Diagramm 7: Wachstum der sowjetischen Wirtschaft 1951–1988
Quelle: Gregory, Stuart, Economic Performance, 207
* Diese Daten sind offenbar der aufwändigen Neuberechnung des Wirtschaftswachstums unter Berücksichtigung der «verborgenen Inflation» von Chanin, Dinamika, entnommen. Vgl. dazu, mit leichten Einschränkungen zustimmend, Harrison, Soviet Economic Growth. Diesen Hinweise verdanke ich Stephan Merl.
So gliedert sich die Brežnev-Ära auch mit Blick auf die ökonomische Entwicklung in zwei durch das Jahr 1973 getrennte Abschnitte. Um diese Zeit, als der neunte Fünfjahresplan in schweres Wetter geriet, verlor die sowjetische Volkswirtschaft jene Expansionskraft, die sie bei allen Defiziten seit dem Übergang zur zentralen Planung ausgezeichnet hatte. Der Wachstumsschwund kehrte zurück und beschleunigte sich. Was nach dem Wiederaufbau schon Chruščev zum Handeln veranlasst hatte und angesichts des Erfolgs des achten Fünfjahresplans als temporäre Entgleisung erschienen war, stabilisierte sich als dauerhafte Tendenz. Da es in einer geplanten Ökonomie keine Konjunkturen (jedenfalls nicht in größerem Ausmaß) geben konnte und marktwirtschaftliche Erklärungen weitgehend ausschieden, kamen nur Ursachen in Betracht, die ins Mark trafen: Strukturmängel des Systems selber. Dabei ließen sich die Kardinalprobleme am Vergleich der Wachstumszahlen (vgl. Tabelle 53) leicht ablesen. In den drei letzten Jahren der Brežnev-Ära wuchsen die Beschäftigtenzahl nur noch um 1,4 %, die Arbeitsproduktivität um 2,3 % und die Bruttoanlageinvestitionen um 2,2 % (jeweils p. a.). Mithin wurden die beiden entscheidenden Produktionsfaktoren, Arbeit und Kapital, knapp. In den siebziger Jahren hatte das demographische Arbeitskräftepotential noch ca. 24 Mio. betragen; in den achtziger Jahren kamen nur mehr ca. 6 Mio., überwiegend in Mittelasien und dem Kaukasus, hinzu; in der RSFSR und der Ukraine ging die entsprechende Zahl sogar zurück. Schon Mitte der siebziger Jahre betrug die Beschäftigungsquote aller Erwerbsfähigen, Frauen eingeschlossen, ca. 85 %. In dem Maße, wie der natürliche Bevölkerungszuwachs abnahm, konnten Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt nicht ausbleiben. Sehr begrenzt waren in Russland traditionell (nicht erst seit 1917) die Kapitalreserven. Zwar profitierte die Sowjetunion von der Energie- und Rohstoffverteuerung auf dem Weltmarkt. Aber der finanzielle Mehrbedarf überstieg den Gewinn spätestens, als die globale Krise überwunden war und die Preise sich normalisierten. Nun zeigte sich in neuer Deutlichkeit, dass zu viele ‹Verbraucher› von der verfügbaren Masse zehrten, die wenig oder nichts zu ihrer Vermehrung beisteuerten. Die größten Nettoempfänger waren unter diesem Gesichtspunkt das Militär, das sich zu Beginn der neuen Dekade auch noch in das Abenteuer des Afghanistankriegs stürzte, und die Landwirtschaft, die seit 1979 neue Missernten zu verkraften hatte. Hinzu kam die spürbare Erschöpfung der genutzten Rohstoffquellen im europäischen Reichsteil und die Notwendigkeit, unter enormen Kosten neue in Sibirien erschließen zu müssen. Die Folgen solcher Überbeanspruchung zeigten sich in der rückläufigen Investitionsquote. Lag sie in der ersten Hälfte der siebziger Jahre noch bei 7 %, so fiel sie in den letzten Jahren Brežnevs auf ganze 2,2 % – und dies angesichts der dringenden Notwendigkeit einer völligen Erneuerung von Maschinen, Gebäuden, Fahrzeugen und anderen Bestandteilen des ‹Kapitalstocks›.
Theoretisch lagen die Heilmittel gegen diesen schleichenden Substanzverlust auf der Hand. Fachleute waren sich darüber einig, dass vor allem eine bessere Ressourcennutzung hätte Abhilfe bringen können. Die Arbeit hätte produktiver, Kapital effizienter eingesetzt werden müssen. Dazu wäre zum einen größere Disziplin und höhere Qualifikation nötig gewesen, zum anderen der Einsatz moderner und teurer Technik. Beides überschritt die gegebenen Möglichkeiten, da an dieser Stelle systembedingte Mängel hinzutraten. Durch die wachsende Komplexität der Produktionsprozesse und die kaum mehr übersehbare Vielfalt interdependenter volkswirtschaftlicher Zusammenhänge ohnehin bis aufs Äußerste beansprucht und wahrscheinlich sogar schon überfordert, war die zentrale Planwirtschaft nicht mehr imstande, qualitative Produktionsressourcen zu mobilisieren. Sie hatte sich als fähig erwiesen – und darin bestand nach Meinung einiger Beobachter sogar ein singulärer Vorzug –, Wachstumsfaktoren auf extensivem Wege, d.h. durch ihre schlichte physische Vermehrung, zu erschließen und zielgerichtet einzusetzen. Den Übergang zu intensivem Wachstum in Gestalt einer erheblichen Steigerung der Produktivität sowohl der Arbeit als auch des Kapitals vermochte sie jedoch nicht mehr zu vollziehen. Anders gesagt: Sie war, um welchen Preis auch immer, eine zumindest ökonomisch geeignete Organisationsform, um vorhandene, sozusagen brachliegende Ressourcen zu bündeln und Rückständigkeit ‹quantitativ› in hohem Tempo abzubauen. Aber sie stieß an unüberwindbare Grenzen, als sparsamer, innovativer und phantasievoller Umgang mit diesem Potential gefragt war. So gesehen, hatte sich die zentrale Planwirtschaft schon in den letzten Jahren der Ära Brežnev überlebt. Wie in der Herrschaftsausübung stand ökonomisch ein tiefer Einschnitt bevor. Und ebenso wie bei den überfälligen politischen Veränderungen konnte niemand vorhersagen, ob die wirtschaftlichen Belebungsmaßnahmen noch mit dem überkommenen System vereinbar sein würden oder nicht.[9]
Die Landwirtschaft Für die Ökonomie des Dorfes galt dasselbe wie für die Industrie. Die Anstrengungen waren groß und die Investitionen enorm. Es fehlte noch weniger an nominell eindrucksvollen Resultaten, aber die Verbesserungen reichten nicht aus, um den gestiegenen Anforderungen zu genügen. Angesichts der höheren Nachfrage verblassten die Erfolge. Es blieben die Erfahrung und das Bild von Mangel und Versagen. Zum einen gelang es der sowjetischen Landwirtschaft nicht, sich durch ausreichende Produktivität vor Gefährdungen durch Trockenheit und Kälte zu schützen, die das russische Klima mit sich brachte. Zum anderen blieb das Angebot an Nahrungsmitteln kläglich. Wo Fleisch und Getreide fehlten, klangen die Versprechungen einer goldenen sozialistischen Zukunft besonders schal. Insofern ergab es sich von selbst, dass die Ergebnisse der Landwirtschaft noch eher als die industriellen zum Maßstab für die Leistungsfähigkeit der Gesamtordnung avancierten. Hinzu kam die singuläre geschichtliche Dimension des Problems. Wenn die Zwangskollektivierung ebenfalls als Versuch verstanden werden muss, nach Maßgabe marxistischer Prämissen das jahrhundertealte Problem unzureichender Erträge bäuerlicher Kleinstwirtschaften durch den gewaltsamen Umsturz der «Produktionsverhältnisse» zu lösen, konnte ein besonderer Rechtfertigungsdruck nicht ausbleiben. Schon Chruščev hatte der Erhöhung der Agrarerträge Vorrang eingeräumt und war – unter anderem – an Rückschlägen dieses Versuchs gescheitert. Daraus ergab sich eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Herrschaft der neuen Regenten ebenfalls in erster Linie an ihrer Fähigkeit gemessen werden würde, diesem Erbübel abzuhelfen.
Vor allem Brežnev hatte es denn auch eilig, sich als Sachwalter weiterer Agrarreformen in Szene zu setzen. Bereits die erste Plenarversammlung des ZK nach dem Umsturz verabschiedete Ende März 1965 auf seine Empfehlung hin eine Resolution, die heftige Kritik an den bestehenden Zuständen übte und Abhilfe forderte. Der Aufschwung der Landwirtschaft, so betonte der neue Erste Sekretär, sei von existentieller Bedeutung für den Aufbau des Kommunismus und bedürfe deshalb angemessener materieller Förderung. Allem Anschein nach führte diese Prioritätensetzung auch zu Dissens hinter den Kulissen. Denn Brežnev forderte nicht nur das Ende administrativer Gängelung, sondern auch massive Investitionen in die Bodenverbesserung und maschinelle Ausstattung. Sein Programm war teuer und verlangte eben jene alternative Entscheidung, die sich aus den engen Grenzen der sowjetischen Kapital- und Wirtschaftskraft ergaben. Der Entwicklungsplan, den der 23. Parteitag im April 1966 annahm, zeugte vom Erfolg seiner Werbung. Aber er zeigte auch, welchen Preis der ‹aszendierende› Führer zahlte: Profiteure der finanziellen Umverteilung waren, wie erwähnt, Militär und Schwerindustrie. Man kann in diesem Junktim durchaus einen Geburtsfehler des neuen Anlaufs sehen, die Agrarmisere zu beheben. Denn zum einen sind auch für diese Jahre Zweifel daran erlaubt, dass tatsächlich beide Prioritäten gleichermaßen hätten bedacht werden können; zum anderen bleibt offen, ob eine massive Förderung der Landwirtschaft ohne analoge Investitionen in die Zulieferindustrie überhaupt sinnvoll war.[10]
Schon dieses kompromissbeladene Programm wurde freilich zunächst nicht verwirklicht. Paradoxerweise sorgten Rekorderträge im Jahr seiner Annahme dafür, dass man es für entbehrlich hielt. Erst die Missernte der folgenden Saison brachte die Parteiführung zur Vernunft. Gleiches bewirkten Versorgungsmängel im strengen Winter 1969/70, so dass der Generalsekretär seine Argumente mit größerer Überzeugungskraft wiederholen konnte. Politbüro und Ministerrat akzeptierten seine prophetische Mahnung, dass es «entscheidend» darauf ankomme, ein «modernes materielles und technisches Fundament» für die Landwirtschaft zu schaffen. Dementsprechend sah der neue (9.) Fünfjahresplan für die erste Hälfte der siebziger Jahre nicht nur die höchste absolute Investitionssteigerung seit seinem Regierungsantritt vor (von 82,2 Mrd. Rubel 1966–70 auf 131,5 Mrd. Rubel 1971–75), sondern auch eine erhebliche Vergrößerung des prozentualen Anteils der Landwirtschaft an der gesamten Mittelzuweisung. Was davon unter den vorausgesetzten günstigen Umständen hätte Wirklichkeit werden können, muss der Spekulation überlassen bleiben. Die Missernten von 1972 und 1975 sorgten für «weniger konsistente» Resultate als zuvor. So blieb die Bilanz eines Jahrzehnts ambivalent, aber durchaus nicht rein negativ. Einerseits reagierte die agrarische Bruttoproduktion auf den Investitionsimpuls positiv mit einer ‹respektablen› Wachstumsrate von 3,9 % 1966–70, so dass sie insgesamt vom achten (1961–65) bis zum Beginn des zehnten Fünfjahresplans (1976–78) um mehr als die Hälfte stieg. Andererseits resultierte dieses Ergebnis überwiegend aus den größeren, zumeist von gutem Wetter unterstützten Anstrengungen, nicht aus größerer Effizienz.
So trat die sowjetische Landwirtschaft auch in die letzte abgeschlossene Planperiode der Brežnev-Zeit mit kaum veränderten Aufgaben. Dank realistischer Planung als Folge der Katastrophe von 1975 und einer ungewöhnlich guten Ernte (von 235 Mio. t) im ersten Jahr schien sie anfangs auf gutem Wege. Trotz rückläufiger Tierproduktion, die den Verbraucher in Gestalt von Fleischmangel traf, wurde in den ersten drei Jahren ein Gesamtzuwachs erzielt, der den Durchschnitt des vorangegangenen (9.) Fünfjahresplans immerhin erreichte. Dann freilich ging die Erholung auf niedrigem Niveau, durch weitere Missernten konterkariert, endgültig in Stillstand über. Zu Beginn des neuen Jahrzehnts wurden alle Berechnungen obsolet. Der Mangel war allgegenwärtig und fühlbar, der Lebensstandard absolut zwar gestiegen, aber in der Wahrnehmung und nach Maßgabe des Bedarfs gefallen. Im Vorfeld des nächsten, 26. Parteitags musste Brežnev eingestehen, dass ein gesondertes «Lebensmittelprogramm» erforderlich sei, um Versorgungsengpässen in den Städten vorzubeugen. Somit war die Sowjetunion in entscheidender Hinsicht zum Ausgangspunkt der Reformen zurückgekehrt: Wenn auch auf deutlich höherem Niveau hatte sich die politisch brisante Diskrepanz zwischen wachsenden Ansprüchen der Bevölkerung sowie vollmundigen propagandistischen Verheißungen auf der einen Seite und der kläglichen Realität auf der anderen Seite – soweit sie denn zwischenzeitlich überhaupt geschwunden war – wiederhergestellt.[11]