1928 |
1937 |
1940 |
1948 |
1952 |
1954 |
|
offizielle Einzelhandelspreise Moskau Chapman, Preise von 1937 Chapman, Preise des jeweiligen Jahres Prokopovicz, Preise von 1928 Jasny, Preise von 1925/26 Zaleski |
100 100 100 100 100 |
752 890 837 1014 930 |
993 1113 1385 1320 1442 |
2617 2768 – 3056 3060 |
1484 1620 – – 1851 |
1263 1406 – – 1591 |
städt. Lebenshaltungskosten UdSSR Chapman, Preise von 1937 Chapman, Preise des jeweiligen Jahres Jasny, Preise von 1925/26 Zaleski |
100 100 100 100 |
478 699 550 801 |
697 951 1100 1265 |
1565 2056 2200 2435 |
1053 1413 – 1658 |
900 1245 – 1434 |
Bruttorealjahreslohn Chapman, Formel 7 oder 11 Chapman, Formel 8 oder 12 Prokopovicz Jasny |
100 100 100 100 |
85 58 43 58 |
80 57 36 53 |
59 45 – 44 |
102 75 – – |
124 89 – – |
Quelle: Chapman, Real Wages, 153, Fundorte dort
Anzufügen ist freilich, dass ein gewisser Ausgleich durch häufigere Zweiteinkünfte eintrat. Das Verhältnis zwischen Abhängigen und Verdienern veränderte sich zwischen 1927 und 1935 von 2,26 auf 1,59. Jeder Verdienende ernährte mithin nach dem großen Umbruch eine ‹dreiviertel Person› weniger. Darin spiegelte sich vor allem die Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit. Ehefrauen und Mütter mussten in wachsender Zahl mitverdienen, um die Familie angesichts sinkender Reallöhne ernähren zu können. Vor diesem Hintergrund hatte Stalins vielfach ironisierter, im November 1935 vor der frisch gekürten Arbeiterelite der Nation gesprochener Satz, das «Leben» sei «besser» und «fröhlicher» geworden, trotz der materiellen Erholung, auf die er anspielte, auch für viele normale – vom Terror (noch) nicht betroffene – Bürger einen höchst ambivalenten, ja zynischen Beiklang.[12]
Wo die Kaufkraft angesichts rasanter Teuerung und Nahrungsmittelknappheit fiel, blieben auch andere Gegenstände des alltäglichen Bedarfs aus. Kleidung war knapp und miserabel. Die einschlägigen Erzeugnisse standen in Russland von jeher nicht eben im Ruf besonderer Qualität. Aber es hatte ausreichend Filzstiefel, grobe Leinenhemden oder Schafspelze als Produkte des dörflichen Nebengewerbes gegeben. Der Widerruf der NĖP setzte dieser alten und lebenswichtigen Tradition ebenfalls ein abruptes Ende. Als der Privathandel liquidiert und das Kleingewerbe wieder staatlicher Regie unterworfen wurde, verloren die Kustarniki ihre Märkte. Viele von ihnen ließen sich vom enormen Sog der Industrialisierung forttragen und verdingten sich auf Baustellen und in Fabriken. Zugleich konzentrierten die Planer fast alle Ressourcen auf die Schwerindustrie und ‹infrastrukturelle› Großbauten. So konnte es kaum ausbleiben, dass Arbeiter in Lumpen gingen und sich glücklich schätzten, wenn sie Hemden und Schuhe mit starken Gebrauchsspuren ergattert hatten. Der zweite Fünfjahresplan korrigierte die Benachteiligung der Konsumgüterindustrie faktisch nur unwesentlich. Darüber hinaus kam es schon deshalb zu keiner durchgreifenden Besserung, weil das Kustargewerbe nicht wieder aufgerichtet und in kurzer Zeit kein Ersatz durch maschinelle Produktion in den Fabriken geschaffen werden konnte.[13]
Besonders schlimm stand es nach wie vor um die Wohnsituation. Zwar versprachen die Fünfjahrespläne Abhilfe. Ein umfassendes Bauprogramm sollte nicht nur den erhöhten Bedarf decken, den die rapide Urbanisierung verursachte, sondern auch die pro Person verfügbare Fläche erweitern. Doch die hochfliegenden Pläne erwiesen sich als leeres Versprechen. Auch im Vergleich zu 1932 schrumpfte der Wohnraum pro Kopf der Bevölkerung (nicht nur der Arbeiter) weiter von 4,66 m2 bis 1937 (in diesem Jahr allerdings nur auf die Städte bezogen) auf bloße 3,77 m2. Molotov hatte alle Ursache, auf dem 18. Parteitag im März 1939 gravierende Versäumnisse einzugestehen, auch wenn die korrektiven Anstrengungen des dritten Fünfjahresplans danach eine gewisse Wirkung gezeitigt zu haben scheinen (1940 = 4,15 m2 pro städtischem Einwohner). Gravierender aber schlug zu Buche, dass diese Durchschnittswerte noch schlimmere Zustände verbargen, unter denen kleinere, aber kaum marginale Gruppen zu leiden hatten. Von Magnitogorsk berichtete ein vielzitierter amerikanischer Augenzeuge noch für 1937/38, dass 15 % der Beschäftigten in Apartments, 8 % in Bauernhäusern, 2 % in Hotels und großzügigen Wohnungen, aber 50 % in Baracken und 25 % in Erdhütten an Hügelabhängen lebten. Nicht überraschend fehlten hier Küchen und sanitäre Einrichtungen, die eine solche Bezeichnung verdienten, weitgehend. Aber auch in den größeren Städten war es darum mehr als schlecht bestellt. Angesichts der Enge ‹wohnten› viele Familien auf Korridoren und in Kellern, die für eine derartige Nutzung nicht vorgesehen waren. Ein amerikanischer Besucher fand seine Freunde in einem Mietshaus, in dem sich fünfzehn Familien eine Küche und ein Bad teilten. Soweit sie wenigstens über einen separaten Raum verfügten, ging es ihnen dennoch besser als der Mehrzahl der Arbeiter und einfachen Leute. Vor allem in fabrikeigenen Baracken und Schlafsälen mussten auch Familien mit Ecken und Durchgängen vorliebnehmen. Von Privatheit konnte nicht die Rede sein. Dass auch die Hygiene im Argen lag, ergibt sich von selbst. Ungeziefer gehörte zur Grundausstattung; auch ein Volkskommissar gestand die Allgegenwart von Wanzen in Gestalt einer Mängelrüge ein. Viel schlechter als russische Arbeiter konnte man in der halbwegs zivilisierten Welt der dreißiger Jahre kaum hausen.[14]
Angesichts solcher Verhältnisse drängt sich erneut die Frage auf, warum die Betroffenen nicht offen protestierten. Die Allgegenwart des NKVD und die Indoktrination der Partei bilden nur einen Teil der Erklärung. Sicher wird man auch die extreme Einfachheit der Lebensverhältnisse zu bedenken haben, aus denen die meisten bäuerlichen Arbeiter kamen. Im Vergleich zum Dorf lebten viele alles in allem in den Städten immer noch besser. Betriebskantinen, die kostenlose Verteilung von Berufskleidung, der Doppelverdienst und andere Hilfen mehr sorgten für die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse auf einfachstem Niveau. Arbeiter litten in der Regel keinen Hunger. Auch der Glaube an eine bessere Zukunft, den die Alltags- und «Bewusstseins»geschichte betont, mag eine Rolle gespielt haben. Das neue, das «Sowjetproletariat» duldete und fügte sich – aus Gewohnheit, aus Not, aus Angst und aus Überzeugung.[15]
Im planwirtschaftlichen System und in einer Gesellschaft, die immer tiefer von der Monopolpartei durchdrungen wurde, waren schon diese äußeren Lebensumstände der Arbeiter weitestgehend Folgen zentraler Entscheidungen. Erst recht galt dies für die unmittelbaren, gesetzlich oder administrativ angeordneten öffentlichen Regelungen des Arbeitslebens, von der Arbeitszeit über die Lohnstruktur bis zu den Arbeitsbedingungen. Bei Verschiedenheit im Einzelnen unterlagen sie im Ganzen einem ähnlichen Wandel: Nach Konzessionen und Vergünstigungen gegen Ende der NĖP, die im Siebenstundentag ihren symbolischen Ausdruck fanden, sahen sich die Arbeiter wachsenden Einschränkungen und Repressionen ausgesetzt. Dieser Wandel begann im Wetteifer um die ehrgeizigsten Ziele des sozialistischen Aufbaus. Stalin selbst markierte in der erwähnten Rede vor Betriebsleitern im Juni 1931 die Wegzeichen für die neue Richtung. Was er vorgab, blieb für die gesamte Vorkriegszeit und darüber hinaus verbindlich. Partei und Staat sorgten in der Tat für eine «neue Art» zu arbeiten – freilich hatte diese den Nachteil, alle Versprechungen über die soziale (und materielle) Befreiung des Proletariats noch eklatanter als zuvor Lügen zu strafen.[16]
Eine der ersten dauerhaften Maßnahmen im neuen Geist sorgte für die Wiederbelebung materieller Anreize und die Erweiterung der Spannweite zwischen den Lohngruppen. Zwar hatten Akkordlohn, Taylorismus und NOT schon während der NĖP die egalitären Tendenzen des Kriegskommunismus weitgehend aufgehoben. Aber die Renaissance klassenkämpferischer Parolen hatte auch in dieser Hinsicht eine Kehrtwende eingeleitet. Mit Beginn der Planwirtschaft war eine Tarifreform durchgeführt worden, die eine Angleichung der Verdienste vollzog. Der Abstand zwischen der höchsten und der niedrigsten Bezahlung der Arbeitskraft wurde auf das 2,8-Fache beschränkt. Insofern knüpfte das sozialistische Aufbauprogramm anfangs tatsächlich an die Versprechen der Revolution an. Schon die ersten Resultate des ehrgeizigen Sprungs gaben jedoch Anlass zur abermaligen Korrektur. Als wichtigstes Motiv kann durchaus gelten, was Stalin selbst nannte: das Bemühen um Eindämmung der Fluktuation in den Betrieben. Die Einsicht brach sich Bahn, dass Enthusiasmus für die Sache als Stimulus nicht ausreichte. Breite Identifikation sollte erneut und ganz und gar unsozialistisch durch bessere Bezahlung und sonstige materielle Privilegierung erzeugt werden. Dementsprechend wurden im September und Oktober 1931 zunächst für die Schwerindustrie neue Tarife verfügt. Dabei prämierte man zum einen Akkordarbeit und erweiterte zum anderen die Spannweite zwischen Minimal- und Maximallöhnen in der jeweiligen Vergütungsform. Bei vergrößerter Zahl auch der Lohngruppen (acht bis elf) schwankte der Abstand zwischen einem Verhältnis von 1: 3,3 bis zu 1: 5,5.
Freilich erwies sich die Ausgestaltung der Progression im Akkordsystem als schwierig, weil sie die Fixierung einer Norm voraussetzte. Letztlich schuf man ein Mischsystem, das in Übereinstimmung mit dem Plangedanken von der Erfüllung eines Grundquantums ausging und die Vergütung von Mehrleistung erst danach in gestaffelter Form vorsah. Auf diese Weise avancierte die Festlegung dessen, was als Orientierungsgröße (Norm) gelten konnte, zu einem Schlüsselvorgang. Da die jeweilige technische Ausstattung sowie branchen- und betriebstypische Besonderheiten zu berücksichtigen waren, wurden dafür eigene Kommissionen eingesetzt, die nach 1932 unter die Kontrolle der Betriebsleitungen und -belegschaften gerieten. Durchaus entgegen dem Grundgedanken zentraler Planung, aber in Konkordanz mit der Praxis sicherten sich Basisorganisationen der Einzelunternehmen, darunter nicht zuletzt die Gewerkschafts- und Parteizellen sowie das Management, einen erheblichen Einfluss auf die Normbestimmung und das Lohnniveau. Hinzu kam, dass die allgemeine Vorgabe offenließ, ob sich die Bezahlung an der individuellen oder einer kollektiven Leistung bemessen sollte. Viele Belegschaften votierten, in Anknüpfung an die bäuerliche Tradition des Artel, aber auch aus Furcht vor einer abermaligen Werterevision und einer neuen ‹Entkulakisierung›, für den leichter zu handhabenden und zu schützenden Kollektivmaßstab. Ein Übriges bewirkte die Art und Weise, wie die Unternehmensführung die Einhaltung der Normen durchsetzte. Genau besehen, konnte keiner der entscheidenden Akteure ein starkes materielles Interesse an einer hohen oder auch nur realistischen Norm haben: die Arbeiter nicht, weil sie sich selbst ausbeuteten, die Betriebsleitung nicht, weil sie hohe Prämien zahlen musste und die Maschinen – bei geringen Aussichten auf Ersatz – einem noch größeren Verschleiß unterworfen wurden. Gegen diese Allianz vermochte das übergeordnete Anliegen, das im Prinzip Partei und Behörden vertraten (wenn sie es denn taten), wenig auszurichten. Die Wirklichkeit der zentral gelenkten Wirtschaft sah gerade mit Blick auf Normen, Löhne und Prämien oft anders aus als auf dem Papier: Sie wurde letztlich weitgehend dezentral vor Ort bestimmt.[17]
Materielle Anreize sollten indes nicht nur die ausgeprägte Neigung der Beschäftigten dämpfen, sich durch den Wechsel der Anstellung Vorteile zu verschaffen. In gleichem Maße zielten sie auf ein weiteres gravierendes Übel: den Mangel an Disziplin und Qualität der Arbeit. Kaum ein anderes Problem hat so sehr im Vordergrund der obrigkeitlichen Aufmerksamkeit gestanden, kaum ein anderes so viele Regelungen verursacht wie dieses. Von den ‹Produktionsschlachten›, die der Sozialismus – «entwickelt» oder nicht – zeit seines Lebens auszufechten hatte, galten die weitaus meisten ihm. Dabei richteten sie sich in den dreißiger Jahren vor allem gegen zwei Aspekte des Ärgernisses: die Sorglosigkeit im Umgang mit Maschinen sowie das Fehlen ohne triftigen Grund. Ob beide, wie meist behauptet, tatsächlich insofern miteinander verbunden waren, als sie überwiegend dieselbe Gruppe, die frisch rekrutierten bäuerlichen Arbeiter, betrafen und derselben Mentalität, der mangelnden Gewöhnung der Dorfbewohner an die Gleichförmigkeit des industriellen Arbeitsprozesses, entsprangen, muss offen bleiben. Die statistischen Daten sind weder zuverlässig noch eindeutig. Sie lassen sich auch so verstehen, dass die durchschnittlichen unentschuldigten Fehlzeiten im Jahr während der ersten Planperiode zurückgingen, obwohl der Anteil der neuen Arbeiter vom Lande erheblich zunahm.[18]
Fest steht dagegen, dass die entsprechende Kampagne bereits Ende 1928 begann. Zu dieser Zeit nahm eine Kommission des Russischen VSNCh ihre Untersuchungen auf, die den Ursachen der hohen Produktionskosten auf die Spur kommen sollte. Sie stieß an vorderster Stelle auf Defizite der Arbeitskraft und verwies erstmals auf den Zusammenhang mit der bäuerlichen Zuwanderung. Gesetzliche Maßnahmen gegen diesen ‹Schlendrian› verdichteten sich zu drei Zeitpunkten: in der ersten Jahreshälfte 1929, gegen Ende des ersten Planjahrfünfts 1932/33 und 1938 samt Ergänzungen in den letzten beiden Vorkriegsjahren. Die ersten Dekrete begnügten sich mit der Erlaubnis, Arbeiter bei schweren Verstößen gegen die Unternehmensdisziplin fristlos zu entlassen. Offenbar reichten sie aber nicht aus. Viele Arbeiter kehrten weiterhin zur Saat- und Erntezeit oder den großen Festtagen in ihre Heimatdörfer zurück. Diese Ordnungswidrigkeit war gang und gäbe und wurde toleriert. Die Obrigkeit sah sich deshalb zu größerer Strenge veranlasst. Mitte November 1932 änderte man den entsprechenden Passus des Arbeitsrechts aus dem Jahre 1922. Fortan galt schon eine eintägige Abwesenheit oder eventuell sogar eine geringfügige Verspätung nicht nur als hinreichende Begründung, sondern sogar als zwingende Ursache für eine sofortige Kündigung. Das Management durfte nicht nur, sondern musste in dieser Weise verfahren. Mehr noch, es sollte den Gemaßregelten auch die Rationierungskarten entziehen, die sie durch den Betrieb erhielten, und sie gegebenenfalls aus der unternehmenseigenen Wohnung entfernen. Wenn man sich außerdem daran erinnert, dass im Dezember desselben Jahres die Freizügigkeit durch die Erneuerung des Passzwangs aufgehoben wurde, addieren sich diese Maßnahmen zu einem Paket, das die Kennzeichnung «drakonisch» verdient. Der vorläufige Verzicht auf die Einführung eines Arbeitsbuchs, über die lange Zeit nachgedacht worden war, änderte wenig daran.
Allerdings zeigt ein genauerer Blick auf die Wirklichkeit, dass auch diese Bestimmungen oft tote Buchstaben blieben. Die Betriebsleiter zögerten, sie anzuwenden. Bei älteren Arbeitern, die keine Aussicht auf eine andere Stelle hatten, oder kinderreichen, deren Familien im beklemmenden Wortsinn auf die Straße gesetzt worden wären, dürfte Mitgefühl im Spiel gewesen sein. Vor allem aber war es für das Management nachteilig und bald sogar gefährlich, Arbeiter zu verlieren. Zu Beginn des großen Spurts herrschte akuter Mangel an qualifizierten Kräften, so dass mit Ersatz nicht sofort zu rechnen war. Als die Knappheit nachließ, schwebten Argwohn und Willkür des diktatorischen Überwachungsstaates gerade über den Köpfen der Unternehmensleitungen. Es war ungut, aufzufallen. Auch die offiziellen statistischen Daten lassen Raum zur Deutung. Sie zeigen zwar, dass die Häufigkeit unentschuldigter Abwesenheit vom Arbeitsplatz mit Beginn des zweiten Planjahrfünfts erheblich zurückging. Zugleich weisen sie jedoch eine gleichbleibende Quote von Fehlzeiten insgesamt aus. Dies legt zwei Vermutungen nahe: dass zum einen manches unentschuldigte Fernbleiben einfach als entschuldigt registriert wurde und zum anderen die Zahl der wirklichen Krankheitsfälle aus verschiedenen Gründen zunahm, vorrangig weil die Ernährung schlecht, die Behausung erbärmlich und die physische Belastung groß waren. So könnte der Versuch der Disziplinierung mit obrigkeitsstaatlichen Mitteln nicht nur unterlaufen worden sein, sondern sich auch insofern gerächt haben, als die erzwungene höhere Arbeitsleistung Ausfälle anderer Art nach sich zog. In jedem Falle besserte sich der Umgang mit den Maschinen und Apparaten nicht merklich. Nach wie vor war der Verschleiß so groß, dass auch vorsätzliche Fahrlässigkeit und bewusste Sabotage als Ursachen zu unterstellen sind. Wo Arbeit unwillig und ohne angemessenen Ertrag geleistet wurde, waren nicht nur Ausschussproduktion und ‹stiller Betrug› durch vorenthaltenen Einsatz, sondern auch bewusste Beschädigungen und Zerstörungen programmiert.
So nimmt es nicht wunder, dass Partei und Staat abermals Anlass zum Handeln sahen. Im Dezember 1938, als sich der Mangel an Fachkräften und Managern durch den «Großen Terror» weiter zugespitzt hatte, wurde jede Verspätung um mehr als zwanzig Minuten zur Abwesenheit erklärt und mit sofortiger Entlassung samt Entzug aller vom Arbeitsplatz abhängenden Vergünstigungen geahndet. Betriebsleitern, die Milde walten ließen, drohte das Gesetz formal mit gerichtlicher Verfolgung und faktisch mit Deportation. Zugleich führte man nun das Arbeitsbuch zur Kontrolle des Wohlverhaltens und der Mobilität ein. Im Juni 1940 folgte die Anordnung, nicht nur jeden Fehltag, sondern auch jede eigenmächtige Kündigung mit einem Lohnabzug in Höhe eines Viertels oder mit Einweisung in ein Arbeitslager bis zu vier Monaten zu bestrafen. Beide Bestimmungen dekretierten freilich nur, was ohnehin der Fall war. Einen Arbeitsmarkt und die freie Wahl des Arbeitsplatzes gab es längst nicht mehr; und die Geheimpolizei intervenierte auch ohne gesetzliche Grundlage nach Gutdünken. Dies mag dazu beigetragen haben, dass die neuerliche Verschärfung des Disziplinarrechts realiter ebenso wenig bewirkte wie frühere Vorschriften. Immer noch kurierte man am Symptom. Die Wurzel des Übels lag woanders – im System. Das aber blieb unverändert.[19]
Die sozialistische Industrialisierung verband sich aufs engste mit der Stachanov-Bewegung. Was der bald gefeierte Bergmann auf den Weg brachte, als er während der Nachtschicht vom 30. auf den 31. August 1935.102 t aus dem Stollen einer Zeche im Donecbecken hieb und die Norm damit zu 1457 % erfüllte, gehörte zum Wesen des Stalinismus. Nicht allein die staatlich gelenkte Propaganda verschaffte seiner Tat eine Popularität, die in zahllosen neuen Wortschöpfungen zum Ausdruck kam. Von der Stachanov-«Arbeit» über -Turbinen, -Züge, -Schulen, -Universitäten, -Tage und -Wochen bis zum -Geist, -Gruß, -Hurra und -Dank war der frisch kreierte Held als Symbol des Aufbruchs, der neuen Moral und der neuen Zeit im Alltagshorizont der einfachen Leute nahezu allgegenwärtig. Darüber hinaus spricht vieles dafür, dass diese rasche Breitenwirkung auch auf echter Begeisterung beruhte. So gesehen, erscheint die Stachanovščina als Aspekt jener plebiszitären Zustimmung, ohne die der Stalinismus ebenso wenig zu denken ist wie der Nationalsozialismus. Zugleich steht außer Frage, dass sie bald dysfunktionale Wirkungen entfaltete. Dabei beschränkte sich dieser Effekt nicht auf die Wirtschaft. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie keine bloß ökonomische und soziale, sondern in eminenter Weise auch eine politische Bewegung war.[20]
Allerdings ist unstrittig, dass sie als industrielle Kampagne begann. Zu Beginn des zweiten Fünfjahresplans war offensichtlich, dass der erste Ansturm auf den Sozialismus vieles aus dem Boden gestampft und ein riesiges Potential gleichsam in Rohform erschlossen hatte, es aber an annähernd effektiver Nutzung fehlte. Die Stachanovščina sollte dazu beitragen, vor allem den Produktionsfaktor Arbeit wirkungsvoller einzusetzen. Mit gutem Grund ist sie daher als weiterer Versuch zur Rationalisierung und Neuauflage des «sozialistischen Wettbewerbs» aus dem Jahre 1929 verstanden worden. In diesem Sinne entfaltete sie sich mit dem Rückenwind von Partei, Staat und Presse. Ausgehend vom Kohlebergbau, der Eisenverhüttung und der Metallindustrie griff sie auf fast alle bedeutenden Branchen über. Offiziellen Angaben zufolge gebührte der Schuhindustrie, der Erdölgewinnung und der Elektrizitätswirtschaft im Herbst 1935 die Ehre, mit 14,8–15,9 % aller Arbeiter die meisten stachanovcy zu stellen. Allerdings bleiben die Erhebungskriterien unklar. Manches deutet darauf hin, dass durchaus großzügig verfahren wurde. Die Elitekandidaten mussten zwar Rekorde aufstellen, aber wie sie zu ihren Erfolgen kamen, blieb oft außer Betracht. Schon Stachanov konnte sich nur so tief in den Berg einhauen, weil fleißige Helfer Kohle und Schutt wegräumten und den Streb sicherten. Zudem disqualifizierte selbst eine Ausschussproduktion von 50 % nicht für den Titel eines Helden des Fünfjahresplans. Andere Angaben, die unter knapp 461.000 Arbeitern in 51 ausgewählten Industriebetrieben ebenfalls im Herbst 1935 nur 23.300 oder 5,1 % Stachanovisten ausweisen, verdienen daher dieselbe Aufmerksamkeit. Ebenfalls plausibel erscheinen Schätzungen von 3–4 % sowohl in der Industrie als auch im Bau- und Transportwesen. Insofern ist es fraglich, ob die Stachanovščina tatsächlich, wie Stalin lobte, gleich einem Wirbelsturm durch die Industrie fegte. Aber eine breite Bewegung, die Millionen von Anhängern mobilisierte, war sie zweifellos.[21]
Indes zeigte sich bald, dass der Plan einer Rechnung mit vielen Unbekannten glich. In mancher Hinsicht litt er an einem inneren Widerspruch, der sich kaum auflösen ließ. Die Stachanovščina sollte, um ihren Zweck erfüllen zu können, einerseits eine Massenbewegung sein, andererseits Sinn für übergeordnete Prioritäten beweisen. Sie sollte dynamisch und innovativ, zugleich maßvoll und pragmatisch sein. Die Plenarversammlung des ZK, die der Kampagne im Dezember 1935 endgültig den Segen erteilte, scherte sich um solche Zielkonflikte nicht. Sie beschränkte sie ausdrücklich auf die Aufgabe, die «Arbeitsorganisation» zu rationalisieren und die vermeintlichen Fesseln antiquierter Verfahren und verknöcherter Strukturen zu sprengen. Viele Betriebsleiter sahen dies aber schon zu dieser Zeit anders. Sie befürchteten Widerstand gegen die Normübererfüllung, die den Stachanovisten vom normalen Arbeiter unterschied. Und sie mochten auch bereits sich selbst und alle «alten» Ingenieure am Pranger stehen sehen.
So ließ der Protest nicht lange auf sich warten. Er ging von beiden Hauptgruppen in den Unternehmen aus. Dass die höheren Angestellten und Manager, die den Produktionsablauf planten und die Normen festlegten, von der Kampagne nicht begeistert waren, versteht sich von selbst. Sie wurden den «Bürokraten» zugerechnet und zum bevorzugten Objekt von Kritik und Spott erkoren. Die Bewegung setzte die Annahme geradezu voraus, dass sie ihre Aufgaben vernachlässigt und unverbesserliche Inkompetenz an den Tag gelegt hätten. Gleiches galt für die Ingenieure und Techniker, die seit den frühen Tagen der NĖP mit der «wissenschaftlichen Arbeitsorganisation» befasst waren. Die Auflösung der NOT in dieser Zeit war nur folgerichtig – bewiesen die Stachanovcy anscheinend doch, dass die aufwendig berechneten Maßzahlen nur Leerlauf hervorbrachten. Aber auch ein erheblicher Teil der Arbeiterschaft betrachtete die Bewegung mit tiefer Skepsis. Stachanovisten wurden bevorzugt behandelt. Sie erhielten deutlich höhere Löhne und eine Fülle sonstiger Privilegien (Wohnung, Nahrungsmittel u.a.). Sie bildeten eine Elite, an der demonstriert wurde, dass sich Leistung wieder lohnte. Dementsprechend galt umgekehrt: Wer nicht mithalten konnte oder wollte, stand mit leeren Händen da. Die Stachanovščina vertiefte die Gräben in der Arbeiterschaft und förderte Konflikte. Zugleich verfehlte sie, diejenigen anzuziehen, die von ihr auf den ersten Blick hätten profitieren können. Auch die Facharbeiter hielten sich fern. Sie fühlten sich nicht nur zurückgesetzt, viele dachten auch voraus und warnten die übereifrigen Rekordjäger vor den Folgen ihres Tuns: Man werde, zum Nachteil aller, die Normen erhöhen und die physische Auslaugung beschleunigen.
Sehr bald wurde ferner offenbar, dass die Kampagne auch wirtschaftlich nicht nur erfolglos blieb, sondern auf nahezu allen Gebieten schwere Verwerfungen hervorrief. Technisch führte der Wettbewerb um die größte Fördermenge oder Stückzahl zu einer außerordentlichen Beanspruchung der Ausrüstung. Da die Bestleistungen nur durch vermehrten Arbeitseinsatz, längere Nutzungszeiten und ein schnelleres Tempo erreicht wurden, nicht aber durch raffinierteres Know-how und erhöhte Investitionen in das ‹fixe Kapital›, nahmen beide, Mensch und Maschine, Schaden. Ohnehin war der Verschleiß erheblich. Nun kam eine verbissene Anstrengung hinzu, der die viel geschundene und schlecht gewartete Ausrüstung erst recht nicht gewachsen war. Was für den Produktionsfaktor Arbeit galt, traf auch bei Apparaten und Werkzeugen zu: Kurzfristig war eine durchaus bemerkenswerte Verbesserung des Produktionsergebnisses möglich, aber nicht auf Dauer. Die Kampagne litt gerade ökonomisch an fehlender Weitsicht. Zu diesem Mangel gehörte auch der Umstand, dass der Wettstreit den Gesichtspunkt der Qualität noch weiter in den Hintergrund schob. Man produzierte mehr denn je, aber so viel Ausschuss, dass der Gewinn fraglich wurde: Messer, die sich beim leichtesten Druck verbogen, Staubsauger, die Staub aufwirbelten, statt ihn aufzunehmen, und Traktoren ohne Auspuffrohre.
Nicht minder schwerwiegend waren die sozialen Folgen der Stachanovščina. Die materielle Bevorzugung der ‹Bestarbeiter› verursachte nicht nur böses Blut, sie brachte auch die vorgesehene Verteilung der monetären und naturalen Prämien durcheinander. Zum Teil zehrte sie den Lohnfonds weitgehend auf, ohne über die Rekorde hinaus einen annähernd verhältnismäßigen Ertrag hervorzurufen. Prestige und Propaganda triumphierten über den Plan. Mit dem Tarifgefüge verfiel die Moral der anderen Arbeiter. Wer mit ansah, wie Normen aufgrund demonstrativer, oft auf höchst zweifelhafte Weise erzielter Übererfüllung erhöht wurden, hatte wenig Anlass, sich weiter anzustrengen. Und wer registrierte, dass Konformismus auch ohne Leistung belohnt wurde, mochte sich darauf seinen eigenen Reim machen. Ferner waren die Sicherheits- und Hygienevorrichtungen am Arbeitsplatz noch schnellerer Zerrüttung als ohnehin ausgesetzt. Wo allein messbare Höchstleistungen zählten, geriet auch diese Vorsorge für den Erhalt der Arbeitskraft in Vergessenheit. Nicht nur die Wohn- und sonstigen Lebensbedingungen, auch die Verhältnisse am Arbeitsplatz selbst spotteten in wachsendem Maße allem, was die staatsoffizielle Ideologie verkündete.[22]
Umso eher stellt sich die Frage, warum die Stachanovščina nicht ebenso schnell wieder beendet wurde, wie sie lanciert worden war. Sie läuft auf das Kernproblem der Gesamterscheinung hinaus: Nutzen und Funktion einer staatlich inszenierten Kampagne verständlich zu machen, die offensichtlich schon nach kurzer Zeit nicht mehr im Gewinn an wirtschaftlicher Produktivität gesehen werden konnten. Zur Klärung kann ein Vergleich mit der ‹Stoßarbeiterbewegung› von 1929/30 nützlich sein, der folgende Unterschiede verdeutlicht:
Der ökonomische Enthusiasmus der frühen Planjahre wurde von der Parteijugend wirkungsvoll unterstützt und wandte sich vor allem an die städtischen Arbeiter. Die Stachanov-Bewegung warb in erster Linie um die große Masse der neu rekrutierten bäuerlichen Arbeiter. Sie appellierte nicht nur an die Aufstiegsmotivation, sondern auch an die Vision der sozialen Verschmelzung zu einer neuen, sozialistischen Arbeiterklasse.
Die Stachanovščina richtete sich ausdrücklich gegen ‹Bürokraten› und starre Vorschriften. Sie besaß, wenn auch wohldosiert, eine sozialrevolutionäre, gegen das ‹Establishment› gerichtete Komponente. Das hinderte sie nicht daran, zugleich autoritätsorientiert zu sein. Sicher lebte auch der «sozialistische Wettbewerb» von plebiszitärer Dynamik; aber er richtete sich gegen die ‹kapitalistische Verunreinigung› des echten Sozialismus durch die NĖP.
Die frühe Plankampagne machte sich zum Anwalt der weiteren ‹Verwissenschaftlichung der Arbeitsorganisation›. Sie begrüßte den Import westlicher Technik und Produktionsmethoden. Die Stachanovščina wollte die Leistungsfähigkeit eben dieser Verfahren widerlegen. In gewisser Weise bemühte sie sich, NOT und Taylorismus durch bodenständig-bäuerliche Kraft und sozialistischen Idealismus mit zunehmend patriotischer Einfärbung zu ersetzen.[23]
Schon diese Unterschiede verweisen nicht nur auf unterschiedliche Kontexte. Sie enthalten auch Indizien für einen anderen, allgemeineren Charakter der Stachanovščina. Als Stachanov seinen Rekord aufstellte, war Stalin auf dem ersten Höhepunkt seiner Macht angelangt. Zugleich hatte der Elan ‹seiner› Aktivisten an Kraft verloren. So wie die Verfassungskampagne und der beginnende Terror ein Moment der demagogischen Instrumentalisierung der Basis gegen die etablierten Funktionsträger enthielten, so gehörte auch der plebiszitäre Appell an den Konsens breiter Schichten zum Stalinismus, der nun endgültig Gestalt annahm. Die Trotzkische Interpretation dieser Diktatur als ‹bürokratische Herrschaft› spitzte ein Merkmal höchst einseitig zu. Zwar stützte sich Stalin vor allem auf den Gehorsam der Partei und der von ihr kontrollierten staatlichen Behörden, die er mit Ausschlüssen und Säuberungen zu willigen Erfüllungsgehilfen machte. Aber zugleich warb er um die Zustimmung der Bevölkerung insgesamt, weil ihm die Loyalität der Institutionen nicht ausreichen konnte und er wie jeder Diktator eigenaktives Engagement einer Mehrheit brauchte. Auch Stalin suchte sich zum charismatischen «Führer» aller ‹Sowjetmenschen› aufzubauen. Schon vor dem Kriege begann ein integrativer, an emotionale Identifikation appellierender und daher massenkompatibler Patriotismus den intellektorientierten Sozialismus als ideologischen Kitt der Diktatur zu ‹unterwandern›. Ein «Führer» aber bedurfte einer Gefolgschaft und der Personenkult des Jubels.
Vieles spricht dafür, dass die Stachanovščina ihren Platz auch in diesem Kontext hatte. Die Bewegung erfreute sich von Anfang an Stalins ungeteilten Zuspruchs; sie war seine Schöpfung. Ihre Adepten bekannten sich zu ihm und seiner demiurgischen Rolle in Gegenwart und Zukunft. So gesehen war es kein Zufall, dass sie mehrheitlich anfangs kein Parteibuch besaßen. Der typische Stachanovec war ein nicht organisierter Bauernsohn aus kleinen Verhältnissen, der es durch harten Einsatz und treue Anhänglichkeit an den Führer zum Helden der Arbeit und Mitglied einer sozialen Elite gebracht hatte. Er verehrte Stalin, aber nicht unbedingt den Apparat, auf den sich der Diktator stützte. Vor allem aber misstraute er den Wirtschaftsbürokraten, auch wenn sie samt und sonders mit Hilfe der Partei in ihre Funktionen gelangt waren. Dazu passte der irrationale Grundzug der Bewegung. Ob man sie als Mutante traditionalen bäuerlichen Wunderglaubens oder als bloße Empfänglichkeit für Charisma (im Sinne M. Webers) betrachtet – zweifellos kam den unglaublichen Taten Stachanovs ein Stück jener «außeralltäglichen» Übermenschlichkeit zu, die dem Sagenhaften stets zugeschrieben wurde. Stalin pflegte diese Wirkung samt der akklamatorischen Kraft, die von ihr ausging. In dieser Sicht liegen nicht nur Parallelen der Stachanovščina zum nationalsozialistischen Führerkult zutage, sondern auch Verbindungen zu einer Konzeption totaler Herrschaft, die deren besondere Qualität im unbürokratischen und unregelhaften Charakter sieht. Stalin stützte sich auf den Apparat, hielt diesen aber zugleich durch den gezielten Terror des NKVD und unabhängige, auf ihn persönlich fixierte Bewegungen in Schach.
Offen bleibt dabei, warum er so lange zögerte, die Kampagne trotz deutlicher Indizien für ihre wachsende ökonomische Dysfunktionalität zu beenden. Anzeichen einer Kehrtwende waren erst im Herbst 1937 zu erkennen, als Stalin den sowjetischen Managern «das Vertrauen des Volkes» aussprach. Es folgten Aufrufe zum «sorgsamen Umgang mit der Ausrüstung» und andere Anweisungen, die verbal eine «neue Stufe» der Stachanov-Bewegung verkündeten, sie faktisch aber beendeten. Dabei fällt die zeitliche Parallelität zur Eindämmung des Massenterrors ins Auge. Offenbar kam der Diktator bei beiden Kampagnen zur Einsicht, dass sie ihren Zweck erfüllt hätten und das Land Ruhe und Stabilität brauche. Da er spät reagierte, ist auch bezüglich der Stachanov-Bewegung die Frage nach einer gewissen Eigendynamik gestellt worden. Auch hier lautet die Antwort klar und deutlich, dass es sie vor allem zu Beginn gegeben haben mag – Stalin selber sprach vom «Wirbelsturm» ihrer Ausbreitung –, die Parteispitze aber zu keiner Zeit die Kontrolle verlor. Ihre Direktiven beendeten die Kampagne ebenso, wie sie sie ausgelöst hatten.[24]
Die Arbeitslager und ihre Insassen Kaum ein anderer Aspekt stalinistischer Herrschaft hat so viel Aufmerksamkeit erregt wie die Arbeitslager und das Elend der Häftlinge, die das Los traf, hierher deportiert zu werden. Der Massenterror galt und gilt als Inbegriff des Totalitarismus der dreißiger Jahre; Willkür und Gewalt wiederum schienen im Lagersystem und in der Zwangsarbeit der Inhaftierten in nuce grausame Wirklichkeit geworden zu sein. Kein anderes Regime konnte so bedenkenlos mit ‹seiner› Bevölkerung verfahren (nicht etwa ‹nur› mit einer stigmatisierten Minderheit), kein anderes so freihändig unschuldige Untertanen verbannen und einem quasi exterritorialen ‹Staat im Staate› ausliefern, in dem alle Grundregeln menschlichen Zusammenlebens außer Kraft gesetzt waren. Zweifellos verselbständigten sich die Lager zu einem separaten Herrschafts- und Lebensraum – einem verborgenen, wenn auch allseits bekannten «Archipel», wie Solženicyn metaphorisch formulierte. Über seine Bewohner, Gesetze und Funktion war lange nur bekannt, was sich den Memoiren Überlebender entnehmen ließ. Dies hat sich inzwischen dank mehr als zwanzigjähriger, intensiver Recherchen in postsowjetischen Archiven gründlich geändert. Nicht zuletzt in den Regionen hat das zivilgesellschaftliche Interesse an der Aufarbeitung einer schrecklichen und verschwiegenen Vergangenheit dazu beigetragen, dass die von Gorbačev beklagten «weißen Flecken» der Unkenntnis weitestgehend verschwunden sind. Zugleich bleibt festzuhalten, dass die neuen Quellen keinen Anlass geben, die wesentlichen Züge des bisherigen Bildes zu korrigieren. Gewiss bieten sie eine völlig neue Grundlage für künftige monographische Studien, insbesondere für regionale. Aber was im Rahmen einer kurzen Übersicht zu skizzieren ist, verändern sie im Vergleich zum Kenntnisstand der späten Perestrojka nur in der Akzentsetzung und am ehesten mit Blick auf die ökonomische Funktion des Gulag.[25]
So steht außer Frage, dass Stalin und seine Helfer in Gestalt der Arbeitslager eine Ordnung errichteten, die an absichtsvoller Quälerei auf russischem Boden ihresgleichen suchte. Sie war nicht nur unmenschlich, sondern mörderisch im Wortsinn der kalkulierten Inkaufnahme physischer Vernichtung. Wer nicht mehr konnte, brach zusammen und wurde verscharrt. Die Routine des Lagerlebens nahm Todesfälle als natürlich, mehr noch: als zwangsläufig hin. Mit Ausnahme vergleichbarer Ausgeburten nationalsozialistischen Rassenwahns dürfte der Sozialdarwinismus nirgendwo sonst in so zynischer Reinheit zum quasilegalen Prinzip erhoben worden sein. Grundlage dieser Selektion nach Überlebenskraft war die Abhängigkeit der Nahrungsration von der Übererfüllung der Arbeitsnorm. Ein windiger Geschäftsmann soll Stalin zur Einführung dieses Verfahrens geraten haben, das auf ebenso brutale wie oberflächlich-effiziente Weise maximalen Einsatz zu erzwingen schien. Der Mechanismus war denkbar einfach: Nur wer die Norm bis zu einem gewissen Grade – in der Regel mindestens 75 % – erfüllte, hatte Anspruch auf den ganzen «Kessel» (kotlovka). Wer darunter blieb, erhielt entsprechend weniger; wer mehr leistete, konnte einen Zuschlag erwarten. Dabei bemaß man aber beide Vorgaben, Essen und Arbeit, so, dass bei ihrer Einlösung die allmähliche Auszehrung programmiert war. Wer viel leistete, erhielt durch die zusätzliche Ration immer noch weniger Kalorien, als er für die körperlichen Anstrengungen verbrauchte, die in Steinbrüchen, beim Bahnbau oder in Gold-, Erz- und Kohlebergwerken erforderlich waren. Erfahrene Häftlinge wussten das und beherzigten die Devise, dass «nicht die kleine Ration … im Lager den Tod» brachte, «sondern die große». Hoffen konnten sie nicht auf Lohn für Anstrengung, sondern «allein auf die Sanitätsstelle» und die eigene Klugheit. Nur wer neben einer unverwüstlichen Konstitution einen wachen Verstand mitbrachte und ihn zu hüten wusste, wahrte im günstigen Fall die Chance, eine gewisse Zeit zu überleben – laut Solženicyn allenfalls zehn Jahre. Daran änderte auch eine vorübergehende Besserung der Versorgungslage 1938/39 nichts; die dramatische Kürzung der Rationen nach Kriegsausbruch, vom weiteren Qualitätsverfall nicht zu reden, machte diesen Lichtblick schnell und für lange Jahre wieder zunichte.[26]
Die Lebensverhältnisse in den stalinistischen Lagern sind mittlerweile häufig beschrieben worden. Wie wenig andere illustrieren sie alle nur denkbaren Extreme, denen Menschen ausgesetzt sein können, die sie aber auch selbst erzeugten und erzeugen. Die ‹Lagerprosa› hatte wenig Anlass zur Schilderung des ‹Positiven›. Nicht nur die beschriebene Welt kam der sprichwörtlichen Hölle auf Erden sehr nahe. Auch die Personen, die sich darin bewegen mussten, widerstanden der Anpassung an die sie umgebende Grausamkeit und Niedertracht nur selten. Zu den physischen Beanspruchungen gesellten sich psychische, die kaum leichter zu ertragen waren. Die meisten politischen Häftlinge mussten häufig auf schmerzhafte Weise lernen, dass jeder sich selbst der nächste und keine Gemeinheit zu groß war, als dass sie nicht begangen worden wäre. Solidarität scheint es nur ausnahmsweise gegeben zu haben. Der Kampf ums nackte Überleben war nicht geeignet, Altruismus zu fördern.
So halfen Häftlinge den Aufsehern, das einzuhalten, was Ordnung und regelmäßiger Tagesablauf genannt wurde. Im frühen Morgenlicht zerrte man die Arbeitsfähigen von den Pritschen; gelegentlich sollen dabei abgerichtete Hunde eingesetzt worden sein. Vor dem Abmarsch zu den entfernten Arbeitsorten gab es die beste Mahlzeit des Tages. In den nächsten zwölf Stunden mussten sich die Gequälten glücklich schätzen, wenn ihnen eine dünne Wassersuppe gebracht wurde. Am frühen Abend kehrten sie erschöpft zurück; mehr als Brot und fettlose Brühe gab es selten, in schlechten Jahren überhaupt nur wertlose und kaum genießbare Ersatzkost. Sie hausten in übervölkerten Baracken ohne Andeutung einer Privatsphäre. Die sanitären Verhältnisse spotteten aller Hygiene, und die Unterkünfte wurden, wenn überhaupt, auch bei bitterer Kälte höchst unzureichend beheizt. Über die psychischen Folgen solcher Zustände lassen sich kaum Aussagen machen. Nur die wenigsten Häftlinge dürften in der Lage gewesen sein, aus den ungeheuren Strapazen geistig-moralische Stärke zu ziehen. Insofern sind diejenigen, die wie Solženicyn, Evgenija Ginzburg, Varlaam Šalamov, Lev Kopelev oder Petr Grigorenko nach ihrer Freilassung zur schriftstellerischen Aufarbeitung (und Information anderer) fähig waren, gewiss als Ausnahmen zu betrachten. Die meisten anderen, denen Solženicyn seinen «Versuch einer künstlerischen Bewältigung» widmete, hatten auch keine Gelegenheit mehr, über das Leid zu berichten, das ihnen die plötzliche Entfernung von Familie und Freunden, die sinn- und schuldlose Verurteilung zu Qual und Elend sowie ihre Auslieferung an die Gewalttätigkeit und Schikanen krimineller Mithäftlinge zufügten. Die brutale Durchsetzung des ‹Rechts des Stärkeren› unter Missachtung jeden Anstands scheint vielfach eine Erfahrung gewesen zu sein, die noch bitterer war als die Unterwerfung unter die Hierarchie der Willkür vom Kommandanten bis zum Wächter am Stacheldrahtzaun.[27]
Anders als die Unmenschlichkeit des Lagerlebens war die Wertung der ökonomischen Funktion der Zwangsarbeit lange Zeit umstritten. Dabei zog kaum jemand in Zweifel, dass die Lager anfangs vor allem politisch-ideologischen Zielen dienten und die Ausschaltung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner zumindest bis zum Ende des ‹Großen Terrors› Vorrang behielt. Konsens bestand ebenfalls darüber, dass wirtschaftliche Überlegungen schon früh hinzutraten und mit dem ersten Fünfjahresplan wachsende Bedeutung erlangten. Im November 1929, fast zeitgleich mit der Resolution über die Zwangskollektivierung, wurden die Gerichte angewiesen, bei Haftstrafen die Arbeitspflicht mitzubedenken. Im Mai 1930 fiel der zukunftsweisende Beschluss, den Weißmeerkanal, eines der Großprojekte des ersten Fünfjahresplan, von Zwangsarbeitern bauen zu lassen. Dies führte nachgerade zu einem Wettbewerb um Häftlinge. Den gewann die OGPU (als Betreiber der ersten Lager), als die Regierung Ende August 1931 entschied, ihr alle Sträflinge zu überlassen, die zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt worden waren. Wenige Monate später übertrug ihr das Politbüro auch die Intensivierung der Goldförderung (zur Bezahlung der teuren Importe von Maschinen und sonstiger Technik) an der nordostsibirischen Kolyma. Schon in diesem Stadium war offenbar eine Reorganisation angezeigt: Zum Jahreswechsel wurde aus der bloßen Lagerverwaltung die «Oberste [oder Haupt]» Lagerverwaltung» (Gulag) innerhalb der OGPU. Und als 1932 nach dem Vorbild des Weißmeerkanals noch zwei weitere prestigereiche Vorhaben – der Bau des Moskwa-Wolga-Kanals und der Baikal-Amur-Bahnlinie («Magistrale», BAM) – hinzukamen, verwandelte sich der entstehende Häftlings-«Archipel» endgültig in ein zunehmend verzweigtes System von Lagerkomplexen, die wirtschaftlichen Großvorhaben zuarbeiteten. Stalins neues Regime «produzierte Zwangsarbeiter, weil es ihrer bedurfte».[28]
Keine Einigkeit bestand hingegen darüber, wie groß der ökonomische Nutzen dieser Ordnung für Stalins ehrgeizige Absichten war. Die erste eingehende, aber nicht ohne Enthüllungsabsicht verfasste Beschreibung der geheimnisumwitterten Lagerwelt veranschlagte diesen Gewinn sehr hoch und setzte dabei die Arbeit der Deportierten mit der antiker Sklaven gleich. Zwangsfron dieser Art wurde als «billig» und «diszipliniert» betrachtet. Ein Staat, der sich ihrer Hilfe in großem Maßstab bediene, könne riesige Bauwerke mit minimalen Kosten errichten und daraus enorme Vorteile ziehen. Spätere Autoren sind vorsichtiger gewesen. Sie haben darauf hingewiesen, dass erpresste Arbeit ebenfalls ihren Preis hatte. Wie miserabel auch immer, die Häftlinge mussten mit Essen und Kleidung versorgt werden; sie brauchten eine Behausung, die im ewigen Eis so zu beheizen war, dass sie einigermaßen überleben konnten. Und es war nötig, sie mit Stacheldraht zu umgeben, zu bewachen und eine Behörde zu schaffen, die ihre Zuteilung und Unterbringung regelte. Hinzu kam ein bekannter Tatbestand der Wirtschaftsgeschichte: Unfreie Arbeit ist nicht selten unproduktiver als freie und neigt trotz aller Strafandrohung zu mangelnder Sorgfalt. Gerade der Versuch, ihre Kosten durch schlechtere Versorgung zu senken, verstärkte den kontraproduktiven Effekt, dass ihr Ertrag infolge physischer Schwächung weiter nachließ.[29]
Gleichwohl spricht vieles dafür, dass die stalinistische Diktatur nicht nur aus Gründen der Herrschaftssicherung am Lagersystem festhielt. Der Vergleich mit der «Manufakturleibeigenschaft» Peters des Großen beim Aufbau der Schwerindustrie im Ural, mit Soldatenarbeit unter Friedrich Wilhelm I. in Preußen oder generell mit Häftlingsarbeit im 18. und 19. Jahrhundert hat manches für sich. Erzwungene Arbeit lohnte dort, wo Kapital fehlte, wo Erschließungen mit einfachen technischen Mitteln unter Einsatz vor allem von physischer Kraft vorgenommen wurden, wo freie Arbeit wegen der Ungunst des Klimas, der Entfernung des Standorts oder aus anderen Gründen kaum oder nur bei ungleich höheren Kosten zu mobilisieren war, wo nicht nach Aufwand und Ertrag kalkuliert, sondern eine unabdingbare Vorleistung für die eigentliche Industrialisierung erbracht und deshalb sogar unter Bedingungen gearbeitet wurde, die «mehr Tote kosteten als die Marneschlacht».[30]
So gesehen, eröffnet sich auch ein differenzierendes Urteil über den ökonomischen Effekt der Zwangsarbeit. Der Nutzen war bedingt und an bestimmte Tätigkeitsfelder sowie an die Anfangsphase der ‹zweiten› Industrialisierung gebunden. Er gehörte in den Zusammenhang zwischen Stalinschem Aufbruch und Rückständigkeit, zwischen «Terror» und «Fortschritt». Auf der Grundlage dieser Affinität lassen sich unterschiedliche und sukzessive Funktionen des Lagersystems unterscheiden. In seiner Entstehungszeit diente es vor allem der Unterbringung der Opfer der Zwangskollektivierung, die eine erste Welle Stalinscher Massenrepression mit sich brachte. Seine Ursachen waren politischer Natur und nicht zuletzt darin begründet, dass man die Dynamik der Deportation unterschätzt hatte und den entsprechenden Plan «mehrere Male übererfüllte». Danach traten als Folge der skizzierten Verknüpfung mit einigen ehrgeizigen Projekten des ersten Fünfjahresplans wirtschaftliche Aufgaben zunehmend in den Vordergrund. Als Arbeiter während des zweiten und dritten Planjahrfünfts rar wurden, half das Lagersystem, diesen Engpass auf ‹außerökonomischem› Wege zu beheben: Wer nicht freiwillig oder durch die knappe Ressource Geld zu gewinnen war, wurde mit Gewalt mobilisiert. Allerdings lag schon in der Art der Arbeit eine schwer überschreitbare Grenze des Einsatzes unfreier Kräfte. Ihre branchenmäßige Verteilung lässt recht genau erkennen, wo sie Nutzen brachten und wo nicht. Die weitaus meisten waren auf Baustellen beschäftigt (während des dritten Planjahrfünfts 3,5 Mio.); es folgten der Bergbau (einschließlich der Goldgewinnung 1 Mio.), der Verleih an andere Behörden (unter Ausschluss des Bergbaus ebenfalls 1 Mio.), der Bau und die Versorgung von Lagern (0,6 Mio.), die Holzgewinnung (0,4 Mio.) und die Landwirtschaft (0,2 Mio.). Hinzu kamen, zum Teil unter der Regie eigener Ressorts, der Straßen- und Eisenbahnbau. Industrie und Fabriken im engeren Sinne fanden sich unter diesen Verwendungsbereichen nicht. Teure Maschinen konnte man den Deportierten nicht anvertrauen. Dem allergrößten Teil der Häftlinge dürfte außerdem die nötige Mindestqualifikation gefehlt haben.[31]
So konnte man unfreie Arbeit im Wesentlichen nur bei der Rohstoffgewinnung und auf Großbaustellen zur Verbesserung der ökonomisch-verkehrstechnischen Infrastruktur einsetzen, wo einfache physische Tätigkeiten in großem Umfang anfielen. In diesem Bereich war sie nützlich, weil man freie Lohnarbeiter in unbesiedelten und unwirtlichen Regionen angesichts des enormen Bedarfs nicht in ausreichender Zahl zu gewinnen vermochte. Zugleich zeichnete sich ab, dass die Bedeutung dieser Arbeit mit zunehmendem technologischen Niveau des wirtschaftlichen Produktionsprozesses zurückgehen würde. Zwar gab es unter den Häftlingen auch Fachkräfte und Spezialisten (die zum Teil in Sonderlager eingewiesen wurden), aber zu wenige. Insofern lief die Zeit des Lagersystems nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Seine Auflösung unter Chruščev entsprach auch der ökonomischen Vernunft.[32]
Bauern Paradoxerweise ist über die Lage der Bauern nach der Zwangskollektivierung weniger bekannt als über die der Arbeiter. Zwar lebte die große Mehrheit der Bevölkerung noch einige Jahrzehnte auf dem Lande (der Anteil der Stadtbewohner überschritt erst 1961 die ‹Modernitätsschwelle› von 50 %), aber dank der stalinistischen Fixierung auf den industriellen Aufbau rückte sie nicht ins Rampenlicht des zeitgenössischen Interesses. Der gewaltsame Bruch einer jahrhundertealten Tradition erhöhte zunächst nur die Kontrollierbarkeit und äußere Gefügigkeit des Dorfes, nicht aber seine Durchschaubarkeit. Im Gegenteil, die vollständige Umwälzung des bäuerlichen Lebens einschließlich seiner Keimzellen, des ‹Haushalts› und der obščina, stürzte es nicht nur ins Chaos, sondern erhöhte auch die Verwirrung für Außenstehende. Die neue Agrargesellschaft musste sich erst formieren. Auch wenn keine Überlieferung, am wenigsten die soziale und mentale, über Nacht ihre Wirkung einbüßt, war sie gezwungen, sich gleichsam in einem völlig neuen Gehäuse einzurichten. Dieser Vorgang des Um- und Wiederaufbaus unter dem Diktat staatlicher Ansprüche bildete den Kern der Entwicklung auf dem Dorfe zwischen Kollektivierung und Kriegsbeginn.
Die revolutionäre Qualität der neuen Ordnung lag auch in sozialer Hinsicht auf der Hand. Mit dem faktischen Privateigentum am bearbeiteten Land in und außerhalb der Gemeinde verschwand nicht nur die Grundlage eigenständigen Wirtschaftens, sondern auch das Hauptkriterium der sozialen Schichtung. Marxisten und Neopopulisten waren sich – bei höchst unterschiedlichen Resultaten ihrer Theorien – in der Überzeugung einig, dass Ökonomie und Gesellschaft im alten russischen Dorf insofern besonders eng miteinander verzahnt waren, als sie auf derselben Grundeinheit fußten. Welchen Personenkreis eine Familie auch immer umfasste, sie bildete einen Betrieb, der letztlich nach seinen eigenen Vorstellungen über Art und Umfang der Aussaat entschied, Acker und Vieh pflegte, den Verkauf regelte und die Verwendung des Erlöses festlegte. Im Großen und Ganzen folgten Schichtung und innere Gliederung dem Vermögen, das seinerseits in erheblichem Maße von der Größe des Landes, der Familie, der Marktkenntnis und dem ökonomisch-organisatorischen Geschick abhing oder außerhalb der eigentlichen Landwirtschaft durch kommerzielle und handwerkliche Fähigkeiten sowohl im Dorf als auch auf entfernten Märkten und bei der Wanderarbeit erworben werden konnte. Sicher gab es daneben noch andere Bestimmungsfaktoren der sozialen Position. Gerade in traditionalen Gesellschaften kam dem ‹Ansehen› und der Anciennität als dem gleichsam akkumulierten Verdienst einer Familie große Bedeutung zu. Alles spricht aber dafür, dass die verschiedenen Dimensionen der sozialen Hierarchie eher übereinstimmten als auseinanderfielen. Familienwohlstand, -größe und auch -prestige neigten zur Kongruenz. Auch im zyklischen Mobilitätsmodell Čajanovs und seiner Anhänger fand die Vorstellung Platz, dass dörfliche Familien nicht nur für eine Generation zu den Einflussreichen, den Bol’šaki, gehörten.
Das Fundament einer solchen Differenzierung wurde durch die Maßnahmen Stalins zertrümmert. Obwohl Kolchosen keine Sowchosen waren, verfügte der Staat faktisch uneingeschränkt über ihr Land. Selbst auf der untersten Stufe der Vergemeinschaftung, als TOZ, bestand ihr vorrangiger ökonomischer Zweck in der Zusammenlegung der Ackerflächen anstelle der parzellierten, ‹familiengerechten› Nutzung. Schon deshalb konnte der Kolchos, vom Herkommen und der Freiwilligkeit des Beitritts nicht zu reden, kaum in die Fußstapfen der obščina treten. Hinzu kam (innerhalb der Gemeinschaft) das faktische Ende gewinnbringender nichtlandwirtschaftlicher Einkommensquellen. Der bäuerliche Handel wurde kriminalisiert. Wenngleich er nicht völlig verschwand und sich zum Teil auf die Kolchosmärkte verlagerte, verlor er an Bedeutung. Noch radikaler amputierte man Handwerk und Gewerbe, deren unentbehrliche Produkte bald aus den neuen Fabriken kamen. Zwar überlebten sie ebenfalls – noch der Zensus von 1937 verzeichnete «nichtkooperierte Kustarniki» –, aber doch nur als Rudiment. So veränderte die Zwangskollektivierung (anders als manche Bodenreformen in Ostmitteleuropa) nicht nur die Besitzverhältnisse auf dem Dorfe, sondern zerriss zudem mit der ‹Entkulakisierung› das gesamte soziale Geflecht einschließlich der darin eingewirkten beruflichen Tätigkeiten und Positionen. Sie schuf Raum für jenen Egalitarismus, den Partei und Staat damals auf ihre Fahnen schrieben. Die Frage war nur, ob diejenigen, die im alten Dorf nicht aus der Armut herauszutreten vermocht hatten, ausreichende Fähigkeiten mitbrachten, um den Grundstein für ein neues zu legen.
Schon um ihren ökonomischen Zweck im Dienste des Staates erfüllen zu können, bedurfte die Kolchosordnung einer eigenen Hierarchie. Geregelte Aufgabenteilung war nötig, die sich über Einkommen, Macht und Ansehen in eine neue soziale Schichtung transformierte. Dabei lassen sich zwei ‹Achsen› unterscheiden. Zum einen teilte sich die neue Dorfgesellschaft in solche Mitglieder, die in mehr oder weniger engem und ständigem Kontakt mit der Außenwelt standen, und die übrigen. Diese Beziehung nahm ihrerseits im Regelfall entweder die Form administrativ-politischer Vermittlung und der Zugehörigkeit zur Partei oder rein ökonomischer Verbindungen an. Dabei korrespondierten beide Arten mit gehobenen bzw. einfachen Tätigkeiten. Zum anderen wurden die inneren Funktionen im Kolchos zu Bestimmungsmerkmalen der sozialen Lage. Es begründete ein sehr unterschiedliches Einkommen und Prestige, ob jemand in der Verwaltung, im Dienstleistungsbereich (soweit es ihn gab), in Werkstätten oder nur auf den Feldern beschäftigt war. In gewisser Weise war diese Differenzierung nicht nur neu (obwohl sie notwendigerweise auch alte, lebenswichtige Aufgaben der agrarischen Ordnung fortsetzte), sondern auch ‹sachlicher› als die zerstörte. Sie beseitigte Herkunft und ererbtes Prestige samt verwandtschaftlichen und anderen personalen Solidaritäten als vorrangige Bestimmungsgründe der sozialen Position und ersetzte sie in stärkerem Maße durch funktionale. Allerdings war diese gleichsam ‹posttraditionale› Differenzierung weder mit dem Abbau von Herrschaft noch mit höherer Effizienz gleichzusetzen. Im Gegenteil, die neue Ordnung verriet vor allem eine politische Kontrollabsicht, die anfangs gar nicht, später nicht ohne Widerspruch mit dem Ziel ökonomischer Leistungsfähigkeit zu verbinden war.
Die funktionale Schichtung der Kolchosgesellschaft nahm in der groben Gliederung zunächst die Gestalt einer Zweiteilung in Leitungs-, Administrations- und Dienstleistungsaufgaben auf der einen Seite und Produktionstätigkeiten auf der anderen an. Was zuvor in der Person des Familienvorstands vereint war, trat nach der ‹Sozialisierung des Landes› auseinander. Planung und Ausführung, Kopf- und Handarbeit verteilten sich auf mehrere Personen. Freilich beschränkte sich dieser Vorgang nicht auf eine ‹neutrale› Aufspaltung und Neuzuordnung komplexer Verrichtungen, die sich aus der Vergrößerung der Betriebsfläche ergaben. Wie in fast allen ähnlichen Fällen ging die sachliche Differenzierung mit einer Unterscheidung nach anderen Gesichtspunkten, vor allem solchen der Herrschaftsbefugnis und Qualifikation, einher. Dabei zeigte sich bald, dass die Nähe zur politischen Macht und die Verfügung über spezielle, vorzugsweise technische Kenntnisse als höherwertig galten. Zumindest für die Inhaber administrativ-herrschaftlicher Kompetenzen zahlte sich diese (zunächst eher exogene als endogene) Einschätzung auch materiell aus: ‹Geistige› Arbeit wurde besser bezahlt. In gewisser Weise erwuchs dieses Privileg aus einem Dilemma. Da es kaum möglich war, Leistungen dieser Art in physischen Einheiten – vom Umfang eines bestellten Feldes bis zum Gewicht der ausgebrachten Saat – zu messen, wurde beschlossen, den einschlägigen Personen auf der Grundlage der nominellen Arbeitszeit «Tagewerke» gutzuschreiben. Ob tatsächlich Aufgaben erledigt wurden und mit welchem Erfolg, blieb außer Betracht. ‹Kopfarbeiter› sammelten auf diese Weise in jedem Fall mehr Berechtigungseinheiten. Wie viel Letztere am Ende in Rubeln und Kopeken oder Naturalien erbrachten, erfuhren allerdings auch sie erst bei der Schlussbilanz. In dieser Hinsicht blieben sie in die allgemeinen Regeln des Kolchos eingebunden. Zugleich unterschieden sie sich darin ‹kategorial› von städtischen Arbeitern und Angestellten: Einen festen, monatlichen Lohn erhielten auch sie nicht.[33]
Ebenso unscharf wie das Gesamtbild der dörflichen Vorkriegsgesellschaft bleibt das quantitative Verhältnis zwischen den einzelnen Gruppen. Nur grobe Momentaufnahmen liegen vor, die aber eine ungefähre Vorstellung vermitteln. So schlüsselte die nachträglich kassierte Erhebung vom Januar 1937 die Zahl der kolchozniki weiter auf nach «Landarbeitern» (zemledel’cy) und «sonstigen» Mitgliedern (s.o. Tab. 18). Man wird nicht fehlgehen, unter Ersteren die zwangsinkorporierten Bauern selber und unter Letzteren das Verwaltungs- und Dienstpersonal einschließlich allerdings von Handwerkern und Technikern zu verstehen. Dies unterstellt, belief sich die Zahl der ‹Kopfarbeiter› auf knapp 7,4 Mio.; ihr Anteil an der gesamten Kolchosbevölkerung erreichte 20,3 % und ihr relatives Gewicht unter allen 116,39 Mio. Dorfbewohnern immerhin 6,3 %. Welcher Art die Tätigkeiten im Einzelnen waren und wie viele Personen sich ihnen widmeten, lässt sich insgesamt bislang nicht angeben. Anhaltspunkte sind einer Aufstellung zu entnehmen, die 635.700 Beschäftigte aller Kolchosen im Gebiet von Novosibirsk Anfang 1939 (bei der Volkszählung) berücksichtigte. Danach entfielen auf die Kolchosleitung (Vorsitzende, Stellvertreter, Rechnungsführer, Angestellte) 3,9 % der erfassten Personen, auf die «Brigadeführer» bei der Feldbestellung und Viehzucht 3,1 %, auf qualifizierte Fachleute (Agronomen, Tierärzte, Tierzüchter) 0,2 %, auf Lehrer, Kindergärtnerinnen und sonstige Angestellte im Bildungs- und Kulturbereich 0,4 %, auf Handwerker, Mechaniker und nichtlandwirtschaftliches ‹Dienstpersonal› (Schlosser, Schmiede, Waldarbeiter, Zimmerleute, Tischler, Chauffeure, Fuhrleute) 21,7 %, auf Viehbetreuer (Melker, Knechte, Mägde, Hirten) 14,9 %, auf Spezialisten allgemein und solche für die Bedienung und Wartung der Landmaschinen 4,4 % und auf den großen Rest derjenigen, die auf den Feldern die sonstigen bäuerlichen Arbeiten verrichteten, 51,4 %.[34]
Angesichts der weitgehenden Zerstörung der überkommenen Dorfgesellschaft und des Widerstandes von Seiten der enteigneten Bauern hing die Funktionsfähigkeit der neuen Wirtschafts- und Sozialorganisation in besonderem Maße von der Leitung ab. Gerade die Besetzung dieser entscheidenden Positionen gestaltete sich jedoch äußerst schwierig. Da man die alte Dorfelite ermordet oder verschleppt hatte, fehlte die Schicht, in der qualifizierte Anwärter am ehesten zu finden waren. Selbst wenn einige Mitglieder durch Glück, Geschick oder Beziehungen dem Fallbeil der Klassentheorie entronnen waren, haftete ihnen der Ruch politischer Unzuverlässigkeit an. Die Stalinisten aber suchten vor allem Linientreue und erst an zweiter Stelle agronomische und betriebswirtschaftliche Kompetenz. Besonders am Anfang lag es aus ihrer Sicht nahe, die Kolchosvorsitzenden von außen zu holen. In Frage kam dafür im Wesentlichen eine Gruppe: die auf Herz und Nieren geprüften 25.000 freiwilligen Arbeiter-Aktivisten. In der Tat waren im Mai 1930 gut 19.500 dieser «besten Söhne des Vaterlandes» in den Kolchosen registriert; etwa 10.000 hatten die Funktion eines Vorsitzenden übernommen; viele andere übten in den Rajonskomitees, Kolchosverbänden und sonstigen übergeordneten Organisationen erheblichen Einfluss aus. Allerdings konnte dies nur ein Übergangszustand sein. Die meisten dieser ‹Enthusiasten› kehrten nicht nur in ihre alten städtischen Arbeits- und Lebensverhältnisse zurück; auch ihre Zahl reichte bei weitem nicht aus, da um die Mitte des Jahrzehnts etwa 245.000 Kolchosvorsitzende benötigt wurden.
Woher die ‹Neuen› kamen, muss ebenfalls aus Fallbeispielen und Teildaten erschlossen werden. Gewiss stammten sie in wachsender Zahl vom Dorf. Insofern nahm zumindest ihre Vertrautheit mit den Grundgegebenheiten der Landwirtschaft und agrarischen Gesellschaft zu. Auch die Rückendeckung durch die Partei blieb gerade für dieses Amt wichtig. Andererseits führte die Aufnahmesperre seit 1933 dazu, dass der Anteil der registrierten Parteimitglieder unter den Kolchosvorsitzenden bis 1938 auf 17,5 % fiel. Nur sozial scheint man der alten Linie strenger gefolgt zu sein. Ehemalige bednjaki und batraki, Landarme und Tagelöhner, stellten die – allerdings dünne – Mehrheit. Insgesamt verminderte sich mit diesem Wandel die unmittelbare Beherrschung des kollektivierten Dorfes durch Repräsentanten der Außenwelt. Zugleich trat die traditionelle Abgeschlossenheit der ländlichen Gesellschaft wieder stärker hervor, die aber vermutlich durch das Zwischenspiel der (zwangs)importierten Vorsitzenden nicht wirklich aufgebrochen worden war. Ob sich dadurch auch die Skepsis der kolchozniki gegenüber der Leitung verringerte, steht auf einem anderen Blatt. Auf der einen Seite trifft sicher zu, dass die Kolchosleitung das Kunststück der Vermittlung zwischen obrigkeitlichen Ansprüchen und eigenen Bedürfnissen vollbringen musste und dafür auch des internen Rückhalts bedurfte. Auf der anderen Seite verbreitete sich offensichtlich kein nennenswertes Engagement für die Gemeinschaft. Und auch die Qualität der Führung verbesserte sich weder durch die bloße ‹richtige› Herkunft noch durch den Umstand, dass im Laufe der Jahre zwar nicht ehemalige ‹Kulaken› selbst, aber deren Söhne in ihre Dörfer zurückkehren und prominente Positionen übernehmen konnten. Im Gegenteil, angesichts anhaltender Mängel sah sich die Partei schließlich sogar gezwungen, ihre kostbarste Ressource zur Beseitigung der Missstände einzusetzen: Sie gewährte den Vorsitzenden 1940 einen festen Geldlohn und schlug noch eine Prämie obendrauf.[35]
Unter den übrigen neuen Berufs- und Sozialgruppen auf dem Lande kam den Technikern ein besonderer Rang zu. Ob Fahrer von Traktoren und Mähdreschern oder Monteure in einer Reparatur- und Wartungsbrigade, die «Mechanisatoren» benötigten eine spezielle, ‹moderne› Qualifikation, die sie über gewöhnliche Bauern hinaushob. Hinzu kam ihre Anbindung an die neu geschaffenen MTS. Als Symbole für den Beginn des industriellen Zeitalters auch in der Landwirtschaft verfügten diese – und mit ihnen das Personal – über besonderes Ansehen. Ökonomisch und politisch war ihnen eine Schlüsselrolle zugedacht. Unabhängig davon, ob sie ihr gerecht wurden oder nicht, galten sie als Stützpunkte und Vorposten des Fortschritts. Freilich tat sich gerade bei den «Mechanisatoren» (und den MTS) eine ausgeprägte Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. Ihre Bezahlung und materielle Lage entsprach nicht dem propagandistischen Wert ihrer Tätigkeit. Da dem Staat die Mittel fehlten, um die MTS selbst zu finanzieren, bürdete er ihre Kosten den Kolchosen auf. Neben einer ‹Nutzungsgebühr› für in Anspruch genommene Maschinen und Leistungen geschah dies in Gestalt der Alimentierung der Traktoristen, Mähdrescher- und sonstigen Fahrer, die ohnehin überwiegend aus den jeweiligen Dörfern stammten. Wie die übrigen kolchozniki wurden sie in das allgemeine Entlohnungssystem einbezogen. Dieses Verfahren stellte sie allerdings aus einem einfachen Grunde schlechter als fast alle Verwaltungsbediensteten und viele einfache Beschäftigte: Man benötigte ihre Dienste nur kurze Zeit auf dem Höhepunkt der Feldbestellung. Dementsprechend gering war die Anzahl ihrer «Tagewerke» und ihres Entgelts. Am besten erging es noch den Traktoristen, die immerhin vier bis sechs Monate im Jahr beschäftigt waren. Ein Mähdrescherfahrer musste den Lebensunterhalt für sich und seine Familie meist im Laufe eines einzigen Monats verdienen, zumal sich die anfängliche Hoffnung, die «Mechanisatoren» könnten ihr Einkommen durch anderweitige Tätigkeiten aufbessern, angesichts des andauernden Überangebots an dörflichen Arbeitskräften nicht erfüllte. Infolgedessen verlor der Beruf trotz seines Ansehens an Attraktivität. Die Fluktuation war hoch; das Qualifikationsniveau blieb hinter der Technik zurück. Beides führte zu hohem Verschleiß und langen Ausfallzeiten. Gerade ausgebildete «Mechanisatoren» verließen Dorf und Kolchos, wann immer sie konnten. Es blieben die Jungen, die überrepräsentiert waren, und die Frauen. Junge Mädchen und Bäuerinnen ließen sich in wachsender Zahl zu ‹Traktoristinnen› ausbilden. Wie in der Industrie drangen auch auf dem Dorfe weibliche Arbeitskräfte in typische Männerberufe vor. Wo Männer flohen, um nach Besserem zu suchen, rückten Frauen nach.[36]
Wie ebenfalls aus Tab. 18 hervorgeht, stellten die einfachen Bauern mit 28,9 Mio., entsprechend 37,1 % der Gesamtbevölkerung, Anfang 1937 nach wie vor die große Mehrheit der Dorfbewohner. Von einigen hartnäckigen ‹Einzelwirten› (3,5 Mio. = 4,5 % 1937) vornehmlich am Rande des Reiches abgesehen, waren die übrigen zu Landarbeitern degradiert worden, deren Lohn letztlich vom Fleiß aller und der Klugheit der Kolchosleitung abhing. Wer sich damit nicht zufriedengeben wollte, dem stand in der Gemeinwirtschaft ein gewisser Aufstieg offen. Aber die Zahl der «Feldbau-Brigadiers» oder «Truppführer» war begrenzt. Die meisten Zwangsvereinten vermochten nicht aus der Masse derer herauszutreten, die mit ihrer bloßen physischen Kraft einfache bäuerliche Tätigkeiten verrichteten. Dies bedeutete auch, dass sie abgeschlagen am Ende der Lohnskala standen. Während ein «Buchhalter» laut einer Aufstellung für 139 Kolchosen aus dem Jahre 1939.625, ein Schmiedemeister 541, ein Feldbaubrigadier 479 und selbst der Bürowächter 265 «Tagewerke» ansammelte, kam ein Feldarbeiter auf ganze 169. Schon deshalb wuchs die Bereitschaft der Frauen mitzuhelfen. In welchem Maße und welcher Form das möglich war, hing in der Regel von der Kinderbetreuung während der Arbeitszeit ab. Da Großeltern nicht immer bereitstehen konnten und es um Kindergärten entgegen aller Propaganda schlecht bestellt war, kam ein Zweiteinkommen eventuell erst in höherem Alter hinzu (wenn es bei einer abnehmenden Zahl von Essern vielleicht schon nicht mehr so benötigt wurde) oder blieb zu gering, um tatsächlich lindern zu können. So dürfte für die Mehrheit der enteigneten Bauern gegolten haben, dass der Natural- und Geldertrag ihrer ‹Gemeinschaftsarbeit› zum Leben nicht ausreichte und sie weiterhin allen Grund hatten, einen «bemerkenswerten Mangel an Begeisterung» für den Kolchos zu dokumentieren.[37]
Was die einfachen Zwangsmitglieder über Wasser hielt, war das private Gartenland samt der geduldeten Kuh und dem Kleinvieh. Schon die gemeinschaftliche Tierhaltung war eine Angelegenheit überwiegend der Frauen. Dies galt erst recht für die eigene. Hier ließen sich Haushalt und Nahrungssicherung am ehesten vereinbaren; hier investierte man ungemessene Zeit und Energie; die Produkte aus dieser Wirtschaft brachten unmittelbaren und kalkulierbaren Gewinn. Weil die Existenz der ‹gemeinen› kolchozniki auf diese Weise hauptsächlich von der Nebenerwerbswirtschaft abhing, wird auch das scheinbare Paradox verständlich, dass vergleichsweise gut bezahlte Parteifunktionäre und Kolchosvorsitzende größere Mühe hatten, ihre Familien zu ernähren als manche einfache Bauern: Sie mussten aus ideologischen oder anderen Gründen (zum Beispiel aus Mangel an Kenntnissen) ohne Privatland auskommen. So galt trotz allem – wenn man im ‹Nebenerwerb›, der zum Haupterwerb wurde, einen Rest des alten Dorfes erkennt –, dass sich Zugehörigkeit immer noch auszahlte und es derjenige besonders schwer hatte, der von außen kam.
Als Fazit der sozialen Neuordnung im Agrarsektor spricht mithin alles für eine zweiteilige Feststellung. Zum einen bescherte die Umwälzung auch den angeblich Beschenkten keine besseren Lebens- und Berufschancen oder gar höhere Einkommen. Trotz Verstaatlichung, zentraler Kommandowirtschaft und monopolistischer Parteikontrolle dauerte das Gefälle zwischen Stadt und Land an. Die materiellen Verhältnisse auf dem Dorf waren erbärmlich, naturale wie geldliche Einkünfte reichten für ein menschenwürdiges Dasein nach städtischen (geschweige denn westeuropäischen) Maßstäben nicht aus. Es gab auch wenig Aussicht auf durchgreifende Änderung durch Qualifikation. Die Bahnen des sozialen Aufstiegs waren schmal. In die Kolchosführung gelangte man nur mit Unterstützung der Partei und des Sowjets (beides auf Rayon-Ebene). Die unteren Verwaltungsränge brachten nicht viel mehr ein als andere halbwegs angemessen bezahlte Tätigkeiten. Ehrgeiz und Talent waren auf den Ausweg angewiesen, den die Industrialisierung seit einem guten Jahrhundert eröffnete: in die Städte und Fabriken abzuwandern. Zweifellos erreichte diese Landflucht während der ersten Fünfjahrespläne einen neuen Höhepunkt. Mehr Bauernsöhne und -töchter denn je zogen in die Städte. Zugleich dauerte auch der otchod, die angebliche Hungermigration des Kapitalismus, in größerem Maßstab an als offiziell zugegeben. Ungeachtet der Massenflucht während der Kollektivierung verließen in den dreißiger Jahren mehr Arbeitskräfte temporär das Dorf als in den Zwanzigern (allerdings weniger als vor 1914). Selbst der Passzwang, der ohnehin zugunsten der Versorgung der Industrie mit Arbeitskräften lax gehandhabt wurde, unterband diese Mobilität nicht. Gegen Ende der Dekade fand sich in jedem vierten Haushalt ein otchodnik und in jedem dritten ein Lohnempfänger. Nichts belegt die Armut des Kolchos schlagender als der Umstand, dass ein Außenverdienst (in barem Geld) unverzichtbar blieb. Schon deshalb harrte auf dem Dorf nur aus, wer gute Gründe hatte zu bleiben oder nicht anders konnte.[38]
Zum anderen blieb die ‹sozialistische Revolution› auf dem Dorfe in mancher Hinsicht vor ihrem Ziel stecken. Sie vertrieb die Oberschicht, beraubte die Mittelschicht ihrer wirtschaftlichen Grundlage, aber sie beließ, um das Existenzminimum der Zwangskollektivierten zu sichern, die Keimzelle des dörflichen Lebens weitgehend intakt: Familie und Haushalt. In sozialer Hinsicht bewahrten diese ihre alte Funktion nicht nur, weil sie weniger Konkurrenz durch andere Vergemeinschaftungen hatten als in der Stadt. Hinzu kamen ebenso konkrete wie wirksame Motive: Anders als in der Industrie gab es (bis 1964) in der Landwirtschaft keine Altersrente oder eine sonstige nennenswerte soziale Sicherung. Zwar musste der Kolchos einen Teil seines Ertrags für die Versorgung Arbeitsunfähiger zurücklegen. Aber wo der Erlös chronisch knapp war, reichte der Notgroschen erst recht nicht. Der kolchoznik tat gut daran, sich der Hilfe seiner Familie zu versichern und die Institution selber zu pflegen. Aber auch ökonomisch blieb ein gutes Stück Vergangenheit bewahrt. Die Nebenerwerbswirtschaft war eine familiäre; sie rettete, insofern sie faktisch die hauptsächliche Arbeitsstätte und Einkommensquelle war, das ‹ganze Haus› gleichsam in die neue Zeit hinüber. Noch für einige Jahrzehnte blieb die Familie auch im Kolchos die entscheidende Bezugs- und Aktionseinheit, gleichsam das Atom des sozialen und ökonomischen Lebens. Diese letzte Bastion des alten Dorfes wurde in der überkommenen Form (nicht als solche, da ihr neue Funktionen zuwuchsen) erst durch die tiefgreifenden Veränderungen der Lebensverhältnisse während der nächsten Etappe der Industrialisierung seit den 1960er Jahren geschleift.[39]
Ein solches Fazit enthält auch eine Antwort auf die immer wieder aufgeworfene Frage, ob die neue Ordnung eine «zweite Leibeigenschaft» begründet habe. Die Bauern hatten gewiss gute Gründe, Kolchos und Staat als Nachfahren der einstigen Herren zu betrachten. Sie mussten wieder so viel Getreide und sonstige Feldfrüchte abgeben, dass ihnen selber kaum etwas übrig blieb (in dieser Hinsicht forderte der Stalinsche Staat sicher mehr als der durchschnittliche Adelige des frühen 19. Jahrhunderts). Sie hatten faktisch unbezahlte «Tagewerke» zu leisten, Brücken zu bauen, Holz zu fällen, Fuhrdienste zu leisten und durften sich seit 1933 ohne Pass nicht mehr frei bewegen – Zins (obrok), Fron (barščina) und Ortsbindung kehrten zurück. Dem entsprach, dass sie sich auf traditionelle Weise wehrten. Sie stahlen und unterschlugen so häufig, dass sich der Staat im Gesetz vom 7. August 1932 zur drakonischen Androhung zehnjähriger Lagerhaft oder gar der Todesstrafe genötigt sah. Sie begingen verbotene religiöse Festtage nach alter Art mit tagelangem Zechen, sie investierten alle Kraft in ihre eigenen Gärten und Ställe und vor allem: Sie straften den Kolchos durch nachlässige Arbeit und Desinteresse. Damit pflanzten sie dem ‹sozialistischen Dorf› Defekte ein, die zahllose nachfolgende Reformen bestenfalls lindern, nicht aber beheben konnten. So tief wurzelte ihre Ablehnung noch nach einem Jahrzehnt, dass nicht wenige sogar den deutschen Überfall in der Hoffnung begrüßten, er markiere den Anfang vom Ende der Kollektivwirtschaft. Der Ausbeutung stand auf Seiten der Bauern kein materieller Nutzen gegenüber (auch wenn sich industriell gefertigte Bekleidung anstelle der traditionellen selbstgewirkten zu verbreiten begann) und auf Seiten des Staates, wie gezeigt, kein ökonomischer Gewinn für die Industrialisierung. Was blieb, waren politisch-herrschaftliche Kontrolle für den Staat und neue Knechtschaft für das Dorf.[40]
Der Aufstieg der «Sowjetintelligenz» Das beherrschende Motto nach der großen Wende hieß auch für die leitenden Kader: Konsolidierung. Die neue Elite musste weiter wachsen, um die rasch expandierende Zahl an spezialisierten Aufgaben und Posten übernehmen zu können. Zugleich sollte sie Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur mit jenem Netzwerk von loyalen Funktions- und Herrschaftsträgern überziehen, dessen die zentrale Steuerung bedurfte. Die Staatslenker erwarteten, dass sie sich veränderte und neue Prinzipien zur Geltung brachte. Vorrangige Gesichtspunkte ihrer Rekrutierung waren fortan nicht mehr soziale Herkunft und ideologische Treue, sondern Leistung und Qualifikation. Dabei schlossen diese Anforderungen einander nicht aus. Am hilfreichsten war es nach wie vor, Leistung mit Parteiarbeit zu verbinden. Dennoch ließ sich eine deutliche Verschiebung der Akzente erkennen. Was schon der Rekurs auf die ‹Einmannleitung› und die aufsehenerregende Kritik an der ‹Gleichmacherei› programmatisch verkündeten, trat nun weiter in den Vordergrund. Stalin sprach sicher seine innerste Überzeugung aus, als er in einer Rede vom Mai 1935 die vielzitierte Formel prägte, «Kader» entschieden «alles». Selbstverständlich meinte er dabei nicht die alten, sondern neue, sowjetische.[41]