Die Grundtendenz der ‹kontrollierten Expansion› lässt sich schon an der quantitativen Entwicklung ablesen. Alle einschlägigen Daten zeigen für den Gesamtzeitraum vom Beginn der Planwirtschaft bis zum Kriegsausbruch ein erhebliches Wachstum. Absolut erhöhte sich die Zahl der Schüler in den achten bis zehnten (auf die Hochschulen vorbereitenden) Klassen, den Fabrik- und Werksschulen, den Arbeiter- und Bauernfakultäten, den technischen und sonstigen Fach- und den allgemeinen Hochschulen von ca. 775.200.1926/27 auf ca. 3,3 Mio. 1938/39, davon in den technischen Lehranstalten (Technika) allein von 180.600 auf 951.900 und in den Hochschulen im engeren Sinne (VUZy) von 168.000 auf 602900. Ingenieurdiplome besaßen 1928 47.000 und 1941.289.900 Personen. Für die breitere Gruppe von «Spezialisten mit höherer und mittlerer Bildung» in der «Volkswirtschaft» weisen die veröffentlichten Statistiken eine Zunahme von 521.000 auf 2,4 Mio. aus. Mithin erreichte die Steigerungsrate bei allen Absolventen qualifizierter Ausbildungsgänge das Dreifache und mehr. Allerdings verteilte sich diese Expansion ungleich über die einzelnen Phasen und Regionen. Nach der Massenrekrutierung vor allem von wirtschaftlich-technischem Führungspersonal im ersten Jahrfünft trat eine Verlangsamung ein, die nach 1934 in ein neues Wachstum überging (vgl. Tab. 20). Auch die einzelnen Gruppen in dieser heterogenen Schicht entwickelten sich ungleich. Vieles spricht dafür, dass der Bedarf an Ingenieuren, Technikern und sonstigen Fachleuten mit relativ geringer Qualifikation besonders groß war und vorrangig befriedigt wurde. Auch die Bildungs- und Sozialstruktur folgte den Vorgaben der Planung und Ressourcenkonzentration.[42]

Während sich die quantitative Ausdehnung der ‹Kader› im zweiten Planjahrfünft fortsetzte, lässt die soziale Herkunft der neuen Elite eine deutliche Zäsur erkennen. Der Vorrang der Konsolidierung neutralisierte bis zu einem gewissen Grade das Gewicht des ‹Klassengesichtspunkts›. Im Eventualfall gab der proletarische oder arme bäuerliche Vater für die Aufnahme in ein Technikum und die spätere Einstellung nicht mehr den Ausschlag; Effizienz und Qualifikation mussten gleichfalls auf der Waagschale liegen. Einige nach Funktionsgruppen aufgegliederte Daten für die ersten beiden Planperioden illustrieren dies. Unter den Unternehmensdirektoren fiel der Anteil «vormaliger Industriearbeiter» zwischen 1929 und 1936 von 67 % auf 62 %. Unter den Chefingenieuren machten Abkömmlinge aus «Arbeiter»-Familien 1936 nur 7,1 % aus, während 92,3 % dem Angestelltenmilieu entstammten. Nicht untypischerweise kamen Abteilungs- bzw. Werkstattleiter wieder häufiger aus der städtischen Unterschicht; in ihren Reihen stieg der entsprechende Anteil sogar von 33 % 1929 auf 50 % 1935.

Besonders aufschlussreich ist eine Aufstellung über die soziale Herkunft aller Studenten in höheren technischen Bildungsanstalten. Sie zeigt deutlich, dass der Arbeiteranteil zwischen 1928/29 und 1930 emporschnellte (von 43,7 % auf 64,5 %) und danach langsam, aber mit wachsendem Tempo abnahm (auf 57,2 % 1936). Parallel fiel die Quote der Bauern (1929/30 15,2 %, 1931 7,3 %) und verharrte auf ungefähr demselben niedrigen Niveau. Der Anteil der Angestellten nahm zu Beginn ebenfalls deutlich ab (von 35,8 % 1928/29 auf 22,3 % 1930), überschritt aber Ende 1934 mit steigender Tendenz wieder die Schwelle von 30 %. So waren Arbeiterkinder unter den Studenten aller Hochschulen bei der letzten veröffentlichten Erhebung vom Januar 1938 mit 33,9 %, gemessen am relativen Gewicht der Werktätigen in der Gesamtbevölkerung von 26 %, zwar nach wie vor überrepräsentiert. Aber ihre Bevorzugung hatte sich im Vergleich zu Angestellten und Funktionären, die 42,2 % der Studenten, aber nur 17 % der Bevölkerung stellten, deutlich verringert. Bauern blieben benachteiligt. Solche Indikatoren legen vor allem eine Schlussfolgerung nahe: Der Zugang zur technisch-administrativen Elite wurde mit dem Ende des ersten Planjahrfünfts wieder breiter. Es gab keinen Königsweg mehr für den Aufstieg. Darin lag, bei allen Privilegien der Parteiaktivisten, auch eine ‹Normalisierung› der Karrierechancen für die übrige Gesellschaft.[43]

Damit ging einher, dass Leistung auch materiell immer großzügiger entlohnt wurde. Der ‹Gleichmacherei› wurde nicht nur durch die Einführung des Akkordlohns und wachsende Einkommensdifferenzierung unter den Arbeitern selber der Boden entzogen. Auch der Abstand zu den Ingenieuren, zumindest den höheren, sowie vor allem dem Management vergrößerte sich zusehends. Um die Mitte des Jahrzehnts erreichte das Verhältnis zwischen den untersten und den obersten Gehältern 1:15, 1:20 und in manchen Fällen sogar 1: 80. Dabei führten weniger die Grundlöhne zu einer solch enormen Spannweite. Ausschlaggebend waren vielmehr die Prämien und Bonuszahlungen, in deren Genuss die Betriebsführung einschließlich der Ingenieure kam. Da dieses Zusatzeinkommen mehr von Quantität als von Qualität abhing, ließ sich manche profitable ‹Okkasion› nutzen. Zunehmend wichtiger wurde darüber hinaus die nichtmonetäre Gratifikation. Mit der planwirtschaftlich-stalinistischen Industrialisierung begann jenes System privilegierter Versorgung von ‹Kadern›, das bis zum Ende der Sowjetunion Bestand hatte. Die technisch-administrative Oberschicht kaufte in eigenen Läden, aß in besonderen Kantinen und wohnte in besonderen Häusern. Alles, was knapp war, stand ihr mit Vorrang zu. An die Stelle besserer Bezahlung trat in der Planwirtschaft, die eine chronische Mangelwirtschaft war, die bevorzugte Zuteilung. Was für Magnitogorsk als Prestigeprojekt in besonderem Maße galt, war sicher nicht repräsentativ, aber typisch: Direktoren, ihre Stellvertreter und Chefingenieure lebten mit den Oberen der Partei und Polizei in «opulenten Mehretagenhäusern», während Abteilungsleiter mit einer Dreizimmerwohnung und Arbeiter mit Baracken vorlieb nehmen mussten.[44]

Von der ‹neuen Intelligenz› kann nicht die Rede sein, ohne die Frage nach ihrer politischen Rolle in der stalinistischen Herrschaftsordnung aufzuwerfen. Partei und Staat haben nicht zuletzt aus diesen Gründen mit Energie und Gewalt auf eine Wende hingearbeitet. Eine ergebene Elite sollte den Platz der bloß gefügigen Spezialisten und der restlichen ‹bürgerlichen› Fachleute einnehmen. Gewiss förderten sie Sachkenntnis, Entscheidungsfähigkeit und Führungskompetenz. Aber sie bemühten sich nicht weniger darum, unabhängiges Denken zu unterbinden. Alles spricht dafür, dass ihre Rechnung aufging. Von nennenswerten Illoyalitäten seitens der ‹Kader› ist in den dreißiger Jahren nichts bekannt. Sehr wahrscheinlich kam dem Terror dabei eine wichtige Funktion zu. Gerade die Inhaber von Führungspositionen hatten Grund zu zittern. Das NKVD schuf auf seine Weise äußerst günstige Bedingungen für eine ungehinderte Elitenzirkulation. Davon profitierte die nachwachsende Generation linientreuer Sowjetspezialisten.

Dessen ungeachtet reicht der Hinweis auf staatliche Willkür und materielle Verlockungen als Erklärung für die Systemtreue der neuen Intelligenz nicht aus. Das zeigt schon ein Blick auf ihre weiteren Karrieren. Man hat ausgezählt, dass von 126 Mitgliedern des ZK und des Politbüro zwischen 1958 und 1965 immerhin 99 (78,5 %) zum technisch-administrativen Leitungspersonal der Vorkriegsjahre, ganz überwiegend dabei dem industriellen (80), gehört hatten. Die Verbindung zwischen Wirtschafts- und Parteiapparat war eng, deutlich enger als die zwischen Kulturelite und Partei. In vieler Hinsicht übernahmen Ingenieure und Unternehmensmanager eine ähnliche Rolle wie Juristen in westlichen Gesellschaften. Die Sowjetintelligenz war in hohem Maße eine technisch-ökonomische. Darin spiegelt sich zum einen die hohe Priorität, die der Industrialisierung für die Gesamtpolitik des Regimes zukam. Zum anderen aber mag darin auch eine Bevorzugung bei der Vergabe von politischen Führungspositionen zutage treten. Der stalinistische Staat brauchte Funktionäre und Verwalter. Er benötigte pragmatische Gehilfen, keine Grübler und Systemverbesserer. Ingenieure und Wirtschaftsmanager neigten in hohem Maße zu hierarchischem Denken im Dienst vermeintlicher Effizienz des Ganzen. Sie hatten sich schon im Ersten Weltkrieg, wenn ihr Berufsleben so weit zurückreichte, für eine starke Regierung und wirtschaftliche Koordination ausgesprochen. Sie hatten die Einführung der Planwirtschaft mit Sympathie begleitet, und sie neigten zu einem Regiment, das dem zentral gesteuerten Wirtschaftswachstum Vorrang einräumte. Nicht zuletzt die Karrieren eines Kosygin oder Brežnev verwiesen auf die eingewobene Affinität zwischen technokratischen Wirtschaftsfunktionären und der allgemeinen politischen Verwaltung. Man tauschte nur den Platz in der stalinistischen Nomenklatura; Grundqualifikation und Mentalität blieben dieselben.[45]

In welchem Maße dies auch für die kulturelle Elite galt, muss offen bleiben. Auch ihre Zahl wuchs beträchtlich. Den größten Teil bildeten dabei wohl Lehrer und die Dozenten an Fach- und sonstigen Hochschulen. Allein die Zahl der Schulen erhöhte sich zwischen 1933 und 1940 um 19.313. Hinzu kamen Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller, Künstler und andere mehr. Soweit diese sich als intelligencija im engeren Sinne, als kritische Epochendeuter, Hüter überzeitlicher Werte und geistige Führer begriffen, standen sie überwiegend in offener oder verborgener Opposition zum Regime. Allerdings wirkte eine tiefgreifende Veränderung ihrer materiellen Lage solchen Neigungen entgegen. Mit der endgültigen Beseitigung des Marktes büßten die Intellektuellen vollends ihre Unabhängigkeit ein. Die letzten privaten Verlage und sonstigen Einrichtungen, in denen sie Unterschlupf finden konnten, verschwanden. Der allgegenwärtige Staat und die quasistaatliche Partei sicherten sich ein Beschäftigungsmonopol, dem die «Kulturschaffenden» in besonderem Maße unterworfen waren. Der Terror tat ein Übriges, um auch diesen Teil der neuen Elite in den dreißiger Jahren zum Schweigen oder zu (schein)loyaler Mitarbeit zu bewegen.[46]

So mochte denn Stalin alles in allem gar nicht so unverschämt gelogen haben, als er im Tätigkeitsbericht des ZK vor dem 18. Parteitag im März 1939 mit Stolz feststellte, dass sich «eine zahlreiche neue Intelligenz», die «Sowjetintelligenz», gebildet habe. Zusammen mit der halben Million ‹junger Bolschewiki, Parteimitglieder und der Partei Nahestehender›, die seit 1934 «in leitende Posten der Staats- und Parteiarbeit» befördert worden waren, tat sie ganz überwiegend eben das, was sie nicht nur nach seiner Meinung tun sollte: der Partei «treu und ehrlich zu dienen».[47]

Alphabetisierung, Schule, Bildung  Der Übergang zur Stalinära bedeutete im Bereich von Bildung, Kunst, Wissenschaft, ethisch-moralisch gesteuerten Sozialbeziehungen und anderen Ausdrucksformen des ‹Zeitgeists› eine Zäsur, die als besonders tief empfunden wurde. Hier lösten keine Phasen einer im Kern unveränderten Ordnung einander ab wie die persönliche Diktatur eine oligarchische. Hier fehlte auch weitgehend eine Zwischenphase in Gestalt der partiellen Wiederbelebung des ‹heroischen› Elans der frühen Jahre. Vielmehr vollzog sich gleichsam ohne Drapierung eine offene Kehrtwende. Die Zeit der Experimente war vorbei; es begann die Rückbesinnung auf Tradition und Herkommen. An die Stelle «revolutionärer Träume» (R. Stites), die mit Beginn der NĖP zwar eingehegt, aber noch nicht ausgelöscht worden waren, trat endgültig eine verbindliche und mit staatlicher Zwangsgewalt geschützte Utopie, an die Stelle von Neuerungen die Wiederentdeckung alter Werte. Sie mündete, trotz aller Beschwörung des Sozialismus, in eine deutliche Neigung zum Konservatismus. Gewiss wollte auch der etablierte Stalinismus die Gesellschaft mobilisieren, aber unter unangefochtener Wahrung seiner Herrschaft, der Hierarchie und dessen, was er unter Ordnung verstand. Diesen Prämissen hatte sich das kulturelle Leben in all seinen Erscheinungsformen in besonderem Maße zu unterwerfen. Bei allem Einfluss, über den auch Untergebene durch ihre Mitwirkung verfügen, büßte es den letzten Rest an Selbständigkeit ein. Die sichtbare Kultur diente fortan dem Regime und seiner geistig-ideologischen Legitimation.

Ausgespart von dieser Entwicklung blieb am ehesten der Kampf gegen den Analphabetismus. Er wurde auch nach dem Ende des «Kulturfeldzugs» im ersten Planjahrfünft fortgesetzt, wenngleich mit geringerem propagandistischen und organisatorischen Aufwand. Bei Licht besehen, lag dieser Kontinuität eine anhaltende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zugrunde. Zwar feierte man nach dem deklarierten Aufbruch ins Industriezeitalter auch einen vollen Erfolg an der ‹Unterrichtsfront›. Die blanke Unkenntnis war angeblich so gut wie ausgerottet. Nur an der äußersten Peripherie bei den rückständigsten Völkern gab es noch Relikte. Dass die «Gesellschaft ‹Fort mit dem Analphabetentum›» 1936 aufgelöst wurde, dokumentierte diese angebliche Errungenschaft auch nach außen hin. Das Regime tat damit kund, dass es keiner separaten Organisation mehr bedurfte, sondern die einschlägigen Anstrengungen in das normale Schulsystem integriert werden konnten. Zugleich erinnerten Beschlüsse des 17. Parteitags vom Frühjahr 1934 und des SNK vom 16. Januar 1936 daran, dass man in den Anstrengungen nicht nachlassen dürfe. Auch Sachkenner wie Krupskaja, die noch offene Worte riskierten, äußerten Zweifel an den amtlichen Erfolgsmeldungen. Sie warfen die Frage nach den Kriterien auf und ließen durchblicken, dass die Unterwiesenen vom Alphabet vielfach nicht mehr beherrschten als die Buchstaben ihres Namens.[1]

Soweit die Anstrengungen statistischen Niederschlag fanden, wird man diese Unklarheit der Maßstäbe in Rechnung stellen müssen. Dennoch vermitteln die verfügbaren Daten ein Bild, das in seinen charakteristischen Konturen als korrekt gelten darf. In der Gesamtentwicklung zeigt sich, dass die starke Zunahme der Schreib- und Lesefähigkeit anhielt. Konnten im Dezember 1926 56,6 % der Bevölkerung beiderlei Geschlechts zwischen 9 und 49 Jahren in diesem Sinne als ‹alphabetisiert› gelten, so belief sich der entsprechende Anteil im Januar 1937 auf 80,3 % und im Januar 1939 auf 87,4 %. Männer besaßen mit einem Anteil von 71,5 % Schreib- und Lesekundigen 1926 und 93,5 % 1939 immer noch einen Vorsprung; aber der Abstand zu den Frauen (1926 42,7 %, 1939 81,6 %) verringerte sich deutlich. Desgleichen schmolz die Kluft zwischen Stadt und Land. Noch 1926 betrug das entsprechende Verhältnis 80,9 % zu 50,6 % (für beide Geschlechter); bis 1939 schrumpfte es auf 93,8 % zu 84,0 %. Der höchste Anteil an Analphabeten war nach wie vor unter den Frauen auf dem Dorfe zu verzeichnen. Auch hier ließ die Statistik aber eine Besserung erkennen: Von 64,6 % (!) 1926 verminderte sich die Quote auf 23,2 % 1939. Kaum der Erwähnung bedarf, dass sich die Gesamtveränderung in den einzelnen Regionen des Riesenreiches unterschiedlich vollzog. Im Ganzen gilt dabei, dass sich der Analphabetismus an der südöstlichen Peripherie und besonders in Mittelasien am hartnäckigsten hielt. Zugleich zeigen die Daten aber auch, dass gerade hier enorme Fortschritte erzielt wurden. Teilweise erhöhte sich der Anteil der Schreib- und Lesekundigen zwischen 1926 und 1939 um mehr als 50 %. Auch bei den Frauen lag er am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in keiner Unionsrepublik unter 60 %. So scheint das Urteil begründet zu sein, dass die Sowjetunion ungeachtet fragwürdiger Erhebungskriterien und der Neigung zu falschen Erfolgsmeldungen im Vorkriegsjahrzehnt bei der Massenbildung tatsächlich einen großen Sprung nach vorn machte und das Niveau der mittel- und westeuropäischen Länder vom Ende des 19. Jahrhunderts erreichte.[2]

Umso klarer war die Wende in der Schulpolitik. Der ‹neue Mensch› alter Prägung wurde gerade hier nicht mehr gebraucht. Revolutionäre Pädagogik hatte endgültig ausgedient. Der stalinistische homo sovieticus sollte nicht mehr in erster Linie die Kopflastigkeit traditionellen Lernens überwinden. Sein Streben hatte nicht länger vorrangig der Formung einer ganzheitlichen, theoretische und praktische Erfahrung vereinenden Persönlichkeit zu gelten. Vielmehr erforderte der sozialistische Aufbau im neuen Verständnis vor allem eine Tugend: Aufgaben penibel und effektiv ohne Nachfrage zu erfüllen. In erheblichem Maße verlagerte sich der Endzweck schulischer Bildung vom Individuum auf den Staat. Nicht mehr der Einzelne war Maßstab der Methoden und Inhalte, sondern seine künftige Verwendung.

Dazu bedurfte es nicht nur einer eigenen politischen Sozialisation, an deren Erzeugung sich die verschiedensten Agenturen, von den Jugendverbänden bis zur parteilich-staatlichen Propaganda, versuchten. Man benötigte auch eine darauf zugeschnittene andere Schule und Pädagogik. Die entscheidende Kurskorrektur wurde mit dem Beschluss des ZK «über die Grund- und Mittelschulen» vom 5. September 1931 vollzogen. Was die Staatslenker vor allem vermissten, war die Vermittlung von ‹ausreichendem Allgemeinwissen›. Die «Polytechnisierung» werde als Ersatz für die soliden Grundkenntnisse vor allem der Naturwissenschaften missverstanden. Die Lektion aus dieser Mängelrüge lag auf der Hand: Basiswissen war wieder gefragt, Pauken sollte jene «Projektmethode» ersetzen, die ohnehin nur die «Zerstörung der Schule» fördere, nicht aber die Qualifikation. Eine lange Resolution vom 25. August 1932 erläuterte das neue Ziel. Grundlage des Unterrichts sollten wieder detaillierte und verbindliche Lehrpläne sein, Hauptarbeitsmittel erneut Bücher. Um eine «Überlastung», wie erstaunlicherweise formuliert wurde, durch politisch-gesellschaftliche Aktivitäten zu verhindern, scheute man 1934 selbst vor einer Anweisung an die «jungen Pioniere» nicht zurück, sich aus den Schulen zurückzuziehen. Als zu Beginn des Massenterrors auch besondere Bemühungen um kind- und jugendgerechte Schulerziehung, die «Pädologie», als schädliche und sinnlose «Abweichung» gebrandmarkt wurden, war der offene Widerruf der Prinzipien von einst nur noch eine Frage der Zeit. Am 4. März 1937 wurde die Arbeitslehre als Fach in der Grund- und Mittelschule abgeschafft. Nicht zufällig kamen um dieselbe Zeit die Schriften des Autodidakten A. S. Makarenko zu Ehren, der seine Theorien in Kinderheimen der OGPU erprobt hatte und die Methoden dieser Organisation bewunderte. Autorität, Hierarchie und Gehorsam hielten auch wieder in die Pädagogik Einzug.[3]

Dem Wandel von Ziel und Form des Unterrichts entsprach die Veränderung seiner Organisation. Auch die institutionelle Gestalt der Schule passte nicht mehr zum politischen Umfeld. Kollektive Leitung und (zumindest rechtlich mögliche) Mitbestimmung von Eltern und Schülern wichen der Anverwandlung an das Kommandosystem. Die Stellung des Lehrers wurde per Gesetz ausdrücklich gestärkt: Was er allein entschied, war fortan durch kein Repräsentativgremium mehr zu korrigieren. Vor allem die Schülermitverwaltung wurde zum Opfer der Restauration. An die Stelle der verbliebenen Partizipation – überzogene demokratische Experimente waren, wie erwähnt, schon früh abgebrochen worden – trat die absolute Autorität des Schulleiters. Die Beteiligung selbst der Eltern oder ‹gesellschaftlicher› Experten und Betroffener in einem Pädagogischen Rat entfiel. Der Leiter wurde wieder zum Direktor und lenkte das «gesamte Unterrichts-, Erziehungs- und administrativ-wirtschaftliche Leben der Schule».

Parallel dazu versäumte es die Regierung nicht, die Gliederung des allgemeinbildenden Schulsystems zu vereinheitlichen. Ein Gesetz vom 16. Mai 1934 erhob drei aufeinander aufbauende Schularten zur Norm: die vierklassige «Grundschule», die siebenklassige «unvollständige Mittelschule» und die zehnklassige (vollständige) «Mittelschule». Zugleich löste es die bisherigen Schülergruppen auf und wandelte sie in feste «Klassen» um. Absolventen der «unvollständigen Mittelschule» sollten bevorzugt in die Technika eintreten, die vollständigen «Mittelschulen» gezielt auf die Hochschulen vorbereiten. Auch die Stundendauer, Pausenlänge, Leistungsanforderungen und nicht zuletzt «absolut» verbindliche Disziplinarregeln wurden im Zuge der Normierung festgelegt. So konnte es keinen aufmerksamen Beobachter mehr überraschen, als der Wandel 1936 auch äußerlich dokumentiert und die Schuluniform wiedereingeführt wurde. Für andere mochte dieser Akt dennoch mehr als der folgerichtige Schlusspunkt einer längst vollzogenen Wende sein: Nichts machte die Abkehr von den pädagogischen Idealen der Revolution und die Rückwendung zum autoritären Stil, wenn auch sicher nicht zum sozialen Charakter der zarischen Schule sinnfälliger als die verordnete Einheitlichkeit der äußeren Erscheinung. Dass nun auch wieder Medaillen, Preise und sonstige Auszeichnungen vergeben wurden, um die erwünschte Union von Leistung, Konformität und ideologischer Ergebenheit zu fördern, ergab sich fast von selbst. Einen weiteren markanten Schritt zurück bedeutete schließlich die Entscheidung vom Oktober 1940, nicht nur für das Studium, sondern auch für den Besuch der oberen (ausschließlich auf die Hochschulen hinführenden) Klassen der Mittelschule Gebühren zu erheben. Damit legte der Arbeiter- und Bauernstaat auch die egalitäre Utopie von einst zu den Akten. Die neue administrativ-technische Elite hatte sich so weit gefestigt, dass sie nach einem Bildungsmonopol zu greifen wagte. Die zweite Phase des Stalinismus als Herrschafts- und Sozialordnung, der Übergang von der Mobilisierung zur Stratifikation, begann in dieser Hinsicht schon vor der tiefen Zäsur des Weltkriegs.[4]

Im Bereich der Berufsbildung war die Wende weniger deutlich zu spüren. Die höheren Klassen und Anstalten wurden in den Umbau der Hochschulen einbezogen und durchliefen im Kern denselben Wandel. Fundamental wirkte sich allerdings die am 2. Oktober 1940 verfügte Einrichtung der sog. staatlichen Arbeitsreserve aus. Sie offenbarte in jedem Buchstaben den Geist des etablierten Stalinismus. Erst seit der Mitte der dreißiger Jahre dürfte es möglich gewesen sein, zur Sicherung des «ständigen Zustroms neuer Arbeitskräfte» für die Industrie einfach ‹anzuordnen›, dass jährlich 800.000 bis 1 Mio. Jugendliche aus Stadt und Land in neu zu schaffende Gewerbeschulen abzukommandieren seien. Dort sollten sie mit der Maßgabe ausgebildet werden, anschließend vier Jahre an einem zugewiesenen Platz Dienst zu tun. Erst die Festigung der Parteidiktatur bis in die tiefste Provinz erlaubte es, die «Kolchosvorsitzenden» (sic!) und die «Stadtsowjets» zu «verpflichten», jährlich von je hundert Kolchosmitgliedern zwei Jugendliche zwischen 14 und 15 Jahren und in den Städten eine jeweils vom SNK festzulegende Anzahl für diesen Zweck ‹auszuwählen›. Mitten im Frieden wurde damit eine Militarisierung der Arbeit verfügt, die in anderen Ländern eine typische Kriegserscheinung war. Sie wurde erst 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod, aufgehoben.[5]