Tabelle 18: Sozial- und Beschäftigungsstruktur der Bevölkerung 1937 (in Mio)

Enorme Beschleunigung bei grundsätzlicher Kontinuität kennzeichnete auch die Entwicklung der beruflichen und sozialen Gliederung der Sowjetgesellschaft in der ersten Hälfte der Stalin-Ära. Dabei fällt vor allem der starke absolute und relative Zuwachs der Arbeiterschaft ins Auge. Sowohl der Zensus von 1937 (vgl. Tab. 18) als auch der von 1939 (vgl. Tab. A–3/1) zeigen deutlich, dass der eigentliche Schub nach der letzten Zählung und der Abkehr von der NĖP einsetzte. Noch 1928 war die entsprechende Kennziffer der späten Zarenzeit nicht erreicht worden; 1937 belief sie sich mit 31,0 % auf mehr als das Doppelte. Ähnliches galt für die Angestellten. Zwar lag deren Anteil an der Gesamtzahl aller Beschäftigten auch um 1927/28 bereits deutlich über der Maßzahl von 1913. Aber der sprunghafte Wandel vollzog sich auch hier erst in den dreißiger Jahren von 5,2 % auf 14,8 % 1937 und ca. 16,7 % 1939. Damit korrelierend verlor die Landwirtschaft als Einkommensquelle für die Bevölkerung an Bedeutung. Gegen Ende der NĖP waren noch drei Viertel aller Einwohner im Agrarsektor tätig, 1937 nur noch – wenn man die «Einzelbauern» hinzurechnet – 51,2 % und den offiziellen Daten zufolge 1939 sogar noch weniger. Ebenfalls kaum fielen die übrigen Gruppen, darunter Empfänger staatlicher Hilfen (Pensionäre, Studenten usw.) mit 1,2 % und Angehörige freier Berufe (Künstler u.a.) ins Gewicht. Nicht zuletzt diese Veränderung der sozialen Stratifikation legt die Deutung nahe, dass der ‹sozialistische Aufbau› eine Industrialisierungs- und Modernisierungsstrategie war, die einen partiell ähnlichen Strukturwandel mit anderen Mitteln bewirkte.

Arbeiter An Versuchen, den «großartigen Aufmarsch» des Sowjetproletariats in den dreißiger Jahren durch Zahlen zu veranschaulichen, hat es nicht gefehlt. Allerdings bleibt in besonderem Maße unklar, wer und was genau unter den einzelnen Rubriken zusammengefasst wurde. Andererseits steht die grundlegende Tendenz außer Frage. Insofern sollten die Daten eher als Indikator für Relationen denn als zuverlässige absolute Größen gewertet werden. Nach Maßgabe eines sehr weiten Begriffs hat man für «Arbeiter aller Bereiche der Volkswirtschaft» unter Einschluss von Lehrlingen und Wach- und Schutzpersonal folgende Datenreihe errechnet: 1928 8,7 Mio., 1932 17,8 Mio., 1937 20,6 Mio. und 1940 23,7 Mio. Nur ein Teil davon kann nach den üblichen Maßstäben als Industriearbeiter gelten. Auch für diese Schlüsselgruppe des sozialistischen Aufbaus ergibt sich aber (ebenfalls auf der Grundlage sowjetischer Quellen) eine ähnliche Kurve: 1928 3,12 Mio., 1932 6,01 Mio., 1937 7,92 Mio. und 1940 8,29 Mio. Mithin hielt die Zunahme der Lohnabhängigen außerhalb der Amtsstuben und Büros auch über den ersten Fünfjahresplan hinaus an; insgesamt stieg ihre Zahl bis zum deutschen Überfall auf knapp das Dreifache. Zugleich zeigen die Angaben, dass das Tempo nachließ. Der zweite Fünfjahresplan sah nur noch einen Zuwachs von 47 % vor; man erreichte gerade 32 %. Der dritte Plan veranschlagte 17 %, von denen in den drei abgeschlossenen Jahren 1938–40 4,6 % realisiert wurden. 1939 verzeichnete man sogar eine absolute Schmälerung des ‹Proletariats› von über 3 %, die wahrscheinlich mit der starken Ausweitung der Armee zusammenhing. Auch diese Verlangsamung entsprach dem Gesamtcharakter der beiden Planperioden: Dem stürmischen Aufbruch folgte das Bemühen um Konsolidierung. Zugleich verminderte sich die Kluft zwischen Schwer- und Leichtindustrie. Nach wie vor strömten 1933–1937 die meisten Neulinge in die Metall- und Elektroindustrie (ca. 46 %); aber die Textil- und Nahrungsmittelindustrie folgten mit geringerem Abstand als zuvor.[8]

Klarer ist die Herkunft der Arbeiter. Nach wie vor blieb die Bauernschaft das mit Abstand größte Reservoir. Offiziellen Angaben zufolge kamen während der zweiten Planperiode 1,4 Mio. Neulinge aus den Fabrikschulen, 1 Mio. aus den Städten und ca. 2,5 Mio. vom Land. Da auch die Zöglinge der Fabrikschulen zur Hälfte aus dem Dorf stammten, ergibt sich der Schluss, dass etwa 60 % der frischgebackenen ‹Proletarier› den Pflug gegen den Hammer eingetauscht hatten. Für die letzten Vorkriegsjahre stehen keine vergleichbaren Daten zur Verfügung. Schätzungen belaufen sich auf einen bäuerlichen Anteil von 40 %. Dies wäre angesichts des geringen absoluten Wachstums noch deutlich weniger gewesen als die 3,3 Mio. Esser, die der Gosplan im Juli 1938 auf dem Dorf für entbehrlich hielt. So spricht alles dafür, dass der typische sowjetische Industriearbeiter auch am Ende des beispiellosen Umbruchs sein dörfliches Gesicht noch bewahrt hatte.[9]

Allerdings hatte diese Entwicklung eine besondere Pointe: Das Gesicht nahm zunehmend weibliche Züge an. Zweifellos hat der wachsende Anteil von Frauen neben der ‹Verbäuerlichung› als weiteres charakteristisches Merkmal des Strukturwandels der Arbeiterschaft in diesem Jahrzehnt zu gelten. Im zweiten Planjahrfünft war die Hälfte aller Neurekrutierten weiblich. 1937 überschritt ihr Anteil das Niveau des Ersten Weltkriegs von 40 % und stieg zwischen 1929 und 1939 insgesamt von ca. 29 % auf 43,3 %. Hinzu kam ein weiteres, neues und auffälliges Merkmal: Frauen drangen auch in klassische Männerberufe vor. Sie waren nicht mehr nur in der Textil- und Nahrungsmittelindustrie zu finden, sondern immer häufiger auch auf Baustellen, an Bahndämmen und anderen Arbeitsplätzen, wo schwere körperliche Anstrengungen gefordert waren. Selbst in der Kohle- und Stahlindustrie stellten sie 1939 jede vierte Arbeitskraft, in der Metall- und Holzindustrie 31,7 bzw. 43,9 %. Sicher war der Segen dieser Entwicklung, die bis zum Untergang der Sowjetunion sichtbar war und jedem westlichen Besucher auffiel, zwiespältig. Der sozialistische Aufbau der dreißiger Jahre brauchte mehr Arbeitskräfte, als das Dorf kurzfristig abgeben konnte. Frauen hatten außerdem den Vorteil, bereits häufiger und länger als Männer in der Stadt gelebt zu haben und (beides in ihrer traditionellen Rolle als Ehefrauen) weniger mobil zu sein. Zugleich wurden sie durch die wachsende Not gezwungen, eine Arbeit anzunehmen, um der Familie ein zweites Einkommen zu sichern. Die forcierte planwirtschaftliche Industrialisierung setzte damit einen Prozess in Gang, der die Geschlechterrollen und den Alltag vielleicht tiefgreifender veränderte als alle kulturrevolutionären Aktivitäten der Frühzeit. Die Sowjetunion wurde zum Pionier der Gleichberechtigung hinsichtlich der Einbeziehung der Frauen in das Erwerbsleben (schon nicht mehr hinsichtlich der Löhne); aber zumindest unter den Industrie- bzw. industriellen Schwellenländern wurde sie auch zum Pionier der weiblichen Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt.[10]

Keiner Erläuterung bedarf der weitere Befund, dass die Migranten in aller Regel jung waren. Wie eh und je wechselten vor allem diejenigen Dorfbewohner in Fabriken, die das Leben noch vor sich hatten. Das galt gerade auch für die neu in den Beruf eintretenden Frauen. Neben ihrer stärkeren Stadtgewöhnung zeichneten sie sich vor allem durch ihre Jugend aus. Dennoch brachte es die Verlangsamung der Industrialisierung mit Beginn des zweiten Planjahrfünfts mit sich, dass die Arbeiterschaft im Durchschnitt ‹alterte›. Der Anteil der unter 23-Jährigen fiel in der RSFSR zwischen Juli 1932 und Juli 1936 von 35,7 % auf 29,3 %. In den neuen Großbetrieben wie den Automobilwerken von Nižnij Novgorod oder dem Traktorenwerk von Čeljabinsk setzte dieser Vorgang naturgemäß zögernder ein. Aber die Tendenz steht außer Zweifel. Ende 1939 waren nur noch 17 % aller Arbeiter der Großindustrie jünger als 25 Jahre. Damit ging, als positiver Aspekt ein und derselben Veränderung, die Zunahme von Arbeitserfahrung, gemessen an der Dauer einschlägiger Tätigkeiten, einher. Der Anteil von Arbeitern mit weniger als einjähriger Praxis ging bis 1934 auf 10 % zurück und blieb bis zum Kriegsausbruch auf diesem Niveau. Zugleich nahm der Anteil derjenigen, die länger als fünf Jahre an ihrem oder einem vergleichbaren Platz gestanden hatten, auf 58 % im Durchschnitt der Jahre 1935–40 zu. Nach den Turbulenzen des ‹großen Sprungs› setzte auch in der Arbeiterschaft eine Phase der Konsolidierung ein. Aus den Bauern, die zu den zahlreichen Großbaustellen des Riesenreiches geströmt waren, formte sich eine neue Schicht, die erste, eigentliche sowjetische Arbeiterschaft. Jung, mobil, agrarisch und mit einem hohen weiblichen Anteil, insgesamt qualifizierter als ihre Vorgänger, anspruchslos und im Kern loyal, besaßen die neuen ‹Proletarier› nicht nur selber ein eigenes Profil, sondern prägten angesichts der ungeheuren Karrierechancen, die sich ihr eröffneten, auch die ökonomisch-politische Elite des Staates. Ob bewusst oder nicht, in ihren arrivierten Teilen wurden sie auch für mindestens zwei Jahrzehnte zur wichtigsten Stütze des Stalinismus.[11]

Nicht minder tief waren die Spuren, die der aufkommende Stalinismus in den materiellen Daseins- und den Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen hinterließ. Zwar kam der rapide Niedergang auch in dieser Hinsicht 1934 zum Stehen, aber er dauerte in verlangsamter Form an. Die erwähnten Umstände der lautstark gefeierten Aufhebung der Rationierung zum Jahresbeginn 1935 waren bezeichnend: Zwar konnten Brot und andere Grundnahrungsmittel wieder in unbegrenzter Menge gekauft werden, aber zu deutlich höheren Preisen. Faktisch dauerte die Zuteilung noch ein ganzes Jahr an, und auch ‹Defizite› blieben an der Tagesordnung. Das Versorgungsniveau der späten NĖP-Jahre wurde bis zum Kriegsausbruch nicht wieder erreicht. Dieser anhaltende Verfall war beispielhaft an den Löhnen abzulesen, die mit einem Anteil von etwa 80 % das Fundament der Familienbudgets bildeten. Eine sowjetische Berechnung für Moskauer Industriearbeiter kommt der Wirklichkeit wahrscheinlich sehr nahe: Demnach war zwischen 1928 und 1932 eine Einbuße von 47 % und zwischen 1928 und 1937 von 36,5 % zu verzeichnen. Westliche Kalkulationen schwanken zwischen folgenden Minimal- und Maximalwerten: bei den offiziellen Einzelhandelspreisen in Moskau für 1937 zwischen einem Index (1928 jeweils = 100) von 752 bis 1014, für 1940 von 993 bis 1442; bei den städtischen Lebenshaltungskosten in der gesamten Sowjetunion für 1937 von 478 bis 801, für 1940 von 679 bis 1265; und bei den realen Jahresbruttolöhnen für 1937 von 43 bis 85 sowie für 1940 von 53 bis 80 (vgl. Tab. 19).