Hochschulen und Universitäten wurden von Stalin und seinen Helfern mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Nach der ungestümen Mobilisierung im ersten Planjahrfünft setzte mit dem zweiten auch in diesem Bereich der Versuch einer Neuordnung ein. Woran es mangelte, formulierte die erste einschlägige Verordnung vom 19. September 1932 erstaunlich unverblümt: Die ‹einseitige› Konzentration auf wachsende Zahlen habe zu einer Vernachlässigung des Niveaus geführt. Gerade in der höchsten Bildung aber müsse die Qualität Vorrang haben vor der Quantität. Um dies wieder zu erreichen, schlugen Partei und Regierung dieselben Maßnahmen vor wie in den Schulen: «Studienpläne und Stundentafeln» zu straffen, die Stoffvermittlung wieder in den Vordergrund zu rücken, den Fächerkanon zu verkleinern und dafür die Ausstattung einschließlich des Literaturbestandes deutlich zu verbessern. Zugleich beschnitt man den Wildwuchs in der Organisation von Lehre und Verwaltung. Zulassung, Studium und Prüfungen wurden 1936, ein Jahr später die Voraussetzungen für die Verleihung akademischer Grade landesweit vereinheitlicht. Anfang September 1938 fasste ein Musterstatut die gesamte administrative Neuordnung zusammen. Rektoren und Direktoren fiel fortan die alleinige Entscheidungskompetenz für das Ganze, Dekanen für die Fakultäten zu. Alle wurden hierarchisch vom jeweils nächsten Vorgesetzten ernannt: Rektoren vom Volksbildungskommissar, Dekane von den Rektoren. Da man sie zugleich, wie die Studenten, auf die «Lehre von Marx-Engels-Lenin-Stalin» verpflichtete, waren damit nicht nur die rechtlichen Voraussetzungen für die Gleichschaltung auch der Universitäten geschaffen worden. Von der vorrevolutionären Autonomie und akademischen Freiheit, die den Untergang der Monarchie zwar beschädigt, aber großenteils funktionstüchtig überstanden hatten, blieb keine Spur.[6]

Über den Erfolg des stalinistischen Umbaus im Bildungswesen lässt sich nur in Kenntnis quantitativer Angaben urteilen. Die vorliegenden Daten erlauben eine Aufschlüsselung nach Schultypen und vermitteln vermutlich eine wirklichkeitsnähere Vorstellung als für die meisten anderen Bereiche der Kultur und sozialen Schichtung.

Einige Folgerungen drängen sich auf. Zum einen illustriert die Statistik (vgl. Tabelle 21 und 22) erneut die ungeheure Dynamik des ersten Planjahrfünfts. In den Grundschulen verdoppelte sich die Schülerzahl, in der ‹unvollständigen Mittelschule› stieg sie auf das Zweieinhalbfache, in den Fabrik- und sonstigen berufsbildenden Schulen auf beinahe das Vierfache. An den Technika und vergleichbaren Fachschulen studierten gegen Ende des Zeitraums etwa dreimal mehr als zu Anfang; und auch an den Hochschulen erhöhte sich die Absolventenzahl auf etwa das Zweieinhalbfache. Mit Beginn des zweiten Fünfjahresplans verlangsamte sich das Wachstum an den Grundschulen. An den höheren Fach- und den Hochschulen war 1933/34 ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen, der an den berufsbildenden Anstalten das Ausmaß eines regelrechten Einbruchs annahm. Einzig die unvollständige und vor allem die vollständige Mittelschule expandierten weiter, so dass sich der Eindruck ergibt, als habe man den überstürzten Ausbau auf der höchsten Ebene zunächst gebremst, um über die Mittelschulen besser vorbereitete Studenten als Reservoir für die neue Elite heranzuziehen. Dementsprechend stieg die Zahl der Hochschulabsolventen vor allem im dritten Planjahrfünft wieder spürbar an.

Alles in allem bestätigen solche Daten die Entwicklung, die sich bereits am Beispiel der technisch-administrativen Intelligenz zeigte. Die Ausbildung von Kadern gelang in erheblichem Maße. Wenngleich es der Industrie weiterhin an Fachkräften mangelte, wurden mehr Techniker, Ingenieure, Lehrer, Ärzte und sonstige ‹Spezialisten› aus den Fach- und Hochschulen entlassen als je zuvor. Auch in den Grund- und Mittelschulen drängten sich mehr Jugendliche, vor allem aus den Unterschichten, als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt der russischen Geschichte. Insofern holte der Sowjetstaat nun auf diesem Gebiet ebenfalls nach, was die mitteleuropäischen und angelsächsischen Länder schon früher begonnen hatten: Er mobilisierte die Qualifikationsressourcen der breiten Masse der Bevölkerung. Damit folgte er einem Imperativ seines Wirtschaftsprogramms. Ohne Hebung des allgemeinen Kenntnisniveaus war, wie Stalin richtig erkannte, der «Aufbau des Sozialismus» nicht zu bewerkstelligen. Dieses Junktim und das enorme Tempo brachten es mit sich, dass Bildungssystem und Curricula in unmittelbarer Weise auf die Bedürfnisse von Industrie und Gesellschaft zugeschnitten wurden. Die diktatorische Verfügungsmacht des Staates tat ein Übriges, um die Absolventen der verschiedenen Schultypen in vorgezeichnete Laufbahnen zu lenken. Zielprodukt dieser Ausbildung war der effiziente, ideologisch ergebene, auch in der allgemeinen Verwaltung einsetzbare Wirtschaftstechnokrat. Auf der Strecke blieben, weil dysfunktional geworden, die ursprünglichen ‹humanistischen› Ideale der Revolution.[7]

Frauen, Familie, Moral  In vieler Hinsicht war die veränderte Sicht auf die Familie und die soziale Stellung der Frau exemplarisch für den Wertewandel, den Partei und Staat der Gesellschaft unter Stalin verordneten. Zwar hatte sich die kulturrevolutionäre Experimentierfreude des Oktober schon früh an der sperrigen Realität zerrieben. Dennoch verhalf der Elan des Neuanfangs einigen alternativen Grundanliegen wie der Zivilehe oder der weiblichen Emanzipation so weit zu gesetzlicher Geltung, dass der Bruch mit der religiös und patriarchalisch geprägten Vergangenheit immer noch als radikal gelten konnte. Erst Stalin brachte auch in dieser Hinsicht eine Neuorientierung auf den Weg, die weit über Rücksichtnahme auf praktische Hindernisse hinausging. Vor dem Hintergrund wachsender Zweifel am Ziel der ‹Auflösung der Familie› in der Gesellschaft scheinen dabei mehrere Motive eine Rolle gespielt zu haben.

Zum einen bestand ein erhebliches demographisches Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern fort. Welt- und Bürgerkrieg hatten einen hohen Blutzoll gefordert, der überwiegend Männer traf. Ende 1926 kamen nur 48,3 Männer auf 100 Einwohner; absolut belief sich der Frauenüberschuss auf etwa 5 Mio. Zwangskollektivierung, neue Hungersnot und Deportationen vergrößerten das Missverhältnis weiter. Beim unterdrückten Zensus von 1937 zählte man 52,7 % Frauen, und am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entfielen etwa 92 Jungen und Männer auf 100 Mädchen und Frauen. Volkswirtschaftlich bedeutete diese Entwicklung vor allem eines: Es fehlte an männlicher Arbeitskraft. Das machte sich umso bemerkbarer, als der Bedarf mit dem Beginn des ersten Fünfjahresplans über Nacht emporschnellte. Die entfesselte Industrialisierung zwang daher nachgerade dazu, das Defizit an herkömmlichen Kräften durch die verstärkte Rekrutierung von Arbeiterinnen auszugleichen. Diese neue Rolle musste aber mit der reproduktiven Aufgabe der Frau verbunden werden, wenn man die demographische Balance wiederherstellen und darüber hinaus ein Bevölkerungswachstum erreichen wollte, das in der Lage war, die Industrialisierung auf Dauer hinreichend mit Arbeitskräften zu versorgen.

Zum anderen wies der einflussreiche Ökonom und Statistiker Strumilin zu Beginn des zweiten Planjahrfünfts auf einen Zusammenhang zwischen Verstädterung (als Beginn des sozialen Aufstiegs) und sinkender Geburtenrate hin. Da er als Folge der Rekrutierung weiterer Millionen von Bauern für die Industrie eben diese Wirkung vorhersagte, glaubten die Regierenden die ‹Notbremse› ziehen zu müssen. Hinzu mochte ein weiteres Motiv kommen: die Anpassung an die traditionelle Moral vor allem auf dem Dorf und die Ausmerzung der Revolutionäre der frühen Jahre. Es lag auf der Hand, dass weder die Bauern noch die Arbeiter den Aufstand gegen die ‹bürgerlichen› Lebensformen der alten Gesellschaft angeführt hatten, sondern die radikale Intelligenz. Eben sie, die in aller Regel mit der linken Opposition sympathisierte, wurde das erste, geradezu systemnotwendige Opfer der Stalinschen ‹Revolution›. Die neuen Herren des Sowjetstaates aber waren nicht nur pragmatisch gesonnen und antiintellektuell, sondern unter der Oberfläche eines schematischen Marxismus in ihren sozialmoralischen Normen auch konservativ. Dies entsprach der Vorstellungswelt der Bevölkerungsmehrheit und harmonierte mit den Werten, die nach dem Ende des Bildersturms (als sich die durchaus anders denkenden Komsomolzen wieder zurückzogen) in den Vordergrund traten. Das Neue war zwar nicht das Alte, griff aber darauf zurück, um es für seinen Hauptzweck umzuformen: die Aufwertung der Familie von einem Überhang der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zum «Bollwerk» und zur Keimzelle des Sozialismus.[8]

Was eher nebensächlich aussah, betraf tatsächlich Grundfragen der individuellen und kollektiven Existenz. Dabei war es gewiss bezeichnend, dass der Staat zuvorderst am Wachstum seiner Bevölkerung interessiert war. Die vorbildliche Sowjetbürgerin sollte sich nicht nur öffentlich für die sozialistische Sache engagieren, sondern auch aufopferungsvolle Mutter sein. Dass sie dafür vorübergehend auf ihre aktive Mitwirkung am wirtschaftlichen Aufbau verzichten musste, nahm man in Kauf. Die ideale Kommunistin näherte sich dem nationalrussischen Urbild der ‹Mutter Heimat›. Sie konnte sich, wie die Pravda formulierte, nicht nur mit Stolz als «Vollblut-Bürgerin des freiesten Landes der Welt» fühlen, sondern auch am «Segen der Mutterschaft» teilhaben. Ihre neue Aufgabe lautete, «die Familie zu schützen» und «gesunde Sowjethelden» aufzuziehen. In diesem Geiste erlangte am 27. Juni 1936 ein Beschluss des VCIK Gesetzeskraft, der die Abtreibung (außer bei gesundheitlicher Gefahr für Mutter und Kind) erstmals seit 1920 wieder verbot. Damit ging, zum Unwillen vieler berufstätiger Frauen, wie ebenfalls veröffentlichte Gegenstimmen zeigten, eine ganze Ära zu Ende. Propagandistische ‹Erläuterungen› fehlten nicht. Kollontajsche Aufrufe zur «sogenannten ‹freien Liebe›» und andere Spielarten eines «unordentlichen Sexuallebens» hätten ihre ‹bürgerliche Schädlichkeit› unzweifelhaft bewiesen. Die verantwortungsbewusste «sowjetische Jugend» habe die Tugend der Elternschaft in dem Bewusstsein wiederentdeckt, dass das «sozialistische Vaterland» gesunde Mütter und Väter und eine «kräftige Generation von Erbauern des Sozialismus» brauche.[9]

Mit dem Abtreibungsverbot war der verstärkte Schutz der Ehe unmittelbar verknüpft. Aus der neuen Wertschätzung der Familie ergab sich von selbst, dass das nichtformalisierte Zusammenleben zur dekadenten Libertinage degradiert wurde. Partei und Öffentlichkeit prangerten seine soziale ‹Schädlichkeit› an, wo immer sich eine Gelegenheit bot (auch wenn sie es faktisch in größerem Maße hinnehmen mussten, als sie vorgaben). Gesetzliche Verankerung fand dieser Schwenk allerdings erst während des Krieges. Unter dem verstärkten Druck der riesigen Menschenverluste versprach Stalin per Dekret vom 8. Juli 1944 nicht nur unverheirateten Müttern staatliche Hilfe, sondern konzentrierte zugleich alle einschlägigen Rechte (und Pflichten) auf die registrierte Ehe. Ohne rechtliche Qualität begründete die faktische Lebensgemeinschaft fortan keinerlei einklagbaren Ansprüche mehr. Damit ging das Bemühen einher, die Scheidung zu erschweren. Die Trennung per ‹Postkarte›, wie Kritiker die bloße, seit 1927 sogar nur noch im ZAGS abzugebende Willenserklärung verspotteten, genügte nicht mehr. Scheidungen kamen wieder vor Gericht und mussten fortan verhandelt werden. Sie verursachten nicht nur einen förmlichen Prozess, sondern wurden auch erheblich teurer. Von beidem versprach sich der Staat einen abschreckenden Effekt. In dieselbe Richtung zielte der Versuch, die Ehepartner zu mehr Kindern zu animieren. Mutterschaftsmedaillen und -orden wurden gestiftet. Fünf und mehr Kinder zur Verteidigung des Vaterlandes und zum Ruhme Stalins zur Welt zu bringen, sollte nicht nur öffentliche Anerkennung eintragen, sondern sich auch lohnen. Spätestens dadurch kamen sich die beiden militärischen Hauptgegner in dieser Frage ideologisch sehr nahe. Ob für die «Volksgemeinschaft» und das Überleben der «Herrenrasse» oder den «Aufbau des Sozialismus» und die Verteidigung des «Vaterlandes» – Gebären wurde zur ersten weiblichen Bürgerpflicht und der Muttermythos ein probates und kostengünstigeres Mittel als materielle Hilfen (die es aber auch gab), um seine Erfüllung zu befördern.[10]

Die betonte Rückwendung zur Familie hatte indes noch weitere Konsequenzen, die den Visionen des Oktober Hohn sprachen. Zum revolutionären Egalitarismus hatte auch die Absicht gehört, uneheliche Kinder vom Schicksal der Rechtlosigkeit zu befreien. Indem der Unterschied zwischen ehelich und unehelich Geborenen verblasste, zog die weitgehende Anerkennung nichtformalisierter Lebensgemeinschaften gleichsam im Nebeneffekt erhebliche Fortschritte auf diesem Wege nach sich. Aus demselben inneren Zusammenhang ergab sich aber auch, dass die Diskriminierung in dem Maße wieder hervortrat, in dem die förmliche Ehe aufgewertet wurde. Deshalb heftete die rechtliche Degradierung nichtregistrierter Lebensgemeinschaften im Juli 1944 Kindern aus solchen Verbindungen über Nacht wieder das Stigma der Illegitimität an. Ähnlich veränderte sich die Lage derer, die sich den normativen Geschlechterrollen nicht fügen wollten oder konnten. In den zwanziger Jahren konnten Homosexuelle auf dieselbe Toleranz rechnen wie überzeugte, dem anderen Geschlecht nicht abgeneigte Junggesellen. In der Stalinschen Gesellschaft verfielen Erstere einem völligen Tabu oder bei Entdeckung manifester Ahndung; Letztere mussten mit Unverständnis und seit 1944 mit Strafsteuern rechnen. Sicher reicht dieser Umgang mit Minderheiten und individuellen Lebensformen zur zureichenden Charakterisierung autoritärer oder gar totalitärer Herrschaft nicht aus. Aber er passt ins Bild und gehört durchaus zu ihren ‹regelhaften› Merkmalen.

Bei alledem wäre es verfehlt, die Kehrtwende als völlige Rückkehr zu den Rollen- und Moralvorschriften der Zarenzeit zu verstehen. Zum einen fehlte die alles durchdringende Ausstrahlung der kirchlich-religiösen Lehre. Zum anderen kam die Gleichstellung der Geschlechter in manchen Bereichen nicht nur formal weiter voran. Frauen wurden aus den genannten demographisch-ökonomischen Gründen stärker als zuvor gedrängt, sich in den Arbeitsprozess einzugliedern. Dies setzte voraus, dass sie entsprechende Qualifikationen erwarben und von den breiten Bildungschancen profitierten, die der Sowjetstaat den Unterprivilegierten des alten Regimes nach wie vor anbot. Traditionelle Werte wurden auf veränderte Zwecke zugeschnitten. Das Ergebnis war eine eigentümliche Verbindung von Altem und Neuem, die im Regelfall auf eine Doppelbelastung hinauslief. Auch darin knüpfte der Stalinismus eher an bäuerliche als an elitär-städtische Zustände an, mit dem Unterschied freilich, dass die Versorgung von Vieh und Hof leichter mit familiären Pflichten zu verbinden war als eine industrielle oder administrative Tätigkeit außer Haus. Die Sowjetfrau der dreißiger Jahre war Arbeiterin und Mutter. Sie stand tagsüber an derselben Werkbank wie die Männer, musste aber nach einem physisch nicht minder harten Arbeitstag noch den Haushalt besorgen. Alle soziologischen Studien bestätigen, dass alte und neue Aufgaben einander nicht ablösten, sondern sich addierten. Deshalb sprechen gute Gründe für die Ansicht, die Frauen seien die eigentlichen Helden oder Opfer des entbehrungsreichen ‹sozialistischen Aufbaus› der dreißiger Jahre gewesen.[11]

Persönlichkeitskult, Massenpropaganda, Ideologie  Von allen Versuchen der Politik, Einfluss auf das geistige Leben und öffentlich-kollektive Verhalten der Bevölkerung zu nehmen, ist die Verherrlichung Stalins am tiefsten ins Bewusstsein zeitgenössischer und späterer Beobachter eingedrungen. Was 1956 beim ersten Versuch der Vergangenheitsbewältigung sachlich-deskriptiv als «Persönlichkeitskult», aber auch als «widerwärtige Lobhudelei» bezeichnet wurde, galt zu Recht als charakteristisches Merkmal der von ihm geprägten Herrschaftsordnung. In gewisser Weise wurde sein Aufstieg zur alleinigen Macht erst durch die Glorifizierung des «Führers» zum Stalinismus. So wie das System – ungeachtet allen Eigengewichts strukturell-sozialer Komponenten – ohne die Person nicht zu verstehen ist, lässt sich auch die Darstellung der Person nicht ohne Berücksichtigung der politischen Maßnahmen und umfangreichen Apparate begreifen, die dem einen Ziel dienten: der Entrückung des Diktators in eine Sphäre nicht nur unbeschränkter Gewalt, sondern auch absoluter Tadel- und Kritiklosigkeit.[12]

Offensichtlich ist, dass diese ‹Kanonisierung› inszeniert wurde. Presse, Rundfunk und Film traten ebenso in ihren Dienst wie Versammlungen und alle Arten öffentlicher Manifestationen. Bauten, Skulpturen, Spruchbänder und Aufschriften machten sie im Stadtbild sichtbar, Monumente verkörperten sie durch ehrfurchtgebietende physische Dimensionen, parteilich gesteuerte Organisationen verliehen ihr in politischen und geselligen Veranstaltungen Ausdruck. Stalin war überall, umgeben und bewacht von einem wachsenden Heer gefügiger Parteifunktionäre und allgegenwärtiger Geheimpolizisten. Von Beginn seiner Alleinherrschaft an wurde er zum Regisseur und Nutznießer befohlener Massendevotion, die sich symbiotisch mit zunehmender Manipulation und terroristischer Bedrohung verband. Vor allem deshalb avancierte er neben Hitler zur Personifikation des modernen, totalitären Diktators. Wenn es einen gemeinsamen Maßstab für den Vergleich zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus gibt, dann dürfte er zuerst in diesem Aspekt ‹populistischer› Suggestion mittels Propaganda, organisierter Massenbewegung und umfassender Steuerung aller öffentlichen kollektiven, verbalen wie szenischen Artikulation der Bevölkerung zu sehen sein. Dabei waren Lenkung und Kontrolle gewiss nicht lückenlos, aber effektiv und modern.

Dem Nationalsozialismus ähnlich, wenngleich auf deutlich niedrigerem Niveau setzte auch der Stalinismus alle technischen Errungenschaften, die ihm zu Gebote standen, für die Gleichschaltung der Köpfe ein. Dazu gehörten in erster Linie Zeitungen und Bücher, zunehmend aber auch Film und Rundfunk. Desgleichen waren Telegraphen, Eisenbahnen und Autos aus dem stilisierten Erscheinungsbild Stalins und seines Sozialismus nicht wegzudenken. Nicht zuletzt sie erzeugten eine neue Art von Charisma, das die religiöse Aura der vorrevolutionären Herrscher ablöste, aber selbst unwirkliche, auf Massensuggestion berechnete, im Sinne vorrationaler mentaler Verankerung mythische und «außeralltägliche» (M. Weber) Züge annahm. Historische Analysen tun gut daran, beide Linie zu verfolgen: sowohl die Kontinuität zur Selbstherrschaft im Sinne des Fortbestands monokratischer Machtausübung als auch die neue Erscheinung einer säkularisierten, durch den gezielten Einsatz moderner Kommunikationsmittel inszenierten pseudoplebiszitären Individualdiktatur.[13]

Selbst für die hitzigsten Gegner der Totalitarismustheorie steht außer Zweifel, dass schon die frühe Sowjetrepublik ausgeprägte Merkmale nicht nur oligarchischer, sondern auch absoluter persönlicher Herrschaft aufwies. Lenin war in eine quasi-autokratische Rolle hineingewachsen; seinen Worten kam fast die Geltungskraft von Gesetzen zu. Wie meist erwies er sich als realistisch genug, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen. Aus Anlass seines 50. Geburtstags Ende April 1920 fand er sich bereit, eine Feier zu seinen Ehren zu erlauben und Huldigungen zu empfangen. Ebenso ließ er sich dazu herbei, für die Anfertigung einer hunderttausendfach replizierten Büste zu posieren. Doch tat er dies, wie auch seine Kritiker nicht leugnen, widerwillig und contre cœur. Lenin machte wenig Aufhebens von seiner Person. Er hasste Zeremoniell und sah sich eher als Diener denn als Repräsentant der Sache. In diesem Sinne blieb er ein revolutionärer Asket und Idealtypus des ‹selbstlosen›, dem ideellen Ziel unbeirrbar ergebenen radikalen ‹Intelligenzlers›. Man muss auch davon ausgehen, dass er der dauerhaften Ausstellung seiner Leiche auf keinen Fall zugestimmt hätte.

Gerade vor diesem Hintergrund begründete die Art und Weise, wie Stalin am 21. Dezember 1929 seinen fünfzigsten Geburtstag beging, einen neuen Stil. Der Generalsekretär hatte sich endgültig die alleinige Macht gesichert. Die letzte ernst zu nehmende Opposition war besiegt, sein Kurs bestätigt und auf den Weg gebracht. Auch wenn der Ausgang des neuen Bürgerkrieges, den er damit vom Zaun brach, ungewiss blieb – die politische Schlacht war geschlagen und der Zeitpunkt zum Feiern günstig. Doch nicht nur die innere Lage lud zur Besiegelung des Triumphes ein. Der Moment konnte kaum geeigneter sein, um auch nach außen hin, für die eigene Bevölkerung und das Ausland, die endgültige Aszendenz eines neuen starken Mannes zu signalisieren. Die Machtübernahme bedurfte der symbolischen Bestätigung, die Thronfolge der Krönung. Dabei mochte es wohl sein, dass er die Feier nicht selbst anregte, aber er brauchte sich auch nicht zu ‹überwinden›. Die Selbststilisierung war längst vorbereitet und ihr Inhalt stand weitgehend fest: Stalin war der neue Lenin.

Mit diesem Tenor wurden ihm zahllose Grußadressen aus dem ganzen Land dargebracht. Die Erbfolge lag, ausgesprochen oder nicht, allen Beiträgen zugrunde, die in einer symptomatischen und beispiellosen Festschrift veröffentlicht wurden. Ergebene Paladine wie Jaroslavskij, Kaganovič, Ordžonikidze, Vorošilov, Kujbyšev, Mikojan und Kalinin feierten Stalin mit dem ‹Volksdichter› Demjan Bednyj als «besten Leninisten», «großen Revolutionär», vorbildlichen «Bürgerkriegskämpfer», «herausragenden marxistischen Theoretiker» und «Erbauer des Sozialismus». Sie priesen seine unerschütterliche Standhaftigkeit im Kampf gegen ideologische «Abweichler» aller Art, seine Kühnheit als Militärstratege, seine Klugheit bei der Auslegung des Leninismus als Ergänzung der ‹klassischen› Lehre vom ‹wissenschaftlichen Sozialismus› und seine Tatkraft beim Aufbruch zur konsequenten Verwirklichung des großen Ziels. Die dazu nötigen Korrekturen seiner Biographie waren größtenteils schon während der ideologischen Fehde mit Trotzki vorgenommen worden. So kam Stalin zu der unverdienten Ehre, neben Lenin der zweite Held der Oktobertage gewesen zu sein und maßgeblich zum militärischen Sieg gegen die Weißen beigetragen zu haben. Ähnlich stand er dem Gründervater danach in angeblich innigem Verständnis treu und aufmerksam zur Seite, um als kluger Lehrling die Voraussetzungen für die kongeniale Weiterführung des großen Werkes zu erwerben. In diesem Licht erschienen Planwirtschaft und Zwangskollektivierung als vorgezeichnete Schritte auf dem Wege, den der Staatsschöpfer selber gewiesen hatte. Stalin wurde zum Lenin redivivus und erbte gleichsam auch dessen Eigenschaft, das Maß aller sozialistischen Dinge und Künder der großen Zukunft zu sein. All dies schwang in der neuen Bezeichnung mit, die man ihm nun beilegte: Der Generalsekretär – formal war er weder Regierungs- noch Staatschef – stieg zum «Führer» (vožd) auf; seit seinem 50.Geburtstag gab es einen Stalinkult.[14]

Es versteht sich, dass die Selbstbehauptung des Regimes während des antibäuerlichen Vernichtungsschlags nicht nur Stalins Machtposition, sondern auch sein Prestige weiter festigte. Nicht aller Beifall war dabei einer geschickten Regie zuzuschreiben. Zweifellos gab es aufrichtige Zustimmung zu dem Programm, für das er und seine Kamarilla standen. Auch wer ihn als Person ablehnte, konnte dem eingeschlagenen Kurs eventuell zustimmen und hatte vor Kirovs Aufstieg kaum eine Alternative, um dieser Option Geltung zu verschaffen. Insofern dürfte der Autorität Stalins auch ein Teil jenes Konsenses zugewachsen sein, der nicht ihm, sondern der Sache galt. Das aber bemerkten – falls diese Kolportage überhaupt zutrifft – höchstens die handverlesenen Gefolgsleute, die auf dem 17. Parteitag 1934 halfen, die Stimmen für die Wahl zum ZK auszuzählen. In den Augen der übrigen Delegierten, des Landes und der ganzen Welt markierte eben dieser ‹Kongress der Sieger› nicht nur die Bestätigung der Stalinschen Macht, sondern auch eine Approbation seines unvergleichlichen Ansehens. Kaum zufällig veränderten sich auch die Protokollnotizen über den Beifall, den verschiedene Auditorien dem Redner Stalin spendeten, seit dem Ende der ‹zweiten Revolution›. Aus «stürmischem, nicht enden wollendem» Applaus wurde das Ritual stehender «Ovationen» mit «donnernden Hurrarufen» und Übergang in die «machtvolle» Intonation der «Internationalen». Mehr und mehr auch wurden die «kollektiven Zwischenrufe», die «das ZK» oder «die Partei» hochleben ließen, vom Vivat für Stalin selber übertönt. Die Zuhörer seiner Eloge auf den Entwurf der neuen Verfassung erhoben sich, um den «Führer, den Genossen Stalin» zu bejubeln, und die Delegierten des 18. Parteitages steigerten die Ehrerbietung für seine Person noch, indem sie Partei und ZK gar nicht mehr erwähnten und in «anhaltender Ovation» nur noch brüllten: «‹Es lebe Genosse Stalin!›, ‹Dem großen Stalin Hurra!›, ‹Unserem geliebten Stalin Hurra!›.» So erreichte der Personenkult am Vorabend des Weltkrieges seinen ersten Höhepunkt. Die Partei war der Staat, und Stalin war die Partei – ihr Führer und allgewaltiger Tyrann, dessen bloße Geste vernichten konnte.[15]

Was in diesen Devotionsformeln zum Ausdruck kam, fand auch in vielen anderen Erscheinungen des öffentlichen Lebens seinen Niederschlag. Stalins Abbild begann den Alltag zu prägen. Sein Konterfei zierte die Amtsstuben und die Vitrinen der großen Geschäfte. Seine Büste besetzte den Platz neben der Lenins und drang aus Parteigebäuden und Behörden auf Plätze und Straßen vor. Schon im Herbst 1933 glaubte ein ausländischer Beobachter feststellen zu können, dass der Generalsekretär dabei war, sogar den Staatsgründer an propagandistischer Präsenz zu verdrängen. In den Auslagen und Schaufenstern rund um die Moskauer Gor’kij-Straße (heute wieder Tverskaja im Einkaufszentrum der Stadt) zählte er 103 ‹politische Ikonen› Stalins gegenüber nur 58 von Lenin. Vier Jahre später notierte selbst ein so unkritischer Besucher wie der deutsche Schriftsteller Lion Feuchtwanger (der die Metropole des Bolschewismus auf besondere Einladung besichtigte, um der Welt «Zeugnis» von den ‹wahren› Zuständen zu geben), die «Verehrung Stalins» sei in einen «maßlosen», jedem Fremden als Erstes ins Auge springenden «Kult» pervertiert. «An allen Ecken und Enden, an passenden Stellen und an unpassenden» stünden «gigantische Büsten und Bilder Stalins». Reden jedweder Art seien «gespickt mit Verherrlichungen Stalins»; die «Vergötzung des Mannes» nehme «geschmacklose Formen» an. Im ganzen Lande schossen Stalindenkmäler wie Pilze aus dem Boden. Stalinwettbewerbe und ein Stalinpreis wurden begründet. Der «Führer» entrückte zum «Übermenschen», «der gottähnliche, übernatürliche Eigenschaften» zu besitzen schien, zu einem Menschen, der angeblich alles wusste, alles sah, für alle dachte, alles konnte und «in seinem ganzen Verhalten unfehlbar» war.[16]

Einen besonderen Höhepunkt erreichte diese Glorifizierung vor Kriegsausbruch fraglos in der berüchtigten Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), die seit 1938 das Bücherregal eines jeden treuen Volksgenossen zu zieren hatte. Von einem Redaktionskollektiv aus der nächsten Umgebung des Politbüros verfasst, erfreute sich die Arbeit reger Anteilnahme Stalins; allem Anschein nach griff er mehrfach selbst zur Feder. Das Ergebnis ließ daher keine Wünsche der Parteiführung offen – und sprach im selben Maße der historischen Wahrheit Hohn. Der «Kurze Lehrgang» fasste alle ‹Korrekturen› über Stalins Rolle in der bolschewistischen Bewegung zusammen. Von seiner ersten Erwähnung im Abschnitt über die Revolution von 1905 an focht der künftige Generalsekretär konsequent für den ‹richtigen› Kurs. Wie in der Geburtstagsschrift, aber nun mit der Verbindlichkeit einer allerhöchst approbierten Lehrmeinung, schritt Stalin gleich einem furchtlosen Helden, trotzkistisches und bucharinistisches Otterngezücht nach beiden Seiten hin abwehrend, auf dem Leninschen Wege zum sozialistischen Parnass. Er war der Vollstrecker, der auch vollendete, dem Apostel ähnlich, der zum Kirchengründer wird. Dass am Ende des Buches der griechische Antaeos-Mythos bemüht wurde, um der Partei den Weg zu ewiger Kraft zu weisen, fasste Absicht und Tenor sinnbildlich zusammen – was als «Geschichte» begann, streifte auf der angeblich letzten Stufe der Menschheitsentwicklung die Zeitlichkeit ab. Stalin erstrahlte als Demiurg, als Erbauer des Sozialismus.

Doch nicht nur die verfälschende Stilisierung erreichte im «Kurzen Lehrgang» eine neue Qualität. Auch die Verleumdung der Unterlegenen wurde in einer sprachlichen Form sanktioniert, die den Streit – wie es zur Methode des ‹Mobilisierungsregimes› gehörte – präsent hielt und an wütenden Invektiven kaum zu überbieten war. «Bucharinleute» entarteten zu «politischen Doppelzünglern», trotzkistische ‹Spaltzungen› zu einer «weißgardistischen Bande von Mördern und Spionen». Alle «Diversanten» waren nicht nur Stalins Feinde, sondern in bezeichnender Gleichsetzung und entpolitisierender Verallgemeinerung «Volksfeinde». Dies alles könnte man als abstruses Pamphlet einer Lügenmaschinerie abtun – wenn nicht eine erhebliche Massenwirksamkeit wahrscheinlich wäre. Der Kurze Lehrgang wurde in zahllosen Exemplaren über das Land verteilt. Bis zu Stalins Tod erschienen 300 Nachdrucke in einer Gesamtauflage von 42,8 Mio. und Übersetzungen in 67 Sprachen. Hinzu kamen Werke mit Stalins deklarierter Autorenschaft, die bald in größerer Zahl gedruckt wurden als die ‹klassischen› Texte: 1932/33 erreichten Marx’ und Engels’ Schriften sieben Mio. Exemplare, Lenins 14, Stalins aber 16,5 Mio., darunter allein zwei Mio. des Sammelbandes «Probleme des Leninismus».[17] Einen vergleichbaren Rekord erzielte wohl nur noch eine andere politische Schrift jener Zeit: Hitlers «Mein Kampf».

Mit so vielen wirkungsvollen Helfern – behördlichen Apparaten, gesellschaftlichen Organisationen, Verlagshäusern und Massenpresse – an ihrer Seite fiel es den Herrschenden in Partei und Staat nicht schwer, das gesamte öffentlich-soziale Leben nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Was Einzug in alle Bereiche des obrigkeitlich regulierbaren Alltags und der Kultur hielt, lässt sich in seinem Kern als Abkehr vom avantgardistischen Denken, von der Duldung (schon lange nicht mehr der Ermunterung) antikonventioneller Neuerungen und ‹partieller›, gruppen- und tätigkeitsbezogener Experimente zugunsten strikter Funktionalität für die eine umfassende Aufgabe kennzeichnen: die Industrialisierung samt staatlicher Machtentfaltung nach innen und außen. Dabei muss vorerst offenbleiben, in welchem Maße auch der Inhalt der «revolutionären Träume» aus dem erlaubten Bewusstsein getilgt wurde. Manches deutet darauf hin, dass die neue ‹Kultur› die alte nicht einfach ersetzte, sondern beide in weiten Bereichen nebeneinander bestanden und sich verschränkten. Gewiss wurden der Utopie die Flügel gestutzt; aber der sozialistische Aufbau selber besaß gerade in der neuen Form deutliche utopische und experimentelle Züge. Zweifellos verschwand mit der alten bolschewistischen Elite auch die unorthodoxe Vielfalt mancher ihrer Zukunftsvisionen; zugleich aber formierte sich nach dem Ende der zweiten Umbruchsperiode eine neue Oberschicht, die auch Inhalte des Sonder- und Sendungsbewusstseins der ‹heroischen Jahre› bewahrte.[18]

Der Wandel der Alltagskultur ist außerhalb von Erwerbstätigkeit, materieller Existenz und gesetzlich regulierten Sozialbeziehungen noch kaum erforscht worden. Oft sind nur Grundzüge des breiten, viele Bereiche umgreifenden Geschehens bekannt. An vorderer Stelle sticht das Bemühen ins Auge, die politische Macht in ihrer Zwillingsgestalt von Partei und Staat mittels der Organisierung der Gesellschaft möglichst nahe an den Einzelnen heranzutragen. Es lag im Interesse der ‹Apparate›, kollektive öffentliche Äußerungen der Bevölkerung zu ermuntern, individuelle dagegen zu unterbinden. Gemeinschaftliche Aktionen ließen sich über Filialen der Partei und gleichgeschaltete Verbände steuern, einzelne nicht. Konformität war gefragt, keine eigene, womöglich abweichende Meinung. Unabhängige und unautorisierte Aktionen musste das Regime nach seiner Logik sogar als Opposition deuten. Dabei bleibt es für das Wesen der Sache unerheblich, ob es ihm gelang, seine Herrschaft auch tatsächlich in den Köpfen zu errichten. Das Fortbestehen einer andersdenkenden Intelligenz und die spätere Entstehung einer offenen Dissidentenbewegung geben zu begründeten Zweifeln Anlass. Entscheidend aber war der monopolistische Anspruch, der sich geistig als exklusive Reklamierung der Wahrheit (mit der besonderen Pointe auch der Zukunftsgewissheit) und institutionell als ‹Verstaatung› der einzig zugelassenen Partei zum Einparteienregiment (mit einer machtvollen Repressionsmaschinerie) manifestierte.

Schon die lückenhafte Durchsetzung dieses Grundverlangens reichte aus, um die Menschen auch außerhalb der Arbeitswelt zu beeinflussen. Die Begünstigung alles Kollektiven drückte der neuen Kultur den Stempel der Massenhaftigkeit auf. Sowohl die öffentliche Alltagskultur – von der Freizeitgestaltung bis zur symbolischen Selbstdarstellung des Regimes – als auch das (offizielle) geistige Leben im engeren Sinne künstlerischen Schaffens appellierten an die große Zahl und suchten, wie stark auch immer individualisierend, idealtypische Denk- und Verhaltensweisen in der Absicht wiederzugeben, sie fester im allgemeinen Bewusstsein zu verankern. Die obrigkeitlichen Agenturen ließen in den verschiedensten Variationen das hochleben, was man Solidarität nannte und in absoluter Übereinstimmung mit ihren Vorgaben gedacht wurde. Dabei verband sich die Einordnung des Einzelnen in eine Organisation oder Bewegung zumeist mit Unterordnung. Als Musterform des Kollektivs galt längst nicht mehr (falls das unter führenden Bolschewiki je anders war) die egalitäre, sondern die hierarchisch gegliederte und von fester Hand nach Maßgabe der Partei geführte Gemeinschaft. Fast von selbst zogen diese Leitideen eine Veränderung nach sich, die genau besehen die Quintessenz des gesamten ‹inneren›, soziokulturellen Stalinismus bildete: die Militarisierung. Es war kein Zufall, dass die Rote Armee 1936 neue Uniformen erhielt, die auffällig an zarische Zeiten erinnerten und Offiziere in Gestalt von Epauletten und Kokarden wieder reichlich mit sichtbaren Insignien ihres Rangs ausstatteten. Ebenso passte es zum Geist der neuen Zeit, dass neben Schülern, wie erwähnt, auch Staatsbeamte und Eisenbahner wieder durch gleichartige Kleidung als Repräsentanten von Ämtern und Behörden kenntlich gemacht wurden. Sportvereine wurden (sinnfällig in Titeln wie «Meister des Sports») nachgerade zu Vorbildern jener Verbindung von Organisation, Disziplin und Hierarchie, aus der die soziale Gleichschaltung ihren Antrieb bezog. Endgültig dachte man die Gesellschaft, fern von allen Vorstellungen eines Netzes freier und gleicher Individuen, als streng gegliedertes Gefüge – nur dass Korporationen, Stände und soziale Klassen traditioneller Art durch Organisationen, Institutionen, Ressorts und politisch-staatliche Machtgruppen im weitesten Sinne abgelöst wurden.

Dabei wurden die Aktionen der Teilglieder zumindest idealiter von der jeweils übergeordneten Instanz koordiniert und vom zentralen Willen gelenkt. In diesem Sinne mutierte die ganze Gesellschaft zur Armee im Dienste der Partei und des sozialistischen Aufbaus. Die alte Technik- und Fortschrittsgläubigkeit, ehedem ein Aspekt utopischen Bewusstseins, schlüpfte in eine neue, wenn auch nicht fernliegende bürokratisch-diktatorische Gestalt. Die Gesellschaft sollte in der Tat zur Maschine werden – aber mehr denn je zu einem hierarchischen, von einem Antrieb gesteuerten Räderwerk. Sie bedurfte der Kontrolle ebenso wie der permanenten Mobilisierung, in der selbst die ‹Freiwilligkeit› (wie bei Spenden) ‹angeleitet› wurde. Die Omnipräsenz der Partei und ihres Führers, die rituelle Beschwörung des revolutionären Endziels, die Überhöhung von Partei und Staat zu Garanten der Vollendung des Sozialismus, die neue Demonstration von Macht in Aufmärschen, Kundgebungen und einer Architektur, die im Wesentlichen zu imponieren suchte – all dies waren nur unterschiedliche Ausdrucksformen des einen umfassenden Wandels, den Öffentlichkeit, Kultur und Alltag gemeinsam mit Wirtschaft, Gesellschaft und Politik im Zuge der forcierten Industrialisierung durchliefen. Auf der Suche nach Symbolen für diese Veränderung bietet sich jene Selbstdarstellung des Regimes nachgerade an, die es der Nation und der Welt Jahr für Jahr an seinem wichtigsten Festtag, dem Gründungsjubiläum, offerierte: Das Volksfest der ersten Jahre erstarrte zum Defilee bewaffneter Verbände, die unmittelbar neben dem zeremoniellen Ort russisch-zarischer Herrschaftsrepräsentation – dem Kreml in Moskau – unter den Augen des neuen Führers an den mumifizierten Gebeinen des Staatsheiligen in geordneten Reihen und militärischer Disziplin, begleitet von Panzern und Kanonen, bald auch von Flugzeugstaffeln überflogen, vorbeimarschierten. Zweifellos: Der «Carneval» im (Bachtinschen) Sinne spontaner und respektloser Belustigung wich endgültig der befohlenen, ritualisierten und bis ins Detail kontrollierten Parade.[19]

Auch die obrigkeitliche Förderung des Patriotismus hing aufs Engste mit dem angestrebten politisch-sozialen und kulturell-geistigen Wandel zusammen. Schon die zeitliche Koinzidenz ist bemerkenswert. Aus heiterem Himmel eröffnete die Pravda im Frühsommer 1934 eine Kampagne zur Rehabilitierung heimatlicher Gefühle. Noch während der Wende hatte gegolten, was der ‹reine› Marxismus stets zu diesem Problem äußerte: dass Nation eine Erscheinung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sei. Patriotismus, so hieß es 1927 exemplarisch in einem Staats- und Rechtslexikon, sei eine «extrem reaktionäre Ideologie». Allerdings lag der Widerruf schon in der Luft. Stalin vollzog ihn im Prinzip bereits 1929, als er zwei übereifrige Genossen über die Kontextgebundenheit des verwerflichen Nationalbewusstseins aufklärte und der Identifikation mit dem sozialistischen Staat den parteioffiziellen Segen erteilte. Was in diesem Zusammenhang primär der Abkehr von der korenizacija diente, blieb indes noch weitgehend unbemerkt. Erst nach dem Siegeskongress hielt man die Zeit für gekommen, auch das affektive Bekenntnis zum ‹Sozialismus in einem Lande› offen zu propagieren. Dabei liegt es nahe, das Kalkül eines Ersatzangebots zu unterstellen. Nachdem die Mobilisierung durch erneuerte Aufrufe zum Klassenkampf ihren destruktiv-transformierenden Zweck erfüllt hatte, benötigte man für den Neuaufbau eine konstruktive Motivation. Das war umso eher der Fall, als materieller Eigennutz als Triebkraft für Leistung nach der ‹zweiten Revolution› vollends entfiel. Auch in dieser Hinsicht lag der Rückgriff auf traditionelle Werte, auf Heimatliebe und Nationalstolz, somit nahe. Was noch fehlte, war im Wesentlichen eines: die inhaltliche Anbindung dieser Emotionen an die aktuelle Gestalt des Sowjetstaats und seine ‹Errungenschaften›.

Willkommenen Anlass für den Beginn eines entsprechenden Medienfeldzugs bot die bemerkenswerte Tapferkeit sowjetischer Polarforscher, die nach dem Verlust ihres Schiffes Anfang Februar 1934 auf einer Eisscholle ausharrten, bis sie von Flugzeugen entdeckt und gerettet wurden. Die Pravda feierte die Überlebenden als «Helden», die der Welt gezeigt hätten, wozu «Sowjetmenschen» fähig seien. Nicht ihrer Ausdauer und Zähigkeit galt der Jubel, sondern ihrer «Heimatliebe» und «Treue … gegenüber der Sache der Arbeiterklasse». Unüberhörbar wurde nun verkündet, dass «auch die Arbeiter … ein Vaterland» hätten. Zwei Jahre später, als die neue Verfassung den Klassengegensatz der alten Gesellschaft offiziell für überwunden erklärte, erreichte auch diese Kampagne einen ersten Höhepunkt. Die Pravda und andere Sprachrohre der Herrschenden schreckten dabei vor einem Pathos nicht zurück, das an Unglaubwürdigkeit und Übertreibung kaum zu überbieten war. Der Sowjetpatriot sollte in «Liebe … zu dem Land» entbrennen, «das den Kapitalisten und Gutsbesitzern mit Blut und Eisen entrissen» worden sei, und das «herrliche Leben» dankbar annehmen, das sein «großes Volk» geschaffen habe. Sowjetpatriotismus war «rückhaltlose Ergebenheit gegenüber der Heimat» und «tiefe Verantwortlichkeit für ihr Schicksal und ihre Verteidigung». Ihm galt die eigene Ordnung als «Frühling der Menschheit», und «selbst die Luft des Sowjetlandes» war ihm «heilig».[20]

Kaum überraschend verschmolz das neuverordnete Nationalempfinden mit dem Stalinkult. Die Liebe zur Heimat bezeugte sich durch die Verehrung ihres ersten und besten Sohnes, der zugleich oberster Kommunist und Erbauer des Sozialismus war. Eine neue Dreieinigkeit setzte sich an die Spitze des sowjetischen Wertekosmos: Stalin, Partei und Vaterland wurden unzertrennlich. Zugleich streifte die politische Bezugsgröße die Konnotation des Revolutionären, damit auch Experimentellen und Innovativen immer weiter ab. Der Oktober verblasste zum Objekt deklamatorischer Beschwörung. Die wirkliche Emotion galt dem Gewohnten und Bekannten, Land und Leuten, Sprache und Kultur. Auch wenn der Staat weiterhin sozialistisch hieß, auch wenn – oder gerade weil – die ungeheure sozialökonomische Umwälzung fortgesetzt wurde, assimilierte er sich immer weiter an den heimatlichen Boden als Ort der Tradition und Geborgenheit. Mit dieser Entrationalisierung ging eine ethnische Einengung einher. Sowjetbewusstsein nahm immer mehr die Gestalt russischer Identität an. Was ursprünglich dem Ganzen und dem neuen Staat als multiethnischer Föderation galt, zog sich auf die größte Nationalität zusammen. Die Helden und Vorbilder der manipulierten Öffentlichkeit stammten aus Russland. Die retuschierte vaterländische Geschichte war russisch. Russland, fraglos Kern der Union und ihre beherrschende Kraft, erhielt auch ideologisch ein Übergewicht, das alle Beschwörungen des transnationalen Gesamtbewusstseins Lügen strafte.

Literatur, Kunst und Wissenschaft  Bei dem Versuch des Regimes, Kontrolle über das Denken und Handeln der Sowjetmenschen zu gewinnen, konnten Literatur und Künste nicht ausgespart bleiben. Unter diesem Aspekt tut auch eine politisch-sozialhistorisch ausgerichtete Darstellung gut daran, sie in den Blick zu nehmen. Dass eine innere Verbindung zwischen der Veränderung ästhetischer Normen und dem Gesamtprogramm der forcierten Modernisierung und Industrialisierung bestand, darauf verweist erneut schon die zeitliche Koinzidenz. Zu Beginn der großen Wende waren die letzten unverbesserlichen literarischen Avantgardisten ihrer publizistischen Medien beraubt und in den Einheitsverband ‹proletarischer Schriftsteller› gezwungen worden. In vieler Hinsicht markierte dieses Verfahren einen Übergang. Sachlich ließ man die Empfehlungen noch weitgehend bestehen, die seit der Konsolidierung des revolutionären Regimes nach dem Bürgerkrieg galten. Auch wenn sie verbindlicher und der Spielraum enger wurden, zogen die neuen Machthaber vorerst nur die institutionellen Zügel an. Frei waren vor allem die Belletristik und Malerei ohnehin nicht mehr. Hinzu kam, dass die geltenden Gebote dem Aufbruch zum Sozialismus durchaus angemessen zu sein schienen. Man brauchte Fügsamkeit und ideologischen Ansporn, keine neue Ästhetik.

Die abwartende Mäßigung währte jedoch nicht lange. Als die Wende vollzogen und die Macht gesichert war, folgte der organisatorischen Fesselung die inhaltliche. Am 23. Mai 1932 fand sich in der Literaturzeitung, dem Organ des Schriftstellerverbandes, ein Beitrag, der zum ersten Mal die Forderung nach einer Darstellungsweise erhob, die «sozialistischer Realismus» genannt wurde, und einige Kriterien erläuterte, die sie zu beachten habe. In enger Tuchfühlung mit Stalin, der ein Gespür für die propagandistische Macht auch des ‹schönen Wortes› besaß, gewann das Konzept in den folgenden Jahren Kontur. Dabei nahm es auch charakteristische Merkmale der allgemeinpolitischen Weltanschauung auf. Vor allem Patriotismus und Herrscherkult waren aus der obrigkeitlich gebilligten Ästhetik nicht mehr wegzudenken. Wie in der sonstigen stalinistischen Ideologie absorbierten Volksnähe (narodnost’) und Massenverbundenheit (massovost’) den Klassenbezug (klassovost’). Auch im literarischen Wertekanon begann Bodenständigkeit proletarisches Engagement zu überwölben, sogen Heimat und Vaterland die soziale Herkunft auf. Nicht nur Stalin, auch die von ihm zensierte Literatur kannte bald nur noch Russen, unter der Voraussetzung natürlich, dass alle für die einzig richtige sozialistische Sache eintraten.

Denn dies blieb oberstes Gestaltungsprinzip: Jede Kunst hatte parteilich zu sein. Die Forderung selber war alles andere als neu, sondern schon seit den frühen Tagen der Revolution zur offiziellen Leitlinie erhoben worden. Auch breite Strömungen der avantgardistischen Moderne, soweit sie sich nicht der l’art pour l’art verschrieben, stellten sich in Nachfolge utilitaristischer Auffassungen des 19. Jahrhunderts (V. G. Belinskij, N. G. Černyševskij u.a.) ausdrücklich in den Dienst der großen Utopie von der Befreiung des Menschen aus allen materiellen und geistigen Fesseln. Allerdings ließ das neue Regime die Art und Weise der künstlerischen Unterstützung in größerem Maße offen, als es die Theorie vorsah. Anfangs konnte es seine Vorstellungen nicht durchsetzen, danach nahm es auf die NĖP Rücksicht. Erst deren Ende und die Alleinherrschaft Stalins schufen die Voraussetzungen für eine andere Gangart. Gestützt auf einen Machtapparat von zunehmender Durchsetzungskraft konnten der Diktator und seine Umgebung nun auch die Form der Kunst vorgeben, die ihnen zweckmäßig zu sein schien. Der letzte Rest an Freiheit löste sich auf: An die Stelle der authentischen Gestaltung trat die befohlene.

Ein zweites Prinzip, das in dieser Weise kanonisiert wurde, bezeichnete das Verhältnis zwischen künstlerischer Darstellung und Wirklichkeit. Die Anordnung besagte, dass Romane, aber auch Skulpturen und Gemälde, die tatsächlichen Verhältnisse ‹widerspiegeln› sollten. Vermutlich hätten manche Künstler mit dieser Forderung leben können, wenn die Realität mit der Wahrheit identisch gewesen wäre. Genau besehen, meinte die Forderung aber nicht Realismus, sondern ‹Idealismus› im Sinne jener Wirklichkeit, die der Partei vorschwebte. Literatur und Kunst sollten das Leben nicht zeigen, wie es war, sondern wie es zu sein hatte. Die Aufgabe bestand nicht in der Abbildung des Sichtbaren, noch weniger in naturalistischer Reproduktion, die schon wegen ihrer sozialkritischen Tendenz verpönt war. Vielmehr hatte sich die Wiedergabe auf das ‹Charakteristische› und die eventuell verdeckte, aber bestimmende Entwicklung zu konzentrieren. Die ‹richtige› Mimesis sollte das Wesen, nicht die Erscheinung erfassen. Worin aber das Wesen und seine ‹korrekte› Darstellung bestanden, bestimmten die Kunstwächter der Obrigkeit.

Alle weiteren Gestaltungsprinzipien ergaben sich aus dem Postulat der ‹parteilichen Mimesis›. Wenn die «Widerspiegelung» nicht der Oberfläche galt, sondern einer tieferen Dimension der Wirklichkeit, schloss sie bereits die Forderung nach dem Typischen ein. Nicht marginale oder grelle Umstände und Charaktere sollte die vorbildliche Kunst darstellen, sondern die kennzeichnenden und repräsentativen. Allerdings blieb diese Vorgabe so vage, dass darüber nicht weniger kontrovers diskutiert wurde als über die Form des Realitätsbezugs. Der Auffassung vom Typischen als einem Substrat verschiedener Ausformungen gegebener Verhältnisse stand dabei eine Sehweise gegenüber, die eher die Zukunft in der Gegenwart betonte. Auch darin spiegelte sich letztlich die alte Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Es konnte daher kaum ausbleiben, dass mit zunehmender ideologischer Engführung auch der projektive, unwahre Gehalt des Typischen in den Vordergrund trat.

Kaum größere Klarheit bestand beim «positiven Helden», der ebenfalls zur Grundausstattung des sozialistischen Realismus gehörte. Auch seine Merkmale blieben umstritten; auch für ihn galt, dass sich sein Erscheinungsbild mit der politisch-sozialen Gesamtlage änderte. Aus der vorrevolutionären Zeit wirkte die Neigung nach, ein Gegenbild zum prägenden Typus der großen Literatur des 19. Jahrhundert, zum ‹überflüssigen Menschen›, zu schaffen. Nach dem Umsturz entfiel diese Folie. Das Musterhafte streifte gleichsam das stützende Korsett der Opposition zum Bestehenden ab und wurde affirmativ. Die Negation der Negation wandelte sich zum Positiven, ohne dass zwischen beide ein Gleichheitszeichen zu setzen gewesen wäre. Denn dem Helden wuchs nun unausweichlich eine legitimatorische Funktion zu. Er hatte nicht nur, wie Gor’kij 1932 programmatisch erläuterte, zum Schöpfer der neuen Weltordnung zu werden und den Menschen von morgen vorwegzunehmen, sondern zugleich den der Gegenwart zu verkörpern. Nach der großen Wende trat diese Funktion immer deutlicher in den Vordergrund. Der ‹positive Held› wandelte sich vom unerschrockenen Revolutionär – ohne diese Eigenschaft abzulegen – zum praktisch denkenden, pflichtbewussten und lernbegierigen Techniker, vom Helden der Revolution zum «Helden der Arbeit». Dem entsprach, dass er einfach war und aus dem Volke stammte. Er verlor die Eigenschaften eines Intelligenzlers und Bourgeois. Er brauchte nicht mehr, wie viele seiner Vorgänger, nach Art der Protagonisten bürgerlicher Bildungsromane durch Erfahrung zur Vervollkommnung geführt zu werden. Er beging nur noch mindere Irrtümer und war im Grunde schon perfekt. Als Personifizierung der besten Eigenschaften näherte er sich der Konfliktlosigkeit – und damit der Grenze seiner ‹erzieherischen› Ausstrahlung. Sicher lag in dieser Entwicklung, die in den letzten Vorkriegsjahren immer hörbarer bemängelt wurde, eine innere Logik: Die wachsende Bürde an legitimatorischen und affirmativen Aufgaben, deren Gewicht auch eine zunehmende Kluft zwischen ideologischem Anspruch und sozioökonomisch-politischer Wirklichkeit spiegelte, entzog dem ‹positiven Helden› jene Lebens- und Volksverbundenheit, auf der seine identifikationsstiftende Wirkung beruhte.[21]

Bei alledem fällt auf, dass die Romane, die zu Mustern des sozialistischen Realismus wurden, ganz überwiegend vor dessen Verkündung entstanden. Gor’kijs «Mutter» erschien 1906, Michail A. Šolochovs «Der stille Don» 1928 (erster Band), D. A. Furmanovs «Čapaev» 1923, F. V. Gladkovs «Zement» 1925, Tolstojs «Peter I.» 1929 (erster Band) und Nikolaj A. Ostrovskij «Wie der Stahl gehärtet wurde» 1932–34. Schon in Kenntnis der neuen Ästhetik schrieb von den bekannten, immer wieder aufgelegten Autoren im Wesentlichen nur Alexander A. Fadeev (»Die junge Garde», 1945). Diese Ungleichzeitigkeit war kein Zufall. Vielmehr verweist sie auf ein grundlegendes Merkmal des Programms: auf seine Verwurzelung im 19. Jahrhundert und seinen konservativen Gesamtcharakter. Unter tätiger Beihilfe von Lunačarskij, Gor’kij und Georg Lukács – dem bedeutendsten orthodox-marxistischen Literaturtheoretiker jener Jahre – wurde eine belletristische Darstellungsform zum Dogma erhoben, die schon in ihrer Selbstbezeichnung an das große Zeitalter des europäischen Romans anknüpfte. Der Ablehnung nicht nur der Moderne seit dem Expressionismus, sondern auch des Naturalismus lag ein bewusster Rückgriff auf eine anerkannte, bedeutende Gestaltungsweise, keine bloße Strömung, zugrunde. Vieles dürfte bei dieser Wahl im Spiele gewesen sein: die Zeitgenossenschaft mit den sozialistischen Gründervätern, die Nachwirkung der frühsozialistischen Ästhetik Černyševskijs und seiner Mitstreiter, der konservative Kunstgeschmack Lenins, die singuläre Bedeutung Gorkis als des marxistisch-bolschewistischen Dichters schlechthin und nicht zuletzt die ungleich größere Zugänglichkeit des Realismus im Vergleich zur nachfolgenden Moderne. Dass der Stil des vergangenen Jahrhunderts den Problemen der Zeit nicht mehr entsprechen könne, schien schon der neue Zukunftsbezug auszuschließen. Es war eine eigentümliche Legierung aus konservativer Darstellungsform, sozialer Utopie und großrussischer Heimatverbundenheit, die das diktatorische Regime als künstlerische Untermauerung des Aufbruchs zur sozialistischen Gesellschaft für angezeigt hielt. Stalin traf ihre paradoxe Unerfüllbarkeit recht genau, als er 1935 den Wunsch nach einer «sowjetischen Klassik» äußerte.[22]

Es war bezeichnend für die veränderte Qualität der sowjetischen Diktatur, dass die neue Linie auch institutionell durchgesetzt wurde. Dem Regime genügte es nicht mehr, programmatische Aufsätze zu verbreiten und die Mehrheit in den künstlerischen Berufsverbänden auf seine Linie einzuschwören. Die Meinungspluralität selbst störte; die heraufziehende totalitäre Herrschaft zielte auf uneingeschränkte Instrumentalisierung. Auch bei diesem Vorgang lassen sich zwei Phasen klar unterscheiden, die mit Stalins Aufstieg und seiner endgültigen Machtergreifung nach dem Abenteuer der Kollektivierung zusammenfallen. Die erste zwischen 1928 und 1932 stand im Zeichen der Hegemonie des Russischen Verbandes der proletarischen Schriftsteller (RAPP) als größter Organisation der Allrussischen Vereinigung der Bünde proletarischer Schriftsteller (VOAPP) und eines Selbstverständnisses, das Kunst und Literatur auf die Parteilichkeit im Sinne der ‹Arbeiterrevolution› verpflichtete. Als Nachfolgeorganisation des Allrussischen Verbandes der proletarischen Schriftsteller (VAPP, 1921–1928) sog er unter seinem agilen Vorsitzenden L. L. Averbach die Reste konkurrierender Gesinnungsgemeinschaften auf und erwarb ein faktisches Vertretungsmonopol. Mit dieser Macht unterstützte er die ‹große Wende› und war Teil jener Reideologisierung im Zeichen des Klassenkampfes, die den Pragmatismus der NĖP ablöste. Dabei zögerte er auch nicht, vermeintliche ‹rechte› und ‹linke› Abweichler in seinen Reihen zu denunzieren. Nur eines verweigerte er: die völlige Unterwerfung. Die RAPP sah sich als Mitstreiter für die proletarische Sache, aber nicht als willenloses Instrument der Politik. Demgegenüber dürften die theoretischen Differenzen über die Grundlagen marxistischer Literaturbetrachtung von nachgeordneter Bedeutung gewesen sein. Es war den Stalinisten ein willkommener Vorwand, dass sich die RAPP auf Plechanovs Überlegungen bezog, die leicht als ‹menschewistisch› zu denunzieren und gegenüber einschlägigen Bemerkungen Lenins aus dem Jahre 1905 herabzusetzen waren. In Wahrheit ging es um die uneingeschränkte Kontrolle auch über das kunstvoll geschriebene Wort. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihres überzeugten Marxismus musste die RAPP, nachdem sie ihren Dienst getan hatte, gehen. Ihre Auflösung per Beschluss des ZK vom 23. April 1932 kam angesichts der propagandistischen Beruhigung überraschend, aber sie war konsequent.

An die Stelle der RAPP trat nach zweijährigen Vorbereitungen der Sowjetische Schriftstellerverband. Schon auf seinem Gründungskongress im August 1934 wurde deutlich, dass damit auch im öffentlichen literarischen Leben eine neue Zeit begann. Nicht nur fand der «sozialistische Realismus» als verbindliche Darstellungsform Aufnahme in das Statut. Symptomatischer noch war der Umstand, dass sich gleich drei prominente Parteiführer Zeit für einen Auftritt nahmen. Der einflussreichste dürfte (vor Bucharin und Radek) trotz seiner Jugend Ždanov gewesen sein, der im ZK für theoretische Fragen zuständig war, bald zum Parteichef von Leningrad und zum ideologischen Wächter des Regimes aufstieg. Was Ždanov den Delegierten vortrug, gab nicht nur die offizielle Meinung wieder, sondern besaß auch in neuer Weise verpflichtenden Charakter. Gestützt auf ihr Meinungsmonopol und durch die Einheitsorganisation gefördert, gelang es den Stalinisten nun widerspruchslos, die publizierte schöne Literatur in das enge Korsett ihrer Direktiven zu zwingen. Wer ihnen auswich oder gar gegen den Strom schwamm, hatte nicht nur mit Missachtung zu rechnen, sondern mit Ausschluss, Druckverbot und bald auch mit Deportation und Zwangsarbeit. Selbst unlängst noch geehrte, anerkannte Schriftsteller wie Michail Bulgakov, dem Stalin persönlich im Frühjahr 1930 zum Posten des Stellvertrenden Direktors am Moskauer Künstlertheater (MChAT) verholfen hatte, konnten frei nur noch für die wohlverschlossene Schublade schreiben (unter anderem den wohl bedeutendsten Roman dieser Jahre «Der Meister und Margarita»). Funktionäre bestimmten, was wert und was unwert war. Obrigkeitliche Zwecke regierten über die schönen Künste, die ohne nennenswerte Ausnahme zu schematischer Serienproduktion herabsanken. Kein stalinistischer Roman im engeren Sinne – Fadeevs «Junge Garde» eingeschlossen – erreichte die unbezweifelbare sprachlich-gestalterische Kraft des ‹Stillen Don› oder des ersten Bandes von Aleksej Tolstojs «Peter der Große», von Gor’kijs «Mutter» nicht zu reden. Erst Stalins Tod brachte an den Tag, dass selbst sein Regiment den Geist nicht hatte vernichten können.[23]

Was Schriftstellerverband und Funktionäre dennoch vermochten, war indes schon schlimm genug. Ihr Eingriff hatte zur Folge, dass die russische Kunst, die seit der Jahrhundertwende auf fast allen Gebieten Anschluss an die europäische Moderne gefunden und anerkannte Leistungen hervorgebracht hatte, auf fade Mittelmäßigkeit zurückfiel. In der Dramaturgie erkannte Meyerhold zwar die Zeichen der Zeit und stellte sein modernes Agitationstheater 1933 zugunsten einer ‹Verbeugung› vor dem Realismus zurück. Auch mit der Inszenierung von Tschajkowskis Pique Dame wählte er nicht ohne Grund eine Oper, die auf der berühmten klassischen (d.h. romantischen) Novelle Puškins beruhte. Er weigerte sich jedoch, ganz und gar von der Darstellung der Gegenwart Abschied zu nehmen. Als er es mitten im ‹Großen Terror› 1937 wagte, auch die roten Bürgerkriegsgräuel auf die Bühne zu bringen, wurde sein Theater kurzerhand geschlossen. Drei Jahre später zögerte er auf einer Konferenz der Theaterdirektoren abermals, sich dem Diktat des sozialistischen Realismus zu unterwerfen. Meyerhold wurde verhaftet, gefoltert und ermordet, seine Frau, eine berühmte Schauspielerin, kurz darauf durch siebzehn Messerstiche in ihrer Wohnung getötet.[24]

Auch an Oper und Musik nahmen die Parteizensoren wirkungsvoll Anteil. Stalin selber liebte russisch-patriotische Werke und animierte – in einem der seltenen Bekenntnisse zu seiner Herkunft – die musikalische Umsetzung eines großen georgischen Epos. Allerdings hielt er dabei auf einen bestimmten Geschmack. Als 1935 Dmitrij Šostakovičs Vertonung der berühmten Leskovschen Novelle «Lady Macbeth von Mcensk» aufgeführt wurde, intervenierten seine Aufpasser. Die Pravda lamentierte über ‹kakophonisches Gekrächze› anstelle ‹menschlicher Musik› und witterte linksabweichlerische Avantgardisten am Werk. Nicht ästhetische Experimente entfremdeter Gehirne seien dem Sozialismus angemessen, sondern Massennähe und Volksverbundenheit. Die Oper wurde abgesetzt und Šostakovič, der sich nie wieder an ein Musikdrama herantraute, verwarnt. Es begann, auch in den anderen Künsten, eine Kampagne gegen den sog. Formalismus. Wie bei vielen ähnlichen Eingriffen, blieb das Ziel der Attacken höchst unscharf. Letztlich fiel alles darunter, was der offiziösen Gestaltungsform widersprach. Jazz wurde verpönt, so wie einst der ‹dekadente› Foxtrott. Statt des Fremdländischen und Intellektualistischen, das man nun in erster Linie an ihm ablehnte, feierte die heimatliche Folklore obrigkeitlich geförderte Urstände. Musikfilme, die neue volksliedartige Melodien zu populären Schlagern machten («Fröhliche Jungs», «Wolga, Wolga»), halfen dabei kräftig mit. Auch in dieser Hinsicht zeigten die beiden beherrschenden Diktaturen jener Jahre bemerkenswert verwandte Tendenzen: Das ‹Volksempfinden› avancierte – neben propagandistischen Zielen – zum obersten Maßstab vor allem, aber nicht nur der Musik.[25]

Am deutlichsten war der Niedergang wohl im Film. Gerade in dieser neuen Kunstgattung hatten sowjetische Künstler Maßstäbe gesetzt. Während Hollywood die ersten Idole eines Mediums kreierte, das in neuen Dimensionen Massen faszinierte und kommerziell verwertbar war, schufen sowjetische Regisseure grundlegende Techniken zur Steigerung seiner ästhetischen Kraft und Vielfalt. Künstlerisch erreichten einige sowjetische Produktionen fraglos das Niveau der frühen westlichen Klassiker des Stummfilms. Umso tiefer war der Sturz unter dem Joch der stalinistischen Kunstdiktatur. Für alle bekannten Meister des Genres ging die Gestaltungsfreiheit zu Beginn der dreißiger Jahre zu Ende; mit ihr schwanden Kreativität und Phantasie. Zwar versuchten die meisten als überzeugte Revolutionäre, sich mit dem Regime zu arrangieren, das nach ihrer Meinung die überlegene Sache vertrat. Eisensteins Aleksandr Nevskij (1938) ist das vielleicht bekannteste Beispiel dafür. Sicher bewies selbst dieses patriotische Spektakel über die Abwehr der Ordensritter auf dem Eis des Peipussees 1242 ebenso wie die filmische Verherrlichung Ivans des Schrecklichen (1944–46) als gewalttätigen, aber historisch legitimierten Begründers des russischen Nationalstaats großes handwerkliches Können. Dennoch fehlte den Spätwerken bei aller Einprägsamkeit der holzschnittartigen Figuren und aller atmosphärischen Dichte die suggestive Gewalt der frühen Filme. A. P. Dovženko und Pudovkin unterwarfen sich der oktroyierten Feier zeitgeschichtlicher oder historischer Helden noch vorbehaltloser. Bis zur Perestrojka hat sich der sowjetische Film aus dieser erstickenden Knebelung, von ganz wenigen Ausnahmen (wie den Werken A. A. Tarkovskijs) abgesehen, nicht mehr befreien können.[26]

Unter mehreren Aspekten könnte man der Architektur eine noch größere Bedeutung für das Regime zumessen als den anderen Künsten. Zum einen besaß sie eine eminent praktische, den Alltag fundamental prägende Dimension; zum anderen kam ihr darüber vermittelt eine ungewöhnliche Breitenwirkung zu. Ihre Schöpfungen wurden als Monumente nicht nur häufig und von vielen gesehen, sondern als Nutzbauten bewohnt oder zur Arbeit aufgesucht. In den neuen Städten und Stadtteilen bestimmten sie über ein Stück Lebensqualität der großen Masse. Das Regime wusste um diesen besonderen Stellenwert und schenkte der Architektur von Beginn an entsprechende Beachtung. Angesichts fehlender materieller Mittel blieb die Aufmerksamkeit allerdings in den zwanziger Jahren überwiegend theoretischer Natur. Neue Konzepte über das Bauen und Wohnen gehörten zum Kern der kulturrevolutionären Begleiterscheinungen der großen Umwälzung. Auch in dieser Hinsicht schien der neue Staat ein Laboratorium zu sein und einen radikalen Abschied von der Tradition zu ermöglichen. Dass verschiedene Strömungen der Moderne, konstruktivistische und funktionalistische (Neue Sachlichkeit) ebenso wie bereits klassische (Jugendstil, Art nouveau) aus der Vorkriegszeit, in der frühen Sowjetunion trotz des überwiegend konservativen Geschmacks der Parteiführung eindeutig das Feld beherrschten, hatte sicher nicht nur mit der Ausstrahlung einheimischer Protagonisten wie Tatlin und A. M. Rodčenko oder K. S. Mel’nikov und A. V. Ščusev zu tun, sondern ergab sich gleichsam aus der Natur der Sache, dem Charakter des Regimes, selber.[27]

Umso bemerkenswerter war die Wende auch auf diesem Gebiet. Dabei eröffnete der ‹Aufbau des Sozialismus› gerade auch der Architektur und den Architekten enorme Chancen. Der Beginn der Planwirtschaft schien die Sowjetunion in ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu verwandeln und in neuem Maßstab Gelegenheit zu bieten, ohne Rücksicht auf die Wünsche und Marotten privater Financiers allein nach künstlerisch-sachlichen Maßstäben zu bauen. Erstmals unterstützte das Regime eine Radikalität, die alle Hindernisse beiseitezuräumen erlaubte, und erstmals sollte dies in einem nachgerade gigantischen Ausmaß geschehen. Man muss mindestens bis zur Französischen Revolution zurückgehen, um eine vergleichbare Herausforderung für die bauliche und raumplanerische Phantasie zu finden. So nimmt es nicht wunder, dass sich berühmte Vertreter der architektonischen Moderne in Europa und der Welt an sowjetischen Wettbewerben beteiligten (wie Le Corbusier bei der Ausschreibung des Neubaus für den Obersten Sowjet) oder sogar ihre berufliche Tätigkeit vorübergehend nach Moskau verlegten (wie der Frankfurter Ernst Mai, der an verantwortlicher Stelle Ideen für die Retortenstadt Magnitogorsk beisteuerte, oder Hannes Meyer, Nachfolger von Walter Gropius im Bauhaus, der 1930 in das nationale Institut für Urbanistik eintrat und am Generalplan für die Neugestaltung Moskaus mitarbeitete). Sie alle wurden enttäuscht und mussten erleben, dass ihnen die erstarkende stalinistische Diktatur entschiedener ins Handwerk pfuschte als jeder private oder nur regional zuständige staatliche Auftraggeber. Als sie sich spätestens 1934 ernüchtert vom ‹Heimatland des Sozialismus› abwandten, lagen ihre architektonischen Hoffnungen in Trümmern. Vertreter des «Konstruktivismus», der unscharf als Generalnenner für alles Moderne diente, bewahrten zwar Einfluss und Ansehen noch bis zum ‹Großen Terror›, aber ihre Ideen durften kaum mehr erwähnt, geschweige denn realisiert werden.

Auch dieser Umbruch setzte zu Beginn des ersten Planjahrfünfts ein. Anfangs mehrten sich lediglich die kritischen Stimmen gegen die gradlinigen, kubischen Zweckbauten aus Stahl, Beton und Glas, gegen den ‹Formalismus› und ‹Technizismus›, dem man kurzerhand auch den ‹Dekorativismus› (gemeint waren Einflüsse des Jugendstil sowie neoromantischer und neomoskowitischer Bauweisen) untermischte, um alle Haupttendenzen der zeitgenössischen Architektur mit einem Streich zu treffen. Eine Schlüsselrolle fiel dabei der Allrussischen Vereinigung der proletarischen Architekten (VOPRA) zu, die im August 1929 in offenkundiger Parallele zur RAPP gegründet wurde und die Moderne pauschal als bürgerlich-kapitalistisch verunglimpfte. Allerdings gelang es diesem Kampfverband nicht, den ‹Konstruktivismus› wirklich zu verdrängen. Das ‹Projekt der Moderne› hatte noch zu viele einflussreiche qualifizierte Anhänger. Es blieb bei Kampagnen – zum Beispiel gegen den bekanntesten sowjetischen Vertreter einer dem Bauhaus verpflichteten Architektur, Ivan I. Leonidov.

Erst 1932 fühlte sich die neue Führung stark genug, auch in dieser Hinsicht Abschied von der eigenen Vergangenheit zu nehmen. Erneut in Analogie zu entsprechenden Schritten in der Literatur (sowie der Malerei und anderen Künsten) verfügte sie die Gründung einer Einheitsorganisation, die den Namen Verband der sowjetischen Architekten erhielt. Wenngleich sich die neue Vereinigung erst später ein Programm gab, lagen dessen Grundzüge von Anfang an fest: Die Architekten sollten die neumodischen ‹Träume› der zwanziger Jahre ebenfalls vergessen und sich auf solide Baukunst besinnen. Allerdings blieb der positive Regelkanon weit unbestimmter als in der Literatur und Malerei. Von «sozialistischem Realismus» war zwar auch für die Architektur die Rede, sollte doch gerade sie helfen, das Leben – nach dem berühmten Ausspruch Stalins – ‹schöner› und ‹besser› zu machen. Aber es fehlte ein klares Muster, wie es der klassische Realismus des 19. Jahrhunderts für die Belletristik bot. Stattdessen flossen die verschiedensten Strömungen in die Entwürfe ein, denen die Zensoren Beifall spendeten. Ein stilistisches Sammelsurium wurde gefördert, dessen Ingredienzien eigentlich nur eines gemeinsam war: die Monumentalität.

Diese Quintessenz der ‹sozialistischen Architektur› wurde schon früh sichtbar (wenn auch noch nicht dominant). Aufmerksame Beobachter erkannten sie in der Entscheidung des Wettbewerbs um den Prestigebau der ersten Jahre Stalinscher Alleinherrschaft: eine neue Unterkunft für den Obersten Sowjet, das formal höchste Organ im Rätestaat. Die Idee eines «Palastes der Arbeit» war nicht neu. Spätestens seit Tatlins berühmtem Entwurf zu einem Denkmal für die Dritte Internationale (in Gestalt eines riesigen, schrägen, spiralförmig sich verjüngenden Turms) von 1920 hatte sich das Projekt in den Köpfen der führenden Revolutionäre festgesetzt. Verschiedene Standorte in der Nähe des Kremls waren für zu klein befunden und verworfen worden. Erst die ausgreifenden, megalomanischen Planungen für die Umwälzung des gesamten Reiches im Zuge der zentral dirigierten Industrialisierung beseitigten auch in dieser Frage alle Bedenken. Ein neuer Bauplatz am Ufer der Moskva wurde ausersehen, wo der Palast an die Stelle der Kathedrale «Christus der Erlöser» treten sollte, und die Ausschreibung 1931 unter den besten Architekten der Epoche bekannt gemacht. Neben Le Corbusier beteiligten sich auch Gropius und andere Vertreter der Moderne aus Deutschland, Frankreich und weiteren Ländern. Den Zuschlag erhielt schließlich der russische Architekt B. M. Iofan, allerdings mit der Auflage, nachträglich Empfehlungen der Auswahlkommission zu berücksichtigen. Dieser veränderte, 1933 approbierte Entwurf sah ein riesiges Gebäude vor, das sich hinter einem halbkreisförmigen, sich zum Betrachter öffnenden Vorbau nach Art einer Hochzeitstorte in acht aufeinander geschichteten Zylindern mit jeweils abnehmendem Durchmesser und zunehmender Höhe zu einem gewaltigen Sockel für eine Leninstatue auftürmte, die alles Vergleichbare übertraf. Der Sowjetpalast sollte das höchste und größte Gebäude der Welt werden, neben dem die vatikanische Peterskirche auf Zwergenmaß geschrumpft wäre, das die Wolkenkratzer New Yorks überragt und Lenin mit einer Höhe zwischen 50 und 70 Metern auch als Skulptur zum größten aller Menschen und in den Himmel erhoben hätte. Als Saum aller Zylinder und des Halbkreises waren mächtige, ‹antike› Kolonnaden vorgesehen – seit jeher ein probates Mittel, um Größe und (säkulare) Weihe zu suggerieren. Avantgardistische Exempel ‹neuer Sachlichkeit› standen zu dieser Zeit nicht mehr ernsthaft zur Debatte. Die stalinistische Epoche hatte die Form ihrer architektonischen Selbstdarstellung gefunden: in der übermenschlichen Dimension, in der Erzeugung einer pseudoreligiösen Aura, im Bemühen um Eindruck durch das bloße Ausmaß. Der totalitäre Machtstaat erhob sich zum Gegenstand kultischer Reverenz – und degradierte den Menschen auf die Winzigkeit einer Ameise. Die Erbauer solcher Tempel hätten sich bald auch, ohne dass wesentliche Änderungen nötig gewesen wären, in Nürnberg oder Berlin betätigen können.

Freilich versetzte der Wettbewerb um den Sowjetpalast in eben dem Maße, wie er stilbildend wirkte, dem internationalen Prestige sowjetischer Baukunst einen vernichtenden Schlag. Der renommierte amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright traf sicher den Kern, als er nach seiner Rückkehr vom ersten sowjetischen Architektenkongress 1937 über seine Eindrücke in Moskau schrieb: «Gebäude mit Säulenreihen, riesige Decken, von denen glitzernde Kristallkandelaber herabhängen, griechische Statuen auf Renaissancebalustraden, Barockbrunnen, die mit dem geschnittenen Grün der Parks kontrastieren … Welche schreckliche Konzeptionsarmut hinter diesen Bastards.» Sicher hätte er über die später fertiggestellten Gebäude, die bis heute die Silhouette Moskaus prägen, nicht anders geurteilt. Die ‹Stalingotik› der fünfzig- und mehretagigen Wohntürme mit zinnenförmigen Eckaufbauten und domartigen Spitzen, die in der neuen Universität auf den Leninhügeln ihre bekannteste Ausformung fand, ließ ebenfalls klare Vorstellungen vermissen. Sie neigte überdies mehr und mehr zur Anfügung von funktionslosem – und teurem, wie Chruščev später krämerisch bemängelte – Dekor, das an englische Kathedralen des Spätmittelalters erinnerte. Imitation und Manierismus ersetzten die gestalterische Phantasie. Was blieb, war die schiere Größe.[28]

Respekt- und hemmungsloser Umgang mit der Vergangenheit samt Gigantomanie prägten nicht zuletzt die Überlegungen zur Umgestaltung Moskaus. Nach Beginn des ersten Fünfjahresplans reifte das Vorhaben, die Metropole der Weltrevolution zum Muster und Beweis der rational-gestalterischen Überlegenheit des Sozialismus auszubauen. Als Überhang der zwanziger Jahre rangen anfangs noch utopische Urbanisten mit nicht weniger weltfremden Agraristen. Auch in diesen Streit griff das stalinistische ZK früh ein und wandte sich gegen beide Kontrahenten (Mai 1930). Was es durchsetzte, war allerdings weniger ein gesunder Kompromiss als eine Stadtentwicklung nach seinem Geschmack. Unter der Ägide von Kaganovič (assistiert vom Moskauer Parteichef Chruščev) wurde ein Generalplan erstellt, der das alte Herz Russlands bis zur Unkenntlichkeit verändert hätte. Ganze Straßenzüge sollten geschleift, breite diagonale Durchfahrten planiert und ungehinderte Axialverbindungen geschaffen werden. Rückständiges, einschließlich der Kirchen, hatte zu weichen; auch in der Stadtplanung siegte ideologischer Pomp. Dieser grundstürzende Generalplan verband sich mit dem wohl ehrgeizigsten technischen Projekt der gesamten dreißiger Jahre: dem Bau der Moskauer Untergrundbahn. Ohne Rücksicht auf Kosten und Verluste ließ Stalin die gesamte Innenstadt aufwühlen. Im Mai 1935 wurde die erste Linie mit einem besonders luxuriösen Bahnhof am geplanten Sowjetpalast (später umbenannt in Kropotkinskaja) eröffnet. Weitere Linien im System sich kreuzender Diagonalen und eines alle verbindenden Ringes folgten. Fraglos entstand so das modernste und schönste großstädtische Nahverkehrssystem der Welt. Zugleich schuf Stalin aber einen irrealen Schein: Die riesigen, palast- und hallenartigen Bahnhöfe, die aufwendige Verarbeitung von Marmor und Edelmetallen, die lichtdurchflutet-klare, später manieristisch-überladene Ausgestaltung und die sprichwörtliche Sauberkeit samt einer Überwachung, die eines Regierungsgebäudes würdig war, machten die Metro zu einer fremden, märchenhaften Kunstwelt. Unter dem Asphalt wurde gleichsam kompensiert, was darüber für alle sicht- und erfahrbar fehlte.

Sicher war es ein Glücksfall, dass die meisten anderen Projekte bloße Phantasiegebilde blieben. Der Sowjetpalast scheiterte an der mangelnden Stabilität des Untergrundes; nahe an der Moskva gelang es nicht, die Fundamente gegen Wassereinbruch abzudichten. Als dies klar wurde, war die alte Bebauung, die größte Kathedrale Moskaus (die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Symbol des neuen Russland wiedererstand), schon abgerissen worden (Dezember 1931). Da die Suche nach einem alternativen Standort vergeblich blieb, entschied sich Chruščev schließlich für eine andere, kleine Lösung. Er ließ in den Mauern des Kreml ein Kongresszentrum errichten (1961), das humane Dimensionen besaß, kein bestehendes Gebäude tangierte und im partiell rehabilitierten ‹modernen› Stil gehalten war. Auch die Innenstadt blieb von den größten Zerstörungen verschont. Zwar war der Auftakt schlimm genug: Die alte Marktstraße längs der Kremlmauer wurde in eine breite und zugige Magistrale verwandelt, die zum neuen Sowjetpalast führen sollte. Die schmale, gewundene Hauptstraße (umbenannt in Gor’kij-Straße) wurde begradigt, verbreitert und vier- bis fünfgeschossig neu bebaut. Aber man legte das größte Warenhaus (GUM) neben dem Roten Platz nicht in Schutt und Asche und brach viele Diagonalen nicht durch die bestehenden Bauten. Dabei kapitulierte die größenwahnsinnige Planung aber weniger vor der Beharrungskraft der Tradition – vom alten Moskau blieb trotz allem nicht viel – als vor finanziellen Zwängen, dem Mangel an Arbeitskräften, der Priorität anderer Vorhaben und nicht zuletzt – vor dem Krieg.[29]

Bei alledem lässt sich das Verhältnis zwischen der ‹revolutionären› Kunst der zwanziger Jahre und der ‹sozialistischen› der dreißiger, zwischen Experiment und Avantgarde auf der einen und konservativer literarischer Ästhetik samt monumentaler Imponierarchitektur auf der anderen Seite, nicht so einfach beschreiben, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wohl steht die Wende in der Kunstpolitik ebenso außer Zweifel wie die evidente stilistische Zäsur in den geförderten Werken. Offen bleibt aber, ob nicht mehr modern-‹revolutionäre› Elemente fortwirkten, als der erste Blick erkennen lässt. Zum einen hat man auf die erhebliche Zählebigkeit ‹alter› Auffassungen selbst in den Verbänden hingewiesen, da sie sich mit der Autorität der bekanntesten Architekten verbanden. Zum anderen zogen sich manche Künstler einfach nur aus der Öffentlichkeit zurück, ohne sich dem neuen Geschmack zu beugen. Selbst wenn sie ihren Beruf aufgaben, konnte sie niemand wirklich daran hindern, ihre Konzepte im kleinen Kreis zu verbreiten oder in innerer Opposition für die ‹Schublade› weiterzuarbeiten. Auf diese Art und Weise überlebte manches und trat, wenn auch in veränderter Form, nach 1953 wieder an die Oberfläche. Darüber hinaus hat man die ‹ketzerische› Frage gestellt, ob die stalinistische Kunst nicht doch grundsätzliche Absichten der leninistischen verwirklichte. Auch auf der kulturellen Ebene geistiger Schöpfungen steht damit die Frage nach der Kontinuität und der Einheitlichkeit ‹gemeinsozialistischer› Prinzipien zur Debatte. Sicher wird man dem Hauptbeleg für diese Argumentation, Stalin habe der Kunst jene lebensgestaltende Praxis endlich ermöglicht, von der die revolutionäre Avantgarde stets träumte, im Großen und Ganzen zustimmen können. Davon unberührt bleibt aber der nicht minder überzeugende Hinweis darauf, dass diese Realisierung mit Hilfe seiner Zensoren eine völlig andere, von den Kritikern der reinen Theorie gewiss nicht vorhergesehene Gestalt annahm. Als die Kunst nachhaltigeren Einfluss als zuvor auf die Wirklichkeit gewann, hatte sie ihre Freiheit endgültig verloren. Nicht sie griff in neuer Form ins Leben ein, sondern der Staat mit ihrer Hilfe.[30]

Wie die Kunst zog die Wissenschaft von Anfang an die Aufmerksamkeit des Regimes auf sich. Auch dieses Verhältnis war alles andere als spannungsfrei, aber in unterschiedlicher, eigener Weise. Während viele Literaten, Maler und Designer die bolschewistische Revolution begrüßten oder doch nicht ablehnten, stand die große Mehrheit der Wissenschaftler entschieden im oppositionellen, liberalen Lager. Wohl begriffen die neuen Herrscher schnell, dass sie auf die Unterstützung dieser Schlüsselgruppe nicht verzichten konnten, wenn sie ihren anspruchsvollen Fernzielen näher kommen wollten. Zugleich blieb die relative politische Toleranz, die aus dieser Einsicht erwuchs, jedoch labil.

Der Kurswechsel des Regimes in dieser Frage lässt sich recht genau auf den Beginn der Planwirtschaft datieren. Als das große Industrialisierungsprogramm in Angriff genommen wurde, glaubten Partei und Staat auch der Wissenschaft straffere Zügel anlegen zu müssen. Auch dabei gingen Kontrolle und Mobilisierung Hand in Hand. Es fügte sich nahtlos in die Gesamtstrategie, dass im Februar 1928 eine neue Organisation ans Tageslicht trat, die ihre Aufgabe im Namen führte: «Allunionsvereinigung der Wissenschaftler und Techniker zur Unterstützung des sozialistischen Aufbaus» (VARNITSO). Von einem Revolutionär und renommierten Chemiker gegründet, fungierten ihre Mitglieder als Stoßtrupp der Bolschewisierung. Denn der Werbung um Mitwirkung folgten bald Strafe und Zwang. Was der Šachty-Prozess der «alten Intelligenz» allgemein signalisierte, galt auch für die Wissenschaft und die Bastion ihrer relativen Unabhängigkeit, die ehrwürdige Akademie der Wissenschaften in Leningrad. Spätestens mit der Einrichtung einer besonderen Regierungskommission unter Leitung eines führenden Mitglieds der RKI im Frühjahr 1929 ging die ‹friedliche Koexistenz› zu Ende und begann die Säuberung. Die letzten bedeutenden, international renommierten Repräsentanten der vorrevolutionären russischen Wissenschaft, wie die Historiker S. F. Platonov und M. K. Ljubavskij, wurden verbannt und verschwanden für immer; andere wie E. V. Tarle kehrten nach einiger Zeit zurück. Der langgediente Sekretär der Akademie S. F. Ol’denburg, einst prominenter Liberaler, wurde seines Amtes enthoben. Ihn ersetzte im folgenden Jahr der Bolschewik und Spezialist für Geschichte und Theorie des Sozialismus V. P. Volgin. Nach Neuwahlen in den Jahren 1929 und 1932 nahm die Akademie gegen Ende des ersten Planjahrfünfts tatsächlich die Gestalt an, die der neuen Staats- und Parteiführung vorschwebte. Von 92 ordentlichen Mitgliedern waren nur noch 14 vor 1917, elf zwischen 1917 und 1928 und 67 nach 1928 gewählt worden. Andererseits erreichte die neue Staatsführung eines nicht: die Abschaffung der autonomen Zuwahl von Seiten der Vollmitglieder. Mit dieser Beschränkung ihrer Macht musste der Sowjetstaat bis zu seinem Ende leben.

Dennoch stand der zentralen Steuerung auch der Wissenschaft nun nichts mehr im Wege. Stalin und seine Mannen vollzogen die Weichenstellungen, die sie für nötig hielten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Was sie bald nach der Wende auf den Weg brachten, war im Wesentlichen dreierlei: die Anpassung der Forschung an die Bedürfnisse der sozioökonomischen Entwicklung, den Ausbau vor allem der naturwissenschaftlichen Institute und die Gründung von Filialen der Akademie in den Unionsrepubliken, mithin die Dezentralisierung und Regionalisierung vornehmlich der naturwissenschaftlichen Großforschung. Für den Geist dieses Kurswechsels war es aber bezeichnend, dass man an der Akademie als organisatorischem Rahmen festhielt. Die älteste Einrichtung der höheren Bildung in Russland erhielt 1935, nachdem man das alte Statut von 1836 erst 1927 ersetzt hatte, abermals eine neue Verfassung. Ein Jahr später wurde die einzige Konkurrenz, die unter Lenin als dezidierte Alternative zur ‹bürgerlichen› Forschung ins Leben gerufene Kommunistische Akademie, wieder geschlossen. Auch dieser Akt signalisierte das Ende der Experimente und des freien revolutionären Denkens. Denn die neue Akademie hatte fraglos hervorragende marxistische Intellektuelle (wie Deborin und Bucharin) an sich gezogen, allerdings solche, die auf ihre Unabhängigkeit nicht verzichten und sich weder dem Schematismus noch dem Monopolanspruch der Stalinschen Dogmatik unterwerfen wollten. So ergab sich das Paradox, dass das neue marxistische Forschungszentrum für die wissenschaftliche Abstützung des ‹sozialistischen Aufbaus› weniger geeignet schien als das veränderte alte. Nachdem dieses 1933 auch noch dem SNK unterstellt und ein Jahr später nach Moskau transferiert worden war, verfügte die Stalinsche Partei- und Staatsführung in seiner Gestalt und unter seinem Dach über die personell stärkeren, fachlich erheblich breiter gestreuten, gerade in den Naturwissenschaften bestens ausgewiesenen und botmäßigen Globalinstitutionen.[31]

Über den Ertrag der reorganisierten oder neubegründeten Akademieeinrichtungen lässt sich nur schwer urteilen. Licht und Schatten lagen dicht beieinander. Fächer und Institute, die sich einer generell hohen Wertschätzung erfreuten und die man zugleich an relativ langer Leine ließ, brachten Leistungen von Weltgeltung hervor. Umgekehrt geriet der Forschergeist in die Tretmühle unproduktiver Scholastik, wo er apriorische, sowjetmarxistische ‹Gesetzmäßigkeiten› zu belegen suchte. Ein bezeichnendes Beispiel für ‹Toleranz› aus Staatsräson und Nützlichkeitserwägungen war das Schicksal der theoretischen Physik. Zwar nahmen engagierte ‹Materialisten› Anstoß am vermeintlichen Idealismus der Relativitäts- und Quantentheorie einschließlich der Bohrschen und Heisenbergschen Komplementaritätspostulate. Auf dem Höhepunkt des Terrors gerieten sogar mehrere Anhänger der Einsteinschen Überlegungen in den Sog der Verhaftungen, die einige auch nicht überlebten. Das hinderte Stalin jedoch nicht daran, schon bald nach Kriegsbeginn die Entwicklung der Atombombe samt ihrer theoretischen Grundlagen als höchst geheime Mission in Auftrag zu geben. Dies setzte die Gewährung relativer Denkfreiheit für die einschlägig arbeitenden Physiker voraus. In bezeichnender Parallelität zu analogen Veränderungen des Schul- und Hochschulunterrichts kehrte auch die stalinistische Wissenschaftspolitik in strategischen Bereichen zu konservativen Grundsätzen zurück, indem sie auf unmittelbare Intervention verzichtete. Zugleich gründete der Staat neue Institute, denen er ein Mindestmaß an Selbständigkeit konzedierte. Aus dem Institut für Mathematik und Physik gingen 1934 zwei getrennte Einrichtungen hervor, in denen N. N. Luzin und andere an den Fundamenten der modernen Mathematik mitwirkten und verschiedene herausragende Physiker im Umkreis des hochangesehenen A. F. Ioffe (V. A. Fok, I. E. Tamm u.a.) die zeitgenössische Atomtheorie (durchaus auf ‹idealistischer› Basis) weiterentwickeln halfen. Für einen besonders hoffnungsvollen Wissenschaftler, P. L. Kapica, der sich als Mitarbeiter E. Rutherfords in Cambridge Verdienste erworben hatte, wurde 1935 (wenn auch als Kompensation eines Ausreiseverbots) sogar ein eigenes Institut für physikalische Probleme eingerichtet. Der Lohn für diese Anstrengungen blieb trotz der erwähnten Repressalien – etwa im berühmten Ukrainischen Physikalisch-Technischen Institut in Char’kov 1937 – nicht aus: Von den sieben Nobelpreisen, die sowjetische Wissenschaftler bis 1982 erhielten, entfielen die meisten auf die Kerngebiete der Naturwissenschaften, und alle wurzelten in Forschungen der Stalinära.

Zugleich fällt auf, dass die meisten Laureaten ihr Studium noch in der internationalen Atmosphäre der zwanziger Jahre absolviert hatten. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat eben diese Verbindung aus erheblichen Investitionen vor allem (aber nicht nur) in Personal, einem großzügigen (völlig aus dem Rahmen der sonstigen Kontrolle fallenden) fachlichen Freiraum und hochqualifizierten, noch unter anderen Verhältnissen ausgebildeten Experten maßgeblich zu diesem Ergebnis beigetragen. Die Erfolgsbedingung scheint somit nicht zuletzt darin bestanden zu haben, dass das Interesse des diktatorischen Staates an Prestige und militärisch-industriell nutzbarem Grundlagenwissen mit dem Bemühen der Forscher um Bewahrung ihrer Selbständigkeit zusammenfiel.[32]

Ganz anders lagen die Dinge in der Agrobiologie und Pflanzengenetik. Hier gab seit der Mitte der dreißiger Jahre ein Mann den Ton an, der zum Inbegriff des pseudowissenschaftlichen Scharlatans und Ideologen wurde. Mit bemerkenswertem Machthunger und Durchsetzungsvermögen nutzte T. D. Lysenko die Gunst der Stunde, um die kanonisierte Ideologie in den Dienst vermeintlicher Forschungsergebnisse zu stellen. Was in der Physik und Chemie – hier nicht zuletzt dank des enormen Einflusses von V. I. Vernadskij – nicht gelang, schien im ökonomisch wichtigen Bereich der Pflanzenzüchtung möglich zu sein. Unter Rückgriff auf ältere russische Hypothesen verkündete er mit kräftiger Rückendeckung der Partei die ‹materialistische› Theorie von der prinzipiellen Prägung der pflanzlichen Erbmasse durch die Umwelt. Die bloße Veränderung der Lebensbedingungen werde zur genetischen Anpassung der Pflanzen führen und gebe dem Menschen einen leicht handhabbaren Schlüssel zur Ertragssteigerung in die Hand. Denn dies reklamierte Lysenko ebenso lautstark für seine ‹Theorie›: dass sie unmittelbar praktisch sei und dazu beitragen könne, das wirtschaftliche Kardinalproblem der Sowjetunion zu lösen – die Bevölkerung besser zu ernähren. Lysenko stellte sich damit gegen den Rest der wissenschaftlichen Welt. Vehement bekämpfte er die zeitgenössische Genetik, die von der prinzipiellen Kontingenz der Verbindung von Erbanlagen ausging und die völlig andere Richtung der molekularen Biochemie einschlug. Dabei verzichtete er nicht auf patriotische Töne, indem er andere Theorien als ‹unrussisch› diffamierte, und sicherte sich auch dadurch das Gehör der Parteioberen. Im August 1940 wurde sein wichtigster Gegenspieler, der renommierte Genetiker N. I. Vavilov, während einer Forschungsreise in die Westukraine vom NKVD verschleppt; er starb 1943 an seinem Verbannungsort Saratov. Trotz wachsender Kritik überdauerte Lysenkos Einfluss sogar das Ende der Stalinära. Chruščev vertraute dessen Thesen in der Hoffnung, den Erfolg der ehrgeizigen, von der neuen Parteiführung auf den Weg gebrachten Agrarreformen beschleunigen zu können. Erst mit dem Zusammenbruch dieser Illusion und mit Chruščev fiel auch Lysenko.[33]

Die Geisteswissenschaften gehörten zu den Forschungsbereichen, die in besonderem Maße unter der Knute ideologischer Zensur zu leiden hatten. Sie durften öffentlich nur Methoden anwenden und Gegenstände untersuchen, die mit der offiziösen Weltanschauung und schlimmer noch: mit der parteilich-obrigkeitlich approbierten Interpretation dieser Weltanschauung vereinbar waren. Die Rezeption vieler großer und origineller Denker des Jahrhundertbeginns fiel diesem Verbot zum Opfer. Ganze Disziplinen, die von ihnen begründet oder maßgeblich beeinflusst wurden, konnten sich nicht entfalten. Weder Émile Durkheim noch Max Weber und Georg Simmel, weder Sigmund Freud noch Wilhelm Dilthey, noch Edmund Husserl, um nur einige wenige zu nennen, drangen mit ihren grundlegend neuen Betrachtungsweisen in die Sowjetunion vor. Soziologie, Psychoanalyse, geistesgeschichtliche Hermeneutik, Phänomenologie, von anderen Richtungen moderner Philosophie nicht zu reden, wurden an der Grenze angehalten. Letztlich sperrten die ideologischen Gralshüter damit in den Geisteswissenschaften sehr viel radikaler als in den Naturwissenschaften die gesamte Moderne aus.

Komplementär bemühten sie sich um eine leicht fassbare und breiten Bevölkerungsschichten vermittelbare Systematisierung dessen, was sie unter Marxismus-Leninismus verstanden. Im Grundsatz war eine solche Kanonisierung der Staatsideologie zum philosophisch-abstrakten «dialektischen Materialismus» und zum geschichtlichen Globalschema des «historischen Materialismus» nicht neu. Dennoch markierte das neue Regime auch in dieser Hinsicht eine Zäsur. Gegen Ende der NĖP konnten ‹Dialektiker› und Anhänger einer eher ‹mechanischen› Deutung des Materialismus noch miteinander streiten. Webers vergleichende Typologie der Städte war noch ins Russische übersetzt und von renommierten Mediävisten zur Kenntnis genommen worden. Desgleichen kannte man, wie genau auch immer, noch neuere Überlegungen aus der westlichen Pädagogik und Psychologie. Unter Stalin musste dieses Wissen untertauchen. Es zog sich in die Köpfe und die konspirative Kommunikation einiger weniger Individualisten und früher ‹Dissidenten› zurück. Die Masse der neuen sowjetischen Intelligenz wuchs in weitestgehender Isolation von ausländischen Ideen auf. Gerade in geistig-kultureller Hinsicht wird man weit in die russische Geschichte zurückgehen müssen, um eine ähnliche Periode der Abschottung zu finden. Ein bezeichnendes Indiz dafür war der Schwund von Fremdsprachenkenntnissen. In den zwanziger Jahren lasen Wissenschaftler noch Deutsch oder schon Englisch; die «Sowjetintelligenz» verstand nur noch Russisch. Vom Rest der Welt getrennt und auf verbindliche methodisch-weltanschauliche Axiome festgelegt, verödeten die Geisteswissenschaften zu einem stehenden Gewässer, in dem sie überleben, aber keinen frischen Sauerstoff aufnehmen konnten.[34]

Bei alledem wurden sie nicht eigentlich vernachlässigt. Sie genossen zwar keine Unterstützung, die der Pflege der naturwissenschaftlich-technischen Fächer vergleichbar gewesen wäre. Aber die beiden größten Disziplinen, die Geschichts- und die Literaturwissenschaft, erfuhren doch eine Aufmerksamkeit und materielle Hilfe, um die man sie in anderen Ländern beneidet hätte. Vor allem die historische Forschung profitierte von der herausragenden Bedeutung, die ihr die marxistische Weltanschauung zuwies. Marx leitete die Bewegungsgesetze der historischen Evolution als Ergebnis der ewigen Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bekanntlich aus dem Studium der Geschichte ab. Wie dogmatisiert auch immer, ergaben sich daraus Erwartungen, die ihm sowohl einen besonderen Rang verliehen als auch besondere Einschränkungen auferlegten. Deutlicher noch als in den zwanziger Jahren wurde die Historie zur Legitimation des Regimes herangezogen. Dabei fiel ihr die besondere Aufgabe zu, nach den Wurzeln des aktuellen Sozialismus zu fahnden. Daraus resultierten nicht nur die bekannten riesigen Quelleneditionen zur Geschichte der «Arbeiter- und Bauernbewegung» (nach angeblicher bolschewistischer Lenkung selektiert) oder die konzentrierten Anstrengungen zur Erforschung der «Genesis des Kapitalismus» in Russland (die man schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts entdeckte), der Arbeiterschaft seit Peter dem Großen, der revolutionären Bewegung in allen genehmen Verästelungen sowie ganz allgemein die exklusive Bevorzugung der sozioökonomischen Geschichte. Auch die Wiederentdeckung der ‹Helden› russischer Vergangenheit gehört in diesen Zusammenhang. So wie der sozialistisch-realistische Roman positive Bezugspersonen brauchte, benötigte das stalinistische Geschichtsbewusstsein Symbole und Personifikationen der entscheidenden Etappen des Weges zur unübertrefflichen Gegenwart. Manche romantische Mythen des 19. Jahrhunderts konnten dabei leicht eingefügt werden. Aus der «Sammlung der russischen Erde» wurde die Herstellung des zentralisierten Einheitsstaates, aus dem ersten gesalbten Zaren Ivan IV. (der «Schreckliche») der Vollender des Kampfes gegen die ‹feudale Zersplitterung›. Bei anderen Akteuren und Entwicklungen griff man eher auf westliche Deutungen zurück. Peter I. erschien als Herkules, der den russischen Augiasstall ausmistete, um das Land auf den Weg der Moderne zu bringen. Die stalinistische Geschichtswissenschaft brauchte wieder ‹große Männer› und kreierte sie mit mehr Pathos als die vorrevolutionäre. Beides war (und blieb in den Nachkriegsjahrzehnten) im Kommandosystem oktroyierter Geistesgeschichte vereinbar: ein kruder Materialismus, der die Forschung weitgehend auf die sozioökonomische Realität einengte, und eine neue Ahnengalerie bedeutender Individuen, die den Lebenden teilweise so angenähert wurden, dass Alexander Nevskij, wie Dovženko zu seinen eigenen gleichnamigen Film anmerkte (1940), agierte wie «ein Sekretär des Parteikomitees von Pskov».[35]

Es bleibt das Problem eines Gesamturteils. Organisatorisch wurden fast alle Wissenschaften an so enger Leine geführt wie nie zuvor. Auch inhaltlich mussten sie sich eine Gängelung gefallen lassen, die ihresgleichen suchte. Auf der anderen Seite kann der verheerende Einfluss Lysenkos in den Naturwissenschaften eher als Ausnahme gelten. In vielen ‹Leitdisziplinen› fand am Vorabend des Zweiten Weltkriegs unter dem Dach der stark erweiterten Akademie der Wissenschaften eine «ungewöhnlich produktive Forschung» statt, die an der internationalen Entwicklung teilnahm. Dabei kam zum Tragen, dass sich nun manche Begabung entfaltete, die in der relativ freien Atmosphäre der zwanziger Jahren herangereift war. Darüber hinaus gehörte es sowohl zu den notwendigen Kompromissen als auch zu den charakteristischen Merkmalen totalitärer Staaten, dass sie zur Förderung übergeordneter sozioökonomischer oder technisch-militärischer Gesamtziele großzügige Mittel investierten und dabei wissenschaftliche Freiräume tolerierten, die für anderes genutzt werden konnten. Dies mag die Beobachtung zu erklären helfen, dass im Stalinismus beides anzutreffen war: «herausragende wissenschaftliche Leistungen» und «skandalöse politische Attacken».[36]

Kirche und Religion Nicht überraschend gewann auch der ‹Kirchenkampf› mit der Wiederbelebung von Ideologie und Klassenkampf deutlich an Schärfe. Die hochgestimmte Parteijugend, die auszog, um den kapitalistischen Feind endgültig niederzuringen, wollte auch die geistigen Hauptübel der Vergangenheit mit Stumpf und Stiel ausrotten. Nach den Exzessen der frühen Jahre (1918–21) und der pragmatischen Mäßigung im Zeichen der NĖP (1922–28) begann parallel zur planwirtschaftlichen Industrialisierung und Zwangskollektivierung der dritte und verheerendste Sturmlauf gegen Kirche und Religion.

Die neue Kampfeslust schlug sich bald in gesetzlichen Vorschriften nieder. Dabei las sich das Dekret «über religiöse Vereinigungen» vom 8. April 1929 auf den ersten Blick konziliant. Ausdrücklich legalisierte es «Zusammenschlüsse» gläubiger Bürger jedweden Bekenntnisses zum Zwecke der «gemeinsamen Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse», wenn sie von zwanzig erwachsenen Personen beantragt wurden. Gemeinden solcher Art durften ‹spezielle Gebetsgebäude› unterhalten, «religiöse Kongresse» veranstalten und Spenden sammeln. Bedeutsamer war indes, was sie nicht mehr durften. Ihnen wurde untersagt, Mitgliedern materiell zu helfen, Unterstützungskassen und -vereine zu gründen, außerhalb ihrer Gebäude (Schulen eingeschlossen) religiöse Unterweisung zu erteilen und generell für ihre Ziele zu werben, Familienangehörige der registrierten Gläubigen (Kinder, Frauen) dabei ausdrücklich eingeschlossen. Solche Verbote gingen über die Trennung von Staat und Religion weit hinaus. Das Regime erkannte die Kirche formal erneut an, engte ihren Spielraum aber noch weiter ein und unterwarf sie gänzlich seiner Gnade und Willkür. Dem Dekret entsprach eine Verfassungsänderung, die der nächste (14.) Sowjetkongress beschloss. Anstelle der «Freiheit religiöser Propaganda» garantierte das Grundgesetz des Sowjetstaates fortan nur noch die «Freiheit des religiösen Bekenntnisses». Unterbunden werden sollte, wie ein Kommentar erläuterte, jegliche ‹antisowjetische› Agitation in kirchlichem Gewande. Um sich Zweifelsfragen zu ersparen, ging man im neuen Geist pauschal vor – und verbot alle Äußerungen außerhalb der dedizierten Gebäude, wenn sie nicht ausdrücklich genehmigt worden waren. Zugleich stärkten Partei und Staat die atheistische Bewegung. Von annähernder Kräftegleichheit konnte im Kampf um die Seelen ohnehin schon seit der Revolution nicht mehr gesprochen werden. Aber fraglos vergrößerten das Dekret vom April 1929 und die folgende Verfassungsänderung den Abstand erheblich.[37]

Nicht genug damit, erhöhte das Regime auch den materiellen Druck. Verschiedene Maßnahmen addierten sich vor dem Hintergrund ohnehin hoher ‹Strafsteuern› zu einer fiskalischen Belastung, die eine atheistische Zeitschrift 1930 mit Genugtuung als «empfindlich» bezeichnete. Gleichzeitig wurden die Mieten sowohl in den ehemaligen Pfarrhäusern als auch in anderweitigen Gebäuden heraufgesetzt. Am schlimmsten aber wirkte sich eine Anordnung vom 3. Januar 1930 aus, derzufolge Angehörige aller nichtwahlberechtigten Gruppen, darunter auch die Geistlichkeit, angesichts des katastrophalen Mangels an städtischem Wohnraum aus öffentlichen Appartements und Häusern auszuziehen hatten. Ähnlich rigoros handelte der Staat, als Versorgungsprobleme das Industrialisierungsprogramm zu behindern drohten. Er wies die Kooperativen an, die ‹Werktätigen› vorrangig zu versorgen und Nichtwahlberechtigte, die durch diesen Status als ‹Klassenfeinde› stigmatisiert waren, nur gegen Sonderzahlungen zu beliefern.

Hinzu kamen massive Übergriffe und Schikanen aller Art. Besonders aktiv war die Atheistenbewegung. Jaroslavskij und seine Anhänger versiegelten Kirchen und Kapellen, holten die Glocken von den Türmen, propagierten ‹gottlose Kolchosen› und nutzten die Umwälzung auf dem Dorfe, um auch Kirche und Religion zumindest optisch vom Land zu vertreiben. Wo neue Siedlungen entstanden, war dies einfach; man baute weder Kapellen noch Betstuben und verbannte die Popen, soweit es sie noch gab. Gleiches galt für die neuen Städte des industriellen Aufbruchs: In der Silhouette von Magnitogorsk fehlten die zwiebelförmigen Goldkuppeln, die immer noch als Wahrzeichen urbaner Zentren galten. Die Atheisten waren es auch, die Ikonen auf Scheiterhaufen verbrannten, wo sie ihrer habhaft werden konnten. Wenige Jahre später sollte zutage treten, dass für Heiligenbilder Ähnliches galt wie für Bücher: Wer sie verbrannte, schreckte auch vor der Vernichtung der Menschen nicht zurück, die sie verehrten. Dieselben gewalttätigen Atheisten begrüßten auch diejenige Neuerung, die den traditionellen Lebensrhythmus besonders tiefgreifend veränderte: die Einführung der nepreryvka, der ununterbrochenen Arbeitswoche. Was im Frühsommer 1929 vor allem dazu gedacht war, die Kapazitätsauslastung der Industrie zu erhöhen, griff tief in die religiös-kirchlichen Gewohnheiten ein. Sonn- und Feiertage wurden zu Arbeitstagen, Familien konnten religiöse Feste und private Feiern nicht mehr vollzählig begehen. Der Alltag wurde der Regulierung durch die Kirche entzogen und der ‹Uhr› des Produktionsprozesses unterworfen. Die «Gottlosen» waren sich dieser Wirkung vollauf bewusst und versuchten, sie zu beschleunigen. Sie verstärkten ihre Kampagnen vor den Feiertagen, insbesondere vor Ostern und Weihnachten, und hofften, das Diktat der Maschinen werde der Religion endgültig «einen vernichtenden Schlag» versetzen.[38]

Aber so wie sich die nepreryvka nicht durchsetzen konnte und schon gegen Ende des ersten Planjahrfünfts nicht mehr praktiziert wurde, blieb auch dem atheistischen Ansturm der Erfolg versagt. Allem Anschein nach gelangte die Parteispitze schon Anfang 1930 zu der Einsicht, dass viele Siegesmeldungen falsch waren oder flüchtige Zustände wiedergaben. Hinzu kam wachsender Widerstand gegen die Schließung von Dorfkirchen und die Schändung des Heiligsten. Ähnlich wie im Falle der Kollektivierung ging der Protest dabei vor allem von den Bauersfrauen aus; sie hielten auch in dieser Hinsicht zäh an der Tradition fest. Gleichfalls analog zur Kollektivierungskampagne lenkte die Partei ein. Mitte Januar 1930 konzedierte Stalin in einem Brief an Gor’kij, bei der «antireligiösen Propaganda» seien große «Dummheiten begangen» worden, die nur «Wasser auf die Mühle der Feinde» leiten könnten. Und ein halbes Jahr später erteilte der 16. Parteitag übereifrigen Atheisten eine offizielle Rüge, indem er sie daran erinnerte, dass man sich die Mühe langwieriger Überzeugung nicht durch flinken Zwang ersparen könne. Auf bloße Furcht allein konnte sich, was Stalin und seinen Getreuen in der prekären Übergangsphase genau bewusst war, gerade die Umwälzung der Lebens- und Denkweise nicht stützen.[39]

Deshalb lag auch in der Religionsfrage ein ‹Waffenstillstand› nahe. Der Regierung kam es gelegen, dass die atheistische Bewegung deutliche Zeichen der Erschöpfung erkennen ließ. Die Klagen über nachlassenden Eifer vor Ort häuften sich. Die erfolgreiche Zeit ‹atheistischer Stoßbrigaden› aus den Städten oder bäuerlicher Mustertrupps, die ‹atheistische Äcker› bestellten, ging zu Ende. Das Jahr 1932 markierte den Höhe- und zugleich den Wendepunkt der Bewegung. Von ca. 465.000 zu Beginn der Kampagne (1929) kletterte die Zahl der registrierten Mitglieder bis zum Mai dieses Jahres auf ca. 5,7 Mio. Zugleich schnellte die Zahl ‹atheistischer› Zeitungen und Zeitschriften um ein Mehrfaches empor, so dass die Gesamtauflage die Millionengrenze überschritt; insgesamt addierte sie sich von 1927 bis 1930 auf ca. 43,6 Mio. Exemplare. Doch die Tätigkeit der Gottlosen veränderte sich bereits. Auch wenn sie 1932 im riesigen Kazanskij sobor in Leningrad ein sinnfälliges Symbol, das – nach der zentralen Institution dieser Art in Moskau – bedeutendste Atheismus-Museum erhielten, leisteten sie bereits mehr allgemein kulturelle Aufbau- und ‹Produktionsarbeit›, als dass sie an der ‹religiösen Front› fochten. Sie kämpften gegen Trunksucht und Faulenzerei, warben für die ‹richtige› Parteilinie und halfen bei der Ernte. Als diese eingebracht und der äußere Sieg nicht mehr gefährdet war, sank der Kurs ihrer Hilfeleistung. Zugleich verengte sich offenbar auch der finanzielle Spielraum. Jedenfalls ließ die staatliche Unterstützung für die atheistische Bewegung drastisch nach. Seit 1934 war eine deutliche Beruhigung zu verzeichnen, ablesbar unter anderem daran, dass die meisten atheistischen Periodika, darunter sogar das ‹Zentralorgan› Bezbožnik (Der Gottlose), ihr Erscheinen einstellte. Das Regime bekehrte sich gewiss nicht zur Christlichkeit. Aber es verzichtete sozusagen auf den Gnadenstoß und erlaubte den verbliebenen Gläubigen das Überleben in der Enklave.

Die Annahme liegt nahe, dass dazu auch die Entwicklung auf der ‹anderen Seite› beitrug. Die Kampagne verlor ihren Gegner. Zum einen wiederholte der Stellvertretende Patriarchatsverweser – so sein offizieller Titel –, der Metropolit Sergij, seine Loyalitätsbezeugung gegenüber dem Regime. Dabei strapazierte er die Wahrheit so sehr, dass er in der Izvestija sogar behauptete, in der Sowjetunion gebe es keine Religionsverfolgungen. Kirchen seien auch nicht auf Betreiben der Regierung, sondern «auf Wunsch der Bevölkerung» geschlossen worden. Sicher ging solche Unterwürfigkeit nicht nur den orthodoxen Christen im Exil, sondern auch vielen, die in der Sowjetunion ausharrten, entschieden zu weit. Auf der anderen Seite gab es im Land selbst keine hörbaren Gegenstimmen. Sergijs Unterwerfung war darin realistisch, dass sie der Schwäche der Kirche als Anstalt Rechnung trug. Vor 1917 soll es in Moskau ca. 460 orthodoxe Gotteshäuser gegeben haben; Anfang 1933 waren etwa 100 geblieben. Auch wenn sich der Glaube auf dem Lande vermutlich mit größerem Erfolg behauptete, war das Ende dessen weitgehend erreicht, was sich auf dem Wege der direkten Aktion, durch Zerstörung und Propaganda, bewirken ließ.

Diese Phase religionspolitischer ‹Mäßigung› erreichte 1936 mit der Verabschiedung der Verfassung ihren Höhepunkt. Da alle Bürger nach dem angeblichen Ende der ‹Klassengesellschaft› nun gleich sein sollten, konnten auch die Geistlichen nicht ausgeschlossen bleiben. Das Verbot der Aufnahme ihrer Kinder an den Universitäten wurde ebenso annulliert wie die Beschränkung ihres Wahlrechts. Formal kam der Klerus fortan in den Genuss derselben Rechte wie die übrigen Mitglieder der Gesellschaft. Stalin sah keine innere Gefahr mehr, vor der sich die Sowjetmacht noch schützen musste. So zynisch diese Behauptung war, machtpolitisch traf sie den Kern. Hinzu kam, dass die russische Kirche eine gewisse historische Rehabilitierung erfuhr. In dem Maße, wie der Patriotismus als kompensatorische Integrationsideologie propagiert wurde, rückten auch die frommen Heiligen der alten Rus’ ins Pantheon der Helden ein. Selbst der Revolutionsbarde Demjan Bednyj musste sich allerhöchsten Tadel gefallen lassen, als er diese Wende übersah und in einem Opernlibretto die Taufe des Heiligen Vladimir von Kiev im Jahre 988 parodierte. Stalinistische Vaterlandsliebe duldete auch keine «Verunglimpfung» von Ahnen aus grauer Vorzeit mehr.[40]

Doch auch dieser einseitige Friede war nicht von Dauer. Obgleich von der Kirche als Anstalt keine Gefahr ausging, wollte das zunehmend neurotisierte Regime selbst ihre Möglichkeit ausschalten. Als es zum Massenterror überging, blieb die Kirche nicht verschont. Über das Ausmaß der Gewalt liegen unterschiedliche Zahlen vor. Älteren Schätzungen aus Dissidentenkreisen zufolge wurden 1936–38 ca. 800.000 orthodoxe Geistliche verhaftet und 1937–39 ca. 670 Bischöfe ermordet. Nach dem Untergang der Sowjetunion ermittelte eine Kommission zur Rehabilitierung Verfolgter beim Moskauer Patriarchat eine Gesamtzahl von 350.000 bis 1941 verurteilten Gläubigen, von denen allein 1937 ca. 150.000 verhaftet und 80.000 hingerichtet wurden. Und der Vorsitzende einer im Zeichen der Perestrojka eingesetzten Wiedergutmachungskommission bezifferte die Zahl der Verhafteten auf 165200, von denen 106.800 erschossen worden seien. Welche Zahlen auch immer zutreffen, der Blutzoll war hoch, und der Kirche wurde personell – wenngleich der Patriarchatsverweser Sergij bemerkenswerterweise unbehelligt blieb – endgültig das Rückgrat gebrochen. Da sie kaum Nachwuchs erhielt, vergreisten die ‹Verwalter› ihres Charismas. Von 83 Moskauer Priestern waren 1938 nur drei jünger als vierzig Jahre. In vielen Gemeinden gab es längst keine ordinierten Geistlichen mehr; stattdessen wuchs die Zahl der ‹selbstbestellten›. Bibelkundige Laien, vorzugsweise Frauen, übernahmen die Liturgie. Wo ‹amtliche› Repräsentanten der strangulierten Kirche fehlten, griffen die Gläubigen zur Selbsthilfe. Es hatte erhebliche Bedeutung für die innerkirchliche Opposition der fünfziger und sechziger Jahre, dass die ‹Gemeindereligiosität› zwangsläufig einen Teil des Vakuums füllte, das die ‹Anstaltsreligiosität› hinterließ, und sich die orthodoxe Kirche spürbar demokratisierte.[41]

Deshalb muss auch das Fazit über den Zustand von Kirche und Religion am Vorabend des Zweiten Weltkriegs offen ausfallen. Der bloße Zusammenbruch der Institution sagt nicht alles. Sicher liegt ein Indiz für den äußeren Zustand der Kirche darin, dass von einst ca. 80.000 russisch-christlichen Gotteshäusern 1939 nur noch etwa 20.000 ihrer alten Aufgabe dienten. Man tut aber gut daran, zwischen Anstalt und Glauben zu trennen. Zwar kamen beide in der orthodoxen Lehre eng zusammen; ein gottesfürchtiges Leben außerhalb amtlicher Hierarchie lag ihr – spätestens seit dem 16. Jahrhundert – ebenso fern wie dem Katholizismus. Aber die Sowjet- und insbesondere die Stalinära zwangen die Kirche in einen Ausnahmezustand. Ob im inneren oder äußeren Exil, die Regeln normaler Existenz waren außer Kraft gesetzt. Was an religiösem Leben überdauerte, blieb notgedrungen unsichtbar. So betrachtet, hatte die einstige Staatskirche nun Gelegenheit, Formen religiöser Praxis zu erproben, die sie den Altgläubigen über Jahrhunderte zugemutet hatte. In welchem Maße sie zur Religion ohne Kirche wurde, hat sich bislang nicht zufriedenstellend klären lassen. Immerhin wagten es selbst auf dem Höhepunkt des Terrors bei der Volkszählung vom Januar 1937 56,2 % der Stalinschen Untertanen, sich zu ihrem Glauben zu bekennen. Somit spiegeln beide Behauptungen ihren Teil der Wirklichkeit: Auf der einen Seite kann die weitgehende Verdrängung der fast tausend Jahre alten Kirche aus dem öffentlichen Leben ohne breiten offenen Widerstand kaum anders als ein Erfolg des Regimes gewertet werden; auf der anderen Seite zeigt sich in der Retrospektive, dass im Verborgenen mehr Religiosität überlebte, als die institutionelle Marginalisierung und die enorme soziale und ideologische Mobilisierung der Bevölkerung in der frühen Stalinära vermuten ließen. Letztlich hängt ein abschließendes Urteil nicht nur von weiteren Forschungen ab, sondern auch von der Antwort auf die Frage, was Kirche sei.[42]

Die sowjetische Außenpolitik der dreißiger Jahre hat der Forschung seit Jahrzehnten Rätsel aufgegeben. Dem äußeren Anschein nach verfolgte sie widersprüchliche oder zumindest mehrere Ziele gleichzeitig und ließ so wenig konzeptionelle Geschlossenheit erkennen, dass sie sehr verschiedene Deutungen erlaubte. Immer noch stehen einander dabei vor allem zwei Positionen gegenüber. Die eine geht von einer grundlegenden Neuorientierung der auswärtigen Aktivitäten der Sowjetunion aus. Mit dem Übergang zum «Aufbau des Sozialismus in einem Lande» erkennt sie eine wachsende Priorität zugunsten seiner Absicherung durch bilaterale Nichtangriffsvereinbarungen, deren Summe größtmöglichen äußeren Schutz zu gewährleisten schien. Erste Grundlagen dieser Strategie wurden bereits seit Mitte der zwanziger Jahre geschaffen, als der Kampf gegen die innerparteiliche Opposition noch tobte, aber faktisch bereits entschieden war. Der Wechsel im Amt des Außenkommissars von Čičerin zu M. M. Litvinov Anfang 1930 festigte sie und erhob sie endgültig zur neuen Leitlinie. In ihrem argumentativen Kern geht diese Interpretation von einem engen Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Entwicklung, zwischen Industrialisierung und Kollektivierung auf der einen Seite und einer Diplomatie auf der anderen Seite aus, deren oberste Aufgabe darin bestand, den ‹Sprung nach vorn› international abzuschirmen. Insofern folgt sie einer funktionalen Denkfigur und setzt dabei einen beträchtlichen Pragmatismus voraus, der das sozialistische Endziel aber nicht aus den Augen verlor.

Die zweite Deutung meint dagegen die Fortsetzung jenes Doppelspiels einer offiziellen und einer ‹geheimen› Diplomatie beobachten zu können, das schon die frühe Außenpolitik der Sowjetunion kennzeichnete. Hinter der Fassade «kollektiver Sicherheit» ortet sie eine andere Absicht, die sie als eigentliche identifiziert: das Bestreben, zu einem Arrangement mit Deutschland zu kommen. Diese These schließt die Annahme ein, dass die Sowjetführung von der «Machtergreifung» der Nationalsozialisten letztlich weniger erschüttert wurde, als sie propagandistisch glauben machen wollte, und kein prinzipieller Gegensatz zwischen «Faschismus» und «Bolschewismus» bestand. Im Gegenteil, genau besehen waren die Diktaturen eng miteinander verwandt: Beide strebten nach maximalem territorialen Gewinn und in letzter Absicht nach Herrschaft über ihre Nachbarn und die Welt. Daher nimmt diese Deutung die ‹sichtbare› Politik auch nicht für bare Münze, sondern geht davon aus, dass Stalin trotz der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland auf eine Restauration des Vertrages von Rapallo hinarbeitete. Wenngleich der Gesprächsfaden auch zuvor nicht abriss, urteilt sie in starkem Maße retrospektiv vom Ergebnis des Hitler-Stalin-Paktes her. Sie legt den Akzent auf die Suche nach einer Erklärung für dieses Ende und findet sie in einer beträchtlichen, letztlich überwiegenden ‹Autonomie› sowohl fortdauernder außenpolitischer Fernziele als auch außenpolitischer Aspekte der Wahlverwandtschaft der Systeme: ‹Brauner› und ‹roter› Totalitarismus mussten letztlich zusammenkommen. Demgegenüber spielen ‹funktionale› Erfordernisse der innenpolitischen Situation eine untergeordnete Rolle. Insofern beziehen beide Deutungen implizit auch zum einst vieldiskutierten Problem des ‹Primats der Innenpolitik› Stellung.[1]

Bei alledem stimmen die Interpreten in mindestens zwei Befunden überein. Zum einen entdecken sie eine fundamentale Kontinuität in der ideologischen Prämisse eines unaufhebbaren Gegensatzes zwischen «Kapitalismus» und «Sozialismus». Gleich ob multi- oder bilateral orientiert, die Außenpolitik Stalins ging wie die Lenins davon aus, dass das Mutterland des Sozialismus von kapitalistischen Feinden umzingelt sei. Daraus ergab sich die zweite taktisch-strategische Erbschaft: Die UdSSR tue am besten daran, sich aus den vermeintlich unausweichlichen kriegerischen Auseinandersetzungen im gegnerischen Lager herauszuhalten. Zahlreiche Äußerungen des Generalsekretärs und Diktators lassen sich als Beleg für die oberste Priorität der eigenen Unversehrtheit anführen. Zwar war Stalin realistisch genug zu erkennen, dass die Sowjetunion auf Dauer nicht abseits stehen konnte. Aber vieles spricht dafür, dass er sich bis zum deutschen Überfall an der schon im Januar 1925 geäußerten Maxime orientierte, als Letzter in den Ring zu treten.[2] Der Diktator mochte, wie ihm vor allem die totalitarismustheoretische Deutung unterstellt, in wachsendem Maße auch äußerem Machthunger und territorialen Expansionsgelüsten bis hin zum Bosporus verfallen, eines wollte er aber nach ganz überwiegender Meinung nicht: einen Krieg anzetteln. So wird man davon ausgehen müssen, dass Stalin sein Land wirtschaftlich durch die forcierte Industrialisierung auch in die Lage zu versetzen suchte, den für unvermeidlich gehaltenen Endkampf gegen ‹den Kapitalismus› siegreich zu bestehen, und im Umfeld wachsender internationaler Spannung seit 1936 mehr und mehr Ressourcen in die Rüstung und den personellen Ausbau der Armee lenkte.[3] Zugleich war er aber nach Kräften darum bemüht, diesen Ernstfall so lange wie möglich hinauszuschieben.

Von selbst versteht sich, dass beide Interpretationen jeweils die größere dokumentarische Evidenz für sich beanspruchen. ‹Schiedsrichter› müssen die Quellen sein, die aber an Eindeutigkeit zu wünschen übrig lassen. Auch die Öffnung der Archive hat die Sachlage bislang nicht entscheidend verändert, da sie die Außenpolitik weitgehend ausschloss.[4] Die folgende Übersicht will nicht verhehlen, dass sie den Zeugnissen und Argumenten zugunsten der «kollektiven Sicherheit» die größere Plausibilität zuerkennt. Aber sie verschließt sich zugleich jüngst vorgetragenen Einwänden nicht, beide Deutungen könnten nicht überzeugen, da die sowjetische Außenpolitik selbst widersprüchlich und inkonsequent gewesen sei. Insofern geht sie davon aus, dass die Versuche einer nachträglichen Synopse kohärenter sind (und sein müssen) als die Sache selber und die beiden Hauptziele der Stalinschen Diplomatie der dreißiger Jahre einander nicht ausschlossen. In dieser Perspektive lassen sich die wichtigsten Initiativen, Wendepunkte und Ergebnisse wie folgt zusammenfassen.[5]

Nicht zu bestreiten ist, dass in bezeichnender Parallele zum ersten Fünfjahresplan neue außenpolitische Konzepte und Vorgehensweisen sichtbar wurden. Zum einen bemühte man sich, die Freundschafts- und Neutralitätsverträge mit unmittelbaren Anrainern zu einem Netz von Nichtangriffspakten zu erweitern. Entsprechenden Vereinbarungen mit der Türkei, Afghanistan und Persien aus den Jahren 1925–1927 folgten Abkommen mit den argwöhnischeren Nachbarn Finnland, Lettland und Estland (alle 1932), die aus der Konkursmasse des Zarenreichs hervorgegangen waren und mit Argusaugen über ihre mühsam errungene Unabhängigkeit wachten. Sicher zog die Sowjetunion in Gestalt der Verhandlungen mit Polen und Frankreich auch weitere Konsequenzen aus der Westintegration Deutschlands. Zugleich setzte sie aber neue Akzente. Unübersehbar traten diese in der Absicht zutage, auch mit den Erzfeinden von gestern ein völkerrechtlich verbindliches Arrangement auszuhandeln. Dabei markierten die gegenseitigen Gewaltverzichts- und Neutralitätserklärungen, die Ende Juli und Ende November 1932 mit Polen und Frankreich ausgetauscht wurden, sichtbare Höhepunkte. Auch die Sowjetunion machte damit deutlich, dass sie den Dualismus zwischen Siegern und Besiegten (samt dem ausgestoßenen sozialistisch-revolutionären Regime) der unmittelbaren Nachkriegszeit für überholt hielt und eigene Vorstellungen zu einer Neuordnung entwickelt hatte. Zur Glaubwürdigkeit ihrer Absichten mochte ein zuvor unternommener Schritt beigetragen haben, der nicht nur großes Aufsehen erregte, sondern auch ein ‹altruistisches› Anliegen signalisierte. Im August 1928 hatten 15 Staaten auf Anregung der Außenminister Frankreichs und der Vereinigten Staaten, A. Briand und F. B. Kellogg, einen sog. Kriegsächtungspakt unterzeichnet. Aus verschiedenen Gründen – weil sie zuvor gar nicht beteiligt worden war, in Anbetracht des gespannten Verhältnisses zur Weltmacht Großbritannien, aber zugleich nicht ohne propagandistisches Kalkül – drängte die Sowjetunion unter Federführung Litvinovs, des faktisch schon entscheidenden Mannes im Außenkommissariat, seine Nachbarn dazu, das Abkommen vorfristig in Kraft zu setzen. Sie profilierte sich damit, wie überzeugend auch immer, als friedliebender Staat, der demonstrativ und kategorisch auf militärische Mittel zur Durchsetzung seiner Wünsche verzichtete. Unter dem Gesichtspunkt internationaler Breitenwirkung konnte die Sowjetunion ihren ersten tatsächlichen Erfolg verbuchen.

Allerdings blieb es nicht bei bloßen Nichtangriffspakten. Die außenpolitische Gesamtlage in Europa veränderte und polarisierte sich in einer Weise, die den sowjetischen Bemühungen um multilaterale Sicherheit enormen Auftrieb gab. Ob diese Entwicklung im Kreml ungeteilte Freude hervorrief, ist ebenfalls umstritten. Nach außen hin zwang sie die sowjetische Politik allerdings mehr und mehr, sich weiter für Friedensvereinbarungen aller Art einzusetzen und eine Verständigung mit derjenigen Macht zu vermeiden, die zum gefährlichsten Störenfried aufstieg: dem Deutschen Reich. Denn die nationalsozialistische «Machtergreifung» Ende Januar 1933 veränderte die internationale Situation schlagartig. Zwar brachen die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland nicht ab. Namentlich die wirtschaftlichen Vereinbarungen blieben ebenso in Kraft wie manche informellen Kontakte (wie die ‹deutsche› Interpretation der sowjetischen Außenpolitik hervorhebt). Und auch die Kontinuität der politischen Beziehungen wurde durch ein Protokoll zur Verlängerung des Berliner Neutralitätsabkommens von 1926, das der Reichstag Anfang Mai 1933 ratifizierte, förmlich bestätigt. Doch diese demonstrative Geste konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Aufstieg des Nationalsozialismus den ‹Geist von Rapallo› endgültig vertrieb. NSDAP und KPD prallten nicht nur in Deutschland mit bürgerkriegsähnlicher Gewalt aufeinander. Sie standen auch paradigmatisch für die gesamteuropäische Konfrontation von Faschismus und Sozialismus sowie nicht zuletzt für den ideologischen, prinzipiellen Kampf. Zugleich riefen die deutschen Ereignisse internationale Reaktionen hervor. Vor allem Frankreich zeigte sich alarmiert. Als eine mögliche Option kam die weitere Annäherung an die Sowjetunion in Frage. Als sich sein traditioneller Bündnispartner Polen Ende Januar 1934 in einem aufsehenerregenden Nichtangriffsvertrag (der ihm auf Dauer freilich nichts nutzte) mit dem mächtigen und drohenden Deutschen Reich einigte, blieb ihm kaum anderes übrig, als den Blick weiter nach Osten zu richten. Seine Avancen trafen dabei im Kreml auf vorbereiteten Boden. Frankreich ebnete nur den Weg, den die Sowjetunion – sicher aus anderen Motiven – ohnehin beschreiten wollte. Dank seiner Hilfe nahm der Völkerbund die Sowjetunion schon im September 1934 auf. Die Symbolik war mit den Händen zu greifen: Ein knappes Jahr nach dem Austritt Deutschlands (und Japans) trat ihm die UdSSR bei.

Der französischen Regierung genügte dies jedoch nicht. Als Sicherheit gegen einen aggressiven Nachbarn, der nach dem ‹Waffenstillstand› mit Polen zunächst gegen den ‹Erbfeind› Front machte, strebte sie die Erweiterung des Nichtangriffsvertrags zu einem Beistandspakt an. Trotz der unvermindert geltenden Vereinbarungen mit Deutschland hielt die Sowjetunion auch eine so weitgehende Verpflichtung für möglich. Der neue Bund wurde mit propagandistischen Fanfarenstößen verkündet. Als der französische Außenminister P. Laval Anfang Mai 1935 zur Unterzeichnung nach Moskau kam, wurde er mit großem Gepränge im Zeichen der neu ausgerufenen ‹Volksfronttaktik› empfangen. Die Botschaft des Abkommens war eindeutig: Stalin warnte die deutsche Regierung vor ungezügelter Expansion und nahm dafür dem Buchstaben nach sogar das Risiko einer kriegerischen Verwicklung in Kauf. Auf der anderen Seite bleibt offen, wie ernst er die Hilfszusage meinte. Einzelheiten der militärischen Intervention im Ernstfall wurden nicht geklärt. Dasselbe galt für einen gleichlautenden und unmittelbar anschließend (am 16. Mai 1935) unterzeichneten Beistandsvertrag mit der Tschechoslowakei. In der Sudetenkrise vom Herbst 1938 sollte sich zeigen, dass die Sowjetunion keine Anstalten machte, der schriftlichen Zusicherung Taten folgen zu lassen. Hinzu kam, dass sie weitergehende Pläne Frankreichs schon im Vorfeld abgewiesen hatte. Als Reaktion auf die nationalsozialistische «Machtergreifung» hatten bereits die Vorgänger Lavals die Idee eines ‹Ostpakts› erneuert, der über Polen und die Tschechoslowakei hinaus auch die Sowjetunion einbeziehen sollte. Litvinov aber hatte nach Rücksprache mit der deutschen Regierung wissen lassen, dass ein solcher Verbund nicht in Frage komme und man sich nur auf bilaterale Abkommen einlassen wolle.

So blieb die sowjetische Politik dieser Jahre mehrdeutig. Auf der einen Seite schloss sie sich dem Bemühen vor allem Frankreichs um ein System von Beistandsvereinbarungen an, das klar darauf abzielte, Deutschland in die Schranken zu weisen. Diese Bündnisse ergänzten vorangegangene Neutralitätspakte und erweiterten sie in der Tat zu einem System ‹kollektiver Sicherheit›, das geeignet schien, den konvulsiven inneren Umbruch vor äußerer Bedrohung zu schützen. Auf der anderen Seite versagte sich die Sowjetunion mit Rücksicht auf Deutschland einem umfassenden Paktsystem und ließ auch die praktische Umsetzung der eingegangenen Beistandsverpflichtungen offen. Man mag darin eine «Maske des Antifaschismus»[6] und gezielte Täuschung zur Verheimlichung der eigentlichen Absichten sehen. Eine weniger kritische und retrospektive Betrachtung aber könnte sich auch mit dem einfachen Befund pragmatischer Inkonsequenz begnügen. Die Sowjetunion fürchtete das Feuer, wollte sich aber nicht verbrennen und nach Möglichkeit abseits stehen.

Zur Unterstellung der Doppelbödigkeit haben, vom Endergebnis des Paktes abgesehen, vor allem die Gespräche Anlass gegeben, die der Leiter der sowjetischen Handelsmission D. Kandelaki 1935 und 1936 in Berlin führte. Dabei geht man davon aus, dass der neue Geschäftsträger nicht irgendjemand war, sondern ein georgischer Vertrauter Stalins, der eine «Schlüsselrolle» innehatte und unabhängig von Litvinovs Außenkommissariat die eigentlichen Wünsche des Diktators zu Gehör bringen konnte. Am Ergebnis gemessen, erreichte er allerdings nicht viel. Im April 1935 brachte er Gespräche über ein Handels- und Zahlungsabkommen unter Dach und Fach, die seit Mitte 1934 geführt wurden. Danach regte er Verhandlungen über einen umfangreichen Kredit Deutschlands an die Sowjetunion an. Seine Gespräche mit dem Reichswirtschaftsminister H. von Schacht führten ein Jahr später (am 29. April 1936) zu einem förmlichen Abkommen, ohne dass diesem größere Bedeutung zugekommen wäre. Wichtiger waren allerdings, wenn man das sowjetische Verhalten nicht für bloße Taktik hält, die informellen Avancen, die er dabei vortrug. Moskau, so habe die Botschaft gelautet, sei zu jeder Zeit zu einer politischen Verständigung bereit, wenn Berlin dies wolle. Freilich wollte die deutsche Regierung (noch) nicht. Als Kandelaki Ende Januar 1937 gegenüber Schacht im Namen von Molotov und Stalin noch einmal vorschlug, die beiderseitigen Beziehungen – nun auch politisch – zu verbessern, stieß er auf taube Ohren. Der Außenminister ließ ihm antworten, daran sei nicht zu denken, solange Moskau die Komintern unterstütze.[7]

Über die Schlüsselrolle der Sudetenkrise und des Münchener Abkommens Ende September 1938 für die außenpolitischen Überlegungen Stalins und seiner engsten Umgebung herrscht Einigkeit. Nach dem Kotau der englischen und französischen Regierung vor den Drohgebärden Hitlers wollte man die vorherige Politik nicht einfach fortsetzen. Zugleich ist sich die Forschung weitgehend in der Meinung einig, dass der Kreml nicht ernsthaft daran dachte, der ČSR militärisch zu Hilfe zu eilen. Inoffizielle Quellen aus dem Umkreis der sowjetischen Diplomatie, verschiedene Beobachtungen und deutsche Berichte belegen plausibel, dass Stalin keine Anstalten machte, Truppen in Bewegung zu setzen. Schon im Sommer, als die deutsche Führung ihre Forderungen immer frecher erhob, wurde die Beistandsverpflichtung in der Pravda gar nicht erwähnt. Auch der sowjetische Außenkommissar wiegelte ab, und der deutsche Botschafter in Moskau berichtete seinem Berliner Dienstherrn, dass niemand tatsächlich mit einer militärischen Intervention rechne. In letzter Konsequenz schließt diese Sehweise die Meinung ein, die sowjetische Zusage sei von Anfang an nicht ernst gemeint gewesen. Fraglos lassen sich dafür zwei schwerwiegende Argumente anführen: zum einen der Umstand, dass die sowjetische Militärhilfe an einen entsprechenden vorherigen Beschluss der französischen Regierung gebunden wurde, zum anderen die schlichte Tatsache, dass die Sowjetunion und die ČSR zu jener Zeit keine gemeinsame Grenze hatten und Stalins Truppen im Eventualfall nur mit der höchst unwahrscheinlichen Einwilligung Polens oder Rumäniens hätten eingreifen können. Demgegenüber lässt sich die Entschlossenheit der UdSSR, ihren Versprechen mit Taten Nachdruck zu verleihen, nur mit Äußerungen Litvinovs und anderen offiziösen Verlautbarungen belegen. So drängt sich in dieser Frage zweifellos der Eindruck auf, dass die sowjetische Außenpolitik zwar an Vereinbarungen zur kollektiven Sicherheit interessiert und sogar bereit war, dafür riskante Zusagen zu geben, aber ihr Eigeninteresse diese Selbstverpflichtung im Ernstfall zunichte machte.[8]

Unabhängig davon steht außer Frage, dass sich dieselbe sowjetische Führung, die vor einer militärischen Verwicklung zurückschreckte, vom Ausgang der Sudetenkrise verärgert und verunsichert zeigte. Zum einen zog sie aus der Kapitulation Großbritanniens und Frankreichs vor dem deutschen Säbelrasseln die Lehre, dass die Westmächte Hitlers Expansionsgelüsten keinen Einhalt gebieten würden. Zum anderen fühlte sie sich zutiefst gedemütigt, da sie im Laufe der Verhandlungen nicht einmal konsultiert, geschweige denn zu den entscheidenden Gesprächen eingeladen worden war. Offenbar sah sie nach diesem Ereignis und erst recht nach der Besetzung der «Rest-Tschechei» im März 1939, mit der Hitler das Münchener Abkommen demonstrativ zerriss, Anlass zum Umdenken. Manches deutet darauf hin, dass der Weg zum sensationellen Pakt mit dem «Dritten Reich» hier begann. Allerdings bleibt unbekannt, wie sich der Entscheidungsgang konkret gestaltete. Dies schließt die zentrale, weiterhin umstrittene Frage ein, wann Stalin die Weichen zu einem Bündnis stellte und warum er dies tat. Nach wie vor stehen sich dabei im Wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber, die sich aus den genannten Grundinterpretationen der Absicht sowjetischer Außenpolitik in den dreißiger Jahren ergeben. Wer die Politik der kollektiven Sicherheit ernst nimmt, muss nach Motiven und einer zeitlichen Verortung der Reorientierung suchen. In zugespitzter Form erscheint diese Wendung dabei eher als «Zufallsprodukt» der Situation denn als Ergebnis einer zweckorientierten Strategie. Wer die Verständigung mit Deutschland als eigentliches Ziel der sowjetischen Diplomatie betrachtet, bedarf solcher Argumente nicht, sondern kann konstatieren, dass sich schließlich ein Weg fand, wo schon lange ein Wille war.[9]

Schlüsselglieder in der Indizienkette der letztgenannten Beweisführung bilden zum einen Äußerungen Stalins im Rahmen des Rechenschaftsberichts des ZK, den er dem 18. Parteitag im März gab, zum anderen die Ablösung Litvinovs als Außenkommissar durch Molotov im Mai 1939. Der Generalsekretär warf den Westmächten in ungewöhnlich scharfer Form vor, Deutschland und die Sowjetunion in einen Krieg verwickeln zu wollen, mithin sich von anderen – diese Wendung gab der Rede ein einprägsames Etikett – «die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen». Damit habe er, so will es diese Interpretation, dem ideologischen Erzfeind ein deutliches Angebot unterbreitet, das dieser auch verstand. Am 17. April kam es zu einem Gespräch zwischen dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker und dem sowjetischen Botschafter in Berlin A. F. Merekalov, das von deutscher Seite als Bestätigung des sowjetischen Interesses an einem Arrangement gewertet wurde. Schließlich habe Stalin mit der Auswechselung seines Chefdiplomaten ein weiteres Signal gegeben: Litvinov stand für die Westorientierung und musste den Nationalsozialisten als Jude ein Dorn im Auge sein; mit dem Großrussen Molotov sei der rote Diktator seinem braunen Konterpart entgegengekommen und habe außerdem einen Gefolgsmann installiert, der die beabsichtigte Kehrtwende ergeben und engagiert zu vollziehen versprach.

In diesem Licht erscheinen die Mitte April aufgenommenen Verhandlungen mit Großbritannien und Frankreich über ein Dreierbündnis zur gemeinsamen Abwehr eines Angriffs gegen ein Nachbarland der Sowjetunion ‹zwischen Ostsee und Schwarzem Meer› als Sondierung ohne ernste Absicht oder sogar als gezielte Täuschung. Und eindeutig ist auch impliziert, dass die Initiative zu jener Allianz, die am Beginn des Zweiten Weltkriegs stand und der ganz Ostmitteleuropa zum Opfer fiel, von Stalin ausging. Er suchte die Verständigung, um vor allem zwei Ziele zu erreichen: zum einen, um sich vor einem Angriff des Großdeutschen Reichs zu schützen, das die Westmächte offenkundig nicht in Schach zu halten vermochten, zum anderen, um seine Macht in diktatorial-totalitärer Manier über die sowjetischen Grenzen hinaus auszudehnen. Die erste Absicht ist auch zum Hauptargument der offiziösen Legitimation geworden, die in der Sowjetunion bis zur Anerkennung der Echtheit des Geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt und dessen gleichzeitiger nachträglicher Annullierung durch den säkularen Beschluss des Volksdeputiertenkongresses vom 24. Dezember 1989 galt. Damit gibt diese Interpretation zumindest kurzfristig Stalin Recht, der sich nach Vertragsabschluss im Politbüro darüber gefreut haben soll, dass er Hitler aufs Kreuz gelegt habe. Der Generalsekretär sah sich als Sieger, weil er seinem Land in einer äußerst gespannten internationalen Lage Frieden gesichert zu haben glaubte, weil er von einem Krieg zwischen den Westmächten und Deutschland als Folge des unterstellten Angriffs Hitlers auf Polen ausging und obendrein noch die faktische Herrschaft über alle Territorien erhalten hatte, deren Unabhängigkeit ihm missfiel.

Freilich sind gegen alle Eckpfeiler dieser Argumentation Einwände erhoben worden. Mit Blick auf die Stalin-Rede hat man argumentiert, dass sie gewiss die Ernüchterung spiegelte, die das Münchener Abkommen in der sowjetischen Führung auslöste, und in diesem Sinne auch eine Neuorientierung der bis dahin verfolgten Politik. Aber sie enthielt nichts eigentlich Neues. Ihre hauptsächliche Botschaft, dass die Sowjetunion sich aus Konflikten zwischen den ‹kapitalistischen› Staaten heraushalten wolle, war alles andere als neu. So verdient die Folgerung zumindest die gleiche Beachtung wie die gegenteilige Deutung, dass die Rede höchstens eine neue Offenheit gegenüber beiden Seiten anzeigte, aber nicht als Angebot einer bilateralen Verständigung mit Deutschland zu werten sei. Wie sehr Indizienbeweise in die Irre gehen können, zeigt gerade ein genauerer Blick auf die Unterredung zwischen Weizsäcker und Merekalov – belegen doch die inzwischen bekannten Aufzeichnungen des sowjetischen Botschafters, dass er dessen Inhalt ganz anders verstand als sein deutscher Partner. Allem Anschein nach interpretierte die deutsche Seite Merekalovs Worte in ihrem Sinne. Sie fand, was sie suchte, weil sie – und nicht die Sowjetunion – die treibende Kraft des Bündnisses war, das aus deutscher Sicht vor allem eines leisten sollte: den längst beschlossenen Überfall auf Polen durch eine Neutralitätserklärung von sowjetischer Seite abzusichern. Ähnlich hat man gegen das vermeintliche Signal des Wechsels im Amt des Außenkommissars eingewandt, dass sich die sowjetische Politik danach noch einige Wochen lang in keiner Weise änderte. Auch ohne Litvinov setzte man die Verhandlungen mit den Westmächten ebenso fort, wie man Kontakt mit der deutschen Regierung hielt. Insofern lassen sich aus beiden Argumenten zumindest keine eindeutigen Schlüsse ziehen.

Dies anerkannt, erscheint es sinnvoll, die Motive der letztlichen Entscheidung für die deutsche Option in der Mühsal und Ergebnisarmut der Gespräche mit Großbritannien und Frankreich sowie in Veränderungen des internationalen Kontexts zu suchen. Ob daraus gleich auf einen ‹reaktiven und improvisierten Charakter› der sowjetischen Politik zu schließen ist, mag dabei offen bleiben. In jedem Fall steht außer Zweifel, dass sich die Dreiergespräche schwierig gestalteten und lange hinzogen. Zwar konnte am 24. Juli ein politisches Abkommen paraphiert werden, aber die besonders heikle Frage der militärischen Beistandsverpflichtungen blieb ausgespart und separaten Verhandlungen vorbehalten, die am 12. August beginnen sollten. Entgegen früheren Spekulationen kann man mittlerweile als gesichert annehmen, dass die entscheidenden Kontakte zwischen der sowjetischen und der deutschen Regierung in dieser Pause stattfanden und die Weichen zugunsten eines Abkommens mit Deutschland von der sowjetischen Führung bereits vor der Wiederaufnahme der Gespräche mit den nachmaligen Alliierten, aller Wahrscheinlichkeit nach spätestens am 11. August, gestellt wurden. Dabei ergriff die deutsche Seite – auch dies dürfte verbürgt sein – die Initiative, da sie unter dem Zeitdruck des Operationsplans für den «Fall Weiß», i.e. den Überfall auf Polen, stand. Deutsche Diplomaten erklärten auch ihre Bereitschaft, eine großzügige Aufteilung der ‹Interessensphären› in Osteuropa zu vereinbaren. Die Funktion des Angebots konnte gewieften ‹Spielern› wie Stalin nicht entgehen: als Gegenleistung für die Auslieferung Polens wurde freie Hand gegenüber den westlichen Anrainern der Sowjetunion angeboten. Noch am 7. August lehnte Molotov diesen Vorschlag ab. Nach einer Sitzung des Politbüro vier Tage später scheinen die Bedenken verflogen gewesen zu sein. Der Außenkommissar gab grünes Licht für Verhandlungen mit Deutschland, die in aller Eile vorangetrieben wurden. Am 19. August erklärte er sich zu einer Unterredung mit dem deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop bereit, der am 26./27. nach Moskau kommen und letzte Einzelheiten klären sollte. Nur zwei Tage später übergab der deutsche Botschafter, Graf F. W. von der Schulenburg, ein persönliches Schreiben Hitlers an Stalin mit der Bitte, Ribbentrop schon am 23. August zu empfangen (da der «Fall Weiß» eigentlich schon für den 26. August geplant war). Stalin sagte zu und fällte damit die allerletzte Entscheidung zugunsten des Arrangements mit dem nationalsozialistischen Deutschland.[10]

Was am 24. August durch die Welt ging, war allerdings nur der veröffentlichte und harmlosere Teil der Vereinbarungen. Das Deutsche Reich und die Sowjetunion verpflichteten sich darin auf zehn Jahre zur friedlichen Lösung aller zwischenstaatlichen Konflikte und zur Neutralität im Kriegsfall. In dieser Form knüpfte er an das Berliner Abkommen von 1926 an und entsprach dem Inhalt der meisten Nichtangriffspakte seiner Art. Obwohl das Bündnis zwischen den ideologischen Erzfeinden (und Gegnern im Spanischen Bürgerkrieg) in der gegebenen Situation sensationell genug war, richtete sich das retrospektive Interesse doch ganz überwiegend auf das Geheime Zusatzprotokoll. Sechs Jahre später bekannt geworden (und von der Sowjetunion bis zum Dezember 1989 verleugnet), schien diese Vereinbarung, die auf sowjetische Initiative zustande kam, im Nachhinein die wahren Motive beider Seiten aufzudecken. Hitler und Stalin grenzten darin in allgemeinen, aber unmissverständlichen Formulierungen «für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung» ihre Einflusssphären ab: Im Nordosten sollten die baltischen Republiken an die UdSSR fallen und in Polen die Flüsse Narev, Weichsel und San die Demarkationslinie bilden; das Interesse der Sowjetunion an Wilna wurde anerkannt, Litauen aber dem deutschen Herrschaftsgebiet zugeschlagen, für Südostmitteleuropa sah man noch keinen Regelungsbedarf. Die dem Protokoll beigefügte Karte mit dem berühmten Rotstiftstrich und der Signatur Stalins machte augenfällig, was in der Sowjetunion erst in den letzten Jahren Gorbačevs zugegeben wurde: dass sich hier zwei Eroberer die Beute teilten. Eben dies bleibt ein ‹weißer Fleck› in der Argumentation derjenigen, die den sowjetischen Entschluss zum Bündnis mit Deutschland aus bloßer Enttäuschung über das Misstrauen der Westmächte oder aus Sicherheitserwägungen zu erklären suchen. Gewiss kann man argumentieren, dass erst die deutsche Offerte Begehrlichkeiten weckte und sich das Sprichwort bewahrheitete, dass Gelegenheit Diebe mache. Dennoch wird dadurch die Frage nicht wirklich beantwortet, woher der beträchtliche territoriale Hunger (der sich 1940 noch steigern sollte) kam.[11]

Selbstverständlich wusste die sowjetische Führung, dass sie mit ihrer Unterschrift den ungeliebten polnischen Staat ans Messer lieferte. Was die offizielle Sowjetunion bis zur Mitte der Perestrojka ebenfalls hartnäckig leugnete, lag für objektive Beobachter spätestens seit der Veröffentlichung des Geheimen Zusatzprotokolls auf der Hand – bestand doch dessen Zweck eben darin, eine einvernehmliche Lösung für diesen fest einkalkulierten Fall zu fixieren. Auf einem anderen Blatt steht, ob Stalin die Leichtigkeit einkalkuliert hatte, mit der die deutsche Militärmaschinerie Polen in zwei Wochen niederwarf. Manches spricht dafür, dass man in Moskau noch nicht so recht wusste, wie man die ohne eigenen Einsatz gewonnene neue Einflusssphäre an sich binden und organisieren sollte. Man zögerte nicht nur mit der Besetzung Ostpolens, die erst am 17. September, nach gesonderter Aufforderung durch Deutschland, erfolgte. Auch gegenüber den baltischen Staaten wurde die Sowjetunion erst im Herbst aktiv. Möglicherweise wartete man erst eine Neuregelung im Grenzvertrag mit Deutschland vom 28. September ab, da man inzwischen ein dringendes Interesse an Litauen entdeckt hatte – und sei es nur, um an dieser Stelle ein deutsches Protektorat zu verhindern. Ribbentrop zeigte sich bei seinem zweiten Besuch in Moskau konziliant und stimmte in einem weiteren Geheimen Zusatzprotokoll einem Gebietstausch zu, der Litauen der sowjetischen Interessensphäre und Teile Ostpolens der deutschen zuschlug. Zugleich verpflichtete sich die Sowjetunion, ‹Volksdeutsche› aus den baltischen Republiken aussiedeln zu lassen. Unmittelbar darauf presste sie diesen Beistandsabkommen ab (am 28.9., 5.10. und 10.10.), die der sowjetischen Armee in allen drei Staaten Stützpunkte einräumten. Mit derart lädierter ‹Souveränität› überlebten sie bis Ende Juli 1940, als sie in Sowjetrepubliken umgewandelt und zwangsintegriert wurden.

Auch Finnland sah sich Anfang Oktober 1939 mit dem Ansinnen eines ‹Beistandspaktes› konfrontiert. Freilich verweigerte es die Unterwerfung und leistete im anschließenden «Winterkrieg» so zähen (von England und Frankreich unterstützten) Widerstand, dass die haushoch überlegene Sowjetunion einem Kompromissfrieden zustimmen musste (12. 3. 1940). Auch wenn sie darin einen Militärstützpunkt und territoriale Gewinne (Teile Kareliens) erzwang, war die Blamage unübersehbar. Deutschland zog daraus indes keinen Vorteil. Das beiderseitige Verhältnis schien ungetrübt und erreichte im Wirtschaftsabkommen vom Februar 1940 einen weiteren Höhepunkt. Schon dessen Umfang gab den deutsch-sowjetischen Beziehungen eine neue Qualität: Die politische Entente schien ein stabiles und langfristiges ökonomisches Fundament erhalten zu haben.

Allerdings ließen Trübungen nicht lange auf sich warten. Die Hintergründe für die deutsche Verhärtung bis hin zum Kriegsentschluss bilden ein eigenes, heftig umstrittenes Kapitel, das hier außer Betracht bleiben kann. Sicher wird man davon ausgehen können, dass das sowjetische Verhalten bestenfalls Anlässe und Vorwände für die Kehrtwende gab, sie aber keinesfalls verursachte. Anders lässt sich kaum erklären, dass Hitlers Entscheidung zum Überfall auf den möglichen ‹Festlandsdegen› des Hauptfeindes Großbritannien allem Anschein nach schon im Juli 1940 fiel. Dennoch bleiben Vorgehensweise und Ziele der Sowjetunion bemerkenswert und erklärungsbedürftig. Als Erstes irritierte in Berlin der im Juni geäußerte Wunsch, Bessarabien und die nördliche Bukowina zu annektieren. Molotov ging dabei so weit, die deutsche Zustimmung (und entsprechenden Druck auf Rumänien) nachgerade zu fordern. Dabei mochte das Bedürfnis nach Kompensation angesichts des soeben errungenen deutschen Blitzsiegs über Frankreich oder der Eindruck, dass der Krieg zu Ende sei und man noch schnell zugreifen müsse, im Spiele gewesen sein. Die Ziele selber standen aber unübersehbar in großrussisch-imperialer Tradition und rundeten jene Reconquista des zarischen Territoriums ab, die schon durch die Einverleibung des Baltikums ein großes Stück vorangekommen war. Die deutsche Regierung bemühte sich zwar unübersehbar, den sowjetischen Appetit zu zügeln, gab seinem Bündnispartner aber grünes Licht und zwang Rumänien, dem Ultimatum zuzustimmen (26. 6.).

Diese Haltung hatte sich völlig verändert, als Molotov am 12. November 1940 zum ersten Gegenbesuch nach Berlin kam. Weil die schicksalhafte Entscheidung schon getroffen war, hätten auch andere Wünsche des sowjetischen Außenkommissars zu keinem besseren Ergebnis geführt. Dennoch verdienen seine Vorschläge als Zeugnisse der Stalinschen außenpolitischen Vorstellungen Aufmerksamkeit. Molotov forderte nicht nur den Rückzug deutscher Truppen aus Finnland, wie es den Abmachungen vom 23. August 1939 entsprach. Darüber hinausgehend reklamierte er Bulgarien für die sowjetische Einflusszone und drängte auf Zustimmung zu einem Vertrag mit der Türkei, der sowjetischen Interessen am Bosporus Genüge tun sollte. Auch darin kehrten, unverschleiert und unverblümt, hegemoniale Bestrebungen des späten Zarenreichs zurück. Im Klartext liefen diese Absichten darauf hinaus, Großdeutschland auf den Westen Europas zu begrenzen und die Sowjetunion im südlichen Balkan und an der ‹Pforte› zu installieren. Sicher fiel es der deutschen Regierung, von anderen, vorgängigen Motiven abgesehen, nicht schwer, dieses Ansinnen zurückzuweisen. Molotov reiste ohne Ergebnis ab. Das Gefühl einer starken Abkühlung der deutsch-sowjetischen Beziehungen trog ihn und seine Delegation nicht: Wenig später, Anfang Dezember, erteilte Hitler den endgültigen Befehl, mit der generalstabsmäßigen Vorbereitung des Unternehmens Barbarossa zu beginnen.[12]

Die Diskussion über das verbleibende halbe Jahr der deutsch-sowjetischen ‹Freundschaft› bis zum Überfall vom 22. Juni 1941 hat stets im Zeichen der Doppelfrage gestanden, warum Stalin und seine Führung so vollständig überrascht wurden, dass die Wehrmacht ohne nennenswerten Widerstand bis vor die Tore Moskaus durchmarschieren konnte, und was ihre Absicht war. Zwei Tatbestände dürften außer Frage stehen: zum einen, dass sich die Sowjetunion äußerlich angestrengt darum bemühte, Deutschland keinen Grund zum Angriff zu geben und unter anderem seinen Lieferverpflichtungen aus dem Wirtschaftsvertrag, der Anfang 1941 noch durch ein Handelsabkommen erweitert wurde, pünktlich nachkam; zum anderen, dass Stalin seit Januar, als der Aufmarsch deutscher Truppen an der Grenze begann, und verstärkt seit April zahllose Informationen aus westlichen und eigenen Quellen über den bevorstehenden Angriff erhielt. Spätestens seit Bekanntwerden eines strategischen Operationsplans vom 15. Mai 1941, der vorsah, «dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und das deutsche Heer dann anzugreifen, wenn es sich im Aufmarschstadium befindet», darf man auch davon ausgehen, dass die Sowjetunion generell auf einen Krieg vorbereitet war. Umso rätselhafter bleibt die Untätigkeit im Juni. Alles spricht dafür, dass Stalin trotz der Warnungen und trotz der theoretischen Einsichten und Sandkastenspiele seines Generalstabs felsenfest davon überzeugt war, Hitler werde zum gegebenen Zeitpunkt keinen Zweifrontenkrieg riskieren. So sicher war er sich, dass er keine Anstalten zu einer Annäherung an Großbritannien machte (des naheliegenden und aussichtsreichsten Schachzugs) und noch nach den ersten Meldungen über den Angriff vermutete, es handele sich um gezielte Fälschungen britischer Herkunft mit der Absicht, die Bündnispartner gegeneinander aufzuhetzen. Spätere Äußerungen stützen die Annahme, dass er keinesfalls so naiv war, Hitler zu trauen, aber frühestens 1942 eine Attacke erwartete. Man wird auch nicht ausschließen können, dass er selber mit dem Gedanken eines Angriffs auf Deutschland spielte. Nur lässt sich diese Möglichkeit nach wie vor nicht belegen. Sie bleibt spekulativ, und selbst wenn sich Stalin im Grundsatz auf ein solches Abenteuer hätte einlassen wollen – er plante es sicher nicht für den Sommer 1941, sondern frühestens ein Jahr später oder dann, wenn die sowjetische Rüstung weit genug vorangeschritten sein würde.

So zwingt die vielzitierte ‹Widerständigkeit› der Fakten ungeachtet allen interpretatorischen Spielraums zu zwei grundlegenden Feststellungen: Zum einen kam der deutsche Überfall keiner ähnlichen sowjetischen Aktion zuvor, weil er bereits seit Juli und definitiv seit Dezember 1940 feststand (die ‹Präventivkriegsthese› ist deshalb schon dem Namen nach falsch); zum anderen war die sowjetische Führung weder uninformiert noch eigentlich unvorbereitet, sondern zog die falschen Schlüsse und glaubte nicht, was sie sah. Sie wurde gleichsam nicht ‹kalt erwischt›, sondern ‹auf dem falschen Fuß›. Gerade deshalb waren ihre Verblendung und die katastrophale Folgen, die sich daraus für die Bevölkerung und die Armee ergaben, von der diktatorialen Herrschaftsstruktur und der Isolation des Führers und seiner Kumpane nicht zu trennen.[13]

Schon die mehrfachen Volten der sowjetischen Außenpolitik deuten an, dass die Komintern in den dreißiger Jahren einen besonders schweren Stand hatte. Sie sank nicht nur endgültig zum Erfüllungsgehilfen der Regierung herab, sondern wurde darüber hinaus auf die offizielle Linie verpflichtet. Die ‹Stalinisierung›, die sie im Zuge der Ausschaltung der innerbolschewistischen Opposition durchlief, beseitigte auch jene Funktion, die sie vorher zumindest teilweise wahrgenommen hatte und ihr einen erheblichen Teil der Aufmerksamkeit sicherte: Sie setzte keine ‹zweite›, informelle und eventuell ‹eigentliche› Außenpolitik mehr um, sondern diente voll und ganz der einen, offiziellen. Bereits der 6. Kongress, der im Sommer 1928 in Moskau stattfand, machte dies deutlich. Nach der Unterwerfung der linken Kritiker hatte die Komintern fortan dem ‹Aufbau des Sozialismus› in einem Lande zu dienen. Dies schloss den Kampf gegen Positionen der besiegten Feinde ein: Jene unsägliche Doktrin wurde zur Generallinie erhoben, derzufolge die internationale Sozialdemokratie, fortan als ‹Sozialfaschismus› verunglimpft, der ärgste Feind des Kommunismus sei. Erst der Scherbenhaufen der nationalsozialistischen «Machtergreifung», den diese Politik anzurichten half, gab zur Umkehr Anlass. Als das neue Deutschland in Gestalt des Vertrages mit Polen vom Januar 1934 der Sowjetunion endgültig die kalte Schulter zeigte, reagierte diese nicht nur mit verstärkter Hinwendung zur Politik der kollektiven Sicherheit, sondern schwor auch die Komintern auf diesen Kurs ein. Deren 7. und letzter Kongress vollzog im Spätsommer 1935 die Wende zur ‹Volksfront› mit den Sozialdemokraten gegen den Faschismus. Erneut machte der zeitliche Zusammenhang mit dem französisch-sowjetischen Beistandspakt deutlich, wo der Kurs der Komintern festgelegt wurde. Vollends trat dies nach dem Hitler-Stalin-Abkommen zutage. Die überraschende Versöhnung mit dem Erzfeind von gestern machte die kommunistischen Funktionäre sprach- und hilflos. Nur prinzipienlose Stalinisten vom Schlage eines Walter Ulbricht brachten es fertig, auch diesen politischen Salto zu verteidigen. Den meisten muss der deutsche Überfall aber nicht nur als Bestätigung ihrer Auffassung vom Wesen des Faschismus erschienen sein, sondern trotz aller existentiellen Gefährdung auch als Erlösung. Freilich nützte ihnen diese Frontkorrektur wenig. Am 15. Mai 1943 dekretierte Stalin die Auflösung der Komintern – als Konzession an seine neuen westlichen Alliierten, aber wohl auch als ‹Entlassung› eines Gehilfen, der längst überflüssig geworden und nur noch eine Last war.[14]