
Vereintes Russland |
64,3 |
315 |
KPRF |
11,6 |
57 |
LDPR |
8,1 |
40 |
Gerechtes Russland |
7,7 |
38 |
Jabloko |
1,6 |
0 |
Wahlberechtigte |
109 Mio. |
|
Wahlbeteiligung |
63,8 % |
Parteien |
% |
Sitze |
Vereintes Russland |
49,3 |
238 |
KPRF |
19,2 |
92 |
Gerechtes Russland |
13,2 |
64 |
LDPR |
11,7 |
56 |
Wahlberechtigte |
109,2 Mio. |
|
Wahlbeteiligung |
60,1 % |
Parteien |
% |
Sitze |
Vereintes Russland |
54,2 |
353 |
KPRF |
13,3 |
42 |
LDPR |
13,1 |
39 |
Gerechtes Russland |
6,2 |
23 |
Wahlbeteiligung |
47,9% |
Quellen: Black, Johns, Russia after 2012, 219 ff.; White, Understanding, 31 f. (mit leichten Abweichungen zwischen beiden); ergänzt durch offizielle Daten aus dem russischen Internet.
Bis einschließlich der Wahl von 2003 teilte sich die Gesamtzahl der 450 Sitze in eine Hälfte, die gemäß dem Stimmenanteil der Partei vergeben wurde, und eine zweite Hälfte für Direktkandidaten, die keiner Partei angehören mussten, aber konnten.
Die Wahlen fanden jeweils im Dezember, nur 2016 im September statt. Von 1993 bis 2003 galt eine 5 %-Klausel für den Einzug in die Duma, ab 2007 eine 7 %-Klausel, seit 2016 wieder eine 5 %-Klausel. Von den vielen Parteien, die diese Schwelle nicht erreichten, wurde nur Jabloko in die Tabelle aufgenommen; detaillierte Ergebnisse finden sich bei White, Understanding. Die erste Duma wurde nur für zwei Jahre gewählt. Danach dauerte die Sitzungsperiode vier Jahre, seit 2011 fünf Jahre.
LDPR = Liberal-Demokratische Partei Russlands; KPRF = Kommunistische Partei Russlands; Jabloko («Apfel») = Akronym aus den Namen der Parteigründer G. Javlinskij, Ju. Boldyrev, V. Lukin.
Zum anderen zeigte schon die Dezemberwahl eine grundlegende Schwäche, die den russischen Parlamentarismus bis heute lähmt: das weitgehende Fehlen ihn stützender, autochthoner und deshalb unabhängiger Parteien. Es gab die Kommunisten, die eigentlich nur die verbliebenen Mitglieder in den veränderten Grenzen der Russischen Föderation zusammenführen mussten und trotz des Verbots der KPdSU (nach dem Augustputsch von 1991) vor allem in der Provinz zumindest von manchem immateriellen Erbe profitieren konnten. Und es entstand eine neue Rechte, die den Gegenpol des politischen Spektrums besetzte, aber mit ihnen die entschiedene Ablehnung liberaler Reformen und des neuen Systems teilte (im Übrigen wohl auch auf verborgene oder offene Zustimmung in der Betonung patriotisch-nationaler Werte auf Seiten der KPRF rechnen konnte). Dazwischen, in der politischen Mitte, bildeten sich ebenfalls neue formalisierte Vereinigungen. Eigenständig, öffentlich präsent und relevant war vor allem Jabloko (ein Akronym aus den Namen der Gründer). Ihr wohl bekanntester Repräsentant, der Ökonom Javlinskij und sein Fähnlein Aufrechter, Hoffnungsträger vor allem der großstädtischen Mittelschichten, konnten jedoch selbst bei diesen ersten, in der Entstehungsphase des neuen Staates am ehesten freien Wahlen nur 7,8 % der Stimmen auf sich vereinen. Die andere, mit einem Stimmenanteil von 15,4 % deutlich größere Partei avancierte dank des Beitritts vieler direkt gewählter, ‹unabhängiger› Abgeordneter zwar sogar zur stärksten Fraktion des neuen Parlaments – nur war Russlands Wahl eben kein Produkt autochthoner Bündelung gleichgerichteten Bürgerengagements, sondern eine Schöpfung von ‹oben›. Mit ihr, an deren Spitze nicht zufällig der Ministerpräsident von gestern trat, begann die Reihe der Parteien, die sich allein der Unterstützung durch die Präsidialadministration verdankten. Sie waren Resultat taktischer Erwägungen der Machthaber, nicht des Bedürfnisses der Gesellschaft nach politischer Teilhabe und Einflussnahme auf die politischen Entscheidungen.
Denn dies war die wohl schwerwiegendste Hinterlassenschaft der 74-jährigen Herrschaft einer Monopolpartei: dass das Engagement der vorrevolutionären «Gesellschaft von Besitz und Bildung», das gerade ein Jahrzehnt Zeit gehabt hatte sich zu entfalten, abrupt abgebrochen, seine Träger liquidiert, verfolgt oder ins Exil getrieben wurden, und höchstens obrigkeitskonformes Mitmachen, aber keine selbständige und unabhängige Eigentätigkeit an seine Stelle trat. Welchen Begriff man immer für das Gegenteil verwendet, ob «aktive Gesellschaft» oder, wie seit einigen Jahren mit durchaus inflationärer Tendenz üblich, «Zivilgesellschaft» – sie hat sich spät und nur temporär während der Perestrojka vor allem in den großen Städten zu Wort gemeldet und nur eine einzige Partei hervorgebracht. Danach tauchte sie wieder weitgehend ab. Als das neue Russland sie dringend gebraucht hätte, war sie nicht mehr da.[15]
Mit diesem Defizit aktiver Parteibildung von unten verband sich von Anfang die Übermacht des Präsidenten. Beide Phänomene verhielten sich komplementär, die Schwäche der Parteien und des Parlaments vergrößerte die Macht der Exekutive noch. Von einem annähernden Gleichgewicht konnte, wie skizziert, in der Verfassung ohnehin nicht die Rede sein. Jelzin wollte einen starken Präsidenten und schuf sich dazu einen eigenen Verwaltungsapparat. In den unteren und mittleren Rängen dürfte der alte zumindest aus den Perestrojka-Jahren weitgehend geblieben sein; auf der höchsten Ebene kamen auffallend viele Weggefährten aus seiner Zeit als Parteisekretär von Sverdlovsk (Ekaterinburg) hinzu. Im langen Rückblick und vergröbernd gesagt, geschah Ähnliches wie bei der Entstehung der sowjetischen Regierung nach dem Oktoberumsturz. So wie der SNK eigentlich nicht in die Rätestruktur passte und faktisch unter neuem Namen das alte Ministerkabinett fortsetzte, so übernahm Jelzin einen erheblichen Teil der Machtfülle des alten Generalsekretärs samt seines Mitarbeiterstabs. Es sprach Bände, dass der Präsident über eine eigene Behörde von beinahe 2000 Beamten verfügte, die im selben Gebäude wie das einstige Sekretariat des ZK der KPdSU residierte und in vielem faktisch, wie zu Sowjetzeiten auch, die hohe Ministerialverwaltung duplizierte. Sicher kam ihm solche Kompetenz- und Machtfülle in der Auseinandersetzung mit dem Volksdeputiertenkongress zustatten. Man wird auch die sofortige Funktionsfähigkeit der hohen Verwaltung zu ihren Gunsten anführen können. Aber Jelzin ließ bei der Ausarbeitung der Verfassung nicht erkennen, dass er über den Tag hinaus dachte und an einem Kräftegleichgewicht als Voraussetzung einer dauerhaft funktionsfähigen wirklichen Demokratie interessiert war. Vielmehr «kehrte» er ihren Unterstützern, die ihn zur Macht getragen hatten, mehr und mehr «den Rücken». In diesem «weichen Bonapartismus» verlor er, der Rebell von gestern, endgültig aus den Augen, dass die neue Elite in erheblichem Maße mit der alten identisch war. In seinem Schlepptau gelangten die anpassungsfähigen Mitglieder der russischen nomenklatura auch in die Elite des neuen Staates.[16]
Nach dem Schock der Dezemberwahl verfielen die Reformer gewiss in keine Starre im Sinne von Konzessionen und zögernden Maßnahmen; vielmehr setzten sie die brachiale marktwirtschaftliche Liberalisierung fort. Aber der Schrecken wirkte in anderer Weise nach – als eine Art traumatischer Furcht vor der Möglichkeit der Rückkehr zu Planwirtschaft und Sozialismus. Der Eindruck stellt sich ein, dass man schnell faits accomplis schaffen wollte, die nicht mehr mit einem Federstrich zu beseitigen waren. Die Politik geriet gleichsam negativ in den Bann vor allem der Kommunisten, in denen man den gefährlicheren Feind erkannte und deren Sieg bei den nächsten, schon relativ nah bevorstehenden Dumawahlen es zu verhindern galt. Der Präsident selber griff faktisch in den Wahlkampf ein, indem er am Vorabend der Abstimmung vor «gewissen Parteien» warnte, die die Absicht hätten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Doch nützte diese Intervention gar nichts. Klarer Wahlsieger war die Kommunistische Partei mit 22,3 % der Stimmen; ihr folgten die rechtsradikalen «Liberaldemokraten» Žirinovskijs mit 11,2 %. Die «Partei der Macht» um den Ministerpräsidenten Černomyrdin, zugleich dem Präsidenten nahestehend, erhielt 10,2 % («Unser Haus Russland», NDR), die demokratische Opposition (Jabloko) 6,9 % (vgl. Tabelle 63). Zu allem Überfluss profitierten die Kommunisten auch noch am stärksten vom Effekt der 5 %-Hürde, der diesmal besonders ausgeprägt war. Weil die vier (von 43 [!] angetretenen) Parteien, die sie übersprangen, zusammen gerade einmal 50,5 % der Stimmen auf sich vereinten, trug jeder Prozentpunkt ungewöhnlich viele Sitze ein. Zusammen mit direkt gewählten umfasste die Fraktion der KPRF in der zweiten Duma 157 Abgeordnete (von insgesamt 450), fast dreimal so viele wie die von «Unser Haus Russland» (55) und deutlich mehr als Jabloko (45). Kurz, der Kreml hatte nach dieser Wahl keinerlei Anlass, weniger besorgt in die Zukunft zu sehen. Im Gegenteil, die Anhänger des Alten waren zahlreicher denn je. Hätte die Verfassung dem Parlament reale Macht eingeräumt und ihm etwa das Recht zuerkannt, eine selbständige, vom Präsidenten unabhängige Regierung zu wählen –, wäre wohl mit einer Kehrtwende der Politik zu rechnen gewesen. So aber verpuffte auch ein solcher Sieg der Kommunisten ohne gravierende Folgen. Zum einen hätten sie sich mit den rechten Extremisten einigen müssen, um mit einer gemeinsamen Mehrheit Gesetze verabschieden, der Regierung das Misstrauen aussprechen oder die Bitte um Vertrauen ablehnen zu können (Quorum 50 %). War das schon unwahrscheinlich genug, hätte es auch noch einer entsprechenden Mehrheit im (nicht gewählten) Föderationsrat bedurft, die es nicht gab. Und vor allem reichte auch die gemeinsame Mehrheit nicht aus, um das Veto des Präsidenten oder des Föderationsrats zu überstimmen. So kamen die Gründer des neuen Russland trotz einer krachenden Niederlage mit dem Schrecken davon. Um so eher wurde die Dumawahl zum Menetekel für die entscheidende Auseinandersetzung, die im Frühsommer 1996 anstand, als Jelzins erste fünfjährige Amtszeit auslief.[17]
Im Vorfeld dieser zweiten Direktwahl des Präsidenten, die zugleich die erste auf der Grundlage der neuen Verfassung war, kamen nun Folgen der Privatisierung des ehemaligen Staatseigentums zum Tragen, deren Fortsetzung sich daher mit der großen Politik verband. Die Frist für den Kauf von Firmenanteile mit Vouchern statt mit Geld lief (nach einer halbjährigen Verlängerung) Ende Juni 1994 endgültig aus. Bis dahin waren trotz einiger Betrügereien großen Stils durch falsche Investmentgesellschaften, die Coupons von Hunderttausenden einsammelten und ihren Gegenwert auf eigene Konten im Westen transferierten, immerhin ca. 40 Mio. Russen zu Eigentümern von ca. 100.000 Unternehmen geworden. Eine solch umfangreiche und schnelle Privatisierung, die mehr Aktienbesitzer geschaffen hatte, als es in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien gab, galt den Initiatoren (ungeachtet langfristiger Entwicklungsperspektiven) als Erfolg. Dabei waren die großen Rohstoff- und Energiekonzerne aber ausgespart worden. Sie sollten in einer zweiten Phase der Privatisierung durch Versteigerung neue Eigentümer erhalten und ihr Erlös – diesmal in tatsächlichem Geld, aber durchaus als Schuldverschreibung – dem notleidenden Staatsbudget zufließen. An diesen sog. Pfandauktionen der Jahre 1995–96 konnten nur noch diejenigen mit Aussicht auf Erfolg teilnehmen, die schon zuvor zu erheblichem Reichtum gelangt waren. Nur sie verfügten über die Millionen, die dazu nötig waren. Zugleich waren sie es, die den wahren Wert der angebotenen Unternehmen auf dem Weltmarkt kannten und die einzigartige Chance witterten, mit solchem Einsatz an tausendfach größere Vermögen zu kommen. Diese Auktionen machten aus Millionären Milliardäre, die schon bald in der Forbes-Liste der Superreichen der gesamten Welt zu finden waren.
Dem Staat ging es dabei nicht nur um Geld. Im Gegenteil, er vergab sogar Geld in Gestalt von Subventionen, deren ‹Rückgabe› er sozusagen als Bezahlung für die versteigerten Aktien akzeptierte. Woran seinen Lenkern im Kreml mehr lag, war Unterstützung im Wahlkampf um das Amt des Präsidenten. Die Verfassung erlaubte Jelzin eine zweite Amtszeit, für die er auch kandidierte, obwohl er bereits an schweren Herzproblemen litt. Gebraucht wurde nicht nur viel Geld, sondern auch Einfluss auf die Öffentlichkeit. Dies war die Stunde der Bankiers und Medienzaren, die sich dabei nicht einmal zu verstellen brauchten. Nichts hatten sie mehr zu fürchten als einen Sieg des Kommunisten und Gründers der KPRF G. A. Zjuganov. Eine Interessenidentität ergab sich, aus der die Geschäftsleute allerdings auch Kapital nach Art des do ut des zu schlagen versuchten. Dass ihnen dies gelang, hatte nicht nur mit der finanziellen Bedürftigkeit des Staates, dem Wahlkampf und der nachlassenden Popularität des Präsidenten in einer Zeit rapide wachsender materieller Not für immer größere Teile der Bevölkerung zu tun. Ins Spiel kam auch Jelzins persönlicher Führungsstil, der im Verein mit der Übermacht seines Amtes und dem weitgehenden Fehlen von Kontrolle intransparente Absprachen hinter den Kulissen, informelle Einflussnahme und kaum verborgene Korruption begünstigte. Macht, wenn auch nur abgeleitete, besaß, wer dem Präsidenten nahe stand und ihn oft sah – wie der Chef der Leibwache A. V. Koržakov, mit dem er auch Tennis spielte. Es bildete sich, was der liberale Javlinskij einen «byzantinischen Hof» nannte, mit allerlei Einflüsterern, Schranzen und Drahtziehern, die ihre Geschäfte lieber im Schatten abwickelten.[18]
In diesem Umfeld fanden auf der Grundlage eines Gesetzes vom letzten Augusttag 1995 auch die Auktionen statt, die Russlands bedeutendste Unternehmen in private Hände bringen sollten. Fraglos unterlag ihr Ablauf Modalitäten, die – absichtlich oder nicht – zu deals und undurchsichtigen Geschäften geradezu einluden. Gemäß einer ‹Angebotsliste›, in Čubajs’ nach wie vor zuständiger Behörde erstellt, fanden zwölf solcher Versteigerungen statt, die jeweils von einer Bank vorbereitet wurden. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, dass die Interessenten, die meist selber aus der Finanzwelt kamen oder ihr geschäftlich eng verbunden waren, viele Mittel und Wege fanden, um den Kreis der Bieter einzuschränken und auf die geforderten Mindestangebote einzuwirken. Tatsächlich soll sogar mit Jelzin und seiner Regierung hinter den Kulissen im Vorhinein ausgehandelt worden sein, wer was zu welchem Preis erhalten sollte. Wenn etwa die Mindestforderung für den milliardenschweren, riesigen Erdölkonzern Sibneft’ auf 100 Mio. $ festgelegt wurde und die neuen Besitzer (B. A. Berezovskij und R. A. Abramovič) genau 100,3 Mio. $ zahlten, dürfte jeder Beobachter gewusst haben, was gespielt wurde. Der Staat – auch Čubajs, der anfangs um seinen Ruf gefürchtet haben soll – stimmte zu, weil er die Gegenleistung der Käufer brauchte: einen hohen Kredit von 2 Mrd. $, den ein Bankenkonsortium bereitzustellen versprach. So wurden Russlands profitabelste Unternehmen, seine «Kronjuwelen», in nur drei Wochen an wenige, nun Superreiche verhökert. Die privatizacija verwandelte sich endgültig, wie der Volksmund spottete, in eine prichvatizacija (etwa «Abstauberei», «Klauerei»); die privatization wurde, wie ein bekannter amerikanischer Ökonom formulierte, zur piratization.[19]
Ob die Oligarchen, die (spätestens) jetzt als neue Wirtschafts- und Vermögenselite öffentliche Kontur gewannen und wahrgenommen wurden, in der Folgezeit auf einzelne Entscheidungen eingewirkt haben oder nicht, mag offen bleiben. Wichtiger ist, dass sie kollektiv auf den grundsätzlichen Kurs Einfluss nahmen, vor allem in Gestalt massiver medialer und finanzieller Unterstützung Jelzins und seiner Politik. Zu Recht galt die Wahl als Richtungsentscheidung und Abstimmung über das neue Russland. Auch wenn sie daher gute Gründe hatten, sich zu engagieren, waren nicht primär Wirtschaftslenker berufen, solche Hilfe zu leisten, sondern politische Gruppen und die sie tragenden sozialen Kräfte. Es wäre Aufgabe der Zivilgesellschaft gewesen, sich für die Beibehaltung der Demokratie und die Fortsetzung marktwirtschaftlicher Reformen einzusetzen. Eben sie aber war schon zum Opfer des Präsidialregimes geworden. Starke liberale Parteien, die Jelzins Sieg hätten garantieren können, waren nicht entstanden. So spricht manches für die kluge These, dass sich der ungewöhnlich große Einfluss der Oligarchen nicht zuletzt dem Mangel an bürgerlicher Selbstorganisation verdankte. Profiteure des Systemwechsels und Krisengewinnler füllten eine Lücke, die der Schwund der Zivilgesellschaft hinterließ.[20]
Tabelle 64: Präsidentschaftswahlen in der Russischen Föderation 1996–2012
Name |
% der Stimmen |
B. N. Jelzin |
35,3 |
G. A. Zjuganov |
32,0 |
A. I. Lebed |
14,5 |
G. A. Javlinskij |
7,3 |
V. V. Žirinovskij |
5,7 |
Stichwahl |
|
B. N. Jelzin |
53,8 |
G. A. Zjuganov |
40,3 |
gegen alle |
4,8 |
Wahlberechtigte |
108,4 Mio. |
Wahlbeteiligung |
69,8 % |
Name |
% der Stimmen |
---|---|
V. V. Putin |
52,9 |
G. A. Zjuganov |
29,2 |
G. A. Javlinskij |
5,8 |
Wahlberechtigte |
108 Mio. |
Wahlbeteiligung |
68,7 % |
Name |
% der Stimmen |
---|---|
V. V. Putin |
71,3 |
N. M. Charitonov (KPRF) |
13,7 |
S. Ju. Glaz’ev (Heimat) |
4,1 |
I. M. Chakamada (Union rechter Kräfte*) |
3,8 |
Wahlberechtigte |
108 Mio. |
Wahlbeteiligung |
64,3 % |
* wirtschaftsliberale Partei
Name |
% der Stimmen |
---|---|
D. A. Medvedev |
70,1 |
G. A. Zjuganov |
17,7 |
V. V. Žirinovskij |
9,3 |
Wahlberechtigte |
107,2 Mio. |
Wahlbeteiligung |
69,7 % |
Name |
% der Stimmen |
---|---|
V. V. Putin |
63,6 |
G. I. Zjuganov |
17,2 |
V. V. Žirinovskij |
6,2 |
M. D. Prochorov |
8,0 |
Wahlberechtigte |
108 Mio. |
Wahlbeteiligung |
65,3 % |
Quelle: Black, Johns, Russia After 2012, 222-224; White, Understanding, 93, 96 f., 100, ergänzt durch Informationen aus dem russischen Internet.
Seit 2012 beträgt die Amtszeit des Präsidenten sechs Jahre. Kandidaten mit weniger Stimmen wurden nicht in die Tabelle aufgenommen.
Ob Jelzin solche Hilfe nötig hatte, wird sich nie feststellen lassen. Dass er sie gut gebrauchen konnte, lässt sich am Ergebnis des ersten Wahlgangs vom 16. Juni 1996 ablesen (Tab. 64). Der Amtsinhaber erhielt nur 3,3 % mehr Stimmen als der KP-Chef Zjuganov. Bei 108,4 Mio. Wahlberechtigten machten sie zwar 3,6 Mio. aus, aber komfortabel war dieser Vorsprung nicht. Auf dem dritten Platz folgte mit 14,5 % der Stimmen der populäre General und Dumaabgeordnete A. I. Lebed. Der Liberale Javlinskij erhielt mit 7,3 % zwar mehr Stimmen als seine Partei bei den Dumawahlen ein halbes Jahr zuvor, konnte das demokratische Wählerreservoir aber nicht nennenswert erweitern. Immerhin verwies er den radikalen Nationalisten Žirinovskij auf den fünften Platz der aussichtsreichen Kandidaten (Gorbačev erhielt nur 0,51 %). Verfassungskonform musste eine Stichwahl entscheiden. Dabei kam alles, wie stets in vergleichbaren Fällen, auf Wahlbündnisse an, um für den zweiten Durchgang eine Stimmenmehrheit zu sichern. In dieser Situation reagierte Jelzin in der Tat sehr schnell – weil er sie schon vorweggenommen und bereits vor der ersten Wahl (!) eine entsprechende Absprache getroffen hatte. «Binnen weniger Tage» traf er sich mit dem drittplatzierten Lebed und zog ihn durch das Angebot, die Leitung des präsidentialen Sicherheitsrats mit besonderer Zuständigkeit für die öffentliche Ordnung zu übernehmen, auf seine Seite. Damit war Zjuganov, den naturgemäß tiefe Gräben sowohl von den Liberalen als auch von der nationalistischen Rechten trennten, isoliert. Mit Lebeds Hilfe erreichte Jelzin dann im zweiten Wahlgang Mitte Juli die angestrebte deutliche Mehrheit von 53,8 % der Stimmen, während sein Rivale nur 40,3 % erhielt. Das nichtkommunistische Russland und die westliche Welt atmeten auf. Die Jungen und die Städter in den industrialisierten Regionen des Zentrums um Moskau und Sankt Petersburg, des Ural und Sibiriens hatten sich gegen die Älteren und eher auf dem Lande Siedelnden im «roten Gürtel» des Südens durchgesetzt. Sie bestätigten die Transformation als solche und gaben Jelzin eine Chance, sie gegen nationalkommunistische Nostalgie fortzusetzen. Ob die Wähler anders votiert hätten, wenn sie gewusst hätten, dass ihr Kandidat kurz zuvor seinen vierten Herzinfarkt erlitten hatte und dem Amt laut Warnung seiner Ärzte physisch nicht mehr gewachsen sein würde, wird sich nicht mehr klären lassen. Jelzin und seine Umgebung glaubten jedenfalls, der Nation diese Wahrheit nicht zumuten zu sollen, und erklärten sein Abtauchen mit einer Grippe.[21]
Nach seiner zweiten Inauguration am Ende der ersten Augustwoche machte sich der wiedergewählte Präsident umgehend daran, den kostspieligsten und kräftezehrendsten Konflikt, der noch aus seiner ersten Amtszeit überhing, zu lösen: den Krieg gegen die Čečenische Republik, die im November 1991 ihre Unabhängigkeit verkündet und damit nicht nur der zerfallenden Sowjetunion den Rücken gekehrt hatte, sondern auch der Russischen Föderation. Anfang Dezember 1994 hatte die russische Führung gemeint, ein Exempel statuieren zu müssen, als sie der Armee den Marschbefehl erteilte. Damit tat sie eben das, was Gorbačev nicht gewagt und vermutlich auch nicht ernsthaft erwogen hatte. Der grausam geführte Krieg Goliaths gegen David entpuppte sich jedoch bald als ähnliche Katastrophe wie das Afghanistan-Abenteuer. Jelzin unterschätzte (gleich vielen russischen Befehlsgewaltigen seit zweihundert Jahren) den Widerstand der Čečenen ebenso erheblich, wie er die Leistungs- und Leidensfähigkeit des eigenen jungen Staates überschätzte. Die vermeintlich kurze Disziplinierungsaktion verwandelte sich in einen partisanenähnlichen Dauerkrieg, der immer belastender und unpopulärer wurde. Schon im Wahlkampf hatte Jelzin eine entschiedene Friedensinitiative angekündigt und war schließlich werbewirksam, unter Missachtung des Risikos, selber nach Groznyj geflogen. Diesem Versprechen folgten nach der Wahl Taten, zumal auf der Hand lag, dass der wiedergewählte Präsident alle Kräfte auf die inneren Probleme konzentrieren musste. Schon am 11. August schickte er seinen neuen Mitstreiter Lebed als Sonderbeauftragten nach Groznyj; und bereits am 30. wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der auf die faktische Anerkennung Čečeniens in Gestalt einer weitgehenden Selbstverwaltung und die Zusage zu finanzieller Hilfe beim Wiederaufbau des Landes hinauslief. Mithin war der Preis hoch, den Jelzin für Frieden und den Verzicht auf die förmliche Loslösung von Russland zu zahlen bereit war. Der endgültige Vertrag wurde am 12. Mai 1997, dreieinhalb Jahre nach Beginn dieses ersten Čečenienkriegs, unterzeichnet.[22] Zu dieser Zeit spielte Lebed in der neuen Regierung längst keine Rolle mehr. Sein Ehrgeiz, seine Umtriebigkeit und sein undiplomatisches Verhalten führten rasch zu einer Entfremdung, die Jelzin auf seine abrupte und herrische Art klärte: Mitte Oktober, nach nur vier Monaten ihrer Allianz, entließ er seinen Sicherheitsberater wieder.
Im Übrigen hatte die August-Zeremonie jedem Sehenden gezeigt, was den «Herbst des Präsidenten» prägen würde. Jelzin brachte den Eid und eine kurze Ansprache in sechzehn Minuten hinter sich und musste sich dann vor Schwäche zurückziehen. Im Spätsommer wurde klar, dass eine durchaus risikoreiche Bypass-Operation nötig war. Diese fand Anfang November statt. Danach brauchte der Präsident lange, um wieder zu Kräften zu kommen. Aber seine Gesundheit blieb fragil. Auch in der Öffentlichkeit häuften sich Versprecher, Aussetzer und Peinlichkeiten, etwa wenn er Schweden und Finnland verwechselte oder bei einem Essen im Vatikan seine unsterbliche Verehrung für die italienischen Frauen erklärte. Der mehrheitlich oppositionellen Duma mangelte es nicht an Gelegenheiten, ihm Amtsunfähigkeit vorzuwerfen und seinen Rücktritt zu fordern.
Dies war umso eher der Fall, als Jelzin bei der Lösung der inneren Probleme nicht vorankam. Zum Teil scheiterte er am Widerstand der Duma, die ihm Steine in den Weg legte, wo immer dies möglich war. Eine engere Bindung der Altersrenten an die Lebensarbeitszeit und deren Ertrag kam nicht zustande, weil die Regierung das Gesetz nach langer Diskussion im Parlament zurückzog, um einer Ablehnung vorzubeugen. Und ein Gesetzeskompromiss über den weiteren Abbau von Hindernissen für die private Landwirtschaft fiel schließlich doch durch, weil eine einzige, aber entscheidende Stimme fehlte. Andere, noch wichtigere Reformen gelangten auch ohne oppositionelle Blockade nicht über erste Anfänge hinaus. So kündigte Jelzin dem Parlament und der Öffentlichkeit mehrfach einen grundlegenden Umbau der Staatsverwaltung an. Dopplungen und Leerlauf sollten beseitigt, die Hierarchie gestärkt und Leistung in den Vordergrund gestellt werden. Um solchen Funktionsmängeln – die dem Kenner der russischen Geschichte sehr vertraut sind – beizukommen, machte der Präsident schon im Juli 1996 einen seiner loyalsten Gefolgsleute zum Chef der Kreml-Verwaltung. Aber auch Čubajs bewirkte wenig; offenbar wehrte sich die alte Garde aus der Kampfzeit gegen die kollabierende Sowjetunion effektvoll. Im März 1997 folgte ihm der Journalist V. B. Jumašev, der Jelzin seit der Wiederwahl im Umgang mit der Presse beriet. Doch auch er brachte wenig zustande; die mehrfach versprochene Fundamentalreform der hohen Bürokratie blieb aus. Stattdessen näherte sich Jumašev dem engeren Kreis um den Präsidenten an, zu dem nun auch, formell als «Image-Beraterin» eingestellt, Jelzins Tochter Tat’jana D’jačenko stieß (die beiden heirateten 2001). Die «Familie», durchaus in Anspielung auf die Cosa nostra so genannt, wurde zum Gegenstand öffentlichen Raunens und publizistischer Kritik.
Der landläufigen Meinung zufolge gehörte auch Berezovskij als Repräsentant der neureichen Milliardäre zu dieser Koterie. Glaubt man jedoch der besten Jelzin-Biographie, sind Zweifel an diesem vom umtriebigen Oligarchen selber maßgeblich geprägten Bild angebracht. Denn im Sommer 1997 fand die letzte Versteigerung eines Großkonzerns, des Telekommunikationsunternehmens Svjazinvest’, statt, bei dem der andere Medienzar, V. A. Gusinskij, leer ausging. Den Zuschlag erhielt der Bankier V. O. Potanin, der schon die Wiederwahl Jelzins tatkräftig unterstützt hatte und dafür mit dem Amt des ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten belohnt worden war (aber schnell wieder ausschied). Offenbar setzte sich Berezovskij bei Jelzin und der «Familie» für Gusinskij, der 1995/96 nicht zum Zuge gekommen war, ein. Nur erreichte er nichts; der Präsident weigerte sich, die Versteigerung neu aufzurollen. Die Rache der Fernsehmächtigen folgte umgehend, indem sie Jelzins Gefolgsmann Čubajs in ihren Kanälen der Korruption anklagten; Čubajs musste als Finanzminister zurücktreten. Manches spricht daher in der Tat für die These, dass Berezovskij in Wirklichkeit kaum oder gar keinen Einfluss auf Jelzin hatte, und mehr noch: dass das Einvernehmen zwischen dem Präsidenten und den Oligarchen, soweit es nach seiner Wiederwahl bestand, spätestens an der Svjazinvest-Affäre zerbrach. Jelzin war viel zu machtbewusst und zu sanguinisch in seinen Entscheidungen, um sich ‹führen› zu lassen.[23]
Bei alledem blieben auch Erfolge bei der Bewältigung des zweiten und hauptsächlichen Problems der inneren Entwicklung des neuen Staates aus: der wirtschaftlichen Genesung. Es überraschte niemanden, dass der Niedergang der letzten Perestrojka-Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fortdauerte. Dies war umso unausweichlicher, als vom alten Plansystem kein Quäntchen mehr übrig bleiben sollte, aber die institutionellen Pfeiler der neuen marktwirtschaftlichen Ordnung noch fehlten. Fraglos kam die Privatisierung des Staatseigentums als deren wichtigste Grundlage trotz und mit all ihren Mängeln schnell voran, und auch nichtstaatliche Banken, private Börsen und ein Aktienmarkt als weitere zentrale Strukturelemente entstanden in recht kurzer Zeit. Wirtschaftshistoriker attestieren dem neuen russischen Staat, schon um die Mitte des Jahrzehnts «erhebliche Fortschritte» auf dem neuen Weg erzielt und am Ende der Dekade über ein Finanzsystem verfügt zu haben, das die erforderlichen Mittel «nach Marktkriterien» aufbrachte und verteilte.[24]
Nur eines ließ auf sich warten: neues Wachstum. Die Hoffnung trog, die unvermeidbare Übergangskrise durch einen radikalen Schnitt schnell durchschreiten und von den neu geweckten Kräften der Konkurrenz und Innovation profitieren zu können. Zwar zeigte die Kurve des Bruttoinlandsprodukts nach dem tiefsten Fall von 1991 auf 1992 seit 1993 – mit einem Rückschritt 1994 – durchaus wieder nach oben; aber sie bewegte sich immer noch im negativen Bereich. Lediglich 1997 war ein kleines Plus zu verzeichnen (vgl. Diagramm 9).