Die Landwirtschaft hatte sich nach dem Aderlass der Zwangskollektivierung einigermaßen erholt, aber ein niedriges Produktivitätsniveau nicht überschritten. Insofern gab es kein ‹Polster›, von dem Erzeuger und Konsumenten bei Störungen oder Schlimmerem hätten zehren können. Auf der anderen Seite hatte seit der ‹Wende› auch kein Spielraum für hohe Ansprüche bestanden. Was produziert wurde, reichte zur Ernährung der rasch wachsenden nichtagrarischen Bevölkerung mehr schlecht als recht aus. Alle Schichten, von einer kleinen Funktionärskaste abgesehen, hatten sich ein Jahrzehnt lang mit Verzicht und Entbehrung abfinden müssen. In den Vorkriegsjahren war der Lebensstandard unter dem Druck der Aufrüstung sogar noch weiter (um 4–8 %) gesunken. Angesichts dessen waren die Sowjetbürger, so zynisch das klingt, vielleicht eher als andere auf das vorbereitet, was ihnen bevorstand.[10]

Denn die katastrophalen Niederlagen der Roten Armee in den ersten beiden Kriegssommern erlaubten den Deutschen die Okkupation nicht nur ausgedehnter, sondern auch landwirtschaftlich bedeutsamer und vergleichsweise dicht besiedelter Gebiete. Nicht ohne Grund hatte Hitler – militärisch allerdings fatal – dem Vorstoß auf Kiev die gleiche Priorität verliehen wie den beiden anderen ‹Keilen›. Die Ukraine als traditionelle Korn- oder besser: Lebensmittelkammer des russischen und sowjetischen Reiches sollte in Zukunft Großdeutschland ernähren helfen. Immerhin hatten ca. 45 % der Bevölkerung vor dem Überfall auf dem «vorübergehend besetzten» Territorium gelebt, das zugleich 47 % der Saatfläche enthielt und 45 % des Großviehbestands ernährte. In der Tat traf der Verlust dieses Gebietes den tief erschütterten Reststaat besonders hart.[11]

Allerdings hatten die Ukrainer anders als die meisten Weißrussen noch Zeit zu retten, was zu retten war. Auch landwirtschaftliche Produktionsmittel wurden evakuiert. Über die Anfangserfolge liegen unterschiedliche Angaben vor. Der Behauptung, dass schon im ersten Kriegsjahr 65,3 % der Rinder, 92,2 % der Schafe, 30,9 % der Schweine und 14,2 % der Pferde lebend aus der Ukraine ins östliche Hinterland gebracht werden konnten, steht das skeptische Urteil gegenüber, dies sei aufgrund des frühen Wintereinbruchs, der völligen Überlastung der Transportwege und mangelnder Futtervorräte in den aufnehmenden Betrieben in weit geringerem Maße der Fall gewesen. Nur 13 % des Kolchos-Viehbestandes gelangten bis zum Herbst 1941 ins Hinterland; ganze 3 % blieben davon bis zum 1. Januar 1942 übrig. Allerdings fand der größere Teil auf der Schlachtbank eine beinahe zweckmäßige Verwendung. Besser erging es dem Vieh der Sowchosen, das mit Ausnahme der Pferde zum überwiegenden Teil in Sicherheit gebracht werden konnte. Gleiches galt im zweiten Kriegsjahr auch für die große Masse des Tierbestandes auf den Kolchosen. Bis Mitte Dezember 1942 wurden 73,4 % der Rinder, 73,7 % der Schafe und 68 % der Pferde in frontferne Gebiete transportiert.[12]

So (über)lebenswichtig diese Leistung im Rückblick auch war, linderte sie die Not sowohl der Bauern als auch der übrigen Bevölkerung nicht merklich. Zu groß waren die Verwüstungen, zu viele Lasten wurden der Landwirtschaft auf einmal aufgebürdet. Zum einen hatte das Dorf die höchsten menschlichen Verluste zu tragen, da der größte Teil der Rotarmisten vom Land kam. Erneut war es vor allem die weite Provinz, die der Armee jene unerschöpflich scheinenden menschlichen Reserven zuführte, denen der Sieg in erster Linie zu verdanken war. Da so viele Menschen auf der Höhe ihrer physischen Kraft trotz der andauernden Überbevölkerung nicht einfach übrig waren, fehlte es bald an Arbeitskräften. Nach dem Weggang der Soldaten blieben Frauen, Kinder, Kranke und Alte zurück. Die nachstehende Tabelle (27) zeigt das ganze Ausmaß dieser Zwangsemigration. Im Vergleich zum 1. Januar 1941 fiel die Zahl der arbeitsfähigen Männer in den nächsten drei Jahren auf 68 %, 42 % und schließlich sogar auf 27 %, um erst 1945 wieder leicht anzusteigen (32 %). In derselben Zeit sank die Zahl der Frauen, Minderjährigen und Alten sehr viel langsamer. Obwohl der kriegsbedingte Tod auch sie nicht verschonte, so dass die Kolchosbevölkerung insgesamt um 30 % abnahm, erhöhte sich ihr Anteil deutlich. Gemeinsam mit den Minderjährigen, Alten und Kranken, für die Ähnliches galt, stellten sie 1941 64,5 % der Dorfbewohner, 1942 aber schon 72 %, 1943 81 % und 1944 86 %.[13]