Das alles in allem noch zufriedenstellende Ergebnis des achten Fünfjahresplans mag in Verbindung mit den Konsumerwartungen der Bevölkerung dazu beigetragen haben, dass die Ziele für die nächste, neunte Planperiode (1971–75) gleich hoch gesteckt wurden. Für die meisten Produkte und Sektoren schrieb man die behaupteten Leistungen der vorangegangenen Etappe fort. Eine Ausnahme bildete der Zuwachs der Arbeiterschaft, der vorsichtiger taxiert wurde. Darin spiegelte sich die realistische Einschätzung der allmählichen Verringerung dieses Reservoirs. Wenn die ehrgeizigen Maßzahlen dennoch erreicht werden sollten, musste die Arbeitsproduktivität – durch höhere Anstrengungen oder technologische Verbesserungen – deutlich steigen. Darüber hinaus setzte der Plan gute bis sehr gute Ernten voraus. Mit diesen Prämissen war er der erste überhaupt, der ein höheres Wachstum der Konsumgüterproduktion als der Produktionsgüterherstellung vorsah (48,6 % gegenüber 46,3 % im Gesamtzeitraum, vgl. Tabelle 52). Darin hielt Brežnev, der inzwischen allein das Sagen hatte, am alten Versprechen fest, den Lebensalltag zu erleichtern. Zugleich scheute er weiter davor zurück, Abstriche im konkurrierenden industriellen Sektor zuzulassen. Dies lief auf ein Kunststück hinaus, das er, von gutem Wetter abgesehen, vor allem auf einem Wege vollbringen zu können hoffte: durch internationale Entspannung, finanziell-technische Hilfe des Westens in ihrem Gefolge und die Verringerung der Militärausgaben.

Solcher Optimismus wurde indes hart bestraft. Fraglos wird man dafür in erheblichem Maße die vielberufene Kontingenz verantwortlich machen müssen, wurde die Sowjetwirtschaft im neuen Planzeitraum doch gleich von zwei Missernten getroffen. Andererseits kann auch das System nicht aus der Verantwortung entlassen werden, da es günstige Bedingungen unterstellen musste, um die Zielwerte zu erreichen. Es besaß keine Reserven, die es ihm ermöglicht hätten, Rückschläge zu verkraften, geschweige denn die Fähigkeit, daraus zu lernen. Als die russischen Getreidegebiete 1972 von einer Dürre heimgesucht wurden, war der Plan im Grunde schon Makulatur. Der schlimmste Ausfall dieser Art seit fünfzig Jahren machte umfangreiche Einkäufe im Westen erforderlich. Soweit die Industrie nicht direkt betroffen wurde, musste sie die Abwehr einer akuten Versorgungskrise mit Investitionskürzungen und Kapitalknappheit bezahlen. Brežnev gab die Zahlenmatrix dennoch nicht auf, sondern verstand es mit erstaunlichem Geschick, sie den widrigen Umständen anzupassen. In dieser Hinsicht bewies er deutlich größere politische Fähigkeiten als etwa Chruščev in vergleichbarer Lage. Allerdings hatte er das Pech, dass sein Land nach nur drei Jahren erneut von einer Trockenheit heimgesucht wurde. Dabei übertraf der Getreideverlust noch die Minderernte von 1972. Obwohl andere Pflanzen weniger litten, stellte der Gesamtschaden die positiven Wirkungen weit in den Schatten, die vom erhöhten Engagement des Westens und den drastisch gestiegenen Energie- und Goldpreisen im Gefolge der Erdölkrise des Jahres 1973 ausgingen.

So konnte es nicht verwundern, dass die Bilanz des neunten Fünfjahresplans vernichtend ausfiel. Eine Untererfüllung solchen Ausmaßes hatte es seit dem Abbruch des dritten Fünfjahresplans nach dem deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 nicht mehr gegeben. Alle Indikatoren blieben deutlich hinter dem Soll zurück. Für 21 Metall- und Maschinenerzeugnisse betrug der durchschnittliche Zuwachs 89 % des vorgegebenen Werts. Besonders in Mitleidenschaft gezogen wurde die Konsumgüterproduktion. Da sie ihr Ziel um 11,6 % verfehlte, expandierte sie doch langsamer als die Investitionsgüterherstellung. Damit blieb alles beim Alten: Wo die Mittel knapper wurden, setzten sich die schwer- und rüstungsindustriellen Interessen wieder durch. Dazu passte, dass auch der Reallohn am Ende des Jahrfünfts erheblich unter dem anvisierten Niveau lag. Die Planrealisierung scheiterte indes nicht nur am Wetter. Vielmehr verwies die Größe des Rückstands auf das Hinzutreten langfristiger Ursachen. Der ohnehin zurückgenommene Voranschlag für den Zuwachs der Beschäftigtenzahl wurde zwar mit knapper Not erreicht. Aber die Arbeits- und Kapitalproduktivität, die letztlich entscheidenden Variablen, machten nur absolute und weit geringere Fortschritte als erwartet. Bei allem Zuwachs verlor die sowjetische Wirtschaft im neunten Fünfjahresplan, wie man aus den Zahlen geschlossen hat, endgültig ihren «jugendlichen Elan». Die Missernten spitzten nur zu, was sich in nachlassenden Wachstumsraten schon länger angekündigt hatte. Ein zeitgenössischer Beobachter sprach noch vom Übergang ins «mittlere Alter». Wenig später diagnostizierten fast alle Fachleute weit Schlimmeres: nicht das allmähliche Absinken einer organisch gedachten Lebenskurve, sondern eine chronische und potenziell letale Auszehrung.[6]

Zweifellos ließ der zehnte und vorletzte Fünfjahresplan der Brežnev-Ära Symptome dieser Krankheit erkennen. Mit allen westlichen Kommentatoren wird man sie vor allem in der Projektierung deutlich bescheidenerer Wachstumsraten sehen können. Die neue Vorausschau dokumentierte einen ungewohnten Realismus. Sie stellte die Konsolidierung der Wirtschaft über die übliche Jagd nach plakatierbaren Rekorden. Zum einen war das alte Tempo nicht mehr zu halten; zum anderen mochte auch der Glaube an die propagandistische Wirksamkeit bloß quantitativer Erfolge einer nüchternen Sehweise gewichen sein. Für Letzteres spricht der Umstand, dass man an den Hauptzielen des havarierten neunten Fünfjahresplans festhielt. Weiterhin sollten Konsum und Landwirtschaft besondere Förderung erfahren, um der Bevölkerung endlich eine konkrete Anzahlung auf die vielfach angekündigten Segnungen des Sozialismus aushändigen zu können. Es gelang Brežnev somit nicht nur, den schweren Rückschlag zweier Missernten zu überstehen. Seine Autorität war so gefestigt, dass er auch seine ökonomischen Kernziele durchzusetzen vermochte. Sicher waren dabei politisches Geschick und die monopolistisch abgesicherte Autorität seines Amtes im Spiel. Ins Gewicht fiel aber auch, dass die Rüstungsindustrie neben der Landwirtschaft zu den hauptsächlichen Gewinnern der neuen Planung zählte. Jedenfalls bewog er den 25. Parteitag Ende Februar 1976 dazu, einen Entwicklungsplan zu verabschieden, der ein praktikables Wachstum mit Strukturverbesserungen und der Anerkennung von Konsumerwartungen verband.[7]

Freilich zeichnete sich schon nach wenigen Jahren ab, dass auch die gestutzten Vorgaben nicht zu erreichen waren. Die Wirtschaft entfaltete sich zwar ausgeglichener, aber auch langsamer. Besonders stach dabei die Wachstumshemmung der Schwerindustrie ins Auge. Zwar wurde bis 1978 im internationalen Vergleich immer noch eine ansehnliche Expansionsrate erzielt; aber sie war die niedrigste der «sowjetischen Industrialisierungsgeschichte». Noch langsamer erhöhte sich die Konsumgütererzeugung, die gegenüber den steigenden, von der Verdichtung der Außenbeziehungen genährten Ansprüchen weiter ins Hintertreffen geriet. Nicht genug damit, bescherten die beiden letzten Jahre des projektierten Zeitraums, die im Rückblick schon zur Endzeit der Brežnev-Ära gehörten, den Verantwortlichen noch Schlimmeres. Das Wachstum sank in allen produktiven Bereichen auf einen historischen Tiefstand (vgl. Tabelle 53 sowie A 2/1 und A 2/2 im Anhang). Zwar schrumpfte es noch nicht zur Stagnation im genauen Sinn. Aber kompetente ausländische Beobachter waren sich bald sicher, dass der Einbruch kein «Zwischentief» anzeigte, sondern den Beginn der seit Längerem prognostizierten «Dauerkrise». Wie später ans Licht kam, war auch die sowjetische Führungsspitze alarmiert. Dazu mag der Umstand erheblich beigetragen haben, dass die Antwort der NATO auf die Stationierung der sowjetischen Mittelstreckenraketen von 1978 («Doppelbeschluss») keine Entlastung der überanstrengten Wirtschaft durch die Senkung der Militärausgaben erlaubte.[8]