Doch auch die übrigen Mitglieder investierten ihre Kräfte nicht unbedingt in die Gemeinwirtschaft. Die Erfindung des trudoden’ öffnete dem Missbrauch Tür und Tor. In mancher Hinsicht konkretisierte sich die vielleicht entscheidende Schwäche der gesamten zentralen Planwirtschaft in dieser Verrechnungsart: die einseitige Prämierung der Quantität zu Lasten der Qualität. Für den materiellen Ertrag war die Größe der gepflügten Fläche, die Masse des gedroschenen Getreides, die Menge der gemolkenen Milch ausschlaggebend, nicht die Sorgfalt der ausgeführten Arbeit. Zwar bemühte man sich, wenigstens unterschiedliche Schwierigkeitsgrade und Qualifikationsanforderungen in die Bewertung einzubeziehen. Die Vermutung erscheint jedoch begründet, dass solche Vorschriften (etwa im Musterstatut von 1935) die Realität nicht wesentlich berührten. Schon weil viele Hände beteiligt waren, ließ sich kaum feststellen, was der Einzelne genau getan und wer seine Aufgaben akkurat erfüllt hatte. Das Entlohnungssystem forderte nachgerade dazu heraus, auf möglichst bequeme Weise möglichst viele Tagewerke gutgeschrieben zu erhalten.

Aber nicht nur Schlamperei und Täuschung waren programmiert, auch zeitlich-saisonale Sparsamkeit beim Einsatz eigener Ressourcen gehörte zu den ungeschriebenen Regeln der Kollektivwirtschaft. Da eine Ertragsausschüttung erst in der Erntezeit möglich war und es ohnehin oft bei den ‹Vorauszahlungen› blieb, machten die kolchozniki schnell einen wesentlichen Unterschied: zwischen solchen Tagewerken, die man vor dem Dreschen leistete und die konkreten Ertrag brachten, und solchen, die danach geleistet wurden und bloße ‹Striche› blieben. Bei Nässe und beginnender Kälte für nichts zu arbeiten, war höchstens die Sache vereinzelter Idealisten. Ein Interesse am gemeinsamen Erfolg gab es nicht, stattdessen allgegenwärtigen Betrug – vom Landarbeiter am Kolchos, vom Kolchos am Staat. Eine agrarische Wirtschaftsordnung aber, die nicht Leistung stimulierte, sondern Trägheit, war vielleicht in der Lage, das Überleben der Bevölkerung zu sichern; als Fundament beschleunigter Industrialisierung und einer prosperierenden Volkswirtschaft aber taugte sie nicht. Paradoxerweise fand sich der Staat mit diesem Geburtsfehler nicht nur ab, sondern sanktionierte ihn geradezu. Die zentralen Wirtschafts- und Finanzbehörden bemerkten früh, dass der Kolchosertrag bescheiden war und nicht ausreichen würde. Sie behalfen sich, indem sie die Nebenerwerbswirtschaft gleichfalls heranzogen. Auch wenn sie einen leicht höheren Steuersatz forderten, erkannten sie das Privateinkommen dadurch zugleich an. Mehr noch: Weil angesichts hoher staatlicher Abschöpfungen und niedriger Produktivität kaum ein kolchoznik von der Gemeinschaftsarbeit leben konnte, er aber auch einen Teil des Privatertrags an den Fiskus abgeben musste, hatte er ein doppeltes Motiv, seine Anstrengungen auf das Hofland und die eigene Kuh zu konzentrieren. Es war nur konsequent, wenn er seine Aufgaben im Kolchos nachlässig erfüllte, sich aber auf dem eigenen Land und im eigenen Stall anstrengte.

Ein Übriges bewirkten ‹außerökonomische› Faktoren. Weil die Kolchosleiter zugleich Repräsentanten von Partei und Staat waren, fiel es ihnen leicht, sich von Beauftragten in Kommandeure zu verwandeln. Als dann noch die Freizügigkeit durch die Erneuerung des Passzwangs Ende 1932 und weitere Dekrete im März 1933 eingeschränkt wurde, lag es für die Bauern nicht mehr fern, sich an vergangene Zeiten der Unfreiheit erinnert zu fühlen. Sie durften den Kolchos ohne die Zustimmung der Leitung nicht mehr verlassen, mussten Letztere um Pferde bitten, wenn sie ihre privaten Produkte auf dem Markt verkaufen wollten, waren zu Diensten für die Gemeinschaft gezwungen, die sie nicht als ihre eigenen empfanden, und hatten einen erheblichen Anteil sowohl vom eigenen als auch vom kollektiven Ertrag an den Staat abzuführen – wie sollten sie diese Lage nicht als neue Leibeigenschaft empfinden und ähnlich reagieren?[17]

Bleibt die Frage nach der Gesamtbilanz der kollektivierten Landwirtschaft im Vorkriegsjahrzehnt. Vor allem zwei Probleme standen und stehen dabei zur Diskussion: das Versorgungsniveau der städtisch-industriellen Bevölkerung und der Beitrag der neuen Agrarordnung zur Industrialisierung als vermeintlicher Voraussetzung für den Sozialismus. Die Daten über den Umfang der agrarischen Produktion seit Beginn der Zwangskollektivierung sind widersprüchlich; bis in die jüngste Zeit hinein sind Korrekturen und Neuberechnungen vorgenommen worden. Dennoch dürfen die wesentlichen Tendenzen inzwischen als gesichert gelten. An Tabelle 15 ist der starke Produktionsrückgang klar abzulesen, der sowohl bei den Grundnahrungsmitteln als auch bei den wichtigsten Industriepflanzen im Gefolge des gewaltsamen Umbruchs auf dem Dorfe eintrat. Nach wie vor lieferten Getreide und Kartoffeln die große Masse des täglichen Kalorienbedarfs aller sozialen Schichten. Ersatz gab es nicht. Wenn der Ertrag dieser Pflanzen 1931–34, auf die Bevölkerungszahl umgerechnet, um etwa 15 % abnahm, hatte dies angesichts eines niedrigen Ausgangsniveaus dramatische Folgen. Hinzu kam, dass die Verteilungsprobleme wuchsen, weil die Lager und Transportmittel nicht ausreichten und die Handelsnetze zerschnitten waren. Den Verbraucher erreichten mithin noch geringere Mengen an Brot und Kartoffeln, als die Erntestatistik auswies. Auch nach der Konsolidierung der neuen Verhältnisse um die Dekadenmitte trat keine grundlegende Besserung ein. So spricht alles für den Schluss, dass die kollektivierte Landwirtschaft eine Produktion am Rande der Stagnation ermöglichte, aber von der angestrebten Sicherung der Versorgung nicht die Rede sein konnte.[18]

Tabelle 15 

Unter den Ursachen für den Ertragseinbruch zu Beginn der dreißiger Jahre darf ein Umstand besondere Aufmerksamkeit beanspruchen: der Verlust an tierischer Zugkraft. Dabei spielten Verkauf und Schlachtung allem Anschein nach eine geringere Rolle als zumeist angenommen. Zwar ließen die Bauern, die ihrer Enteignung entgegensahen, nichts unversucht, um ihre Tiere zu veräußern. Aber an Ochsen und Pferden bestand außerhalb der Landwirtschaft wenig Bedarf. Dafür waren sie im Kolchos unentbehrlich. Umso eher verwundert, was aus ihnen wurde. Gründungshektik, Widerstand oder Indifferenz der meisten Zwangsvereinten und Futtermangel im Gefolge des allgemeinen Produktionsrückgangs führten schnell dazu, dass sie an Unterversorgung und mangelnder Pflege litten. Von 1929 bis 1935 sank die Zahl der Pferde auf fast die Hälfte (von 23,6 Mio. auf 12,0 Mio.) und die der Ochsen (von denen offensichtlich mehr geschlachtet wurden) auf fast ein Drittel (von 6,1 Mio. auf 2,6 Mio.). Zugleich erhöhte sich der Ausstoß an Traktoren und anderen Landmaschinen nur zögernd. Trotz mancher Fortschritte konnte bis 1933 von Kompensation nicht die Rede sein. Selbst bei der günstigsten Umrechnung maschineller in tierische Leistung (und der Annahme, dass die motorischen Pferdestärken auch tatsächlich zur Verfügung standen) ergibt sich, dass der Gesamtbestand an agrarischer Zugkraft der Jahre 1928–29 erst 1940 wieder erreicht wurde.

Anders als Zugtiere fielen die eigentlichen Nutztiere in erheblichem Maße dem Unwillen der Bauern zum Opfer, ihr Eigentum an den Kolchos abzutreten. Keine Darstellung der Zwangskollektivierung vergisst, auf diese Massenschlachtungen hinzuweisen. So fielen der Bestand an Rindern und Milchkühen von 60,1 Mio. 1928 auf 33,5 Mio. 1933 und die Zahl der Schweine im gleichen Zeitraum von 22,0 Mio. auf 9,9 Mio. Danach setzte ein Ausgleich der Verluste ein, der aber erst im letzten Vorkriegsjahr annähernd abgeschlossen war. Dieser stumme Protest hatte schwerwiegende Folgen für die tierische Nahrungsmittelproduktion. Das Milchaufkommen sank bis 1933 um 40 %, das Gewicht von geschlachtetem Fleisch sogar um 60 %. Danach erholte sich, dem Viehbestand entsprechend, auch die Tierproduktion. Beachtung verdient aber, dass bei Milch und Fleisch 80–85 % des letzten NĖP-Niveaus nicht überschritten wurden, bevor sich um 1939 erneut eine negative Wende abzeichnete (vgl. Tabelle 16).[19]