Zu bedenken ist allerdings, dass bloße Mengenangaben wenig über die tatsächliche Versorgung der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung besagen. Der ausschlaggebende Indikator dafür bleibt die Marktquote in Relation zur demographischen Entwicklung. Sie aber lässt einen bemerkenswerten Zwiespalt erkennen. Trotz erheblicher Ertragseinbußen erhöhte sich die absolute Menge der in den Läden verfügbaren Kartoffeln und Brotwaren deutlich. Der vermarktete Anteil an der Gesamterzeugung stieg im Vorkriegsjahrzehnt bei Getreide von gut 20 % auf beinahe 50 %, bei Kartoffeln von knapp 10 % auf ca. 20 %. Dagegen zeigte die entsprechende Quote für die wichtigen Tierprodukte in den Kollektivierungsjahren eine deutliche Tendenz nach unten. Bei Fleisch und Eiern sank sie auf weniger als 50 % des Standes von 1928/29 und bei Milch auf ca. 70 %, wenngleich sie seit 1935 erneut wuchs. Demnach gelang es dem Staat nach der Unterwerfung des Dorfes durch massiven Einsatz ‹außerökonomischen› Zwangs, bei den pflanzlichen Grundnahrungsmitteln ein größeres Marktaufkommen sicherzustellen. Aber er zahlte dafür den Preis einer hohen Abschöpfung, die zur Hungersnot und dauerhaften Schädigung der ökonomischen Regenerationsfähigkeit auf dem Lande führte. Noch negativer schlug zu Buche, dass die Mehrabgabe nicht ausreichte, um den Anstieg der Stadtbevölkerung zu kompensieren. Nur das Angebot an Kartoffeln hielt mit einer Erhöhung auf das Dreifache Schritt. Ansonsten sank die Menge der wichtigsten Lebensmittel, die den nichtagrarischen Konsumenten pro Kopf zur Verfügung standen. Der ‹Sieg›, den die Staatsmacht erzwang, war teuer erkauft.[20]

Mit dem Problem der Ertragsfähigkeit ist die Frage stets verbunden geblieben, welchen Beitrag zur industriellen Entwicklung die kollektivierte Landwirtschaft leistete. Dabei ist evident, dass der gewaltsame Umbau des Dorfes das ökonomische Ziel kurzfristig auf keinen Fall rechtfertigen konnte. Alles spricht im Gegenteil dafür, dass er der Viehzucht ebenso wie dem Ackerbau die schwersten Schäden seit Menschengedenken zufügte. Infolgedessen brauchte umgekehrt die Agrarwirtschaft finanzielle Hilfe. Erst in dem Maße, in dem die neue Ordnung Gestalt annahm, festigten sich auch die Rahmenbedingungen, unter denen überhaupt an einen Werttransfer zu denken war. Indes bedurfte es dazu noch einer weiteren Voraussetzung: schlechterer Bezahlung landwirtschaftlicher Erzeugnisse durch niedrige Aufkaufpreise. Da der freie Handel weitgehend beseitigt war und die Kolchosen Art und Ausmaß ihres Anbaus an den Planvorgaben orientieren mussten, konnte der Staat vor allem bei Getreide und Industriepflanzen seine Bedingungen diktieren. Er tat dies in der erklärten Absicht, den Vorrang der Industrialisierung zu sichern. Eben damit verursachte er jedoch schon auf kurze Sicht kontraproduktive und auf lange Sicht ruinöse Folgen. Zum einen wurden die Kolchosen durch die dauerhafte Unterbezahlung ihrer Erzeugnisse daran gehindert, die Arbeit angemessen zu entlohnen, die Anbaumethoden zu verbessern oder ertragreicheres Saatgut und Vieh zu kaufen; vielmehr fand umgekehrt eine andauernde, fatale Auszehrung statt. Zum anderen zwang das unzureichende monetäre Ergebnis der Gemeinschaftsarbeit, wie erwähnt, die Kolchosmitglieder dazu, ihre Kräfte auf die eigene Wirtschaft zu konzentrieren. Dies fügte nicht nur dem Kollektiv weiteren Schaden zu, sondern verlagerte den Beitrag der Bauern zur volkswirtschaftlichen Gesamtentwicklung insgesamt ebenfalls auf den Nebenerwerb. Was der Agrarsektor zur industriellen Wertschöpfung beisteuerte, stammte vom Hofland und resultierte in erheblichem Maße aus der Selbstausbeutung der kolchozniki. Letztlich kam auch die sozialistische Wirtschaft, die sich auf den erhofften Rationalisierungseffekt kollektiver Großproduktion stützen sollte, nicht ohne das alte Funktionsprinzip der Familienwirtschaft aus. Daraus ergab sich, dass Partei und Staat, genau besehen, in der neuen Ordnung nicht weniger auf Privatinitiative angewiesen waren als in der NĖP. Was sich vor allem verändert hatte, war lediglich das Ausmaß ihrer Lenkungs- und Repressionsmöglichkeiten, weniger die Art und der Ort der ‹Überschuss›-Produktion.

Auch die Schlussbilanz des Ertrags der Kollektivierung muss deshalb nüchtern ausfallen. Sicher ist unbestreitbar, dass sich die Landwirtschaft bei allen bleibenden Defekten von der schweren Krise erholte, in die sie 1933 gestürzt war. Die bloße Wiederaufnahme von Aussaat und Ernte bedeutete indes keine wirkliche Gesundung. Nur durch die Zulassung des privaten landwirtschaftlichen Nebenerwerbs konnte die Versorgung der Bevölkerung in Verbindung mit massiver Zwangsabschöpfung und bei sinkendem Niveau leidlich gesichert werden. Eine solche Ordnung war in der Lage, den Hunger abzuwehren und den status quo zu sichern. Aber sie konnte ihrer eigentlichen Aufgabe, die forcierte Industrialisierung aktiv und dauerhaft zu unterstützen, nicht gerecht werden. Dazu fehlte ihr die letztlich entscheidende Eigenschaft: innere Dynamik und Innovationsfähigkeit.[21]

Auch diese Einsicht dürfte zu einem abermaligen Umschwung in der Agrarpolitik beigetragen hat. Sicher gab ein neuer ideologischer Purismus im Gefolge des ‹Großen Terrors› den Ausschlag. Aber beide Motive kamen in der Diagnose zusammen, dass die neue Ordnung an erheblichen Effizienzmängeln litt und eine wesentliche Ursache dafür in ihrem Mischcharakter zu suchen war. Zwei Therapiewege boten sich an: entweder das privatwirtschaftliche Element zu stärken oder das kollektive. Die erste Möglichkeit schied nach allem, was die dreißiger Jahre gebracht hatten, aus. Es blieb die zweite, die auf eine konsequentere Umsetzung dessen hinauslief, was die Umwälzung zu Dekadenbeginn angestrebt hatte: eine wirkliche Verstaatlichung und Sowjetisierung.

Entsprechende Maßnahmen wurden seit Mai 1939 ergriffen. Zum einen erhöhte man die Lieferpflichten und Steuern drastisch. In manchen Regionen mussten die Bauern bis zur Hälfte mehr Fleisch an die Aufkäufer abgeben. Zugleich wurden sie mit Nachdruck veranlasst, Vieh zu ungünstigen Konditionen an den Kolchos zu verkaufen, dem nun zwingend vorgeschrieben wurde, eine «Tierfarm» zu betreiben. Im September folgte eine massive Anhebung auch der monetären Steuern. Zum anderen ging der Staat verschärft gegen die Reste privater Landnutzung in und außerhalb des Gemeinbesitzes vor. Da manche Einzelhöfe den Kolchosen nur formal angegliedert worden waren, verlangte er nun deren ausnahmslose Beseitigung. Bis zum 1. September 1940 (dem gesetzten Endtermin) traf infolgedessen ca. vier Mio. Menschen in 800.000 Familienbetrieben ein ähnlich brutales Schicksal der Zwangsumsiedlung wie die Kulaken knapp zehn Jahre zuvor. Für noch größere Unruhe sorgte aber eine andere Vorschrift desselben Gesetzes. «Zum Schutz des kollektivierten Landes vor der Verschleuderung», wie sein Titel lautete, wurde darin auch eine Neuvermessung des Hoflandes mit der Begründung angekündigt, dass sich erheblicher Missbrauch eingeschlichen habe. Die Überprüfung fand in der erstaunlich kurzen Zeit der Sommermonate statt und führte zu einer Verkleinerung des Hoflandes um insgesamt 2,5 Mio. Hektar. Auch wenn die eigentlichen kolchozniki (anders als die hauptsächlich betroffenen ‹Einhöfer›) mit 15 % vergleichsweise wenig Eigenland verloren, blieben spürbare Folgen nicht aus. Neben der Produktion von Obst und Gemüse ging vor allem die Viehhaltung zurück, weil das nötige Futter fehlte. Angesichts der gleichzeitigen Nötigung zum unvorteilhaften Verkauf reagierten die Bauern ähnlich wie 1929/30: mit Massenschlachtungen. Die verfügbaren Daten zeigen eine so rapide Abnahme der Tierzahlen, dass der Anteil der ‹kuhlosen› Kolchosmitglieder schon vor Kriegsbeginn auf ein gutes Drittel stieg.[22]

Schließlich gehörten auch Bemühungen um eine strengere Arbeitsdisziplin zur Neuordnung der kollektivierten Landwirtschaft. Der Partei war bewusst, dass die Wurzel des Übels am ehesten im Mangel an Sorgfalt bei allen Tätigkeiten für den Kolchos zu suchen war. Tagewerke, die physische Anstrengungen mit sich brachten, waren nicht eben begehrt. Mehr als ein Fünftel aller erwachsenen und gesunden männlichen Kolchosmitglieder leistete weniger als fünfzig im Jahr. Um lebensnotwendige Arbeiten (Aussaat, Ernte) überhaupt durchführen zu können, gingen die ‹Brigadiere› dazu über, sie höher zu bewerten und mehr trudodni anzuschreiben, als eigentlich vorgesehen waren. Kurzfristigen Zwecken mochte dieses Verfahren dienen, dem System aber fügte es weiteren Schaden zu. Denn die Folge lag auf der Hand: Die Nachfrage konzentrierte sich noch stärker auf die einträglichen «Tagewerke», während andere Arbeiten liegen blieben. Ob die private Nebenwirtschaft dafür, wie Partei und Staat unterstellten, in der Tat hauptsächlich verantwortlich war, weil sie größeren Gewinn versprach, muss offen bleiben. Viele Hände blieben auch deshalb untätig, weil es für sie im Kolchos nichts zu tun gab. In jedem Falle zielte der Versuch der sowjetischen Obrigkeit in die richtige Richtung, die ‹öffentliche› Arbeit durch Anbindung ihrer Entlohnung an das Produktionsergebnis attraktiver zu gestalten. Als Experimentierfeld wurde dabei die Ukraine ausersehen, deren Erster Parteisekretär Chruščev auch als Promotor dieser Reform gelten darf. Das entsprechende Gesetz vom Dezember 1940, das wenig später auf Weißrussland und die Moskauer Region übertragen wurde, sah zusätzlich zur Vergütung nach Tagewerken eine Prämie vor, wenn die spätere Ernte die «mittlere Ertragsnorm» übertraf. In der Fixierung dieser Norm lag freilich auch die Ursache für das Scheitern der guten Absicht. Indem sie sich am Volumen («Speicherernte») orientierte, bürdete sie den Arbeitern faktisch die erheblichen Transport- und Lagerungsverluste auf. Das Quorum wurde selten erreicht und kaum eine Prämie gezahlt. Der Mobilisierungseffekt verpuffte. So blieb es bei der nach unten geneigten Ertragskurve, die durch die Reform hatte korrigiert werden sollen. Seit der Rekordernte von 1937 nahm der Naturalerlös pro Tagewerk und Jahr beständig ab: von durchschnittlich 4 kg Getreide im Ausnahmejahr auf 2,2 kg 1938, 1,8 kg 1939 und 1,6 kg 1940 (vgl. Tabelle 14 oben). Zugleich sank auch das monetäre Entgelt, soweit überhaupt Auszahlungen vorgenommen wurden.[23]

Handel  Planwirtschaft und Zwangskollektivierung entzogen auch dem privaten Handel die Grundlage. Neben Verboten und Sondersteuern sorgten Warenmangel und der Entzug von Transportmitteln dafür, dass er 1931 endgültig verschwunden war. Allerdings kehrte das Regime nicht zum ‹kriegskommunistischen› Versuch zurück, ihn durch naturalen Warentausch zu ersetzen. Stattdessen war man realistisch genug zu sehen, dass auch dem Staat für Produktion und Vertrieb Kosten entstanden, die auszugleichen waren. Daraus ergab sich der Grundgedanke, das Land mit einem Netz staatlicher und quasistaatlicher, von den Kooperativen betriebener Läden zu überziehen, die einerseits die Versorgung sichern, andererseits den privaten Handel überflüssig machen sollten. In den Städten der Sowjetunion gab es 1934 ca. 114.200 solcher Verkaufsstellen, auf den Dörfern 172.000; 1937 betrugen die entsprechenden Zahlen 133.000 und 194.400, mithin insgesamt 327.400 für das ganze Riesenreich. Zugleich verschob sich das Verhältnis zwischen Staats- und Kooperativläden. Der Anteil Letzterer sank auf weniger als ein Drittel; der Staat übernahm den Warenvertrieb unmittelbar. Dabei bemühte er sich, auch diese Errungenschaft des Sozialismus gebührend in Szene zu setzen. Schau-Läden in den Hauptstädten demonstrierten Luxus und Opulenz. In Leningrad wurde die Passaž, Mitte des 19. Jahrhunderts als nobles Einkaufszentrum errichtet, aufwändig restauriert; in Moskau nutzte man die dekorative Üppigkeit des Jugendstils im einstigen Eliseevschen Delikatessengeschäft, um dem Gastronom No 1 ein Ambiente zu verschaffen, das ihn zur Attraktion des ganzen Landes machte. Der neue sozialistische Handel sollte sichtbar ein «kultivierter» sein. Tatsächlich aber ging außerhalb der Vorzeigeläden das Angebot weiter zurück. Immer mehr Stadtbewohner wurden in den ersten Jahren nach dem ‹Bauernkrieg› in öffentlichen Kantinen verpflegt, die per Zuteilung erhielten, was sie brauchten, und preiswerte Essen ausgeben konnten. Wer auf den Kauf von Grundnahrungsmitteln angewiesen war, mochte zwar darüber zufrieden sein, dass die Rationierung Anfang 1935 aufgehoben wurde – nur hatte er deutlich höhere Preise zu zahlen, die sein Budget aufs Äußerste beanspruchten.

Auch in anderer Hinsicht kehrte der Sowjetstaat nicht zu den Konzepten des «Kriegskommunismus» zurück. Aus dem Kompromiss mit den Bauern über das Privatland folgte, dass es einen Ort geben musste, wo sie ihre Erzeugnisse verkaufen konnten: den Kolchosmarkt. Mit seiner Existenz erkannte die neue Ordnung ein weiteres Mal die Durchbrechung ihres leitenden Prinzips an. Dadurch begründete sie ein – in dieser Form neues – mischwirtschaftliches System, das zwar fast alle Produktionsmittel nationalisierte und die ökonomischen Entscheidungen weitestgehend zentralisierte, aber das Geld nicht abschaffte und auch dem Markt gleichsam noch ein Reservat zuwies. Bemerkenswerterweise stellte sich von Anfang an heraus, dass dieser Markt infolge der mangelnden Leistungsfähigkeit der Kolchosen für die Versorgung der Bevölkerung unentbehrlich war. Was laut Ideologie eigentlich nicht existieren sollte, sicherte ihr Überleben. Genau besehen, war kaum eine schlagendere Widerlegung der Funktionsfähigkeit des kollektivistischen Grundprinzips denkbar. Aber statt den Widerspruch aufzuheben, lernten ihre Führer, mit ihm zu leben – um den Preis einer Unaufrichtigkeit, die ihre Glaubwürdigkeit immer weiter untergrub. Scharfsinnige Beobachter konnten überdies schon früh erkennen, welches Prinzip die Oberhand behalten würde. Am Tage nach der Aufhebung der Rationierung zum Jahresbeginn 1935, die das Regime als Erfolg der Kolchosordnung feierte, mussten die Käufer selbst für die billigste Brotsorte doppelt so viel zahlen wie zuvor. Der Effekt war nicht unbeabsichtigt, da auf diese Weise Kaufkraft abgeschöpft und der Inflationsdruck gemindert wurde. Tatsächlich stabilisierten sich die Preise in den folgenden Jahren – aber auf deutlich höherem Niveau. Die staatlichen Preise näherten sich (bei bleibender Differenz) den privaten an. Die Zeche dafür zahlten mit einem Konsum auf «Hungerniveau» eben diejenigen, die besonders zu schützen die Regierung verbal für sich in Anspruch nahm.[24]

Finanzwesen, Steuern und Staatshaushalt Nicht zuletzt musste das gesamte Finanzwesen des Staates an die neue Wirtschaftsform angepasst werden. Ende Januar 1930 wurden alle Gesetze und Anordnungen über das Geld- und Kreditwesen annulliert. An ihre Stelle trat eine neue Gesamtregelung, die im Kern bis 1965 Gültigkeit behielt. Sie vollzog, was nach dem Übergang zur vollständigen Zentralplanung auf der Hand lag: die Beseitigung auch der relativen Autonomie der Banken und einer als unübersichtlich betrachteten Vielfalt der Kredite. Ihr folgte im Mai 1932 eine umfassende Bankreform, die von den unterschiedlichen Typen der Geldinstitute nur vier mit dem dezidierten Zweck übrig ließ, jeweils einen bestimmten Wirtschaftsbereich (Industrie, Landwirtschaft, Genossenschaften, Kommunales und Wohnungsbau) mit langfristigen Krediten zu versehen. Alle Institute bezogen ihr Geld von der Staatsbank, die auf diese Weise zur obersten Hüterin aller Leihgelder wurde.

Bei aller Wichtigkeit konnte allerdings auch sie nicht frei operieren. Zur letztlich entscheidenden Finanzierungsagentur der planwirtschaftlichen Industrialisierung avancierte der Staatshaushalt. Zwar bestand anfangs die Hoffnung, das Wachstum werde sich zu einem erheblichen Teil aus Kostensenkungen und sonstigen Gewinnen gleichsam selber finanzieren. Doch dieser Optimismus verflog schnell. Die ungeheuren Investitionen, die der ‹Aufbau des Sozialismus› verschlang, mussten im Wesentlichen aus dem Staatsbudget entnommen werden. Um den Gesamtetat in die Lage zu versetzen, seiner neuen Aufgabe gerecht zu werden, bedurfte es nicht nur einiger organisatorischer Änderungen, sondern auch einer durchgreifenden Steuerreform. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1930 wurde eine Vielzahl von Einzelsteuern zu wenigen zentralen Abgaben zusammengefasst. Der Staat bezog seine Einnahmen fortan zum allergrößten Teil (60–70 % in den Jahren 1934–39) aus einer Umsatzsteuer, die fast ausschließlich auf Konsumgüter erhoben wurde. Der Verbraucher wurde auf diese Weise durch relativ hohe Aufschläge auf die Herstellungs- und Verteilungskosten qualitativ mäßiger Produkte gezwungen, einen erheblichen Beitrag zum großen Sprung nach vorn leisten. Der hohe Preis hatte dabei noch den weiterhin erwünschten Nebeneffekt, bei der Bekämpfung der kräftigen, vom enormen Investitionsschub angeheizten Inflation zu helfen. Darüber hinaus kassierte der Staat mit zunehmender Entschiedenheit die Differenz zwischen Großhandelspreis und Einzelhandelspreis und zwang auch die Betriebe, ihre Gewinne ohne nennenswerten Rest mit dem Ziel abzuführen, eigenmächtige Investitionen zu unterbinden.

Im Vergleich zu diesen Posten fiel die Einkommenssteuer kaum ins Gewicht. Auch über den tatsächlichen Gewinn neuartiger Anleihen, die seit 1930 aufgelegt und mit wachsendem Nachdruck angeboten wurden, mag man bei einem Anteil von ca. 7 % an den gesamten Aktiva des Staates streiten. Dessen ungeachtet verdienen sie als Symbol Beachtung. In ihnen fand jener organisierte Massenidealismus gleichsam seinen finanztechnischen Ausdruck, den der Stalinismus unter Inanspruchnahme der geballten Kraft von Partei und Staat zu erzeugen wusste. Bauern zeichneten im Durchschnitt pro Jahr Anleihen in der Höhe zweiwöchiger Einkünfte, Arbeiter nicht selten bis zu einem Monatslohn. Faktisch zahlten sie damit eine weitere Steuer. Es war gewiss symptomatisch, dass die Anleihen nach Stalins Tod gesenkt und aus dem Verkehr gezogen wurden. Sie gehörten in ähnlicher Weise zum finanzpolitischen Instrumentarium des Mobilisierungsregimes wie die eigentümliche Funktion und Struktur des Staatshaushalts zum Instrumentarium der Planwirtschaft.[25]

Außenbeziehungen Zum Wesen des ‹sozialistischen Aufbaus in einem Lande› gehörte der Versuch, ihn ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Nicht nur sein Ziel bestand in der Erwartung, sich dadurch endgültig gegen eine kapitalistische Umklammerung wappnen zu können; auch der Weg dorthin sollte bereits in größtmöglicher Unabhängigkeit beschritten werden. In der Tat hat sich eine ökonomische Modernisierung von solchem Ausmaß und Tempo selten so sehr aus eigener Kraft gespeist wie die sowjetische. Auf der anderen Seite gilt auch für sie, dass sie ohne äußere Hilfe in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Der auswärtige Beitrag, der ein ‹westlicher› im alten Sinne blieb, nahm nur eine andere Gestalt an als in den letzten Jahrzehnten der Monarchie.

Zur Zarenzeit war die russische Volkswirtschaft mehr und mehr in den freien internationalen Waren- und Kapitalverkehr hineingewachsen. Die auswärtigen Beziehungen hatten gleichsam die normale Form eines gegenüber den fortgeschrittenen Staaten (damals vor allem Deutschland und Großbritannien) fraglos zurückgebliebenen Landes angenommen: Ausländische Konzerne gründeten (wie Siemens oder die AEG) Tochterfirmen, die moderne Technologie und entsprechendes organisatorisch-administratives Wissen verbreiteten; internationale Banken verfuhren ähnlich und stellten in Verbindung mit verschiedenen staatlichen Aktivitäten (z.B. Anleihen auf ausländischen Kapitalmärkten) Kapital bereit; Russland exportierte seinerseits landwirtschaftliche Erzeugnisse, vor allem Getreide, und natürliche Rohstoffe (Holz, Erdöl u.a.), um den Import von Maschinen und ganzen Produktionsanlagen sowie hochwertigen Industriewaren zu bezahlen. Der Oktoberumsturz und die Gründung eines programmatisch nichtkapitalistischen Staates entzogen dieser Form des Austausches die Grundlage. Das sozialistische Russland und die Sowjetunion verstaatlichten ausländischen Besitz im eigenen Land, annullierten die russischen Auslandsschulden, verfügten ein Außenhandelsmonopol des Staates und hoben damit den freien Grenzverkehr von Gütern und Kapital auf. Zugleich ruinierten Krieg, Bürgerkrieg und Agrarrevolution (vor allem durch die Liquidierung des Großgrundbesitzes) die landwirtschaftliche Produktion in einem Maße, dass Exporte kaum mehr möglich waren. Auch die NĖP vermochte den dramatischen Rückgang trotz einer gewissen Erholung nicht annähernd zu kompensieren. Dennoch, und wie gezeigt auch gerade deshalb, rückte die Industrialisierung in der ökonomischen Agenda des Landes immer weiter nach vorn. Das stählerne Fundament des Sozialismus sollte gelegt werden – ohne Ausfuhrerlöse und ausländisches Kapital mit Hilfe eigener Ressourcen durch zentrale Planung einschließlich des gelenkten und bald erzwungenen Werttransfers aus der Landwirtschaft.

Allerdings zeigte sich schnell, dass die Rechnung nicht aufging. Die Auslandsabhängigkeit und -verschuldung der Sowjetunion stieg im ersten Fünfjahresplan sprunghaft an. Für die ungeheure Anstrengung aus dem Nichts benötigte man Maschinen und Ausrüstungsgegenstände in großem Umfang. Um die steigenden Importe zu decken, verkaufte man Gold in großen Mengen und führte auch Getreide wieder in nennenswertem Umfang aus. Die Anstrengungen konnten aber nicht verhindern, dass die Sowjetunion 1931 das größte Außenhandelsdefizit in ihrer Geschichte verzeichnete. Schlimmer noch: Der befohlene Abzug von Getreide trug darüber hinaus maßgeblich zum Massensterben von 1932/33 bei; das (fälschlicherweise) auf die 1890er Jahre gemünzte Wort vom «Hungerexport» wurde nun grausame Wirklichkeit. Erst mit Beginn des zweiten Fünfjahresplans, als viele Großprojekte zumindest im Rohbau fertiggestellt waren, schwächte sich der Importbedarf ab. Aber er verschwand nicht. Westliches Know-how und technologisch anspruchsvolle, strategische (nicht zuletzt im militärischen Sinne) Güter blieben nach wie vor unentbehrlich. Damit stellte sich im Kern die jahrhundertealte typische Struktur der Außenhandelsgüter wieder her: Wie schon das Zarenreich exportierte die Sowjetunion Nahrungsmittel (bei geringem Getreideanteil) sowie Roh- und Brennstoffe, um dafür hochwertige Produktionsgüter einzutauschen. Dabei nahm das relative Volumen deutlich ab: Am produzierten Nationaleinkommen gemessen, sank die Außenhandelsquote von 1913 = 19,8 % auf 1929 = 6,3 %, 1931 = 7,1 % und 1937 = 0,9 %. Trotz aller Anstrengungen hatte die Sowjetunion keine volle Konkurrenzfähigkeit, geschweige denn Autarkie erreicht, sondern nur eine Abschottung, deren Preis – aktuell und auf Dauer – die Bevölkerung zahlte.[26]

Darüber hinaus lässt die unveränderte Außenhandelsstruktur auch erkennen, worin die Beziehungen letztlich bestanden: in einem anhaltenden und massiven Technologietransfer. Kein Geringerer als Stalin hat dies deutlich gesehen. Im Juni 1944 räumte er gegenüber einem Vertreter des wichtigsten Kriegsverbündeten (W. A. Harriman) ein, dass «zwei Drittel» aller großen Industrieanlagen mit Unterstützung der Vereinigten Staaten errichtet worden seien. Er hätte hinzufügen können, dass das übrige Drittel dank deutscher, englischer und französischer Lieferungen entstand. Gewiss wurde die Hilfe alles andere als effektiv genutzt. Dennoch steht außer Zweifel, dass die ‹kapitalistische› Assistenz nicht nur unverzichtbar war, sondern die außerordentlichen Wachstumsraten überhaupt erst ermöglichte. In dieser Perspektive drängt sich auch eine weitere fundamentale Kontinuität zu den letzten Dekaden der Monarchie auf: Die russische Industrialisierung blieb ein nachholender Prozess, der moderne Technologie aus fortgeschrittenen Ländern ‹borgen› musste. In den meisten Bereichen (den Flugzeugbau am ehesten ausgenommen) erklomm sie gleichsam aus zweiter Hand ein hohes zeitgemäßes Produktivitätsniveau. Zugespitzt gesagt, profitierte sie von den Leistungen des Kapitalismus, den sie durch diese Aneignung zugleich überwinden wollte. Umso mehr spricht für die These, dass das Kernproblem der sozialistischen Industrialisierung nach Fertigstellung der Großprojekte des ersten Fünfjahresplans vor allem darin bestand, die importierte technische Leistungsfähigkeit und Produktivität durch ständige eigene Innovation zu erhalten.[27]

Bevölkerung  Über der Bevölkerungsentwicklung im Vorkriegsjahrzehnt lag bis zur Ära Gorbačevs der Schleier weitgehender Ungewissheit. Bekannt waren die Ergebnisse der Zählungen vom Dezember 1926 und Januar 1939. Das Zutrauen zu Letzteren hielt sich aber in engen Grenzen, da gute Gründe zur Unterstellung kräftiger Retuschen bestanden. Dies war umso eher der Fall, als man seit längerem von einem Zensus wusste, der nur zwei Jahre zuvor veranstaltet worden war, aber offenbar das Missfallen der Obrigkeit erregt hatte. Molotov persönlich hatte die Zählung für nichtig erklärt. Die Organisatoren, hochqualifizierte Ressortleiter in der Statistischen Abteilung im Wirtschaftskommissariat, waren im «Großen Terror» verschwunden, die einschlägigen Dokumente galten als verloren. Erst die Meinungsfreiheit der Glasnost’ hat die Geheimfonds geöffnet und den Sucheifer beflügelt: Die vermissten Daten wurden gefunden und veröffentlicht. Seitdem ruht die demographische Statistik über die dreißiger Jahre auf einem neuen Fundament. Nicht zuletzt die Frage, die dem ungewöhnlichen Interesse an der trockenen Materie seit Jahrzehnten letztlich zugrunde lag: nach der Zahl der Opfer von Zwangskollektivierung (einschließlich der Hungersnot) und Terror, lässt sich damit zumindest genauer beantworten. Allerdings ist zugleich der Hinweis angebracht, dass immer noch viele Fragen offenbleiben.

Da keine Erhebung dieser Art ohne Fehler sein kann, haben Demographen die Irrtumsmarge zu bestimmen versucht und die Ergebnisse entsprechend korrigiert. Demnach können folgende Zahlen als Eckwerte gelten (vgl. Tab. A–1): Die Gesamtbevölkerung des Sowjetreiches betrug Ende 1926.148,5 Mio., Anfang 1937.162,7 Mio. und Anfang 1939 (d.h. in den alten Grenzen vor den Annexionen im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes) 167,3. Was an diesen Daten anstößig war, tritt bei ihrem Vergleich mit vorherigen offiziösen Angaben zutage. Stalin war im Januar 1934 auf dem «Parteitag der Sieger» so unvorsichtig, die demographischen Errungenschaften des Sozialismus bereits für diese Zeit auf 168 Mio. zu beziffern. Und die Statistiker, denen sich die Experten des Gosplan anschlossen, gingen unter Fortschreibung der beim letzten Zensus ermittelten Geburtenrate für Anfang 1937 sogar von einer Schätzgröße von 180,3 Mio. aus. Insofern schien die Erwartung fest begründet, die Wirklichkeit werde die Prognose bestätigen und die neue Ordnung damit beweisen, dass sie auch das Gedeihen der Bevölkerung als fundamentaler Ressource der Volkswirtschaft sicherzustellen wusste. Umso ernüchternder war das Resultat: Die Auswertung der Fragebögen ergab lediglich eine Einwohnerzahl von 156,9 Mio. Zwar fehlten in dieser Summe alle Personen, die dem Verteidigungs- und dem Innenkommissariat unterstanden. Doch auch die «Sonderzählung» in diesen Ressorts führte zu keiner entscheidenden Annäherung an den Sollwert. Die nun erstmals registrierte Größe der Zwangspopulation auf dem «Archipel Gulag» von ca. 2,65 Mio. war gewiss ungeheuer (zumal der «Große Terror» noch bevorstand) und übertraf die des Militärs von ca. 2 Mio. deutlich. Aber das Gesamtergebnis ging über 162 Mio. nicht hinaus. Es blieb eine Diskrepanz, die peinliche Fragen aufwarf. Der jährlichen standesamtlichen Registration zufolge hätte die Bevölkerung mindestens 168,3 Mio. betragen müssen; auch bei dieser Zählweise ergab sich ein Defizit von 6,3 Mio. Selbst wenn man – in Übereinstimmung mit der Erläuterung eines führenden Statistikers an Stalin – bei beiden Erhebungen Fehlerquoten in Rechnung stellte, die sich insgesamt auf 3 Mio. addierten, war das Verschwinden von 3,5 Mio. Menschen zu erklären. Der Beamte log nicht einmal, als er eine Minderregistration von Todesfällen in dieser Größenordnung für die Lücke verantwortlich machte.[1]

Aber natürlich kleidete er einen schrecklichen Tatbestand in euphemistische Worte. Was er meinte, enthüllt eine Zusammenstellung der jährlichen Geburten- und Todesrate, die auf der Basis neuer Archivfunde in mühsamer Abgleichung mit bereits bekannten, fragmentarischen Daten rekonstruiert wurden (Tab. 17, das natürliche Bevölkerungswachstum ergibt sich aus der Differenz der Werte). Sie zeigt, dass der Geburtenüberschuss bereits seit 1929 deutlich – über die langfristige Abnahme hinaus – fiel und auf dem alten Territorium der UdSSR bis zum Krieg trotz Abtreibungsverbot und Familienförderung nicht mehr erreicht wurde. Dazwischen lag eine Periode der Verheerung, die im dramatischen Bevölkerungsrückgang von 1933 gipfelte. Obwohl die Dimension der Todesfälle immer noch umstritten ist, lassen die neuen Daten keinen Zweifel daran, dass die große Masse der ‹zusätzlichen Toten› der erwähnten Hungersnot im zentralen Landwirtschaftsgürtel und in Kazachstan zuzuschreiben war. Dagegen spiegelten sich die Gewaltexzesse von 1937–38 in der natürlichen Bevölkerungsentwicklung nicht unmittelbar.[2]