Welche fatale Schwäche sich tatsächlich hinter beachtlichen absoluten Zuwächsen verbarg, enthüllt erst ein kontrollierender Blick auf relative Daten, die zumindest als gewichtete Zeitreihen vorliegen. So lässt sich der oben präsentierten ‹Wachstumsbilanz› (vgl. Tabelle 53) entnehmen, dass die landwirtschaftliche Bruttoproduktion in den letzten beiden Jahren dieser und den ersten beiden der nächsten (noch unter Brežnev begonnenen) Planperiode (von 1979–82) einen erheblichen Rückgang hinzunehmen hatte (1976–78 4,5 % Wachstum p. a., 1976–1981 insgesamt aber nur 1,5 %). Ähnlich zeigen die Maßzahlen über den Konsum der wichtigsten Nahrungsmittel pro Kopf der Bevölkerung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, dass bei Fleisch, Getreide und Kartoffeln 1980 keine Veränderung gegenüber 1975 eingetreten war, obwohl sich der monatliche Durchschnittslohn der Arbeiter und Angestellten im gleichen Zeitraum von 146 Rubel auf 168,5 Rubel erhöhte. Mithin stand einer gestärkten Kaufkraft ein schrumpfendes Angebot gegenüber. Wichtiger noch war ein Faktor, der sich nicht messen ließ, aber von vielen ‹nichtstatistischen› Indikatoren belegt wird: die wachsenden Ansprüche der Bevölkerung. Jede ernst zu nehmende Theorie des sozialen Protests lehrt, dass nicht das absolute Niveau an Bedürfnisbefriedigung über Loyalität oder Illoyalität im Denken oder Handeln (mit)entscheidet, sondern das relative nach Maßgabe der Wahrnehmung und Erwartung. Anspruch und Wirklichkeit jedoch fielen trotz der Vermehrung auch der agrarischen Produktion gegen Ende der Brežnev-Ära immer weiter auseinander. Gerade in dieser Perspektive blieben die unzweifelhaft hohen Investitionen und großen Anstrengungen im agrarischen Sektor fruchtlos.[12]

Die Frage stellt sich auch hier, wie dieser Befund zu erklären ist. Viele Ursachen kommen in Betracht: das niedrige Ausgangsniveau, das selbst hohe absolute Zuwachsraten stark relativiert; das Bevölkerungswachstum, das den Produktionsanstieg zu einem erheblichen Teil (statistisch zwischen 1960 und 1980 ca. zur Hälfte) wieder aufzehrte; die politisch begründete Stabilität der Ladenpreise, die seit 1962 nicht mehr angehoben worden waren, während die Löhne von diesem Zeitpunkt bis 1980 um ca. 70 % wuchsen; der Mangel an technischer Ausrüstung und an Ersatzteilen, um die vorhandenen Geräte intakt zu halten; die Überdimensionierung der Kolchosen, die oft mehrere Dörfer umfassten, alles und jedes, aber wenig Spezielles produzierten; die Bevormundung der Kolchosen durch entfernte Parteileitungen bis zu der Absurdität, dass kein Stück Vieh ohne schriftliche Genehmigung von ‹oben› geschlachtet werden durfte; die anhaltende Abwanderung der Qualifiziertesten als Folge des niedrigen materiell-kulturellen Lebensniveaus; die fehlende Unterstützung für verbesserte Anbau- und Viehzuchtmethoden durch Komplementärindustrien (Düngemittel, Maschinen); die völlig unzulänglichen Lager- und Transportmethoden und andere mehr. Ein Manko bleibt indes besonders hervorzuheben: Das Kernübel lag auch hier in der geringen Produktivität sowohl der Arbeit als auch des Kapitals. Alle Investitionen verpufften, weil sie nicht effektiv genutzt wurden. Noch gegen Ende der Brežnev-Ära brauchte die sowjetische Landwirtschaft mit 8 kg Futter für 1 kg Schweine- und 12 kg Futter für 1 kg Rindfleisch einen doppelt so hohen Einsatz wie die westliche. Die Einführung des Festlohns, der 1966 endlich die Auszahlung nach Tagewerken und Restertrag ablöste, verfehlte in dieser Hinsicht die erwünschte Wirkung. Und wo, überwiegend oder zusätzlich, nach ‹Leistung› bezahlt wurde, prämierte man immer noch Quantität statt Qualität. Auch die Einführung kleiner, überschaubarer Arbeitskollektive (zveno) löste das Problem nicht, da man auf den wichtigsten Anreiz: die Verantwortung am Arbeitsergebnis und die Beteiligung daran verzichtete. Bis zum ‹kapitalistischen› Profitprinzip sollte die Selbstbestimmung nicht getrieben werden. In dieser Form wäre sie auch mit der obrigkeitlichen Direktion des Produktionsprozesses kollidiert. Insofern führt auch die Suche nach den Ursachen für die chronische Unzulänglichkeit der Agrarwirtschaft in einem ressourcenreichen Land, das mit Investitionen nicht sparte, zu Fehlern des Systems zurück: Es gab keine gute Wirtschaft in der schlechten.[13]

Was die Versorgung der Sowjetbürger trotz allem einigermaßen sicherte, ist bekannt: immer noch die sog. Nebenerwerbswirtschaft. Auch nach der Einführung des Festlohns bezogen die kolchozniki den größeren Teil ihres geldlichen Einkommens aus dieser Quelle; und nach wie vor stammte die Masse der Lebensmittel, die über die Grundversorgung mit Brot, Milchprodukten und (eher minderwertigem) Fleisch hinausgingen, von den Privatparzellen. Verallgemeinernd hat man für die zweite Hälfte der Chruščev-Ära geschätzt, dass etwa ein Viertel der gesamten agrarischen Bruttoproduktion außerhalb der Kolchosen und Sowchosen erzeugt wurde. Schon diese Größenordnung verweist darauf, dass auch die beschriebenen Besonderheiten der ‹Hoflandwirtschaft› Bestand hatten. Letztere diente nicht nur (aber selbstverständlich auch) der Selbstversorgung, sondern darüber hinaus dem freien Verkauf auf den ‹Kolchosmärkten›. Auch unter Brežnev fand der Sowjetbürger hier, was er in den staatlichen Läden zumeist vergeblich suchte. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen, dass die 0,25 ha, die der Kolchos-Familie in der Regel für die eigene Nutzung zur Verfügung standen, immer noch einen unverhältnismäßig hohen Anteil an Arbeitskraft und Sorgfalt absorbierten. Hier zog man hochwertige Pflanzen, bearbeitete sie mit durchaus einfachen Geräten und völlig ohne maschinelle Hilfe, verwendete den Dung aus der eigenen Viehhaltung, um hohe Erträge zu erzielen: Kurz, man nutzte diese kleine Fläche nicht extensiv wie die großen Flächen des Kolchos, sondern intensiv.

Ungeachtet dieser andauernden Bedeutung der Privatwirtschaft gibt es aber gute Gründe, sie nicht nur in Konkurrenz zur staatlichen zu sehen. Manches deutet darauf hin, dass weder ihre Ackerflächen noch ihre Arbeitskräfte anderweitig in annähernd gleich produktiver Weise einsetzbar waren. Eine solche Sehweise würde es nahelegen, das Verhältnis zwischen Hoflandwirtschaft und Kolchos bzw. Sowchos eher als komplementär zu verstehen. Eben daraus ließe sich eine überzeugende Begründung für den Umstand gewinnen, dass die private Wirtschaft trotz Festlohn und erhöhter staatlicher Aufkaufpreise mit der Folge geringerer Attraktivität des eigenen Verkaufs nur unwesentlich an Bedeutung verlor. Die ‹öffentliche› Agrarproduktion brauchte die private, um sich auf die Hauptaufgabe der Grundversorgung der städtischen Bevölkerung konzentrieren zu können. Auch diese Deutung stellt ihr allerdings kein gutes Zeugnis aus – denn zu mehr als der Sicherstellung des Nötigsten war sie nicht in der Lage.[14]

Handel, Steuern, Staatshaushalt  In welchem Maße Mängel bei der Verteilung der Produkte ebenfalls zu diesem Ergebnis beitrugen, lässt sich kaum genau bestimmen. Sicher litt der Handel aber unter ähnlichen Strukturschwächen wie die gewerblich-industrielle und die agrarische Güterproduktion. Seit der Verstaatlichung hatte er der obersten Leitung durch ein entsprechendes Unionsministerium unterstanden. Im Zuge der Dezentralisierungspolitik löste Chruščev auch diesen Apparat auf (1958), schuf aber ein ähnliches Durcheinander wie in der Industrie. Zu den ersten administrativen Restaurationsmaßnahmen nach dem Putsch gehörte deshalb 1965 die Wiederherstellung des Handelsministeriums. Damit kehrten aber auch die alten Probleme zurück, die ebenfalls ganz überwiegend in der Abschaffung privater Verantwortlichkeit und in staatlicher Regelung von allem und jedem wurzelten. So machte sich zum einen eine erhebliche Trägheit in Gestalt des immer gleichen Warensortiments bemerkbar. Zugleich mangelte es an Qualität. Dies konnte im Kontext der gegebenen Ordnung auch kaum anders sein: Wo Innovation und Veränderung schon in der Produktion bestraft wurden, weil Neues Unruhe stiftet, litt die Verteilung der Erzeugnisse unter denselben Symptomen. Angelegt war in dieser Ordnung mithin ein Selbstverständnis, das sich auf die bloße Weitergabe gründete. Die Abnehmer traten als glückliche Empfänger, nicht als wählerische Kunden in Erscheinung. Hinzu kamen in der Regel mehr als dürftige Vorrichtungen der Lagerhaltung und eine schlechte Organisation. Beides begünstigte große Verluste nicht nur bei verderblicher Ware.

Darüber hinaus tut man gut daran, noch eine weitere, tiefere Ursache für diesen besonders augenfälligen und den Alltag so unendlich beschwerenden Missstand in Betracht zu ziehen: die Vernachlässigung von Verteilung und Verkauf. Nach wie vor orientierte sich der sozialistische Aufbau an der alten, im Denken des 19. Jahrhunderts wurzelnden Vorstellung, dass er seine Leistungsfähigkeit ganz überwiegend in der Produktion beweisen müsse. Zwar wurde die Distribution stets bedacht, weil die Bevölkerung versorgt werden musste, aber sie blieb – wie schon in der Marxschen Theorie, die den Mehrwert ausschließlich in der Warenherstellung lokalisierte – das Stiefkind der Industrialisierung sowjetischer Art. Diese Missachtung zeigte sich nicht zuletzt in den Gehältern. Nur noch ‹übertroffen› von den niederen Angestellten im Gesundheitswesen, der Sozialfürsorge und der Kunst bezogen die Verkäufer die geringsten Einkommen der gesamten Volkswirtschaft. Da andererseits viele knappe Güter durch ihre Hände gingen, betätigte sich das System nahezu als Hehler der bekannten Unsitten. Ladenangestellte bedienten sich und Bekannte zuerst und verkauften den Rest zu vielfach höheren Preisen ‹unterm Tresen›. Ihre Arbeitsfreude hielt sich in engen Grenzen, und von Freundlichkeit konnte zumeist nicht die Rede sein. Dass die Organisation des Verkaufs sogar offensichtliche Vereinfachungen ignorierte und sowohl dem Personal als auch den Kunden völlig überflüssige Anstrengungen abverlangte, weiß jeder, der auch nur einmal ein sowjetisches Geschäft betreten hat. Veränderungen wurden auch hier bestraft, weil der Absatz keine verhaltenssteuernde Maßzahl bildete. Der Verkaufsumfang wurde gemäß dem Gesamtplan vorgegeben. Wie er erfüllt wurde, lag außerhalb des Interesses der höheren Instanzen und hatte keine Auswirkungen auf künftige Zuweisungen. In mancher Hinsicht konnte der Einzelhandel nachgerade als Symbol dafür gelten, was die Bevölkerung als Konsument ‹ihrem› Staat wirklich bedeutete – letztes und unbeachtetes Objekt zentraler, unter weitgehender Ausblendung ihrer Interessen getroffener Entscheidungen zu sein.[15]

Der Außenhandel half der Misere lange Zeit nur theoretisch ab. Auch er unterlag staatlicher Kontrolle und diente primär anderen Zielen. Importe wurden in die Entwicklungsvorgaben eingearbeitet und entsprechende Mittel zur Bezahlung vorgesehen. Der Gosplan bestimmte (in Verbindung mit den zuständigen Ministerien und Behörden), welche Materialien und Maschinen nach Maßgabe der Prioritäten benötigt wurden. Ein- und Ausfuhr erhielten auf diese Weise ein systemkonformes Korsett und eine Aufgabe, die sie primär auf innere ‹Entwicklungshilfe› festlegte. Daraus ergab sich auch die Form, die sie über Jahrzehnte prägte: Außenhandel war als Monopolveranstaltung des Staates nicht nur an bestimmte Lieferanten, Güter und Mengen gebunden, sondern vollzog sich auch weitgehend separat auf der Grundlage einer eigens für ihn geschaffenen Kunstwährung, des Verrechnungsrubels, den es nur auf dem Papier und nicht für die Bevölkerung gab. Auf diese Weise nahm die Sowjetunion einerseits begrenzt und sozusagen zweckorientiert am Weltmarkt teil, schottete sich aber zugleich von ihm ab. Beides kam ihrem Gesamtcharakter entgegen: der Inanspruchnahme der Außenwelt für ehrgeizige ökonomische Ziele bei gleichzeitiger Abwehr dieser Welt, die ideologisch und politisch der globale Hauptfeind war und blieb.

Erst unter Brežnev trat auch in dieser Hinsicht ein merklicher Wandel ein. Beginnend vor allem mit den siebziger Jahren nahm die Außenhandelsverflechtung der Sowjetunion über die staatssozialistischen, im sog. Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, engl. auch Comecon abgekürzt) zusammengeschlossenen Länder hinaus sprunghaft zu. Den Anstoß dazu gaben offenbar die erwähnten Missernten von 1972 und 1975, die zu massiven Getreidekäufen auf dem Weltmarkt zwangen. Um sie bezahlen zu können, lag eine Erhöhung des Exports nahe. Dabei half der kräftige Anstieg der Energiepreise im Gefolge der künstlichen Erdölverknappung durch die arabisch-afrikanisch-lateinamerikanischen Produzentenländer (OPEC) Anfang 1973. Zugleich blieb der Tatbestand weiterhin bezeichnend, dass die sowjetische Ausfuhr hauptsächlich aus Rohstoffen und anderen Naturprodukten bestand. Allem Anschein nach gingen die Ursachen für den zunehmenden Warenaustausch mit dem ‹kapitalistischen Westen› aber über die Kompensation für Naturkatastrophen hinaus. Die erwähnten Strukturmängel machten sich bemerkbar und verlangten nach Ausgleich. Wo das Angebot an Arbeitskräften schrumpfte und die eigene Technologie zur überfälligen Erhöhung der Arbeitsproduktivität nicht ausreichte, musste die Innovationskraft des Weltmarkts in Anspruch genommen werden. Spätestens seit Anfang der siebziger Jahre trat die vielberufene «technologische Lücke» deutlicher ins Bewusstsein; erhöhte Importe sollten sie wenigstens verringern. So überraschte es Sachkenner nicht, dass sich die Lage gegen Ende der Brežnev-Ära weiter zuspitzte. Bei andauernder Agrarkrise, deutlich nachlassendem industriellen Wachstum, zumindest gleichbleibenden Rüstungsausgaben, ungebremsten Konsumwünschen der Bevölkerung und wieder rückläufigen globalen Energiepreisen sah sich die Sowjetunion nicht mehr in der Lage, ihre Bündnispartner, wie bis dahin, mit billigen Rohstoffen zu versorgen und steigende Importe zu finanzieren. Auch die wirtschaftliche Außenverflechtung und zunehmende Schuldenlast ließen erkennen, dass sie sich zumindest am Vorabend einer Krise, wenn nicht bereits in dieser selbst befand.[16]

Struktur und Funktion des sowjetischen Staatshaushalts samt Steuer- und öffentlichem Finanzwesen unterlagen in den Nachkriegsjahrzehnten dem geringsten Wandel. Die wesentlichen Systemmerkmale ergaben sich auch in dieser Hinsicht aus der Grundentscheidung lückenloser Verstaatlichung. Sie veränderte sowohl die Quellen der staatlichen Einnahmen als auch die Empfänger der Ausgaben. Denn beides waren nur Aspekte der einen Hauptwirkung: dass sich der Staatshaushalt zur Gesamtheit der nichtprivaten Budgets ‹kommassierte›. Als alle industriellen und kommerziellen Betriebe zur «Mammutunternehmung UdSSR GmbH» zusammengeschlossen wurden, übernahm dieses fortan auch die Finanzierung aller Aktivitäten samt der Aufgabe, die erforderlichen Geldmittel zu beschaffen. Der Staatshaushalt verband sich mit der Entscheidung über Wirtschaftsinvestitionen, seine Aufstellung kam der Fixierung ökonomischer Prioritäten gleich. Deshalb lag es nahe, dass beide Zahlenwerke, Staatsbudget und Wirtschaftsplan, symptomatischerweise gemeinsam beraten und verabschiedet wurden.

Aus den veröffentlichten Budgets ergibt sich, dass der Sowjetstaat auch in der Brežnev-Ära den größten Teil seiner Einkünfte aus der Umsatzsteuer bezog (gut 31 %). Ihr folgte die Gewinnabführung der Betriebe (um 30 %). Allerdings hatte sich das Verhältnis zwischen den genannten Quellen zugunsten der Letzteren verschoben. Der sowjetische Normalbürger merkte davon wenig, da die Veränderungen innerhalb einer Marge stattfanden, die relativ beliebig zwischen beiden Posten aufgeteilt wurde. Die Ökonomen fassten beides als «Mehrwert», definiert als Differenz zwischen Produktionskosten und Endverkaufspreis einer Ware, zusammen. Mithin stammten die Staatseinkünfte ganz überwiegend aus den eigenen Unternehmungen (unter Einschluss der genossenschaftlichen, die nur de jure privat waren). Formal war damit durchaus eine der Absichten der Revolution erfüllt worden: dass unternehmerischer Gewinn nicht mehr ‹ungleich verteilt› war und einer schmalen gesellschaftliche Schicht zufloss, sondern dem Staat als Sachwalter des Gesamtinteresses. Das Problem lag politisch nur darin, dass die letztgenannte Prämisse nicht zutraf, und ökonomisch darin, dass mit der Beseitigung des Privatbesitzes samt Konkurrenz und Markt auch die innerste Triebkraft für Effizienz und Innovation ausgerottet worden war. Der Gewinn, der nach wie vor erwirtschaftet wurde, kam nun zwar dem Staat zugute, aber sein Volumen lag deutlich unter dem marktwirtschaftlich möglichen. Im Wortspiel gesagt: Der «Mehrwert» war weniger wert, und ‹weniger› wäre, mit Lenin zu reden, ‹mehr› gewesen.

Auf größere Veränderungen verweisen die Zahlen über die Struktur der staatlichen Ausgaben. Allerdings ist in wesentlichen Punkten erhebliche Skepsis angebracht. Glaubwürdige Kontinuität zeigt die Tendenz wachsender Zuweisungen an die Wirtschaft. Als monopolistischer Gesamtunternehmer musste der Staat nicht nur für die Löhne, sondern für alle Investitionen, von infrastrukturell-allgemeinen bis zu betrieblich-innovativen, vom Bahnanschluss bis zur Erneuerung des Maschinenparks, sorgen. Dies wäre ihm leichtgefallen, wenn die ebenfalls an ihn zurückfließenden Gewinne so hoch gewesen wären, dass er davon auch die von jedem Staat aufzubringenden ‹Gemeinkosten› einschließlich des Unterhalts der Armee hätte bestreiten können. Aus den genannten Gründen musste er sich aber mit einem vergleichsweise geringen «Mehrwert» begnügen, so dass der wachsende Anteil der Ausgaben für die Volkswirtschaft (1973 = 49,6 %, 1978 = 54,3 %) nicht zuletzt höhere Subventionen spiegelte. Demgegenüber nahmen die Prozentwerte für «soziokulturelle» Leistungen, «Verteidigung», «Verwaltung» und Sonstiges trotz deutlich größerer absoluter Summen relativ stark ab. Vor allem den veröffentlichten Daten über die Zuweisungen an das Militär hat schon seinerzeit niemand getraut. Ganz gewiss lagen die tatsächlichen Kosten so viel höher, dass sie die Investitionen, derer die Wirtschaft zur Produktivitätsverbesserung dringend bedurft hätte, zu einem erheblichen Teil aufzehrten.

Umso eher drängt sich die Frage auf, ob die sowjetische Wirtschaftsordnung wenigstens einen anderen behaupteten Vorzug: dank der Möglichkeit zu zentraler Planung das gesamtökonomische Gleichgewicht besser sichern zu können, tatsächlich zu realisieren vermochte. ‹Scherenkrisen› ohne Ende hatten in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre die Bereitschaft erhöht, ihre unumstrittene Hauptursache, die mangelnde Koordination zwischen Industrie und Landwirtschaft, ein für alle Mal zu beseitigen. Der siegreichen Fraktion schien allein die ‹rationale› Festlegung der Eckdaten Gewähr dafür zu bieten. Insofern war auch die ‹prinzipielle› Ausrottung der Unwägbarkeit des Verhaltens von Produzenten und Konsumenten eine praktische Konsequenz der teleologischen Vernunftkonzeption, an der Marx bei aller materialistischen Umkehrung Hegels bekanntlich festhielt: In der Planung (und Verstaatlichung als ihrer Voraussetzung) aller wirtschaftlichen Tätigkeiten emanzipierte sich die ökonomische Rationalität vom Eigeninteresse der Akteure.

Freilich machten die Urheber der zentralen Planwirtschaft ihre Rechnung in dieser Hinsicht ebenfalls ohne den Wirt. Sie überschätzten die Leistungsfähigkeit des neuen Systems und unterschätzten die Erwartungen der Menschen samt dem Zwang, ihnen entsprechen zu müssen. Solange Partei und Staat ihren Schutzbefohlenen ohnehin nur Schweiß und Tränen verordneten und extralegale Terrororgane dafür sorgten, dass jede Entbehrung widerstandslos ertragen wurde, traten die Symptome der Fehlkalkulation höchstens in stiller Leistungsverweigerung zutage. Dies änderte sich, als sich die Einsicht in die letztliche Unmöglichkeit verbreitete, mit Gewalt mehr als formalen Gehorsam zu erzwingen. Bei der Suche nach anderen Mitteln setzte Chruščev in hohem Maße auf wirtschaftliche Reformen, sozialistische Überzeugung und größere Meinungsfreiheit. Als Brežnev und Kosygin der ‹Stabilität der Kader› den Vorrang gaben und Reformen, wenn überhaupt, durch die Apparate umsetzen wollten, schlugen sie implizit eine neue Art des Arrangements mit der Bevölkerung vor: Hebung des Lebensstandards als Gegenleistung für Arbeitseinsatz und Protestverzicht. Zu diesem stillschweigenden ‹Abkommen› gehörten nicht nur die wiederholten Agrarprogramme und Experimente mit materiellen Anreizen in der industriellen Produktion, sondern auch Lohnerhöhungen. Alle Daten deuten darauf hin, dass die Einkommen der Bevölkerung schneller stiegen als geplant. Zugleich zeigte sich der Staat aus den genannten Gründen immer weniger in der Lage, für ein ausreichendes Warenangebot zu sorgen. Vermutlich war um die Mitte der siebziger Jahre auch in dieser Hinsicht eine Art von Scheitelpunkt erreicht: Als die ‹Extraprofite› infolge der internationalen Preisexplosion für Energie nachließen und nicht mehr ausreichten, um die stagnierende Eigenproduktion zu kompensieren, ging die mühsam gewahrte Balance endgültig verloren. Die Fiktion, vor den Launen des kapitalistischen Marktes gefeit zu sein, wurde in Gestalt weitgehend stabiler Ladenpreise zwar aufrechterhalten. Aber faktisch trat das unerwünschte Phänomen, das ebenso geleugnet wurde wie die Arbeitslosigkeit, immer deutlicher zutage: die Inflation. Einem wachsenden Geldüberhang, erkennbar an stark ansteigenden Ersparnissen, stand ein zumindest nicht proportional vermehrtes Quantum an Gütern und Dienstleistungen gegenüber. Da Staat und Planungsbehörde die Preise nach wie vor festlegten, äußerte sich das Ungleichgewicht nicht marktwirtschaftlich in einer Verteuerung der Waren, sondern in wachsender Knappheit. Nur wo die Kaufkraft bestimmen konnte, auf den privaten Kolchosmärkten, trat das übliche Resultat ein. Ein besseres Angebot in den Staatsläden hätte das Problem lösen können. Aus den genannten Gründen war der schwerfällige Monopolbetrieb Sowjetunion, der das individuelle Wohl als wichtigste Triebfeder ökonomischen Handelns zugunsten des von ihm beschlagnahmten Gemeinwohls abgeschafft und den homo oeconomicus auf diese Weise um sein Lebenselexier gebracht hatte, dazu aber nicht in der Lage. So produzierte die vermeintlich rationale Planwirtschaft aufgrund eigener Mängel eben das, was sie der ‹irrationalen› Marktwirtschaft vorwarf und prinzipiell aufzuheben beanspruchte: Disproportionen. Den Schaden hatte der Konsument, der Geld anhäufte, aber wenig fand, was er dafür kaufen konnte.[17]

Doch auch der Staat kam nicht ungeschoren davon. Er verlor Schlimmeres als materielle Werte – die Loyalität seiner Bürger. Im Maße seiner Unfähigkeit, ausreichend Konsumgüter des alltäglichen Bedarfs in angemessener Qualität zur Verfügung zu stellen, büßte nicht nur die Propaganda endgültig ihren Kredit ein. Darüber hinaus wuchsen die Zweifel an der Leistungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des Regimes selber. Der Fundamentalkompromiss, wenn man so will: der Gesellschaftsvertrag der Brežnev-Ära, geriet ins Wanken. Wo Arbeit in der Erwartung besserer materieller Lebensbedingungen erbracht wurde und man in derselben Hoffnung auf politische Freiheit weitgehend verzichtete, konnte enttäuschte Abwendung nicht ausbleiben, als der Staat immer deutlicher offenbaren musste, dass er seine Zusagen nicht einhalten konnte. Hinzu kamen auch in dieser Hinsicht Auswirkungen des Generationswechsels. Die These vermag zu überzeugen, dass die Nachkriegsgeneration ihr Lebensniveau an anderen, nicht zuletzt an ausländischen, durch die wachsende wirtschaftliche und kommunikative Verflechtung nähergebrachten Standards maß und eher bereit war, die Einhaltung der propagandistischen Versprechungen einzuklagen. So gesehen, forderte die neue Generation nichts anderes als eine Normalisierung. Eben für den Normalfall aber war die zentrale Planwirtschaft nicht gerüstet. Auch deshalb wurde ihr Versagen mit guten Gründen als Versagen der Gesamtordnung verstanden. Am Anfang der großen Krise, die den Untergang der Sowjetordnung bringen sollte, standen weder eine spürbare Erschütterung der staatlichen Zwangsgewalt noch ununterdrückbarer politischer Freiheitswille, noch auch nationales Selbständigkeitsstreben; alle diese Fermente des Zerfalls waren, im zeitlichen wie im kausalen Sinn, spätere Erscheinungen. Und auch ein wirtschaftliches Desaster, das unaufhaltsam in den Abgrund geführt hätte, ist nicht zu erkennen. Auf der Hand lag aber eine «alarmierende» ökonomische «Trägheit», die es dem Regime immer schwerer machte, selbst gleichbleibende materielle Ansprüche der Bevölkerung bei anhaltend hohen Rüstungskosten und sonstigen Militärausgaben zu erfüllen.[18]

Im Ganzen erlebte die sowjetische Gesellschaft unter Brežnev sicher ihre beste Zeit. Sowohl aus zeitgenössischer als auch späterer Sicht genoss sie ein relatives Höchstmaß an Wohlstand, Stabilität und – von erklärten Andersdenkenden abgesehen – Frieden. Alle Indikatoren wiesen aufwärts: Demographisch erholte sie sich endgültig von den Kriegsfolgen; die Einkommen aller Schichten wuchsen; das durchschnittliche Qualifikationsniveau stieg; und der Abstand zwischen den verschiedenen Berufs- und Funktionsgruppen nahm ebenso ab wie die tradierte Kluft zwischen Stadt und Land. Nach dem Wechselbad der Chruščevschen Reformen, die den Lebensstandard ebenfalls schon gehoben hatten, glitt der Wandel in ruhigeres Fahrwasser, ohne zu erlahmen. Materiell und strukturell erreichte die Sowjetunion die weiteste Etappe auf dem Wege, den sie von Beginn an eingeschlagen hatte und dessen suggestiver Überzeugungskraft sie in erheblichem Maße ihre Existenz verdankte: der wirtschaftlichen Modernisierung und Transformation in eine moderne Massenkonsumgesellschaft.[1] An den üblichen Indikatoren gemessen, trat sie in ein neues soziales Zeitalter ein. Die magische Schwelle der städtischen Ansässigkeit eines jeden zweiten Einwohners wurde 1961 erreicht; korrespondierende Prozentwerte industriell-gewerblicher Beschäftigung und professionell-akademischer Qualifikation ließen nicht lange auf sich warten (vgl. Tabelle A–1, A–2 und A–5 im Anhang). Auch wenn Entwicklungsmodelle aufgrund ihrer teleologischen Implikationen in Misskredit geraten sind, sollte nicht übersehen werden, dass die Sowjetunion – um welchen Preis auch immer – nicht nur dank ihrer militärischen Erfolge in die ‹Zweite Welt› aufgestiegen war. Insofern hatten die verschiedenen, vor allem in den sechziger Jahren unternommenen Bemühungen um neue soziologische und politologische ‹Parameter› zur Erklärung ihrer Wesenszüge einschließlich konvergenztheoretischer Überlegungen durchaus ihre Berechtigung.[2] Sie spiegelten die zutreffende zeitgenössische Wahrnehmung, dass die andere Supermacht – bei allem fortdauernden Abstand zum ‹Westen› – auch sozioökonomisch nicht mehr mit den Maßstäben und Begriffen ihrer frühen Jahre zu beschreiben war.

Auf der anderen Seite erlebte auch die Gesellschaft des «entwickelten Sozialismus» eine Art Peripetie. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verdichtete sich der Eindruck, dass der Fortschritt ins Stocken geraten sei. Dabei bleibt es unerheblich, ob sich der materielle Lebensstandard, die soziale Versorgung, die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten und andere individuell erfahrbaren sozialen Errungenschaften tatsächlich verschlechterten oder nicht – entscheidend war die Wahrnehmung. Sie maß die Gegenwart an den Versprechungen der Vergangenheit oder an dem Bild, das man sich vom westlichen Ausland machte, und entdeckte eine wachsende Diskrepanz, die nicht zuletzt in der Unbeweglichkeit der bestehenden Ordnung wurzelte. Wo aber Einsatz und Initiative blockiert wurden, blieben sie aus. Die Warnung eines Reformökonomen der sechziger Jahre (V. S. Nemčinov) galt auch für die Gesellschaft: dass ein System, das in Routine erstarrt, weil es darin die Bedingung seines Selbsterhalts sieht, irgendwann mit der ignorierten Wirklichkeit kollidieren werde. Dieser Zeitpunkt näherte sich gegen Ende der Brežnev-Ära.

Bevölkerungsentwicklung  In physisch-natürlicher Hinsicht, der die primäre Aufmerksamkeit der Demographen gilt, begann für die Bevölkerung der Sowjetunion nach dem Ende von Krieg und Nachkriegszeit eine neue Ära. Die Auflösung der Arbeitslager tat ein Übriges, um eine Phase der friedlichen, gewalt- und katastrophenfreien Entfaltung von nie dagewesener Dauer einzuleiten. Unter Chruščev und Brežnev gab es – ebenso wie im letzten Jahrzehnt der Sowjetunion – weder militärische Gemetzel noch massenhafte Vernichtung durch staatliche Gewalt, Hunger oder Epidemien. Zwar lag es in der Natur der Sache, dass Kriegsschäden noch in der nächsten und übernächsten Generation zu spüren waren. Aber die Erholung begann und dauerte zum ersten Mal lang genug, um ihr Ziel zu erreichen. Klarer als unter jedem anderen Aspekt zerfiel die sowjetische Geschichte demographisch in zwei Hauptperioden: eine unstete, vielfach von innerer und äußerer Gewalt unterbrochene bis 1953 und eine etwa ebenso lange, relativ interventionsfreie während der nächsten dreieinhalb Jahrzehnte. Insofern liegt die These nahe, dass die Sowjetunion erst nach dem Ende der terroristischen Diktatur Stalins in eine Phase der Normalität eintrat. Davon bleibt das Problem unberührt, ob ihr Gesamtsystem für diesen Zustand geeignet war. Die Meinung hat manches für sich, dass vor allem die demographischen Begleiterscheinungen physisch ungestörter sozioökonomischer Modernisierung die Planwirtschaft und Parteimonokratie in jene Sackgasse chronisch mangelhafter Effizienz trieben, die zum Zusammenbruch beider führten.

Als sichtbarste Folge der friedlichen Entwicklung ist der abermalige Bevölkerungsanstieg zu nennen. Aus Tabelle A–1 im Anhang geht hervor, dass das Vorkriegsniveau in den erweiterten Grenzen von 1940 etwa um die Mitte der fünfziger Jahre wieder erreicht wurde. Die erste vollständige Zählung der neuen Ära ergab im Januar 1959 eine Gesamtsumme von 208,8 Mio. Einwohnern. 1970 registrierte man 241,7 Mio., beim zweiten umfassenden Zensus im Januar 1979.262,4 Mio. und im letzten Bestandsjahr der UdSSR 278,1 Mio. Mithin hatte sich die Bevölkerungszahl des Sowjetreiches – allerdings einschließlich der annektierten Gebiete – in siebzig Jahren (1922.136,1 Mio.) mehr als verdoppelt. Der Löwenanteil dieses Zuwachses fiel in die knapp vier Jahrzehnte nach Stalins Tod, denen vor allem die lange Regentschaft Brežnevs ihr Gepräge gab.[3]

Parallel zu dieser Bevölkerungsvermehrung kam das Geschlechterverhältnis allmählich wieder ins Lot (vgl. Tabelle A–1). Seit Bestehen der Sowjetunion hatte der Anteil der Frauen den der Männer in ungewöhnlichem Maße überschritten. In den zwanziger Jahren zeigten sich darin Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkriegs, in den dreißiger Jahren – nach einer gewissen Erholung gegen Ende der NĖP – vermutlich Spuren ungleicher Folgen von Zwangskollektivierung, Hunger und Terror. Das größte Loch in die männliche Population aber riss der Zweite Weltkrieg mit seinen ungeheuren Verlusten nicht zuletzt an Soldaten. Der Frauenanteil erhöhte sich von 52,1 % 1939 auf 56 % im Jahre 1951. Noch der (verlässlichere) Zensus von 1959 ergab mit 55 % einen deutlichen Überschuss, der als Resultat nicht manipulierbarer natürlicher Gegebenheiten nur langsam zurückging. Nach 53,3 % im Jahre 1980 näherte sich die Quote mit 52,7 % erst kurz vor dem Zusammenbruch des Staates (1989–91) dem demographischen Durchschnittswert, der in der Regel etwas über einem ausgeglichenen Verhältnis zugunsten der Frauen liegt.[4]

Es versteht sich, dass Kriegsverluste und -verwerfungen als grundlegende Bedingungen auch der natürlichen Bevölkerungsbewegung der Nachkriegsjahrzehnte zu bedenken sind. Gerade in dieser Hinsicht verbietet sich aber die Annahme einfacher Kausalitäten. So zwang der Männermangel zwar einen auffallend hohen Prozentsatz – noch 1959 knapp die Hälfte – von heiratsfähigen Frauen zur Ehelosigkeit. Die Geburtenrate wurde davon aber ebenso wenig betroffen wie die entscheidende Größe der ‹biologischen› Zuwachsrate insgesamt. Letztere nahm im Gegenteil in den fünfziger Jahren deutlich zu. Dazu trugen beide Faktoren bei, deren Differenz sie bildet, allerdings in unterschiedlicher Weise. Der größere Effekt ging von der Verminderung der Sterblichkeit aus, die im Vergleich der Stichjahre 1940 und 1950 drastisch sank (von 18,0 auf 9,7 Promille) und bis zur Mitte der sechziger Jahre (1965 7,3/000) weiter fiel. Zugleich verringerte sich zwar auch die Geburtenrate nicht nur im Vergleich zum Vorkriegsstand, sondern kontinuierlich bis etwa 1970 (31,2/000.1940; 26,7/000.1950; 24,9/000.1960; 17,4/000.1970), aber nicht in gleichem Maße. Der positive Effekt besserer Gesundheitsvorsorge und einer (im Vergleich zur Vorkriegszeit) deutlich gesunkenen Kindersterblichkeit überwog. Im Ergebnis nahm die Bevölkerung in den fünfziger Jahren zu (1950 um 17,0/000; 1960 um 17,8/000). Dabei mochte auch, wie man vermutet hat, ein im Vergleich zu westlichen Ländern länger andauernder ‹kompensatorischer› Effekt als Folge der Demobilisierung im Spiele gewesen sein.

Mit Beginn der sechziger Jahre setzte allerdings eine umgekehrte Bewegung ein. Die Geburtenrate nahm deutlich ab, ohne nach dem Tiefstand von 17,4/000 im Jahre 1970 und nachfolgender langsamer Erholung das Niveau auch nur von 1960 wieder zu erreichen. Gegen Ende der Perestrojka, seit etwa 1988, als sich die Wirtschaftskrise beschleunigte und das Imperium ins Wanken geriet, war im Gegenteil ein neuerlicher Geburtenrückgang zu verzeichnen. Zugleich nahm die Mortalität (seit 1965) wieder zu, ob primär als Folge der Alterung der Gesellschaft oder nachlassender Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens, bleibt offen. Im Endeffekt ergab sich eine kontinuierliche Abnahme des demographischen ‹Nettozuwachses› vom genannten Höhepunkt 1960 über 11,1/000.1965 auf 8,0/000.1980 und – nach einer leichten Aufwärtsbewegung (1985 8,8/000) – den tiefsten Stand seit der Entstehung der Sowjetunion überhaupt (1990 6,5/000). Dabei ist noch zu beachten, dass diese aggregierten Angaben große regionale Unterschiede verbargen. In der RSFSR und der Ukraine lagen die entsprechenden Werte in den fünfziger Jahren etwas (1950 16,8/000, 1960 15,8/000 bzw. 14,3/000 und 13,6/000), danach deutlich niedriger (1965 8,1/000, 1985 5,3/000 bzw. 7,7/000 und 3,6/000) als im Durchschnitt, in einigen kaukasischen sowie besonders in allen mittelasiatischen Republiken ebenso klar darüber. Noch geringere Zuwächse verzeichneten Lettland und Estland.

Solche Abweichungen enthalten bereits einen Hinweis auf die wichtigste allgemeine Ursache für die beschriebene Entwicklung. Der an sich paradoxe Tatbestand hoher Geburtenraten und eines schnellen Bevölkerungswachstums in schwieriger, noch von Not und Armut geprägter Zeit, aber sinkender Geburtsraten und eines stark abnehmenden Gesamtzuwachses in den Jahrzehnten relativer Prosperität lässt sich am ehesten durch Wirkungen der Industrialisierung und gesamtgesellschaftlichen Modernisierung erklären. Unter Brežnev traten in der Sowjetunion ähnliche Erscheinungen zutage wie in den westlichen Industrieländern. Höherer Lebensstandard, eine längere und teurere Ausbildung, soziale Absicherung und Altersrenten durch den Staat, im gegebenen Fall sicher auch die fast vollständige Einbeziehung der Frauen ins Erwerbsleben, größere Mobilität, wachsende Freizeitangebote einschließlich moderner Massenmedien, die generelle ‹Verdichtung› des Lebens und andere Faktoren mehr (kaum aber die Wohnungsnot, die vorher größer gewesen sein dürfte) bewirkten einen Wertewandel, der sich unter anderem in der bewussten Senkung der Kinderzahl niederschlug. Die politisch motivierte, neuerliche Freigabe der Abtreibung seit 1955 kam als Hilfe bei der Realisierung dieses Umdenkens hinzu. In den letzten Jahren der Sowjetunion dürften auch Verunsicherung und Zukunftsangst eine Rolle gespielt haben. Ob aber solche Unterschiede der Geburtenhäufigkeit vor allem zwischen den relativ stark industrialisierten kernrussischen Gebieten (um die baltischen als marginale Größen beiseite zu lassen) und den traditionsbestimmten mittelasiatischen wirklich als Triebkräfte der Erosion des Reiches gelten können, lässt sich aus rein demographischen Beobachtungen nicht zureichend begründen.[5]

Von entscheidender Bedeutung weit über die reine Demographie hinaus ist die Frage nach der regionalen Verteilung dieses Wachstums. Sie verbindet sich zum einen mit dem Problem der interregionalen Wanderung, zum anderen mit der Migration zwischen Stadt und Land. Die geographischen Zielgebiete der Bevölkerungsbewegung haben einerseits gewechselt, sind aber andererseits – je nach Distanz der Betrachtung – dieselben geblieben. Auch in der Ära Chruščev und Brežnev lockten die vielversprechenden Möglichkeiten des Ostens, der aber gleichsam in immer weitere Ferne rückte. Das hinterste Sibirien avancierte zur Region mit der höchsten Netto-Zuwanderungsrate, während der Nordkaukasus und Mittelasien zurückfielen. Bemerkenswerterweise verzeichneten auch der baltische Nordwesten und das russische Zentrum ‹Reingewinne›. Im Ergebnis dauerte einerseits die überkommene, durch die Industrialisierung nachhaltig verstärkte ‹Ostsiedlung› an, andererseits verlor diese Bewegung ihre Einseitigkeit und Dominanz.

Prägender und gleichförmiger blieb die Urbanisierung. Nach der Unterbrechung durch Krieg und Wiederaufbau knüpfte die Sowjetunion in diesem fundamentalen Aspekt des gesamten sozioökonomischen Modernisierungsprozesses wieder an die stürmischen Jahre von 1926 bis 1939 an. An der jährlichen Beschleunigung gemessen, verfehlte dieser Vorgang zwischen 1959 und 1970 zwar die Dynamik der ersten Fünfjahresplanperioden; mit Blick auf den absoluten Zuwachs an Stadtbewohnern aber übertraf er diese sogar. Wie aus Tabelle A–1 ersichtlich ist, nahm der Anteil der Stadtbewohner kontinuierlich und rapide zu; auch die wirtschaftlich schweren letzten Jahre der UdSSR führten zu keiner ‹Devolution›. Vom Beginn der NĖP bis zum deutschen Überfall stieg die Urbanisierungsquote in der Sowjetunion von ca. 16 % auf gut 32 %, zwischen dem Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit (1950) und dem Zusammenbruch des Reiches aber von ca. 39 % auf 66 %. Zumindest bis zum Ende der Brežnev-Ära gilt mithin als Gesamtfazit, dass womöglich kein anderes Land der Erde eine so dauerhaft rapide Urbanisierung erlebte wie die Sowjetunion.

Was sich änderte, war nicht die Verstädterung, sondern ihr hauptsächliches Reservoir. In seinen ersten beiden Phasen (1927–38 und 1939–1958) speiste sich dieser Vorgang ganz überwiegend aus dem Dorf. Millionen beschäftigungsloser Bauern drängten in Städte oder die abseits gelegenen Großbaustellen des sozialistischen Aufbaus. Man hat geschätzt, dass 63 % bzw. 62 % (ab 1939) der neuen Bewohner Landflüchtige dieser Art waren. Nur 18 % bzw. 20 % stammten aus der örtlichen Einwohnerschaft selbst; der Rest des Zuwachses verdankte sich administrativen Eingriffen, zumeist in Gestalt der rechtlichen Umwandlung von Dörfern in Städte. Dieses Verhältnis änderte sich im «entwickelten Sozialismus» entscheidend. Der Anteil der ‹Selbstrekrutierung› stieg zwischen 1959 und 1970 auf über 40 %. Dementsprechend sank die Zuwanderungsquote vom Land. Auch wenn sich der Wandel zum Teil zwangsläufig aus dem Fortschreiten der Verstädterung ergab, verdient er festgehalten zu werden. Indem die Migration von Stadt zu Stadt und die natürliche Bevölkerungvermehrung den Abzug überschüssiger Arbeitskräfte (und Esser) aus dem Dorf ersetzten, trat die Sowjetunion nicht nur in eine neue Etappe der Urbanisierung ein, sondern normalisierte sich auch. Der kapitalistische und der sozialistische Weg der Industrialisierung führten in diesem Punkt zusammen: Die Gesellschaft, die immer weniger von landwirtschaftlicher Tätigkeit und immer mehr von Fabrikation und Dienstleistungen lebte, war eine städtische. Bei alledem versteht es sich von selbst, dass die UdSSR im internationalen Vergleich keine Spitzenposition erreichte. Auch wenn die Anzahl ihrer Millionenstädte von nur drei im Jahre 1959 auf 20 im Jahre 1980 stieg, blieb der Abstand vor allem zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten groß. Nicht nur die riesige Ausdehnung sorgte dafür, sondern in gleichem Maße die kurze Dauer der sozioökonomischen Modernisierung. Auch die ‹reife› Sowjetunion war ein Neuling im Kreise der Industrieländer.[6]

Mit der Urbanisierung, die gleichsam die Mitte zwischen demographischen und sozialen Tatbeständen markiert, war der Wandel der sozialen Schichtung unmittelbar verbunden. Leider entzieht sich die Genese der verfügbaren Daten jeder Nachprüfung. Weder sind die Kriterien der Gruppierung im Einzelnen bekannt, noch lässt sich feststellen, ob sie über den Zeitraum der Existenz der Sowjetunion hinweg einigermaßen konstant gehandhabt wurden. Dennoch scheint es vertretbar, aus den entsprechenden Zahlenreihen der Tabelle A–3/1 einige langfristige Tendenzen abzulesen. Zum einen wird sichtbar, dass die quantitative Ausdehnung der Arbeiterschaft über die Zäsur des Zweiten Weltkriegs hinaus anhielt. Ihr relatives Gewicht stieg nicht mehr so sprunghaft an wie während der drei ersten Fünfjahrespläne, vergrößerte sich aber zwischen 1939 und 1959 noch von 33,5 % auf 49,5 %. Danach flachte die Kurve deutlich ab. In der Brežnev-Ära nahm ihr Anteil von 56,8 % 1970 nur noch auf 60,9 % 1982 zu. Die Datenreihe untermauert mithin, was Ökonomen (unter anderem) aus dem sinkenden Wirtschaftswachstum schlossen: dass das Potential an Arbeitskräften trotz wachsender Gesamtbevölkerung erschöpft war. Das Proletariat verlor zwar im ‹proletarischen Staat› nicht seine absolute numerische Hegemonie, fror aber quantitativ gleichsam ein. Demgegenüber nahm die relative Zahl der Angestellten seit dem Ende des Chruščevschen Populismus kontinuierlich und in etwa gleichem Tempo zu. Unter Brežnev konnten sich die Apparate nicht nur in Sicherheit wiegen. Darüber hinaus taten sie das, was man (fast) allen Verwaltungen nachsagt: Sie expandierten. Allerdings hat man darauf hingewiesen, dass die Rede von der ‹aufgeblähten Bürokratie› zumindest im internationalen Vergleich, gemessen an der relativen Anzahl der Führungspositionen, falsch ist. Wenn der Anteil der «Angestellten» – was immer im Einzelnen darunter zu verstehen ist – im «entwickelten Sozialismus» relativ zur Arbeiterschaft stieg, dürfte darin eher ein frühes Symptom für den ökonomischen Bedeutungsverlust der reinen Produktion gegenüber Dienstleistungen einschließlich der Verwaltung zu erkennen sein. So gesehen machten sich auch in der Sowjetunion Tendenzen einer Tertiarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft bemerkbar. Mit größerer Deutlichkeit tritt dagegen zutage, zu wessen ‹Lasten› sich die quantitative Expansion sowohl der Arbeiterschaft als auch der Angestellten vollzog: der Bauern. Gerade in dieser Perspektive wird der Doppelcharakter der Kriegs- und Nachkriegsjahre als Periode der Kontinuität und des Umbruchs zugleich besonders augenfällig. Vor dem deutschen Überfall ruhte der Sozialkörper Russlands wie seit Menschengedenken in Gestalt einer deutlichen agrarischen Bevölkerungsmehrheit (44,9 % 1939) noch auf dem Lande; bei der nächsten umfassenden Zählung hatte sich das Zentrum mit einem Abstand von 18,1 % klar auf die überwiegend (aber nicht ausschließlich) städtischen Arbeiter verlagert. Zur Halbzeit der Brežnev-Ära lebte nur noch ein Fünftel, gegen Ende ein Siebtel der Bevölkerung auf dem Dorf.[7]

Auf einem anderen Blatt steht, um welchen Preis auch an menschlich-sozialen Ressourcen (über materiell-finanzielle hinaus) diese Entwicklung erkauft wurde und in welchem Maße sie sich für die Bevölkerung auszahlte. Gerade in dieser Perspektive verdient Beachtung, dass die Arbeiterschaft den größten Frauenanteil unter allen vergleichbaren Ländern der Welt umfasste. Der Erhebung von 1979 zufolge standen 89,1 % aller 16–54-jährigen Frauen im Berufsleben, kaum weniger als Männer (90,8 %) und weit mehr als in den Vereinigten Staaten (56,5 %) oder in der Bundesrepublik Deutschland (46 %). Bei aller Vielfalt der Ursachen wird man die Bedeutung gesamtwirtschaftlicher Zwänge hoch veranschlagen dürfen. Die weitgehende Ausschöpfung spiegelte die Notwendigkeit, alle Ressourcen physischer Arbeitskraft zu mobilisieren, um das erklärte Ziel der ‹Ein- und Überholung› des ‹Kapitalismus› zu erreichen. Insofern zeigt sie nicht nur exemplarisch an, dass Quantität den Mangel an Qualität wettmachen musste, sondern verweist ein weiteres Mal auch darauf, wer den Preis für diesen Mangel zu zahlen hatte: die Masse der Bevölkerung.[8]

Die Nationalitätenfrage hat einen erheblichen Teil ihrer Brisanz aus der demographischen Entwicklung der letzten Sowjetjahrzehnte bezogen. Als politisches Problem war sie wahrlich nicht neu, sondern Folge der föderativen Staatsgründung schon von 1918, aber besonders von 1924. Vieles deutet aber darauf hin, dass sie ihre außerordentliche Sprengkraft, die maßgeblich zum Untergang des Gesamtstaates beitrug, erst in der Nachkriegszeit und besonders in der Brežnev-Ära gewann. Die numerischen Verschiebungen bildeten dabei nur einen Faktor unter anderen. Für das politische Ergebnis sind andere vermutlich wichtiger gewesen: allen voran die Verbreitung weltlicher Bildung sowie die Industrialisierung mit der Folge sozioökonomischer Mobilisierung und der Verstädterung der Bevölkerung auch an der südöstlichen Peripherie des Reiches. Die meisten dieser Veränderungen verbanden sich auf die eine oder andere Weise, als Ursache, Wirkung oder Begleiterscheinung, mit den demographischen Prozessen, die somit als elementar gelten können.

Die prägende Entwicklung lässt sich an den Datenreihen der Tabelle A–4 ablesen. Während der Anteil der Russen vor dem Krieg wuchs, ging er in den Nachkriegsjahrzehnten immer deutlicher zurück. Die Ukrainer machten insofern eine Ausnahme, als sich ihr Gewicht auch in den dreißiger Jahren infolge der Stalinschen Unterdrückung verminderte. Angesichts der starken Vermehrung der Großrussen (partiell womöglich nur statistisch, da es kaum opportun war, sich zur ukrainischen Nationalität zu bekennen) und angesichts ihrer ohnehin gegebenen quantitativen Übermacht konnte diese Besonderheit der Stärkung der Slaven im sowjetischen Vielvölkerreich aber nichts anhaben. Gegen Ende der fünfziger Jahre trat eine Wende ein, die sich im Rückblick als langfristig erwies. Die Geburtenrate der slavischen Nationalitäten fiel ebenso wie die schon seit längerem niedrige der baltischen (Letten, Esten, Litauer). Zugleich stieg die natürliche Vermehrung der islamischen Völker Mittelasiens und des östlichen Kaukasus an. Da sich hier nun auch die Investitionen in die öffentliche Hygiene (Wasser) und die Gesundheitsvorsorge mit der Folge eines deutlichen Rückgangs der Sterblichkeit auswirkten, ergab sich ein starker Gesamtzuwachs der Bevölkerung dieser Republiken und Regionen. Als Folge sank der Anteil der Russen an der gesamten Einwohnerzahl der UdSSR zwischen 1959 und 1989 von 54,6 % auf 50,8 % und der Anteil der drei slavischen Völker (Russen, Weißrussen, Ukrainer) von 76,3 % auf 69,8 %. Auch die baltischen Nationalitäten büßten relativ weiter an Gewicht ein; mit weniger als 2 % bildeten sie beim Untergang der ungeliebten Zentralmacht quantitativ eine quantité négliable. Umgekehrt nahm der Anteil vor allem der Uzbeken, Kazachen, Tadžiken, Turkmenen und Kirgisen sprunghaft zu. Im genannten Zeitraum von drei Jahrzehnten erhöhte er sich bei den Uzbeken auf mehr als Doppelte und für alle genannten Völkerschaften zusammen auf fast das Doppelte (6,2 % 1959, 12,0 % 1989). Auch die Azerbajdžaner vergrößerten ihr Gewicht. Bei den übrigen Nationalitäten traten keine erheblichen Veränderungen ein.[9]

Es ist nun sicher problematisch, aus demographischen Vorgängen politische Folgerungen abzuleiten. Zwar mögen bei vielen Sowjetbürgern, vielleicht auch bei einflussreichen, Überfremdungsängste geweckt worden sein. Dass sie handlungsrelevant geworden sind, lässt sich schon nicht mehr belegen. Auch die Stärkung des Russischen als obligatorischer Zweitsprache und lingua franca seit Beginn der siebziger Jahre muss nicht als Antwort auf Bedrohungsgefühle verstanden werden. Umgekehrt folgte aus der Geburtenfreudigkeit der islamischen Nationalitäten weder zwangsläufig noch auch nur wahrscheinlich ein Zuwachs an nationalem Hochgefühl und Selbständigkeitsbestrebungen. Schon das Beispiel der baltischen Republiken, die als erste aus dem Sowjetverband ausschieden, verweist auf eine Vielfalt möglicher Ursachen. So sollte man sich mit der Feststellung unzweifelhafter Tatbestände begnügen: zum einen des relativen demographischen Bedeutungsverlusts der slavischen Nationalitäten einschließlich der Russen zugunsten der islamischen besonders Mittelasiens; zum anderen der plötzlichen Präsenz eines gewiss vorbereiteten, aber verborgenen politischen Regionalismus und Nationalismus, als im Zuge der Perestrojka weitgehende Meinungs- und öffentliche Aktionsfreiheit hergestellt und die zentrale Herrschaftsgewalt durch die innere Zerrissenheit der Partei und eine um sich greifende Wirtschaftskrise bereits erheblich an Ansehen und Handlungsfähigkeit verloren hatte. Welcher Art die Zusammenhänge waren, wird später zu erörtern sein.

Arbeiter und Angestellte  Schon die allgemeine Übersicht über den Wandel der Sozialstruktur seit den zwanziger Jahren (vgl. Tab. A–3/1) zeigte, dass das Wachstum der Arbeiterschaft in den letzten Jahrzehnten der Sowjetära ins Stocken geriet. Die Zahl der ihr zugerechneten industriell-gewerblich Beschäftigten (ausschließlich also der Sowchos- und Kolchosangestellten, die eventuell inhaltlich durchaus vergleichbaren Tätigkeiten nachgingen) nahm zwar absolut und relativ weiter zu, aber in geringerem Tempo als in der Sturm- und Drangzeit der Industrialisierung. Dabei ging die Verlangsamung allem Anschein nach weniger auf veränderte Anforderungen zurück als auf die Austrocknung der tradierten Rekrutierungsquellen. Zum einen verlor die Bauernschaft, auch wenn sie weiterhin ein erhebliches Reservoir blieb, ihre einschlägige Bedeutung. Zum anderen konnten die Frauen nur noch in begrenztem Maße in den Produktionsprozess einbezogen werden. In den Kolchosen waren sie zur Versorgung der Privatparzellen unentbehrlich. Wo dies nicht der Fall war, stand die Starrheit des Fabriklebens angesichts ihrer häuslichen Verpflichtungen einem Wechsel im Wege. Zwar nahm der Frauenanteil – bei starken Unterschieden zwischen den Berufsgruppen – weiter zu, aber mit bemerkenswerter Verlangsamung bis zur Stagnation (47 % 1960, 51 % 1970, 51 % 1981). So brachten es primär strukturelle Ursachen mit sich, dass die Selbstrekrutierungsquote der Arbeiterschaft wuchs. In der Moskauer Region kamen 1973/74 sogar 55,8 % der industriell beschäftigten Jugend aus ‹lohnabhängigen Familien› und nur 15,2 % aus bäuerlichen; auch im großflächigeren Durchschnitt übertraf der entsprechende Anteil 50 %. Insofern näherte sich das ‹Proletariat› eben jenem reinen Typus der ‹Erblichkeit› an, dem die marxistische Theorie geschichtsphilosophische Kränze flocht. Nur konnte selbst der Sowjetstaat, der das Ideal sogar rückwirkend als Wirklichkeit ausgegeben hatte, über diese Entwicklung nicht froh sein: Als sie Kontur gewann, verlor die Arbeiterschaft alter Art an Bedeutung. Beide Vorgänge waren unauflöslich miteinander verbunden. Umso hemmender wirkte sich die Unfähigkeit des Systems aus, der demographischen Einschnürung durch intensivere Nutzung der verfügbaren Ressourcen zu trotzen. Es war in der Lage, Arbeitskräftemangel zu produzieren, der sich in der Chruščev-Ära ebenso einstellte wie während der ersten beiden Fünfjahrespläne. Ihn durch Effizienz und Intelligenz abzubauen aber vermochte es nicht.[10]

Mit diesen Besonderheiten nahm das quantitative Gewicht der Arbeiterschaft vor allem auf Kosten der Bauern, wenn auch seit dem Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit in gedrosseltem Tempo, weiter zu. Im knappen Vierteljahrhundert zwischen der ersten umfassenden Volkszählung 1959 und dem Ende der Brežnev-Ära belief sich ihr Zuwachs nur auf gut 10 %. Dies sollte man bei den Daten beachten, die in isolierter Betrachtung zu deutlich höheren Prozentwerten gelangen. Andererseits behalten diese Angaben, von falschen Suggestionen befreit, ihren Aussagewert. So stieg die Zahl der Arbeiter und Angestellten in der Volkswirtschaft auch 1960–1980 noch um 81 % von 62,0 Mio. auf 112,5 Mio.; erst danach trat ein weitgehender Stillstand ein (112,9 Mio. 1990, vgl. Tab. A–3/2). Zugleich änderte sich aber ihre Struktur und Gestalt. Als typisch kann dabei jener Wandel gelten, den die fortschreitende Industrialisierung überall nach sich zog: die Verlagerung von Hand- auf Kopfarbeit im Gefolge der Herstellung technisch höherwertiger Erzeugnisse und der damit einhergehenden Differenzierung der Volkswirtschaft einschließlich ihrer administrativen Funktionen. Die Umrechnung der absoluten Daten in Indizes gibt einen ersten Hinweis darauf. Während die Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten zwischen Kriegsbeginn und dem Ende der Brežnev-Ära (1940–1980) um 232 % wuchs, nahm das Personal im Bereich von Kultur und Wissenschaft weit überproportional, in Letzterer um 1110 %, zu. Auch der Transport außerhalb von Bahn und Flüssen sowie die allgemeine Kommunikation gewannen an Gewicht; die Zahl der industriell Beschäftigten vermehrte sich immerhin in gleichem Maße wie die in der Volkswirtschaft allgemein. Da beide Vorgänge miteinander verbunden waren, gibt die Tabelle zugleich eine weitere langfristige Veränderung zu erkennen: die ‹Tertiarisierung›. Neben Kultur und Wissenschaft, in denen laut üblicher Terminologie vor allem Angestellte beschäftigt waren, expandierten auch das Gesundheits- und Bildungswesen überproportional. Wenngleich dieser ‹Dienstleistungssektor› schmaler blieb als in den Ländern der ‹Ersten Welt› und das Wachstum der allgemeinen Verwaltung den Durchschnitt der erfassten Gruppen erstaunlicherweise nicht erreichte, entwickelte sich die sowjetische Gesellschaft doch in dieselbe Richtung.

Klarere Aussagen erlauben Daten über das Qualifikationsniveau der Beschäftigten und seine Verteilung. Die ungefähre Konstanz der Erhebungsweise vorausgesetzt, vollzog sich in dieser Hinsicht in der Tat ein erheblicher Wandel. So erhöhte sich der Anteil von «Spezialisten mit höherer und mittlerer Fachausbildung» in der sowjetischen Volkswirtschaft von etwa 7 % 1940 über 14,2 % 1960, 18,7 % 1970 auf 25,4 % 1980. Wie tief er in der allgemeinen sozioökonomischen Entwicklung eingewirkt war, geht nicht zuletzt aus dem Umstand hervor, dass er während des wirtschaftlichen Niedergangs nach Brežnevs Tod andauerte (1990 32,8 %). Auch eine Aufschlüsselung der Arbeiter nach dem Mechanisierungsgrad ihrer Tätigkeit in sechs Kategorien zeigt an, dass die manuelle Arbeit Ende der sechziger Jahre rückläufig war und der Anteil qualifizierter Tätigkeiten bei der Handhabung von Maschinen und Automaten zunahm. Desgleichen wird diese Entwicklung durch Angaben über die formalen Bildungsabschlüsse bestätigt. Zwischen 1952 und 1973 wuchs der Anteil der Industriearbeiter mit einem Zeugnis über den erfolgreichen Besuch der «vollständigen Mittelschule» von 1,4 % auf 24,1 % an. Vor der Schlussprüfung gingen im letzten Lebensjahr Stalins 25,5 % ab, zwanzig Jahre später 41,2 % («unvollständige mittlere Bildung»). Eine Fach- oder andere technische Hochschule hatten zu dieser Zeit immerhin 5,6 % besucht (1952 1,0 %), so dass der Anteil der Arbeiter mit bloßer Elementarbildung auf weniger als 30 % sank. Auch wenn der genaue Kenntnisstand ungewiss bleibt, steht die Tendenz außer Frage. Andererseits folgt daraus keine «Annäherung von körperlicher und geistiger Arbeit», wie die sowjetmarxistische Interpretation behauptete. Zum einen überwogen manuelle Tätigkeiten auch in den siebziger Jahren noch. Zum anderen sollte die Hebung des gesamten Qualifikationsniveaus nicht mit Homogenisierung verwechselt werden. Nicht nur die einfachen Verrichtungen wurden komplexer, sondern auch die schwierigen. Die Einheitlichkeit einer (auch) dank geistiger Qualifikation vom Produkt ihrer Tätigkeit nicht mehr entfremdeten (und per definitionem seit Bestehen der Sowjetmacht nicht mehr ausgebeuteten) Arbeiterklasse, deren Existenz auf solche Weise suggeriert wurde, blieb eine Wunschvorstellung.[11]

Es liegt in der Natur der Sache, dass dieser Wandel mit einer Veränderung auch der Altersstruktur zusammenhing. Im Ganzen nahm der Anteil junger Arbeiter (20–29 Jahre) zwischen 1959 und 1970 ab. Allerdings spiegelte sich darin nur die tiefe Kerbe, die der Krieg in die gesamte Bevölkerungspyramide geschnitten hatte. Nicht nur die Generation der Gefallenen war numerisch schwach, sondern auch die ihrer Nachkommen. Unter Berücksichtigung dieser Verwerfung und im Maße der demographischen Erholung stellte sich das zu erwartende Ergebnis ein: dass die Jüngeren höhere Qualifikationen erwarben und in die oberen Berufsgruppen drängten. Auch aus diesem Grund bildete die Generationszugehörigkeit eines der wichtigsten Kriterien innerer Differenzierung, die aller Ideologie zum Trotz auch im Sozialismus zu beobachten war. Die neue Arbeiterschaft kam nicht mehr vom Lande, sondern aus den Städten; sie war qualifizierter und vielleicht auch stärker auf ein höheres materielles Lebensniveau orientiert. Ob die Enttäuschung gerade ihrer Hoffnungen im Gefolge der Dauerkrise am Ende der Brežnev-Ära wesentlich zu den anschließenden Turbulenzen beitrug, bleibt bislang eine offene Frage.[12]

Neben Grunddaten ihrer demographisch-sozialen Struktur haben die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft im Vordergrund der historischen Aufmerksamkeit gestanden. In kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaften wurde dabei in aller Regel ein enger Zusammenhang angenommen zwischen ihren inner- und außerbetrieblichen Errungenschaften und ihrer politischen Durchsetzungskraft, gemessen zumeist am gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Unter der Bedingung lückenloser Verstaatlichung von Herstellung und Handel entfiel die Voraussetzung nicht nur für effektive, sondern für Interessenvertretung überhaupt. Die prägenden, individuell kaum veränderbaren Merkmale ihrer beruflichen und privaten Existenz, von den Arbeitsbedingungen (Zeit, Schutz, Hygiene, Absicherung) bis zu Lohn, Wohnung und der ‹Lebensqualität› der Umgebung, wurden vom Staat und den wirtschaftlichen Planungsbehörden überwiegend zentral festgelegt. Eben dies hat den Vergleich immer wieder herausgefordert. Mit Blick auf die Arbeiterschaft standen einander hier gleichsam die vom ‹Klassen›- oder zumindest ‹Interessengegner› erstrittenen Zugeständnisse und die freiwillig gewährten ‹Geschenke› einer monokratischen Staatsmacht gegenüber, die nach wie vor den Anspruch erhob, primär die Belange der Werktätigen zu vertreten. Für die frühen Jahre kann man den Ergebnissen noch zugute halten, dass sie den großen Nachholbedarf der Sowjetunion und ähnliche Entbehrungen spiegelten, wie sie auch die frühe westeuropäische Industrialisierung prägten. Für die nachstalinistischen Jahrzehnte konnte dieser Bonus nicht oder nicht mehr in gleichem Maße gelten. Der Sozialismus, der sich sogar an der Schwelle zum Kommunismus wähnte, musste sich ohne die historische Entschuldigung des Nachzüglers an den ‹real existierenden› Früchten messen lassen. Auf Rubel und Kopeke oder Stunde und Minute genau ist dies angesichts der Geheimniskrämerei und der Unterentwicklung der empirischen Sozialwissenschaften nicht möglich. Die Tendenz der Ergebnisse aber darf als verbürgt gelten.

So sprechen alle Indizien dafür, dass seit Mitte der fünfziger Jahre nicht nur der Nominal-, sondern auch der Reallohn der sowjetischen Arbeiter und Angestellten deutlich stieg. Sicher hat die Deutung dabei das äußerst niedrige Ausgangsniveau zu bedenken. Die gewichtete Berechnung der Indizes deckt auf, dass das Realeinkommen aller nichtlandwirtschaftlichen Arbeiter und Angestellten der Sowjetunion 1948 45–59 % des letzten vorplanwirtschaftlichen Jahres 1928 betrug; selbst 1954 lag es bestenfalls um 24 % über dieser Marke (vgl. oben Tabelle 38). Ein Vierteljahrhundert lang musste die Bevölkerung nicht nur das gesetzlose Regime eines gewalttätigen Diktators ertragen, sondern auch erhebliche materielle Entbehrungen in Gestalt niedriger Einkommen und erbärmlicher Lebensumstände hinnehmen. Danach aber begann für gut zwei Jahrzehnte eine Aufwärtsbewegung, die bei aller gebotenen Vorsicht durchaus als «eindrucksvoll» bezeichnet zu werden verdient. Absolut erhöhte sich der durchschnittliche Monatslohn eines Industriearbeiters 1955–1975 um 110,9 % von 76,2 Rubel auf 160,9 Rubel. Nach Abzug der offiziellen Preissteigerungsrate blieb ein Anstieg von 107,8 %, nach Maßgabe einer westlichen Berechnung von 62,8 % (vgl. Tabelle 55). Selbst wenn man auch diese Kalkulation für überhöht hält, weil die Preise auf den Privatmärkten nicht berücksichtigt wurden, bleibt das Fazit, dass sich der Geldlohn im genannten Zeitraum mehr als verdoppelte und seine Kaufkraft immerhin um knapp 2,5 % pro Jahr wuchs. Zwar konnte die Sowjetunion mit den Segnungen der westlichen Konsumgesellschaften nicht mithalten; auch im Vergleich mit den anderen sozialistischen Ländern Europas nahm sie nach wie vor nur einen Mittelplatz ein. In der subjektiven Wahrnehmung aber war über die Halbzeit der Brežnev-Ära hinaus der Eindruck begründet, dass es den ‹Sowjetmenschen› nie besser gegangen sei. Auch im zehnten Planjahrfünft (1976–1980) hielt die Entwicklung trotz merklicher Abschwächung zunächst an. Das durchschnittliche Monatseinkommen aller Arbeiter und Angestellten erhöhte sich immer noch um 2,9 % pro Jahr. Sicher wird man auch für diese Zeit einen gewissen Preisauftrieb in Rechnung stellen müssen, den die Lenkungsbehörden trotz hoher Subventionen für die meisten Güter und Dienstleistungen des alltäglichen Bedarfs (Grundnahrungsmittel, Transport, Wohnung) nicht einzudämmen vermochten. Dennoch spricht wenig dafür, vor dem Ende der Brežnev-Ära einen empfindlichen realen Kaufkraftverlust der Lohn- und Gehaltsempfänger anzunehmen. Nicht sinkende Einkommen machten das Ende des Aufstiegs sinnfällig, sondern gleichsam systemkonform der Umstand, dass es immer weniger zu kaufen gab.[13]